Die Tote im Wasser - Eva Frantz - E-Book

Die Tote im Wasser E-Book

Eva Frantz

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Beschreibung

Ein unschuldiges Kind, eine unmögliche Entscheidung und ein grauenhafter Mord.

Es sind unruhige Zeiten für Kommissarin Anna Glad, denn ihr neuer Fall verwischt die Grenze zwischen Beruflichem und Privatem: Mimmi Sandberg, eine Freundin ihres Lebensgefährten, hat die vierjährige Veera adoptiert. Doch Veeras biologische Mutter will die Kleine zurückhaben. Die Anzeichen, dass das Kind bei ihr nicht sicher wäre, verdichten sich. Da verschwindet die Sekretärin der Holmborger Schule. Und auf dem beliebtesten Spielplatz der Stadt wird ein grausiger Fund gemacht ... 

»Anna Glad hat etwas ungewöhnlich Erfrischendes an sich. Vielleicht, weil sie so menschlich ist?« Dagens Nyheter.

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Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Es sind unruhige Zeiten für die Kommissarin Anna Glad, die mit mal mehr, mal weniger Erfolg versucht, ihren Rollen als Mutter und Polizistin gerecht zu werden. Ihr Lebensgefährte Tomas ist ihr Fels in der Brandung. Aber interessiert der sich nicht ein bisschen zu sehr für die Familiensituation seiner neuen Freundin Mimmi Sandberg? Mimmi ist die Adoptivmutter der vierjährigen Veera. Doch nun möchte Veeras biologische Mutter das Sorgerecht zurück. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Die Anzeichen, dass Mimmis Zuhause nicht so sicher ist, wie sie glauben möchte, verdichten sich. Die Schulsekretärin Yrsa Manner verschwindet. In der vom Abriss bedrohten Holmborger Schule wird eine merkwürdige Entdeckung gemacht. Und dann wird auf dem beliebtesten Spielplatz der Stadt etwas Entsetzliches gefunden. Wieder einmal hat Anna alle Hände voll zu tun.

Über Eva Frantz

Eva Frantz, geboren 1980, wuchs in einem Vorort von Helsinki auf. Sie studierte Journalismus, arbeitete als Radiomoderatorin und kommentierte u.a. den Eurovision Song Contest. 2016 legte sie ihren Debütroman vor, seitdem schreibt sie erfolgreich Kinderbücher und Kriminalromane. »Die Tote im Eis« wurde als bester finnischer Krimi des Jahres ausgezeichnet. Auch »Der Tod in den Schären« ist im Aufbau Taschenbuch lieferbar. Eva Frantz wohnt mit ihrem Mann und drei Kindern in Espoo, Finnland.Mehr zur Autorin unter evafrantz.com 

Leena Flegler arbeitet als freie Übersetzerin aus dem Schwedischen und Englischen. Sie übertrug unter anderem Romane von Niklas Natt och Dag, Karin Smirnoff und Denise Rudberg ins Deutsche.

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Eva Frantz

Die Tote im Wasser

Ein Fall für Anna Glad

Kriminalroman

Aus dem Finnlandschwedischen von Leena Flegler

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Kapitel 1

1969

Kapitel 2

1969

Kapitel 3

1970

Kapitel 4

1971

Kapitel 5

1971

Kapitel 6

1971

Kapitel 7

1971

Kapitel 8

1971

Kapitel 9

2021

Kapitel 10

Epilog

Danksagung

Die Vorlagen der Wiegenlieder zu Beginn der Kapitel stammen aus folgenden Quellen:

Impressum

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Prolog

Im Radio wünscht der Nachrichtensprecher allen eine gute Nacht. Dann erfüllt klassische Musik die Hütte.

Fauré, vermutet sie. Nicht gerade ihr Lieblingskomponist, aber sie macht sich auch nicht die Mühe, aufzustehen und das Radio auszuschalten. Stattdessen schiebt sie die Spielkarten erneut zusammen. Vielleicht geht die nächste Patience ja auf.

Wenn ja, dann finden wir sie.

Wir finden sie, und dann siegt die Gerechtigkeit.

Nach so vielen Jahren.

Sie ist furchtbar müde, aber es kommt nicht infrage, dass sie jetzt schlafen geht. Das Schlimmste am Krankenhaus war, dass man nachts in seinem Bett liegen musste. Das Licht wurde gelöscht, die Türen geschlossen, und dann lag man da, mit seinen Dämonen.

Schau einer an, gleich drei Asse in der ersten Runde.

Endlich aus dem Krankenhaus raus zu sein war wunderbar. Dämonen und Gespenster gibt es hier in der Hütte nachts natürlich auch, aber hier fühlt sie sich ein bisschen besser, wenn sie noch einen Tee kocht, Patiencen legt und der Musik aus dem Radio lauscht.

Sie wünschte sich, dass zumindest ein paar von ihnen nicht kommen würden. Aber mit der Dunkelheit tauchen sie früher oder später auf.

Ach nee, und da kommt das vierte Ass.

Nur das kleinste der Gespenster sehnt sie sich regelrecht herbei, obwohl ihr jedes Mal das Herz bricht, wenn es schließlich auftaucht.

Weil er kein Gespenst hätte werden dürfen. Er sollte keins sein, sondern hier mit ihr in der Hütte sitzen.

Trotzdem haben sie ihn sich geholt.

Oh, diese Runde geht wirklich auf.

Sie hat die vier akkuraten Kartenstapel gerade erst zusammengelegt, als ihr Handy drüben am Herd vibriert. Eine Nachricht.

»Ich hab sie gefunden. Und sie leben noch, alle drei.«

Kapitel 1

Ruh nun friedlich, kleines Kind,

wirst morgen wieder wach,

Die Welt, sie wartet ohnehin

mit Schlechtigkeit und Schmach.

Ein Ort der Trauer, unser Erden:

Wer kaum gelebt, muss trotzdem sterben

und abermals zu Erde werden.

Februar 2022, Montag

Kaum hatte sich Mimmi Strandberg auf die Parkbank gesetzt, drang die Feuchtigkeit schon durch ihre Jeans und Unterhose. Es hatte tagelang ununterbrochen geregnet, und die Holzbretter waren komplett nass. Sie zog ihre Jacke unter ihren Po, so weit es ging, und rückte nach vorn auf die Kante. Blasenentzündung – davor warnten Erwachsene ihre Kinder doch immer bei Kälte, oder? So etwas wollte man sich nun wirklich nicht einfangen.

»Mama, guck!«, rief Veera von der Wippe herüber.

»Wow, ganz toll«, antwortete Mimmi mit ihrer lebhaftesten Mamastimme, gähnte dann aber herzhaft.

So früh am Morgen hatten sie den Spielplatz für sich allein. In ein paar Stunden würde hier der Teufel los sein.

Die Nacht war anstrengend gewesen. Die fünfjährige Veera litt unter Nachtschreck, daher wurde Mimmi häufig von schrillen Schreien aus dem Kinderzimmer aus dem Schlaf gerissen. Manchmal dauerte es Stunden, bis sich das Mädchen wieder beruhigt hatte, und wenn Veera dann endlich eingeschlafen war, lag Mimmi oft hellwach da, bis irgendwann Juhas Wecker klingelte.

Juha war ihr keine Hilfe. Der drückte sich bloß verbissen jeden Abend Ohrstöpsel in die Ohren und schnarchte über die Schreie und die ganze Aufregung hinweg. Morgens war er dann trotzdem müde und schlecht gelaunt.

»Ich hab in dieser Woche Kundenmeetings im Akkord«, hatte er an diesem Morgen gemault und fahrig Kaffeepulver in den Filter gelöffelt. »Wenn ich nicht durchschlafen kann, kann ich bald Insolvenz anmelden. Soll ich, ja? Wir könnten eine Zwei-Zimmer-Sozialwohnung mieten und die Autos verkaufen? Und das Boot auch? Wär das ein guter Plan?«

Grundsätzlich hatte Juha ja recht. Fürs Erste war Mimmi in Vollzeit mit Veera zu Hause, insofern war es vielleicht nur fair, dass sie diejenige war, die nachts aufstand – erst recht, da Juha von Veeras Geschrei oft so genervt war, dass er alles nur noch schlimmer machte.

Es ist nur eine Phase, redete Mimmi sich ein, das wird schon wieder. Bald.

»Guck, Mama, wie hoch!«

»Oh, das ist ja wirklich superhoch! Halt dich gut fest, mein Schatz!«

Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Es war wirklich zum Heulen: Da half nicht mal mehr Juhas tiefschwarze Teerbrühe von einem Kaffee.

Veera hingegen schoss wie eine Flipperkugel kreuz und quer über den Spielplatz. Es war schon bemerkenswert, dass ein Kind die ganze Nacht schweißgebadet und hysterisch in seinem Bett liegen und sich dann binnen weniger Stunden in dieses kleine, sonnige Energiebündel verwandeln konnte.

»Mama, ich rutsch schneller als ein Rennwagen – fiuuuuuuu!«

»Wow, das war schnell!«, rief Mimmi zurück und öffnete die Fitness-App auf ihrem Handy.

Sie war heute (hauptsächlich in der Nacht zwischen zwei und fünf Uhr) bereits 3678 Schritte gegangen und hatte einfach viel zu wenig geschlafen.

Hier erfahren Sie mehr zu den Gesundheitsrisiken bei Schlafmangel. Sehr hilfreich.

Nein danke.

»Mama!«

»Wow!«

»Guck jetz’, Mama! Ich schwimm!«

»Wie toll … Was? Nein!«

Flink wie ein Wiesel war Veera vom Klettergerüst zum hinteren Ende des Spielplatzes gerannt, der im Grunde eine einzige riesige Pfütze war. Dort saß sie nun hüfttief im braunen, schlammigen Wasser wie in einem Whirlpool und strahlte übers ganze Gesicht.

Mimmi musste regelrecht in die Pfütze hineinwaten, um die Kleine dort wieder herauszuholen. Somit hatte sie nicht nur einen nassen Hintern, sondern obendrein nasse Füße, und obwohl Veera ihren Matschanzug trug, war auch sie unter Garantie nass bis auf die Knochen.

Plötzlich blickte das Mädchen nachdenklich drein.

»Popo is’ kalt.« Es klang eher vorwurfsvoll als beschämt.

»Jaaa, der Popo wird kalt, wenn man sich im Februar mitsamt Klamotten in eine Pfütze setzt! Wir müssen jetzt wohl nach Hause gehen und dich umziehen.«

»Okay«, erwiderte Veera putzmunter.

Wider Willen musste Mimmi lachen, als sie Veera quer über den Spielplatz trug. Der Alltag mit einer Fünfjährigen war anstrengend, aber zumindest nie langweilig. Dass Veera ein herausforderndes Kind werden würde, war Mimmi von Beginn an klar gewesen. Dieser Punkt war schon im Vorbereitungskurs für Pflegeeltern Thema gewesen.

Doch sowie Veera jetzt ihre kleinen Milchzähnchen zeigte und Mimmi strahlend anlachte, war alle Anstrengung vergessen. Veera presste ihre Lippen auf Mimmis Wange und pustete, dass es klang wie ein Pups.

»Du bist wirklich das durchgeknallteste Kind der Welt«, sagte Mimmi.

»Durchgeknallte Knallmama«, erwiderte Veera.

Auf dem Weg zum Ausgang warf Mimmi noch einen Blick über die Schulter. Wie in aller Welt hatte sich auf dem Spielplatz eine dermaßen tiefe Pfütze bilden können? Gab es hier denn keinen Gully, durch den das Wasser ablaufen konnte?

Dann hörte sie plötzlich eine bekannte Stimme rufen: »Guck mal, da sind Veera und Mimmi! Hallo!«

Mimmis Wangen wurden merkwürdig warm. Typisch, dass er ausgerechnet in dem Moment auftauchte, da sie aussah wie ein Schlammmonster.

»Hey, Tomas! Hey, Gottfrid! Schau mal, Veera, wer da kommt!«

Tomas sah genauso attraktiv aus wie immer: groß gewachsen, breitschultrig. Dichtes braunes Haar ragte unter seiner Mütze hervor. In Mimmis Bauch flatterte ein verbotener Schwarm Schmetterlinge auf.

»Ach, Mensch«, sagte Tomas, »geht ihr schon? Und mit wem sollen wir jetzt spielen?«

»Veera hat da drüben in der Pfütze gebadet, deshalb müssen wir nach Hause und uns umziehen.«

»Ach, du Schande. Das ist aber auch eine ordentliche Pfütze! Geh da nicht hin, Goffe!«

Tomas hob Gottfrid aus dem Buggy, und der Dreijährige flitzte – in seinen dicken Klamotten leicht o-beinig – sofort in Richtung Klettergerüst.

»Vielleicht sollten wir das irgendwo melden? Für Kinder ist so tiefes Wasser doch gefährlich.«

Statt mit der freundlichen Papastimme sprach er nun mit seiner Polizistenstimme, was ihn sogar noch ein bisschen attraktiver machte. Die Schmetterlinge in Mimmis Bauch stoben inzwischen wild durcheinander.

Jetzt, da Tomas hier war, hätte sie sich liebend gern wieder auf die kalte, nasse Bank gesetzt. Mit Tomas konnte man sich ganz wunderbar über Gott und die Welt unterhalten.

Er hob sein Handy ans Ohr.

»Na, dann wollen wir doch mal sehen, ob jemand rangeht … Oh, das ging ja schnell!«

Tomas lächelte Mimmi zu und reckte den Daumen hoch.

Sie erwiderte die Geste und nahm Veera bei der Hand.

»Komm, Schätzchen, wir müssen heim.«

»Ja, hallo … Ich rufe vom Spielplatz am Bruksvägen an«, hörte sie Tomas noch sagen. »Hier ist alles komplett überschwemmt. Vermutlich ist der Gully verstopft …«

Veera stiefelte bereits vorneweg, und Mimmi versuchte, mit ihr Schritt zu halten.

Sie hatte Gottfrids Mutter nie kennengelernt. Anscheinend arbeitete sie ebenfalls bei der Polizei und das offenbar von morgens bis abends. Garantiert war sie cool und bildhübsch, genauso durchtrainiert wie Tomas, draufgängerisch und klug, dachte Mimmi, sonst hätte sie sich einen Mann wie ihn nie geangelt.

Anna Glad ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken, lehnte sich vor und legte die Stirn auf die Tischplatte.

Konnte man in dieser Sitzhaltung ein Powernap machen? Hieß es nicht, dass ein fünfminütiges Nickerchen tagsüber so wertvoll war wie eine Stunde Nachtschlaf? So was in der Art hatte Rolf doch immer gesagt. Wie auch immer … Hauptsache, sie konnte für einen Moment durchatmen.

Himmel, wie schön das war. Nur einen klitzekleinen Moment …

Als es nachdrücklich an der Tür klopfte, richtete Anna sich so schnell auf, dass es in ihrer Wirbelsäule knackste.

Hauptkommissarin Annette Käld schob den Kopf durch die Tür.

»Störe ich?«, fragte sie leicht säuerlich.

»Ach was, nein, gar nicht«, krächzte Anna. »Ich wollte nur kurz … Das war nur … Ach, Gottfrid glaubt gerade, dass vier Uhr morgens eine super Zeit wäre, um aufzustehen. Deshalb bin ich derzeit ein bisschen durch den Wind.«

Von Annettes eleganter Erscheinung ging nicht das geringste Mitgefühl aus. Hatte die Chefin allen Ernstes vergessen, wie sich ein Leben mit kleinen Kindern anfühlte? Aber vielleicht hatten Annettes mittlerweile erwachsene Söhne mit drei Jahren auch schon Gewehr bei Fuß gestanden wie kleine Soldaten.

»Trotzdem müsstest du allmählich wach werden … Wir haben gerade eine Vermisstenmeldung reinbekommen.«

»Hm. Okay.«

»Die Schwester der Frau hat sich bei uns gemeldet. Sie wartet bei dieser Adresse hier.«

»Okay. Märta und ich fahren gleich hin.«

»Du müsstest allein fahren. Die anderen sind alle anderweitig beschäftigt oder haben Magen-Darm. Gott, wie ich diese Jahreszeit hasse! Einer nach dem anderen fällt aus. Wer keine Rotznase hat, hängt über der Schüssel – und manche trifft beides gleichzeitig …«

»Schon gut. Bin quasi schon unterwegs.«

Doch Anna konnte weder sich selbst noch ihre Chefin durch ihren beschwingten Tonfall zum Narren halten. Obendrein war die Kaffeemaschine in der Abteilung kaputt, so dass sie sich mit einer Handvoll Pfefferminzpastillen begnügen musste, um wenigstens ein bisschen wacher zu werden. Ihr Kopf explodierte zwar fast, weil sie so scharf waren, aber tatsächlich fühlte sich Anna damit ein bisschen frischer. Und immerhin würde sich jetzt niemand darüber beschweren, dass Polizeioberkommissarin Anna Glad Mundgeruch hätte.

Die Fahrt zu der Adresse, die sie von Annette bekommen hatte, dauerte nur wenige Minuten. Sie parkte vor dem Häuserblock und steuerte Treppenaufgang D an.

Eine Frau Mitte sechzig stand bereits an der Haustür und ließ unruhig den Blick schweifen.

»Hallo. Anna Glad, von der Polizei«, stellte Anna sich vor und zückte ihren Dienstausweis. »Haben Sie bei uns angerufen?«

»Ja«, antwortete die Frau. »Ich heiße Lena Manner.«

»Und es geht um Ihre Schwester?«

»Ja, meine Schwester Yrsa … Das hier sieht ihr überhaupt nicht ähnlich. Ich verstehe nicht, wie …«

»Alles gut«, fiel Anna ihr ins Wort. »Wann haben Sie denn zuletzt von ihr gehört?«

Lena Manner kratzte sich nervös am Arm. »Wir haben am Donnerstag telefoniert, also vor vier Tagen. Und gestern hab ich ihr mehrere Nachrichten geschrieben, aber die hat sie nicht gesehen, dabei sitzt sie sonst den ganzen Tag über vor Facebook. Da muss irgendetwas passiert sein.«

»Und wer wohnt hier an dieser Adresse – Yrsa oder Sie?«

»Yrsa. Ich habe heute früh den ersten Bus genommen. Ich dachte mir, vielleicht hatte sie irgendeinen Anfall und liegt tot im Flur … Ich habe ja einen Zweitschlüssel.«

»Und waren Sie schon in der Wohnung?«

»Ja, aber da ist sie nicht – zum Glück! Ich meine, zum Glück lag sie nicht tot im Flur! Aber wo ist sie dann?«

»Gehen wir mal hoch und sehen uns um.«

Yrsa Manners Wohnung befand sich im ersten Stock, daher lohnte es sich nicht, auf den Aufzug zu warten. Während die Schwester die Wohnungstür aufschloss, redete sie ununterbrochen weiter.

»Ich hab gestern Nacht kein Auge zugetan, weil ich mir solche Sorgen gemacht habe! Aber man will ja auch nicht mitten in der Nacht zu Leuten fahren und stören – nicht mal, wenn es um die eigene Schwester geht. Aber vielleicht hätte ich vorbeikommen sollen und nicht so lange warten dürfen. Womöglich ist ihr etwas zugestoßen, und sie liegt irgendwo und …«

Anna trat über die Schwelle. Auf der Fußmatte lagen zwei Ausgaben des Hufvudstadsbladet.

»Ich hab auch nichts angefasst, als ich hier war – nur die Türklinke! Und ich habe versucht, in meinen eigenen Fußspuren wieder rauszugehen, damit ich keine Beweise zerstöre oder wie das heißt.«

Allem Anschein nach hatte Lena Manner den einen oder anderen Fernsehkrimi gesehen.

»Gut«, kommentierte Anna.

Sie sah sich in der Wohnung um, was nicht lange dauerte. Ein kleines Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche – alles sauber und ordentlich. Das Bett war gemacht, und auf den Fensterbrettern standen reihenweise gepflegte Zimmerpflanzen. Im Wohnzimmer hing Kleidung auf einem Trockenständer. Auf dem Couchtisch lag ein aufgeschlagenes Buch.

Für Anna sah hier nichts besorgniserregend aus.

»Was macht Ihre Schwester denn beruflich?«

»Sie ist Sekretärin an der Lillåker-Schule. Allerdings arbeitet sie überwiegend von zu Hause.«

Anna warf erneut einen Blick in die Küche. Ein kleiner Esstisch am Fenster, auf einem Küchenstuhl ein Laptop und ein paar Ordner. Yrsa Manners Homeoffice.

Als Anna sich erneut zu Lena Manner umdrehte, versuchte sie, Ruhe und Mitgefühl auszustrahlen, was ihr nicht immer besonders gut gelang. Mehr als ein Mal hatte ihre Kollegin Märta Hansson sie freundlich darauf hingewiesen, dass sie aussah, als hätte sie schlimmes Bauchweh, wenn sie empathisch wirken wollte.

»Hat Yrsa am Donnerstag, als Sie mit ihr gesprochen haben, Pläne fürs Wochenende erwähnt? Wollte sie wegfahren? Jemanden besuchen?«

Lena schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat nie Pläne fürs Wochenende.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«

»Weil ich sie kenne. Sie ist die reinste Stubenhockerin! Zumindest war sie das in den letzten Jahren. Sie geht nur einkaufen, wenn es absolut nötig ist, allenfalls noch zur Apotheke – aber das ist auch schon alles.«

»Wie kommt das?«

»Sie hat natürlich Angst, sich anzustecken! Gleichzeitig verweigert sie die Impfung – davor hat sie nämlich noch viel größere Angst. Ich habe immer gesagt, dass sie unter Leute gehen muss, aber sie hört nicht auf mich. Sie hat noch nie auf mich gehört.«

»Arbeitet sie deshalb auch von zu Hause? Weil sie so vorsichtig ist?«

»Genau. Ich bin wohl die Einzige, die sie in den letzten Jahren besucht hat, und sie will auch nicht, dass ich weiter als bis in den Flur komme. Sie wird in dieser Wohnung noch zur Einsiedlerin – zur psychisch gestörten Einsiedlerin!«

Anna sah sich erneut um. Nichts in der Wohnung wies darauf hin, dass die Bewohnerin ein psychisches Problem hatte. Es sah eher so aus, als wäre Yrsa Manner einem geregelten Alltag nachgegangen. Sie hatte sich um ihre Pflanzen gekümmert, geputzt, hatte gearbeitet, den Müll rausgebracht, Bücher gelesen …

»Yrsa hat nicht zufällig ein Sommerhaus oder so was in der Art, wo sie hingefahren sein könnte?«

»Nein. Wir waren in der Familie nie sonderlich erpicht auf Hütten im Wald.«

»Ist sie liiert?«

»Nein, von Männern hat sie die Nase voll, sagt sie immer. Und wir haben auch keine Verwandten mehr. Es sind nur noch wir zwei übrig.«

»Okay. Wo bewahrt Yrsa normalerweise ihr Handy auf? Ihren Geldbeutel, Schlüssel und solche Sachen? Dinge, die man mitnimmt, wenn man vor die Tür geht?«

Lena Manner sah sich um. »Na ja … Ich hab ihr zu Weihnachten mal eine schwarze Handtasche geschenkt … Aber wenn sie zu Hause ist, legt sie solche Sachen immer auf das Tischchen im Flur. Nur liegt da ja nichts!«

Anna nickte freundlich und drückte Lena einen kleinen Notizblock und einen Stift in die Hand.

»Wären Sie so gut und könnten mir Yrsas und Ihre Handynummern aufschreiben? Und die Namen von Yrsas Vorgesetzten, Kollegen, Freunden, Bekannten – wen auch immer sie in letzter Zeit mal erwähnt hat.«

Lena schrieb eifrig drauflos, und Anna drehte eine weitere Runde durch die Wohnung. Sie warf erneut einen Blick ins Bad, zog Schranktüren auf, nahm den kleinen Balkon in Augenschein.

Außer dass hier eine ordentliche Frau wohnte, die wohl nur kurz aus dem Haus hatte gehen wollen, fiel ihr nichts weiter auf. Das einzig Bemerkenswerte waren die Zeitungen auf der Fußmatte: Sonntag und Montag. Folglich schien Yrsa seit Samstag nicht mehr zu Hause gewesen zu sein.

Am Kühlschrank hing ein Foto zweier lächelnder Frauen in einem Restaurant. Die eine war eindeutig Lena Manner.

Anna tippte auf das Foto. »Ist das hier Yrsa?«

»Ja, das war vor drei oder vier Jahren an Silvester. Da waren wir auswärts essen. Zuletzt haben wir sowohl Weihnachten als auch Silvester jeder für sich gefeiert. Sie wollte um jeden Preis allein bleiben.«

Anna sah sich das Foto aufmerksam an. Dass die beiden verwandt waren, war nicht zu übersehen. Yrsa Manner war etwa im selben Alter wie ihre Schwester, allenfalls wenige Jahre jünger. Sie hatte kurze blonde Haare und trug eine Brille. Auf dem Foto hob sie ihr Weinglas in die Kamera. Im Hintergrund waren weitere Menschen zu sehen. An jenem Abend schien sie kein bisschen menschenscheu gewesen zu sein, trotzdem hatte ihr Lächeln etwas Reserviertes. Während Lena Manner übers ganze Gesicht strahlte, schien Yrsa mit den Gedanken woanders zu sein.

»Das würde ich mir gern ausleihen. Oder haben Sie noch ein aktuelleres Foto von Yrsa?«

»Nein, leider nicht. Sie hasst es, fotografiert zu werden. Das da ist das einzige Foto, von dem sie findet, dass sie darauf normal aussieht. Typisch, dass ich ausgerechnet darauf so dusselig aussehe! Yrsa hat nicht mal ein Facebook-Profilfoto, sondern benutzt ein Blumenbild.«

Sie verließen die Wohnung. Lena Manner redete weiter, wiederholte ein ums andere Mal, wie übervorsichtig ihre Schwester und wie ungewöhnlich es sei, dass sie auf keine Nachricht mehr antworte, und dass irgendwas Schlimmes passiert sein müsse.

Anna musste fast laut werden, um überhaupt wieder zu Wort zu kommen.

»Versuchen Sie, sich keine allzu großen Sorgen zu machen, Lena. Wir melden Yrsa als vermisst und hoffen, dass sie bald wiederauftaucht.«

»Aber Sie suchen nach ihr?«

Anna nickte, obwohl sie genau wusste, dass die Wahrheit nicht ganz dem entsprach, was Lena Manner sich erhoffte. Anna würde zwar versuchen, sämtliche Namen auf Lenas Liste abzutelefonieren, aber weil sie derzeit so unterbesetzt waren, würde es wohl kaum zu weitreichenden Maßnahmen kommen. Überdies war Yrsa Manner eine erwachsene Frau, die gut und gern verreist sein mochte, auch wenn dies laut ihrer Schwester ausgeschlossen war.

Die meisten Menschen, die als vermisst gemeldet wurden, tauchten nach einiger Zeit wohlbehalten wieder auf – wenn auch mitunter ein bisschen beschämt, weil ihre Angehörigen sich Sorgen gemacht hatten. Anna hoffte, dass es diesmal genauso sein würde.

Sie verabschiedete sich und wandte sich zum Gehen.

»Ich hab ein ganz schlechtes Gewissen«, sagte Lena plötzlich hinter ihr. »Als wir zuletzt telefoniert haben, sind wir ein bisschen aneinandergeraten …«

Anna blieb abrupt stehen. Das hatte Lena zuvor mit keiner Silbe erwähnt.

»Sie sind aneinandergeraten? Inwiefern?«

»Ach, es ging wieder um diese verdammte Impfung … Da bin ich womöglich zu weit gegangen. Ich hab ihr gesagt, dass sie es verdient hätte, wenn ihr gekündigt würde, wo sie doch so verdammt stur ist! Aber es war wieder die alte Leier: dass man den Pharmafirmen nicht vertrauen könne und dass ich naiv sei, weil ich die Wahrheit nicht sehen wolle. Sie wird immer richtig eklig, wenn es um dieses Thema geht. Ich … ich hab irgendwann einfach aufgelegt. Was, wenn das unser letztes Gespräch war – und ich hab meiner Schwester den Hörer aufgeknallt?!«

Tatsächlich fühlte sich Anna umso beruhigter. Wenn Yrsa sauer auf ihre Schwester gewesen war, war es nicht weiter verwunderlich, dass sie deren Nachrichten nicht gelesen hatte. Womöglich war sie sogar ganz bewusst abgetaucht, damit Lena sich Sorgen machte. Derlei »Märtyrer-Vermisstenfälle« hatte Anna schon häufiger erlebt.

Sie verabschiedete sich erneut von Lena Manner und zückte ihr Handy, um sofort selbst bei Yrsa Manner anzurufen. Vielleicht würde die ja ans Telefon gehen, wenn jemand anderes als ihre Schwester sie kontaktierte.

Unterdessen hatte Anna ein Foto von Tomas bekommen: Gottfrid, dessen Gesicht zur Hälfte mit Tomatensoße beschmiert war, so dass er aussah, als hätte er sich einen roten Vollbart stehen lassen, grinste breit in die Kamera.

Es gibt Bolognese zum Abendessen, G hat sicherheitshalber schon mal vorgekostet!

Sie schickte ein Herzchen als Antwort zurück und tippte anschließend Yrsas Nummer ein.

Der Teilnehmer sei nicht erreichbar, vermeldete die automatische Ansage.

Also schrieb Anna als Nächstes eine SMS.

Hallo, Yrsa, ich heiße Anna Glad und bin Polizistin. Rufen Sie mich bitte an, sobald Sie diese Nachricht sehen, damit wir wissen, dass alles in Ordnung ist. Ihre Schwester macht sich Sorgen.

Max Månsson stützte das Kinn auf die Hand und seufzte schwer. Rolf, der ihm am Küchentisch gegenübersaß, sah seinen Ehemann mit großen Augen an.

»Das war ja mal ein abgrundtiefer Seufzer!«

Prompt stieß Max noch einen Seufzer aus. »Mir ist langweilig.«

»Oje. Soll ich dir einen Witz erzählen?«

»Lieber nicht!«

»Sicher? Ich hätte diverse erstklassige Dad Jokes auf Lager.«

Den Ausdruck »Dad Jokes« kannte Rolf von seinen Töchtern – was immer er auch bedeutete. Rolf schnappte jedenfalls bei seinen Chorproben oder in der Zeitung häufig lustige Anekdoten auf und hatte einen Heidenspaß daran, sie bei der nächstbesten Gelegenheit weiterzuerzählen.

Max sah ihn hingebungsvoll an, seufzte dann aber ein drittes Mal.

»Danke, Onkel Rolf. Aber Onkel Max mag sich gerade keinen Dad Joke anhören. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich einfach so … rastlos.«

Von seinem resignierten Gesichtsausdruck einmal abgesehen sah Max heute richtig gut aus. Er hatte ein bisschen zugenommen, seine Wangen waren nicht mehr so eingesunken, und seine Körperhaltung war wesentlich aufrechter als noch im Jahr zuvor. Trotzdem war er noch lange nicht gesund, und das war ihm auch anzusehen.

Zu Beginn hatte die Krebstherapie gut angeschlagen. Max war zwar schwach gewesen und hatte sich hundsmiserabel gefühlt, aber die Ärzte hatten behauptet, dass das dazugehöre. Sie müssten bloß durchhalten und dürften die Hoffnung nicht aufgeben. Und das hatten sie auch nie getan, weder Max noch Rolf, immerhin waren sie frisch verheiratet gewesen, und da verlor man nicht einfach seinen Humor, die Hoffnung oder die Lebenslust.

Doch dann war die Pandemie über den Erdball hinweggefegt und hatte dem Gesundheitswesen Knüppel zwischen die Beine geworfen. Krebspatientinnen und -patienten hatten in Warteschleifen festgesteckt, während das komplette medizinische Personal in den Notaufnahmen benötigt worden war. Rolf hatte wie ein Löwe dafür gekämpft, dass Max – der als schwedischer Staatsbürger in Finnland lebte – überhaupt irgendeine Versorgung bekam. Zeitweise hatte es schlimm ausgesehen, doch am Ende hatte sich alles gefügt. Inzwischen war die Therapie ausgestanden, und jetzt galt es abzuwarten, ob sie das gewünschte Ergebnis erzielt hatte.

»Weißt du, was ich am meisten vermisse?«, fragte Max. »Ich würde mich so gerne mal wieder schick machen, unter Leute gehen und ein bisschen Kultur schnuppern.«

»Was? Kultur?«

»Na, du weißt schon – mal eine Ausstellung besuchen, in die Oper oder ins Konzert gehen, in einem Museum herumschlendern und im Museumsshop eine sündhaft teure Seidenkrawatte kaufen … Wäre das nicht toll?«

Rolf horchte in sich hinein, fand aber nicht, dass das wahnsinnig toll klang.

»Wir könnten ja mal ins Kino gehen«, schlug er vor.

Max schnaubte. »Hier, in dieser Stadt? Du willst dir einen finnisch synchronisierten Zeichentrickfilm ansehen oder den einzigen Actionfilm, der hier läuft? Nein danke.«

»Tja, dann weiß ich auch nicht recht weiter. Hier in der Gegend sieht es mit Opernhäusern und Museen ja ein bisschen mau aus.«

Als Max und Rolf geheiratet hatten, war zunächst der Plan gewesen, wie zuvor zwischen Finnland und Schweden zu pendeln. Doch kaum hatte die Pandemie Fahrt aufgenommen, war es schwierig geworden, die Grenze zu passieren, so dass sie sich zu guter Letzt für Rolfs Seite des Bottnischen Meerbusens entschieden hatten, um dort gemeinsam auf Max’ Genesung zu warten.

Inzwischen hatte Rolf deshalb ein leicht schlechtes Gewissen. Was Kultur anging, war seine kleine Heimatstadt nun wirklich kein Mekka. Natürlich fand Max es hier langweilig, und er war noch immer zu geschwächt, um längere Bootsausflüge zu unternehmen.

»Guck nicht so bedröppelt«, sagte Max und lachte leise. »Ich höre ja selbst, wie ich klinge. Buhuhuuu, ich hab nichts zu tuhuun! Aber es geht schon wieder. Ein bisschen jammern, und schon ist es wieder besser.«

Vorsichtig tätschelte Rolf die Hand seines Ehemannes. Noch konnte man der Haut ansehen, wo der Katheter für die Zytostatika-Behandlung gesessen hatte.

»Jammer du nur. Ich spiele für dich jederzeit die Klagemauer.«

»Ich weiß. Danke!«

Rolf blätterte weiter durch die Lokalzeitung. Vielleicht stieß er ja dort auf ein paar verrückte Ideen für Max?

»Ach! Jetzt reißen sie endlich die Schule ab, die meine Töchter besucht haben.«

Und zwar keinen Tag zu früh, wenn es nach Rolf ging. Nach Jahren voller Anträge und Proteste sollte die Holmborg-Schule endlich dem Erdboden gleichgemacht werden.

Max warf einen Blick auf das Foto des baufälligen Klinkerkolosses. »Dürfte ja kein großer Verlust sein. Das Gebäude sieht wirklich nicht schön aus.«

Rolf war ganz seiner Meinung. »Nein, wirklich nicht. Das Holmborg war den Leuten schon in den Siebzigern, als es gebaut wurde, ein Dorn im Auge. Hässlich wie die Nacht und obendrein nicht gerade zweckmäßig. Und inzwischen ist das Gebäude schimmelig wie ein französischer Käse.«

»Mon dieu!«

»Aber ein klein bisschen traurig ist es schon, wenn ich an all die Weihnachts- und Frühlingsfeste denke, die dort in der Sporthalle gefeiert wurden … Ganz zu schweigen davon, dass ich drei Mal eine zu Tode verängstigte kleine Tochter am ersten Schultag dort abgeliefert habe. Ich hab noch versucht, ihnen zu erklären, dass nicht alle eine Polizeieskorte zur Schule bekämen – trotzdem war die Nervosität jedes Mal riesig.«

»Anscheinend hattest du damals schon ein paar Dad Jokes auf Lager.«

Rolf versank in Erinnerungen. »Als ich meinen Schulabschluss gemacht habe, war das Holmborg noch gar nicht fertig. Aber Mia ist dort zur Schule gegangen. Sie ist ja ein bisschen jünger als ich. Ich frage mich, was sie von der ganzen Sache hält. Womöglich hat sie es noch gar nicht gehört. Sie dürfte in Málaga ja keine Lokalzeitung lesen.«

Max war schweigsam geworden, und Rolf war sofort klar, dass er sich auf vermintes Terrain begeben hatte. Max hatte rein gar nichts gegen Kindheitserinnerungen oder Geschichten aus der Kindheit von Rolfs Töchtern, aber sobald Rolfs Ex-Frau in diesen Geschichten allzu viel Raum einnahm, kühlte die Stimmung immer gleich merklich ab. Rolf und Mia waren seit ihrer Scheidung Freunde geblieben – platonische Freunde –, dennoch schienen sich Mia und Max aus unerfindlichen Gründen als Rivalen zu begreifen.

Es war höchste Zeit, mit einem hinterlistigen Trick die Stimmung wieder aufzuhellen.

»Weißt du übrigens, wo Haie schwimmen lernen?«, fragte er.

»Äh … im Meer?«

»In der Hai School.«

Max verdrehte die Augen. »Ich bin wirklich gespannt, was mich am Ende umbringen wird: der Krebs, Covid oder deine dummen Witze!«

Die Sozialarbeiterin Maud Silén beendete ihr Telefonat und warf einen Blick auf die Küchenuhr.

16.58 Uhr.

In zwei Minuten würde sie ihr Diensthandy ausschalten. Sie fuhr sich mit den Fingern durch das grau melierte Haar. Allmählich wurde es wirklich zu lang. Sie hatte seit Jahr und Tag nicht mal mehr Zeit für einen Friseurbesuch gehabt.

16.59 Uhr.

Fast geschafft! Vielleicht würde sie vor dem Abendessen sogar noch einen Spaziergang machen können und einen letzten Rest Tageslicht abbekommen? Womöglich hatte der Salon am Marktplatz noch offen. Dort könnte sie vorbeischauen und direkt einen Termin ausmachen.

Nur noch ein paar wenige Sekunden. Sie stand vom Küchentisch auf und streckte den Rücken durch. Sie würde sich die neuen Laufschuhe anziehen, die sie im Schlussverkauf gefunden hatte, runter zum Strand spazieren und …

Oh nein! Das Handy klingelte. Maud kniff die Augen zu und gab sich alle Mühe, damit man ihr den Frust nicht anhörte, als sie den Anruf entgegennahm.

»Maud Silén, Jugendamt?«

»Hey, Maud, ich bin’s mal wieder«, sagte eine vertraute Stimme.

»Hallo, Jutta.«

War ja klar. Dieses Gespräch würde dauern. Den Spaziergang konnte Maud sich abschminken. Sie setzte sich wieder an ihren Tisch.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte sie so freundlich, wie sie nur konnte.

»Gut. Ich hab dieses Bett gekriegt, von dem wir neulich gesprochen haben: so eins, das man umbauen kann, wenn Veera größer wird, von Ikea. Meine Mutter hat es für zwanzig Euro auf dem Flohmarkt gefunden, dabei war es wie neu! Jetzt müssen wir nur noch eine neue Matratze besorgen. Matratzen vom Flohmarkt sind ja wohl eklig.«

»Ach, aber das klingt doch nach einem richtig guten Schnäppchen.«

»Und dann hab ich einen Nudelauflauf gekocht. Vegetarisch.«

Jutta Rossi hörte gar nicht mehr auf zu reden. Das Gespräch nahm den üblichen Gang: Jutta erzählte von ihrem Mietvertrag, von ihrer Teilzeitstelle im Supermarkt, von der Aussicht, dass ihr Vertrag verlängert und sie gleich nach der Probezeit eine Gehaltserhöhung bekommen würde, und vom Kinderzimmer, das sie derzeit einrichtete.

Das Komische war, dass Jutta nicht klang, als wäre sie im Geringsten stolz auf all ihre Fortschritte. Vielmehr erzählte sie alles in einem merkwürdig vorwurfsvollen Tonfall.

Maud summte und warf hier und da ein »Ach« oder ein »Das klingt ja gut« ein, wartete aber nur darauf, dass Jutta die übliche Frage stellte.

Und dann war es so weit.

»Haben Sie endlich ein Datum für mich? Wann zieht Veera wieder zu mir?«

Maud presste die Lippen zusammen und musste sich zusammenreißen, ehe sie antwortete.

»Bitte, Jutta. Darüber haben wir doch schon gesprochen. Es ist großartig, dass es Ihnen besser geht, dass Sie eine Arbeit und eine Wohnung gefunden haben – Sie haben wirklich dafür gekämpft. Meinen Respekt!«

»Mhm?«

Jutta klang ungeduldig, und Maud nahm erneut Anlauf.

»Der erweiterte Umgang mit Veera sollte inzwischen kein Problem mehr sein. Wir machen einen Termin und füllen den Antrag zusamm…«

Jutta fiel ihr ins Wort.

»Come on! Eine Stunde alle zwei Wochen? Das ist doch bescheuert! Veera hat doch keine Ahnung mehr, wer ich überhaupt bin! Sie vergisst mich zwischen den Treffen. Überlegen Sie mal – sie vergisst ihre eigene Mutter!«

»Ich verstehe natürlich, dass das schwer für Sie ist. Aber wenn ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht wird, dann dauert es, bis es wieder zu den leiblichen Eltern zurückziehen kann. Das haben wir doch schon zigmal besprochen, Jutta.«

»Aber ich bin ihre Mutter, nicht die!«

Maud hatte zusehends Mühe, sich zu beherrschen. Sie war müde, hatte Hunger und Rückenschmerzen, nachdem sie den ganzen Tag auf dem nicht eben rückenschonenden Küchenstuhl zugebracht hatte. Vor allem aber hatte sie nicht vergessen, wie es an jenem Tag, an dem sie die kleine Veera in Obhut genommen hatten, zu Hause bei Jutta Rossi ausgesehen hatte. Das würde sie niemals vergessen.

Die – wie du sie nennst – überschüttet Veera mit Liebe, Zuneigung und leckerem Essen, während du sie fast umgebracht hättest und dann mit so heftigen Entzugserscheinungen im Krankenhaus lagst, dass du fast aus dem Bett gefallen wärst, hätte sie Jutta Rossi am liebsten angefaucht.

Allerdings wäre das unprofessionell gewesen. Stattdessen räusperte sie sich.

»Ich glaube trotzdem, dass wir mit dem Antrag auf erweiterten Umgang anfangen sollten. Vielleicht wären ja Treffen in kürzeren Zeitabständen möglich? Und vielleicht könnten Sie sich ja mal in einer netteren Umgebung als im Familienzentrum treffen? Ich weiß, dass einige Familien sich auf einem Indoor-Spielplatz verabreden, wo es Matten gibt und Spielzeug. Das würde Veera doch bestimmt gefallen, oder?«

Am anderen Ende herrschte Stille. Insgeheim wünschte sich Maud, die Verbindung würde abbrechen.

Doch dann hörte sie erneut Juttas schrille, entrüstete Stimme.

»Mal ehrlich, wie könnt ihr überhaupt noch in den Spiegel schauen? Ihr vom Amt, könnt ihr nachts eigentlich noch ruhig schlafen?«

»Jutta …«

»Ihr haltet ein Kind von seiner Mutter fern und eine Mutter von ihrem Kind! Dafür werdet ihr also bezahlt? Dass ihr Familien zerstört, statt ihnen zu helfen? Ich hab alles gemacht, was ihr von mir wolltet – und trotzdem erzählen Sie mir jetzt, ich soll Anträge ausfüllen und auf Matten herumhüpfen. Veera soll wieder zu mir nach Hause ziehen! Ist das so schwer zu begreifen?«

JR aufbrausend, sofort erregt, evtl. high? Empfehlung: neuer Drogentest, notierte sich Maud, während sie darauf wartete, dass Jutta am anderen Ende Luft holte.

»Such dir eine Wohnung, habt ihr gesagt, und ich hab mir eine gesucht. Such dir einen Job, habt ihr gesagt, und das hab ich getan. Was wollt ihr eigentlich noch? Dass ich mich über Nacht in eine Heilige verwandele? Das kann ich nicht, sorry – aber ich tue mein Bestes, verdammt! In was für einer kranken Sadistengesellschaft leben wir eigentlich, wenn Leute keine zweite Chance bekommen?«

»Ich kann verstehen, dass Sie enttäuscht sind, aber …«

Jutta unterbrach sie erneut und hörte gar nicht mehr auf zu wettern. Maud schloss die Augen und hielt das Handy ein Stück von ihrem Ohr weg. Allmählich bekam sie von Juttas schriller Stimme Kopfschmerzen.

Mauds Ehemann Erik kam in die Küche geschlichen, die seit zwei Jahren zugleich Mauds Homeoffice war. Normalerweise störte er sie dort tagsüber nicht, aber inzwischen war es nach fünf, und anscheinend hatte er Hunger.

Maud deutete ein hilfloses Schulterzucken an, während Jutta Rossi immer weiter Dampf abließ.

»Herrgott noch mal, Pädos und Vergewaltiger sitzen keine fünf Minuten im Knast und folgen sofort wieder dem Willen ihres Pimmels, sobald sie raus sind. Aber eine Frau, die mal depressiv war und ein paar Fehler gemacht hat, die wird ihr Leben lang abgestraft! Finden Sie das fair? Na los, sagen Sie schon!«

»Bitte beruhigen Sie sich, Jutta …«

»Euer ganzer Kinderschutz ist doch eine Zwei-Klassen-Sache! Wir normalen Malocher, wir sollen uns wohl damit abfinden, dass wir wie Luft behandelt werden und die Reichen uns sogar unsere Kinder wegnehmen!«

Erik schaltete den Dunstabzug ein und goss großzügig Olivenöl in die Pfanne. Er zwinkerte Maud beiläufig zu, die sich inzwischen die flache Hand an die Stirn presste, um das Gespräch überhaupt weiterführen zu können.

Es zischte, als Erik eine Packung Hackfleisch in die Pfanne auskippte. Jutta Rossi zischte in Mauds anderes Ohr. Die Dunstabzugshaube dröhnte, draußen fuhr ein Feuerwehrfahrzeug mit eingeschalteter Sirene vorbei, Erik schob einen Küchenstuhl quietschend zur Seite … Und mit einem Mal fühlte es sich an, als würden Mauds Ohren einfach dichtmachen, als würde der Lärm irgendwo in weiter Ferne weitertosen, während sie selbst nur noch ihre eigene Atmung und ihr heftig hämmerndes Herz hören konnte.

Das hier überlebe ich nicht.

Ich bin fix und fertig.

Ich bin nicht stark genug.

Veera wühlte in ihrer Barbiekiste, konnte aber ihre liebste Barbie nicht finden, die aussah wie Elsa aus Die Eiskönigin. Veera nannte sie immer Mammi, weil ihre Mama Mimmi hieß und ein bisschen so aussah wie Elsa, nur dass ihr Bauch ein wenig dicker war. Und die Haare waren nicht so weiß. Wenn man ein Stück Mimmi und ein Stück Mama zusammenmischte, kam Mammi heraus.

Aber wo hatte sich Mammi denn nur versteckt? Am besten, Veera drehte die Kiste um, damit alles rausfiel.

So. Gefunden!

»Mammi! Man darf sich nich’ verstecken!«, sagte sie streng zu der Puppe.

»’schuuuldigung«, piepste Mammi zurück.

Heute, fand Veera, sollte Mammi ein lila Kleid tragen. Lila sah hübsch aus.

Mammi hatte eine Puppentochter namens Gullika, eine L. O. L.-Surprise-Puppe mit lila Haaren. Veera hätte auch gern lila Haare gehabt wie Gullika, aber Mama hatte zu ihr gesagt, dass Kinder sich die Haare nicht färben durften. Ganz schön gemein.

Mammi gab Gullika ein paar Küsschen.

»Schmatz, schmatz, schmatz!«

Veera ließ den Blick über ihre Spielsachen schweifen und entdeckte einen Dinosaurier. Jetzt jagte der Dinosaurier Mammi und Gullika, aber die beiden hatten gar keine Angst, sondern nahmen ihn einfach in die Arme.

»Mmh«, sagte Gullika.

»Roaarrrr!«, gab der Dinosaurier bedrohlich zurück.

»Hört auf zu streiten, jetz’ umarmen wir uns.«

»Roaarrrr!«

Der Dinosaurier versuchte, die Umarmung mit seinen Stummelärmchen zu erwidern.

Dann tauchte die echte Mama in der Tür auf.

»Hast du Hunger? Das Essen ist gleich fertig.«

»Okay.«

»Denk daran, dir noch die Hände zu waschen.«

»Jaaa.«

Veera wollte nur noch ein klitzekleines bisschen länger spielen. Sie drehte sich um und betrachtete die Sachen, die aus der Kiste gefallen waren. Das gruselige Kaninchen lag mit dem Gesicht nach unten oben auf dem Haufen. Veera starrte es einen Augenblick lang an, ehe sie es hochnahm. Die hellblauen Plastikaugen des Gruselkaninchens blitzten sie an, und der Mund grinste fies.

Veera spitzte die Ohren. Mama werkelte unten in der Küche, Melvin saß in seinem Zimmer, und Papa war wie immer weg.

Niemand würde es mitbekommen.

Veera nahm das Gruselkaninchen mit zu ihrem Basteltisch. Dort griff sie nach der Bastelschere und schnitt ihm beide Ohren ab, was nicht ganz einfach war. Die Ohren waren ziemlich dick und die Schere schlecht, aber nach mehreren Anläufen hatte sie es geschafft.

Anschließend warf Veera das Kaninchen mitsamt Ohren in den Papierkorb.

»Jetz’ kannsdu bluten und sterben«, flüsterte sie.

Es war schon halb zehn. Anna Glad war zu müde, um sich frische Nudeln zu kochen, aber es waren noch Reste von Tomas’ und Gottfrids Abendessen übrig. Die Spaghetti waren teils aufgeweicht und teils ausgetrocknet, trotzdem stellte sie sie in die Mikrowelle und schlang sie hinunter, sobald sie warm waren.

Tomas steckte den Kopf zur Küchentür herein.

»Ich dachte gerade, er hätte gerufen, aber er schläft wie ein Stein«, flüsterte er.

»Man muss ja auch früh einschlafen, wenn man den neuen Tag um vier Uhr früh beginnen will«, entgegnete Anna.

»Oh Mann, ja … So ein Morgenmensch bin nicht mal ich!«

Gottfrid hatte bereits geschlafen, als Anna nach Hause gekommen war, was ihr sehr leidtat. Eigentlich hatte sie sich gefreut, mit Goffe noch ein bisschen auf dem Sofa zu kuscheln. Stattdessen musste sie sich damit begnügen, in sein Zimmer zu schlüpfen und den Duft des kleinen Jungen im Leopardenpyjama einzuatmen. Die Bolognese-Party hatte sie ebenfalls verpasst.

»Was haben meine beiden Männer denn heute alles unternommen?«

»Ach, nichts Besonderes. Wir waren auf dem Spielplatz, einkaufen, haben einen PAW-Patrol-Marathon hingelegt, geputzt … und fünf Stunden lang Bolognese gekocht.«

Anna verbrannte sich an einem überraschend heißen Bissen die Zunge. Eilig goss sie sich ein Glas Wasser ein und nahm ein paar Schlucke.

»Die Soße! Richtig gut!«

»Mhm. Danke.«

Es war ein langer Tag gewesen. Trotzdem fühlte es sich nicht so an, als hätte Anna etwas Nennenswertes zustande gebracht.

Yrsa Manner war immer noch verschwunden. Anna hatte deren Arbeitgeber und mehrere Kolleginnen und Kollegen kontaktiert, doch seit Tagen hatte niemand mehr von Yrsa gehört. Auch ihr Handy war nach wie vor abgeschaltet.

Zum krönenden Abschluss hatte Annette sie noch auf einen Rundgang zum Holmborg geschickt, dem verbarrikadierten Schulgebäude, das demnächst abgerissen werden sollte. Seit das Gelände abgesperrt worden war, hatten sich dort wiederholt Jugendliche Zutritt verschafft, um Schmierereien und Chaos zu hinterlassen und, tja, um dort ihren Spaß zu haben.

Das Ganze entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Als das Holmborg noch als Schule genutzt worden war, hatte die Schülerschaft es nicht annähernd so verlockend gefunden wie jetzt, da es leer stand und verfiel. Anna hatte längst den Überblick verloren, aber sie schätzte, dass sie jetzt schon zum fünfzehnten Mal kurz vor Feierabend zu dem maroden Schulgebäude geschickt worden war.

»Sorry, dass es wieder so spät geworden ist«, sagte sie. »Ich hätte gern mit euch zusammen gegessen.«

»Mhm. Schon in Ordnung.«

»Gut, wenn das Holmborg endlich abgerissen ist. Dann muss ich dort nicht mehr jeden Abend hinfahren.«

»Und, hast du ein paar Hooligans aufgespürt?«

Anna lachte freudlos.

»Ach was, da waren nur ein paar Fünfzehnjährige, die auf einem Sofa im alten Lehrerzimmer rumhingen. Sie sahen sogar ganz nett aus.«

»Was machen die eigentlich da drin?«

»Rauchen, Energydrinks in sich hineinkippen, Musik hören … Nichts Spektakuläres. Sie haben auch artig das Weite gesucht, als ich sie darum gebeten habe.«

»Aber was zieht sie in die alte Schule? Haben die keinen anderen Ort, wo sie sich treffen können?«

Anna drehte die letzten Nudeln auf ihre Gabel.

»Anscheinend nicht.«

Heutzutage in dieser Stadt jung zu sein war garantiert kein Spaß. Das Jugendzentrum war geschlossen worden, der Fußballverein existierte nicht mehr, seit der Trainer von hier weggezogen war, und das Kino war auch nur am Wochenende geöffnet. Das Café am Marktplatz war gleich zu Beginn der Pandemie pleitegegangen, und Minderjährige durften ja nicht in eine Kneipe gehen. Da war selbst ein verschimmeltes altes Schulgebäude eine verlockende Alternative.

»Also, was sagst du?«, fragte Tomas, und Anna dämmerte, dass sie so tief in Gedanken versunken gewesen war, dass sie ihm gar nicht mehr zugehört hatte.

»Wie bitte?«

»Willst du dir diese Kita mit angucken?«

»Äh … Kita?«

Tomas bedachte sie mit einem erschöpften Blick.

»Ja, wie gesagt … Es gäbe einen freien Kitaplatz für Gottfrid in der ›Sonnenlichtung‹, gleich neben der Kirche.«

»Ah, natürlich! Und die können wir uns anschauen? Klingt doch super!«

»Okay«, sagte Tomas. »Es wird nämlich Zeit, dass Gottfrid in die Kita geht. Ihm wird noch langweilig, wenn er nur mit seinem Vater Zeit verbringt. Er braucht gleichaltrige Kinder um sich herum.«

»Eindeutig.«

Anna nickte nachdrücklich, um darüber hinwegzutäuschen, dass sie mit den Gedanken eben noch ganz woanders gewesen war.

»Und das Gleiche gilt für mich«, fuhr Tomas fort. »Ich will endlich wieder arbeiten gehen.«

Seit Tomas seinen Dienst in Tampere quittiert hatte, um mit Anna zusammenzuziehen, hatte er nur ein paar kleinere Aushilfsjobs gehabt – als Fortbildungsleiter oder hier und da als Berater. Leider wuchsen in einer Kleinstadt Ganztagsstellen für Polizisten nicht an Bäumen. Deshalb dachte er darüber nach, eine komplett neue Richtung einzuschlagen.

»Hast du nicht gesagt, dass das Vorstellungsgespräch gestern richtig gut gelaufen ist?«

»Doch, fand ich schon. Aber man weiß ja nie, vielleicht muss ich trotzdem weitersuchen.«

»Ich halte jedenfalls die Augen offen«, sagte Anna. »Sobald irgendwer eine freie Stelle erwähnt, schreie ich, so laut ich kann.«

»Ach, so funktioniert das?«, entgegnete Tomas. »Dann hab ich die Bewerbungsschreiben ja ganz umsonst aufgesetzt.«

»Na klar. Wer am lautesten schreit, kriegt den Job.«

»Was meinst du: Bist du zu müde, oder sollen wir uns noch eine Folge von irgendeiner Serie angucken?«

»Gern. Aber keine Doku und keine Krimiserie. Am liebsten irgendwas, wobei man nicht denken muss.«

Annas Handy vibrierte auf der Küchenanrichte.

Die Arbeit. Verdammt. Was war denn nun schon wieder?

»Hallo?«

»Ich hoffe, du bist noch nicht ins Bett gegangen«, meldete sich Annette Käld.

»Fast … Was gibt’s?«

»Es scheint, als hätten wir deine verschwundene Schulsekretärin gefunden.«

Zwei Stunden zuvor

Es gab Leute auf dieser Erde, die einfach nie lernten, wie man rückwärts einparkte. Und dann gab es Leute wie Risto, der jedwedes Fahrzeug über jedweden Untergrund steuern konnte.

Bei Dunkelheit und Regen konnte er zwar kaum noch erkennen, wohin er unterwegs war, trotzdem manövrierte er das riesige Absaugfahrzeug mit sicherer Hand an all den schief abgestellten Kleinwagen vorbei, die entlang der schmalen Straßen parkten. Dass er mal einen anderen Wagen gestreift hatte, war dreißig Jahre her, und er hatte nicht vor, dass ausgerechnet heute zu wiederholen.

Trotzdem war der Spielplatz ungünstig gelegen. An einem Fußgängerüberweg musste Risto zurücksetzen, um so nah wie nur möglich an das Tor heranzukommen, damit der Absaugschlauch reichte. Aber natürlich ging es gut.

Er brauchte gar nicht auf die Uhr zu sehen, um zu wissen, dass er auch in dieser Woche Überstunden anhäufen würde. Es war ein nasser Winter gewesen, mitsamt überschwemmten Gebäuden und Außenflächen. Den heutigen Arbeitstag hatte er auf einer Baustelle begonnen, die ruhen musste, bis er das Wasser dort abgepumpt hatte. Anschließend hatte er den Keller eines Hochhauses leer gepumpt. Den zu sanieren würde ein teurer Spaß werden. Es war ein trauriger Anblick gewesen – all die Habseligkeiten der Mieterschaft, Fotos, Unterlagen, Kleidungsstücke, die dort im Wasser zerstört worden waren …

Der Spielplatz lag im Dunkeln. Die Straßenbeleuchtung war anscheinend durch einen Kurzschluss der Nässe zum Opfer gefallen. Risto griff nach seiner Taschenlampe und sprang aus dem Führerstand, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen.

Es würde ein einfacher Job werden, auch wenn es ein bisschen dauern würde, weil es immer noch regnete. Aber an sich wären die Arbeitsschritte nicht kompliziert: Ein Gully war verstopft und übergelaufen. Das konnte am Laub oder an den Kieseln liegen, die dort bei Minusgraden festgefroren waren und jetzt den Ablauf blockierten. Oder aber ein Kind hatte irgendwas in den Gully gestopft. Auf einem anderen Spielplatz hatte Risto mal dreiundzwanzig Plastikschaufeln aus einem Ablauf gefischt. Man bekam schon so einiges zu sehen in seinem Job.

Dann legte er los. Er zog seine Warnweste und Handschuhe an, hob den Schlauch über den Zaun und warf das vordere Ende in die Pfütze, um erst das Wasser auf der Oberfläche abzusaugen.

Die Pumpe dröhnte durch den Abend, und in ein paar Fenstern ringsum tauchten neugierige Gesichter auf, verschwanden aber gleich wieder, da es nichts Spannendes zu sehen gab. Risto zündete sich eine Zigarette an.

Als der Wasserspiegel ein Stück gesunken war, konnte er endlich den Gullydeckel erahnen. Mit einiger Mühe stemmte er ihn hoch und warf das Mundstück des Schlauchs in den Schacht.

Das Dröhnen ging weiter. Risto hatte Hunger. Wenn er hier fertig wäre, würde er sich einen Dönerteller mit extra Knoblauch gönnen. Dazu eine große Fanta – eine Fanta light natürlich, man musste schließlich auf die Figur achten.

Er rauchte ganze drei Zigaretten, scrollte durch zig Nachrichtenseiten, suchte in Kleinanzeigen-Portalen nach Ersatzteilen für sein Motorrad und rief die Links auf, die seine Frau ihm erwartungsfroh geschickt hatte. Sie war ganz versessen darauf, in einem schicken kinderfreien Hotel Strandurlaub zu machen. Risto wusste nicht recht, ob »kinderfrei« bedeutete, dass Kinder dort keinen Zutritt hatten, oder ob erwartet wurde, dass die Gäste »erwachsenen« Aktivitäten nachgingen. Das ging aus den Links nicht hervor. Vielleicht sollte er sie überraschen und kurzerhand Urlaub für sie beide buchen, sobald die Überstundenzuschläge auf seinem Konto gelandet wären. Ein bisschen Sonne würde ihnen sicher nicht schaden, und erwachsene Aktivitäten ehrlich gesagt auch nicht.

Mit einem Mal schien sich die Pumpe zu verschlucken, und Risto packte sein Handy weg.

Was war denn nun wieder los?

Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so bald am Grund des Brunnenschachts ankäme, allerdings klang das hier auch eher, als würde im Mundstück des Schlauchs irgendwas feststecken.

Er stellte die Pumpe ab, trat an das Loch im Boden heran und blickte nach unten.

Tja, dort war nichts zu sehen. Da musste er wohl die Taschenlampe zu Hilfe nehmen.

Die Pumpe würde doch wohl nicht so kurz vor Feierabend den Geist aufgeben? Verdammter Mist.

Er richtete den Lichtkegel nach unten, konnte aber nur schwarzes Wasser sehen, also ruckte er mehrmals fest am Schlauch. Vielleicht löste sich so, was auch immer sich dort verkeilt hatte.

Verflucht noch mal, da war wirklich etwas … etwas Rundes, in der Größe eines Fußballs …

Ein Fußball mit kurzen blonden Haaren.

1969