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Stephanie Seiler ist 22 Jahre jung und steht am Beginn einer vielversprechenden Karriere. Die frühere Leistungssportlerin gilt als der aufsteigende Stern am Modelhimmel und als eine der schönsten Frauen der Branche. Doch von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr, wie es vorher war. Sie wird Opfer einer brutalen Entführung und entkommt nur um Haaresbreite dem Tod. Seelisch wie körperlich schwer traumatisiert verliert sie ihre Vergangenheit in einem Zeugenschutzprogramm, das notwendig ist, um sie vor dem Täter, von dem jede Spur fehlt, zu schützen. So muss Stephanie Seiler sterben und Patrizia Bertram wird geboren. Zwei Jahre später trifft Michael Stadler, ein junger Triathlet, bei seiner Vorbereitung zum legendären Ironman Hawaii, durch einen bizarren Zufall auf ein abgemagertes Mädchen. Ganz offensichtlich vom Leben schwer gezeichnet, weigert sie sich hartnäckig, über ihre Vergangenheit zu sprechen und dennoch zieht sie ihn vom ersten Augenkontakt an geradezu magisch in ihren Bann. Während der folgenden Wochen lernen zwei Menschen mehr und mehr, was es bedeutet, einen Seelenverwandten zu finden, aber ihre gemeinsame Zeit ist begrenzt, da Michaels Wettkampf vor der Tür steht. Nach seiner Rückkehr aus Hawaii findet sich jedoch keine Spur mehr des mysteriösen Mädchens, und bei seiner monatelangen Suche nach ihr wird immer offenkundiger, dass er einem Phantom ohne Vergangenheit hinterherjagt. Als zwei Jahre später wie aus dem Nichts plötzlich eine atemberaubende Frau vor ihm steht, reichen die Schatten ebenjener Vergangenheit bedrohlich nahe an die Gegenwart heran. Steffis Entführer von damals, ein bezahlter Auftragskiller, hat erfahren, dass sie noch lebt und ist ihr bereits auf der Spur. Und noch während Michael Stadler nur langsam die wahre Geschichte der Frau entdeckt, die er in Cannobio als Patrizia Bertram kennenlernte und die ihn jetzt als Stephanie Seiler um den Schlaf bringt, droht sie ihrem Peiniger von damals erneut in die Hände zu fallen.
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Seitenzahl: 850
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Roman
Georg Kustermann
Die schicksalhafte Begegnung zwischen dem Sonnyboy Michael Stadler und der rätselhaften Patrizia Bertram ist der Beginn einer besonderen Beziehung zwischen zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Eine junge Frau, die offensichtlich von einem traumatischen Erlebnis völlig aus der Bahn geworfen wurde und die verzweifelt versucht, sich ins Leben zurück zu kämpfen und ein ehrgeiziger Triathlet, der ihr zunächst fast gegen seinen Willen seine Hilfe anbietet.
Doch je tiefer er in ihre geheimnisvolle Vergangenheit eintaucht, desto mehr wird er von der mysteriösen Unbekannten in ihren Bann gezogen. Als Patrizia dann von einem Tag auf den anderen spurlos verschwindet, beginnt die Suche nach einer Frau, für die er bereits viel mehr als nur Interesse empfindet.
Sie führt ihn auf die Spur eines entführten Fotomodells und eines brutalen Verbrechens, das bereits zwei Jahre vorher seine heile Chiemgauer Heimat erschütterte.
Georg Kustermann, Jahrgang 1962, Vater zweier erwachsener Söhne, lebt und arbeitet mit seiner Frau als Zahnarzt im Chiemgau.
Neben seinen Reisen, die den begeisterten Bergsportler schon in viele entlegene Winkel dieser Erde geführt haben, war Lesen und Schreiben schon immer eine seiner Leidenschaften. „Die tote Zeugin“ ist sein erster Roman.
Die tote Zeugin
Texte: © Copyright 2020 by Georg Kustermann
Umschlaggestaltung: © Copyright 2020 by Verena Schindler
Alle Rechte vorbehalten. Gedruckt in Deutschland. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Weise verwendet oder reproduziert werden, außer bei kurzen Zitaten, die in kritischen Artikeln oder Rezensionen enthalten sind.
Dieses Buch ist eine Fiktion. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen, Ereignissen oder Orten ist völlig zufällig.
Für Informationen kontaktieren Sie bitte:
Georg Kustermann
Hermann-Löns-Str. 24
83059 Kolbermoor
Erste Auflage: Juli 2020
Es war dieses völlige Fehlen von Mitleid, das ihr Angst einjagte und sie an allem zweifeln ließ, was ihr jemals wichtig gewesen war.
Diese Abwesenheit jeglicher Menschlichkeit, mit der die Frau mit der Waffe in der Hand mitten in das fast schwarze, ausdruckslose Auge des gefesselten Mannes zielte.
Ein Auge, das sie schon damals an ein wildes Tier erinnert hatte, das keinerlei Gefühl preisgab und das nicht die geringste Spur von Angst zeigte.
Sie war einmal eine Frau gewesen, die gelebt und geliebt, gelitten und gelacht hatte.
Nichts davon war jetzt noch übrig, als sie durchlud, und das metallische Geräusch ein nachhallendes Echo im formlosen Raum ihres blanken Hasses hinterließ, während sie über das Korn der Waffe das schwarze Auge wie die Mitte einer Zielscheibe anvisierte.
Sie wollte Angst in diesem Auge sehen. Angst und Schmerz!
Aber in dem Auge, diesem eiskalten Auge, war keinerlei Regung erkennbar. Genauso wenig wie in dem Körper, der die Waffe hielt. Ihrem eigenen Körper.
Das einzige, das sie spürte, war die gleichgültige Erkenntnis, dass da nichts mehr war.
Kein Mitleid, keine Trauer, kein Leben.
Nur die Angst, die sie in dieses Auge verbannt sehen wollte, damit ihr eigenes Herz wieder frei sein konnte.
Und dieser Hass.
Doch schlimmer als der Hass in diesem Traum und die sich verdichtende Ahnung tief in ihrem Innersten, dass sie selbst bald nur noch Hass sein würde, war der Albtraum, in welchem sie gefesselt vor ihm lag.
Da drückte sie ab …
"Mein Hass hat mir selbst immer mehr geschadet, als demjenigen, den ich hasste"
Max Frisch
"An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser"
Charlie Chaplin
Michael Stadlers Lungen brannten und sein Mund war wegen seiner hohen Atemfrequenz wie ausgetrocknet. Seine Oberschenkel glühten wie Feuer und sein Herz pumpte mit über 180 Schlägen pro Minute Blut durch seinen mit Endorphinen überschwemmten Körper. Sein Puls hämmerte gnadenlos hinter seinen Schläfen und die schweren, kalten Tropfen des herabprasselnden Regens vermischten sich mit seinem Schweiß zu einem Gemisch, das in Strömen über sein Gesicht lief.
Der Wolkenbruch, der vor etwa einer Stunde das Tal wie ein ausgehungertes Raubtier überfallen hatte, tauchte die Berghänge in ein konturloses, milchiges Grau. Der schmale Bergpfad unter seinen Schuhen, aus welchen das Wasser bei jedem Schritt herausschmatzte, war kaum zu erkennen. Die Luft war hier auf fast eintausendsechshundert Meter über Meereshöhe für einen August ungewöhnlich kalt und tiefhängende, zerfetzte Regenwolken umwoben die felsigen Gipfel der umliegenden Berge wie ruhelose Gespenster ihre Grabstätten.
Aber weder Kälte noch Nässe drangen richtig in sein Bewusstsein vor. Er bewegte sich mittlerweile wie in einem Tunnel und hatte diesen meditativen Zustand erreicht, wo Geist und Körper beginnen, sich voneinander zu lösen. Seine Wahrnehmung schwebte mit eigenartiger Leichtigkeit etwas über ihm und betrachtete mit fast distanziertem Interesse dieses einen Meter neunzig große Kraftpaket aus Muskeln und Sehnen unter ihm, das sich wie eine perfekte Maschine allem Unbill zum Trotz unaufhaltsam weiter den Berg hinaufarbeitete.
So wie ein Zuschauer im Kino verfolgte er den Kampf dieses dampfenden Körpers, sah ihn keuchend über einen Felsabsatz springen und erschrak fast, als er plötzlich wie festgefroren stehen blieb. Wie von einem unwiderstehlichen Riesenmagneten angezogen, zwang es ihn in diesen Körper zurück, in einem fast schmerzhaft hellen Aufblitzen wurden sein Körper und sein Geist wieder eins. Dann starrte er auf etwas, das es hier oben am Berg eigentlich nicht geben durfte. Das Kinoprogramm hatte gewechselt und auf eigenartige Weise war er in einer Szene von John Ronald R. Tolkiens Herrn der Ringe gelandet.
Vor ihm saß: Gollum!
Tropfnass, wie von wabernden Nebeln aus Mordor umzogen, hockte der, zusammengekauert und die dürren Arme um seinen eigenen Oberkörper geschlungen, unter einer überhängenden Felswand, wo er notdürftig Schutz vor dem prasselnden Regen gesucht hatte und starrte ihn mit riesengroßen Augen an. Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht, so als wäre Michael der Herr der Nazgul und im Begriff, ihn vor Sauron zu schleppen.
Irgendwie war das alles nicht real. Vor Anstrengung noch heftig keuchend wischte er sich mit einer Hand über seine brennenden Augen, kniff sie kurz zusammen und riss sie dann wieder weit auf. Aber alles blieb, wie es war. Gollum war immer noch da.
In diesem Augenblick hatte die Achterbahn der Gefühle, die ihn schon während der letzten zehn Monate ständig von oben nach unten katapultiert hatte, einen weiteren skurrilen Höhepunkt erreicht.
Vor gut drei Jahren hatte er kurz entschlossen sein Architekturstudium auf Eis gelegt, um alles auf die Karte Leistungssport zu setzen. Der dreiundzwanzigjährige Student hatte ohne Wenn und Aber alles seiner großen Leidenschaft, dem Triathlon untergeordnet. Lange Zeit hatte es nicht so ausgesehen, als ob sich diese Entscheidung wirklich auszahlen würde, aber im vergangenen Jahr war der Achterbahnwagen endlich ganz oben angekommen. Nach monatelangem, knochenhartem Wintertraining waren seine Leistungen in der abgelaufenen Saison regelrecht explodiert und er hatte nach dem Punktesystem der World Triathlon Corporation endlich die ersehnte Qualifikation für den legendären Ironman auf Hawaii geschafft. Wie besessen hatte er daraufhin begonnen, auf ein einziges Ziel hin zu trainieren. Er wollte die 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und den abschließenden Marathonlauf durch die Lavafelder von Kona mit einem Spitzenplatz absolvieren und sich damit in der Liste der sogenannten Eisenmänner verewigen.
Aber der Achterbahnwagen tat das, wofür ein Achterbahnwagen gebaut ist. Er war von ganz oben mit Karacho nach ganz unten gerast. Noch im Herbsttraining war er auf seiner Rennmaschine von einem Geländewagen auf die Hörner genommen worden, dessen Fahrer seinem Handy mehr Aufmerksamkeit als der Straße gewidmet hatte. Mit einem kaputten Sprunggelenk und fünf gebrochenen Rippen war wochenlang an kein ernsthaftes Training mehr zu denken gewesen. Trotzdem hatte er sich mit eiserner Disziplin zurückgekämpft und bereits im März wieder eine beachtenswerte Form gehabt.
Der Schlitten war wieder oben gewesen und Michael hatte motiviert wie nie seinen Trainingsplan weiter durchgezogen. Für Juli stand der Wettkampf in Roth auf dem Plan, dessen Weltklassefeld ihm zeigen würde, wo er wirklich stand. Aber bevor er es überhaupt bemerkt hatte, war der Wagen schon wieder rasant nach unten geschossen. Genau sechs Wochen vor Roth war er nach einer langen Rennradeinheit spät abends nach Hause gekommen, wo seine derzeitige Freundin Conny ziemlich angefressen in der gemeinsamen kleinen Wohnung saß.
„Hallo Maus, du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Was ist denn passiert?“, hatte er sie überrascht gefragt und nur eine kopfschüttelnde Antwort geerntet.
„Bis vor drei Stunden hatte ich eigentlich vor, mit dir ins Kino zu gehen und dann den Abend … besonders ausklingen zu lassen.“
„Ah, tut mir echt leid! Das mit dem Kino habe ich irgendwie völlig verpennt, aber der Abend ist ja noch nicht vorbei, oder?“, hatte er mit einem charmanten Grinsen und einem funkelnden Blick seiner türkisblauen Augen versucht, die Stimmung zu retten.
„Du kapierst es echt nicht, oder?“
„Was? Was kapiere ich nicht?“, wieder hatte sie resigniert den Kopf geschüttelt.
„Nichts gegen Sport, Michael! Aber dieser Sport frisst dich mit Haut und Haaren und du merkst das überhaupt nicht!“
Damit hatte sie seinen wunden Punkt getroffen und sofort stellten sich seine Stacheln auf.
„Darüber haben wir doch schon zigmal geredet. Du hast genau gewusst, worauf du dich einlässt! Ich war schon Triathlet, als du mich kennengelernt hast und früher hast du das auch mal ganz toll gefunden!“
„Ja, aber da gab es neben dem Triathlon auch noch andere Dinge in unserem Leben. Aber seit du dich auf diesen Scheiß-Ironman vorbereitest, nimmst du die Menschen um dich herum praktisch überhaupt nicht mehr wahr!“
„Blödsinn, das stimmt überhaupt nicht, ich …“
„Welchen Tag haben wir heute?“
Irritiert hatte er gezögert.
„Donnerstag. Was hat das mit meinem Sport zu tun?“
Connys trauriges Lächeln war schwer zu deuten gewesen.
„Genau das ist es Michael! Mit deinem Sport hat das nichts zu tun, aber mit uns! Genau heute vor einem Jahr haben wir uns kennen gelernt. Heute wäre unser Jahrestag gewesen!“
Er hatte betreten geschwiegen.
„Ich kann das nicht mehr, Michael! Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, dem das Tretlager seines Rennrades wichtiger ist als die Menschen neben ihm.“
Sie hatte ihn noch einmal kurz umarmt, wortlos zwei fertig gepackte Koffer aus dem Schlafzimmer geholt und war aus seinem Leben verschwunden. Er hatte danach nur die Tür angestarrt, die hinter ihr ins Schloss gefallen war und sich wie ein Gefangener in einer Zeitschleife gefühlt: Diese Szene hatte er nicht zum ersten Mal erlebt. Auch seine vorhergegangenen Beziehungen hatten praktisch genauso geendet, weil keine seiner Freundinnen verstanden hatte, dass Profi-Triathlet kein Teilzeitjob war. Er liebte Frauen, wirklich. Gutaussehende allemal! Aber er würde für kein weibliches Wesen dieser Erde seinen Sport opfern und wenn sie das nicht kapierten, dann sollten sie ihm alle zusammen den Buckel runterrutschen.
Die nächsten Wochen hatte er dann eigenartig gefühlstot und fast roboterhaft weiter sein Training abgespult. Trotzdem, oder auch vielleicht gerade deshalb hatte er in Roth einen erstklassigen Wettkampf abgeliefert.
Nach der Siegerehrung hatten ihn zunächst reichlich Alkohol und dann eine heiße australische Triathletin über sein neues Single-Dasein hinweggetröstet. Drei Tage später war ihm eines klar gewesen: Er brauchte Abstand! Abstand von zu Hause, wo ihn noch alles an Conny erinnerte und Abstand von sich selbst, um sich ungestört auf Hawaii vorbereiten zu können.
Also hatte er kurzerhand seine Sachen gepackt, sich von seinen Eltern und seinen beiden Schwestern verabschiedet, und war vom heimatlichen Oberbayern nach Cannobio am italienischen Westufer des Lago Maggiore umgezogen. Sein enger Freund Marcel Scolli, der gleichzeitig sein Physiotherapeut war, arbeitete in einer Sportklinik in Locarno und hatte hier eine Wohnung, die Michael schon öfter für Trainingsaufenthalte genutzt hatte. Hier wollte er Conny vergessen und gleichzeitig in die letzte Trainingsphase vor Hawaii, das sogenannte Tapern einsteigen. Tapern heißt, die normalerweise enormen Zeitumfänge des Triathlontrainings schrittweise zu reduzieren, die Erholungsphasen auszudehnen, aber weiterhin sehr intensive Trainingsspitzen zu setzen.
Und genau das tat er, als er an diesem Abend im Wolkenbruch die Nordhänge des über zweitausend Meter hohen Monte Zeda hinaufjagte. Er hatte heute tagsüber einen Termin bei Marcel in Locarno wahrgenommen, aber abends unbedingt noch eine zusätzliche Trainingseinheit einschieben wollen. Ganz spontan hatte er seine Stirnlampe eingepackt und war von Falmenta aus zu einer abendlichen Laufeinheit in Richtung Gipfel gestartet.
Und jetzt stand er hier im strömenden Regen vor Gollum und wartete darauf, dass er aufwachen und neben Conny in seinem warmen Bett liegen würde. Doch dieser plötzlich aus seiner Erstarrung erwachende Gollum ließ alles auf skurrile Weise real werden. Er sprang auf und versuchte geradezu panisch vor ihm wegzulaufen, strauchelte aber sogleich und griff mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen linken Knöchel.
„He, ganz ruhig, alles gut! Ich tue dir nichts! Keine Angst!“
Immer noch schwer um Atem ringend, trat Michael einen Schritt auf das am Boden kauernde Geschöpf zu. Dieses hob sofort in einer Abwehrreaktion die Arme vors Gesicht und verharrte reglos.
„Fehlt dir etwas? Hast du dir wehgetan? Kann ich dir helfen?“
Ganz automatisch sprach er deutsch und nicht italienisch.
Langsam sanken die Arme wieder und Michael bot sich im schwindenden Licht des ausklingenden Tages die Möglichkeit, sein Gegenüber etwas eingehender zu betrachten.
Gollum war mit ziemlicher Sicherheit eine entsetzlich abgemagerte Frau.
Eher jung, nicht so einfach zu sagen, um die zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt vielleicht, und Michael konnte sich nicht erinnern, jemals einen erbarmungswürdigeren Anblick gesehen zu haben.
Aus ihren extrem kurz geschorenen blonden Haaren liefen Rinnsale von Regenwasser in ihr Gesicht. Fast pergamentartig dünne Haut spannte sich über ihre hohen, erschreckend eingefallenen Wangen, wodurch ihr Mund breit und groß wirkte. Das auffallendste aber waren die Augen. Riesengroß, mit langen Wimpern starrten sie Michael wie von innen beleuchtet an, und trotz der hereinbrechenden Dunkelheit konnte er sehen, dass sie von einem eigenartig intensiven Blauton waren.
„Es wird dunkel!“
Eine leise, aber überraschend weiche und angenehme Stimme brachte nur diesen einen, ebenfalls deutschen, aber nicht gerade geistreichen Satz heraus.
„Stimmt, seit die Erde vor einigen Milliarden Jahren beschlossen hat, sich um die eigene Achse zu drehen, wird es abends dunkel. Das ist wohl so!“
„Ich kann hier nicht bleiben, wenn es dunkel wird.“
Michael war schon im Begriff, erneut mit einer spöttischen Bemerkung zu antworten, aber irgendetwas im durchdringenden Blick dieser großen, klaren Augen veranlasste ihn, seinen Kommentar hinunterzuschlucken. Panik! Das war nackte Panik, die darin zu lesen war. Panik vor der Dunkelheit, aber sicher zum Teil auch vor ihm. Ganz behutsam, um sie nicht erneut zu erschrecken, trat er wieder einen Schritt näher und streckte ihr vorsichtig seinen Arm entgegen.
„Dann steh auf, lass uns schauen, dass wir vom Berg herunterkommen! Ich bin hier schon oft gelaufen und kenne den Weg ziemlich gut. Wenn wir uns ranhalten, können wir in zwei Stunden in Falmenta sein. Dort steht mein Auto. Von wo kommst du denn her und was machst du um diese Zeit hier oben?“
Es arbeitete in ihr. Das sah Michael genau. Widersprüchlichste Gefühle spiegelten sich in diesem fast surreal wirkenden Gesicht. Einerseits Angst vor ihm, andererseits die Hoffnung auf Hilfe. Einerseits die Scheu vor Kontakt, andererseits die Panik vor der Dunkelheit. Sie starrte ihn weiter an, öffnete ihren Mund und setzte scheinbar zu einer Antwort an. Doch dann schloss sie ihn wieder und senkte nur stumm ihren Kopf.
Kalte Regentropfen prasselten auf Michaels Rücken, während er still seinen Entschluss verfluchte, heute noch auf diesen dämlichen Berg zu rennen. Er hatte kurzzeitig überlegt, seine Standardstrecke am See entlang zu laufen. Hätte er das getan, dann säße er jetzt vermutlich schon wieder gemütlich daheim in seiner Wohnung. Stattdessen hatte er jetzt eine offenbar etwas minderbemittelte Schreckgestalt am Hals, die er aber in diesem Zustand keinesfalls hier sitzen lassen konnte. Sie war völlig durchgefroren und schlotterte am ganzen dürren Körper. Sie musste runter von diesem Berg, und zwar schleunigst. Er startete einen zweiten Versuch.
„Na los! Steh auf, dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg nach unten! Du gehörst ins Warme, wenn du dir hier nicht den Tod holen willst!“
Sie hob wieder ihren Kopf und erstaunlicherweise war sie tatsächlich in der Lage, einen ganzen Satz zu bilden.
„Ich kann nicht mehr richtig gehen, ich habe mir den Fuß verletzt.“
„Jetzt gerade? Bei dem läppischen Sturz?“
„Nein, schon vorher. Ich bin ausgerutscht und habe es richtig krachen hören. Ich kann nicht mehr auftreten. Ich glaube der Knöchel ist gebrochen! Ich kann aber nicht hierbleiben. Nicht wenn es dunkel wird!“
Na super! Weltklasse! Kein gemütlicher Abend mehr, sondern ein echter Fall von Bergnot!
Er ging in die Knie und hockte sich neben sie.
„Darf ich mir den Fuß mal anschauen? Ich verstehe ein bisschen was davon!“
Sie zuckte sofort zurück, als er seine Hand nach ihrem Bein ausstreckte. Der Regen wurde immer heftiger, allmählich begann Michael, das Ganze wirklich zu nerven.
„Also hör mal zu! Ich bin kein Voodoo-Zauberer mit telepathischen Fähigkeiten. Wenn ich dir helfen soll, musst du mir den Fuß schon zeigen!“
Die Angst und ihr Verstand trugen ganz offensichtlich einen heftigen Kampf in ihr aus. Es siegte der Verstand. Sie krempelte ihre patschnasse Jeans ein wenig hoch und streckte ihm langsam ihren Fuß entgegen. Er erschrak, als er vorsichtig ihre Fessel umfasste. Erstens weil ihr Unterschenkel so entsetzlich mager war und praktisch nur aus Haut und Knochen bestand. Zweitens, weil er durch die papierdünne Haut auf der geschwollenen Knöchelaußenseite ziemlich rasch den eindeutig gebrochenen Wadenbeinkopf tasten konnte.
„Okay, ich fürchte, du hast Recht! Der ist wirklich gebrochen. Das wird jetzt tatsächlich ein bisschen schwieriger werden.“
Oh Mann! Damit war die heutige Trainingseinheit endgültig erledigt, und während seine Konkurrenten wahrscheinlich gerade aktive Regenerationsmaßnahmen durchzogen, hockte er hier im Regen bei dieser Schreckschraube. Aber was blieb ihm übrig?
Er dachte kurz nach und ging im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch.
Sogar wenn er ein Handy dabeigehabt hätte, wäre es nutzlos gewesen, weil er auf Grund früherer Touren schon wusste, dass sie sich hier in einem Funkloch befanden.
Drei Möglichkeiten blieben offen: Erstens, sie hier warten lassen und alleine so schnell wie möglich Hilfe herbeiholen. Würde bedeuten … er überschlug rasch im Kopf. Eine knappe Stunde runter, Hilfe rufen, Helikopter auf die Lichtung bei Mazzarocco … nein! Ein Heli flog in der Nacht sicher nicht mehr, Bockmist! Also: Hilfsmannschaft anfordern, etwa eine Stunde. Aufstieg, weitere zwei Stunden. Sie müsste also mindestens vier bis fünf Stunden hier warten!
Zweitens könnte er versuchen, sie runterzutragen. Dürr wie sie war, hätte er sich das schon zugetraut, aber im Regen und in der Dunkelheit?
Drittens, das Bivacco Alpe Forna!
Biwakschachteln sind Notunterkünfte, die überall in den Alpen angelegt wurden, um Bergsteigern Übernachtungsplätze in Notsituationen anzubieten. Keine fünfzig Höhenmeter über ihnen befand sich eine solche. Michael kannte den kleinen Unterschlupf von früheren Touren: Eine Steinhütte circa drei mal drei Meter groß, eine Holzpritsche, wenn sie Glück hatten, ein paar alte Militärdecken. Er wandte sich wieder an das Mädchen, das immer noch bekümmert auf ihren Fuß starrte.
„Hör zu! Ich könnte Hilfe holen …“
„Nein!“, regelrecht entsetzt schüttelte sie den Kopf.
„Bitte, ich kann nicht alleine hierbleiben, nicht im Dunkeln!“
„Keine Panik! Ich habe den Gedanken selber schon wieder aufgegeben. Kennst du das Bivacco, knapp oberhalb von hier?“
Er erntete ein zögerndes Kopfnicken.
„Gut! Glaubst du, du schaffst es bis da hinauf, wenn ich dir helfe?“
Sie blickte ihn verständnislos an.
„Ja hallo, schau nicht so entsetzt! Hierbleiben willst du nicht, runtergehen kannst du nicht. Bleibt also nur eines: rauf ins Biwak und übernachten. Jetzt komm schon, los! Ich bin übrigens Michael und wie heißt du? Wir sollten zumindest unsere Namen kennen, wenn wir schon die Nacht zusammen verbringen werden“, meinte er mit einem sarkastischen Lachen.
Patrizia Bertram hatte offenbar eine fast manische Berührungsangst. Nachdem er ihr auf die Beine geholfen hatte, war er zunächst überrascht, wie groß sie war, nur ungefähr zehn Zentimeter kleiner als er selbst. Dann diskutierte er im strömenden Regen weitere sinnlose fünf Minuten mit ihr, weil sie sich partout nicht von ihm tragen lassen wollte. Mittlerweile war er ausgekühlt und tropfnass. Ihn fröstelte und er hatte richtig Angst, sich eine Erkältung einzufangen. Hawaii wäre damit definitiv gestorben. Irgendwann wurde es ihm zu bunt.
„Hör zu, Patrizia! Ich habe keine Lust, mir hier draußen einen abzufrieren. Entweder du lässt dich jetzt von mir da rauf tragen, oder ich haue wieder ab und schicke dir die Bergrettung! Ich habe die Faxen jetzt allmählich dicke!“
Die Angst vor der Dunkelheit war anscheinend größer als vor ihm. Sie zitterte allerdings am ganzen Körper, als er sie huckepack nahm. Ob vor Kälte oder vor lauter Panik konnte Michael nicht sagen, es war ihm in diesem Moment aber auch egal. Er wollte nur rauf und raus aus dem eiskalten Regen und den schneidenden Windböen. Zwanzig Minuten später hatten sie im letzten schwindenden Tageslicht die kleine Hütte erreicht. Er setzte Patrizia vorsichtig vor der Tür ab, öffnete diese und trat ein. Er holte die Stirnlampe, die er für den Abstieg dabeihatte, aus seiner Trikottasche und blickte sich in dem kleinen Raum um.
Links hinten an der Wand stand ein kleines Holzregal vor nackten Natursteinwänden, davor ein kleines Tischchen mit einem klapprigen Holzstuhl, dessen Sitzfläche mit altem Stroh bespannt war. Den größten Teil des kleinen Raumes nahm eine Art Holzpritsche ein, ungefähr einsfünfzig mal zwei Meter groß, auf der – Gott sei Dank – ein paar alte, graue Militärdecken lagen. Michael atmete auf.
„Hereinspaziert, so wie es aussieht, können wir es uns hier einigermaßen gemütlich machen.“
Patrizia hüpfte gerade auf einem Bein zur Tür herein und die Veränderung, die mit ihr vor sich ging, als sie seine Stirnlampe sah, war verblüffend!
„Eine Lampe, du hast ja eine Lampe! Reicht die Batterie? Glaubst du, du kannst sie die Nacht über brennen lassen?“
Spätestens da wurde Michael Stadler klar, dass die Ängste dieses merkwürdigen Mädchens weit über das normale Maß hinausgingen.
Unterschiedlichste Gefühle rangen in Patrizia Bertram miteinander. Natürlich war sie erleichtert, dass sie nicht mehr draußen im Regen saß und ihr eine Nacht in der Finsternis erspart blieb. Andererseits sah sie der Nacht mit einem wildfremden Mann, eingepfercht auf engstem Raum, mit mehr als gemischten Gefühlen entgegen. Sie war seit Jahren nicht mehr mit einem Fremden in einem Raum alleine gewesen, von einer gemeinsamen Nacht ganz zu schweigen.
Aber wie sie die Situation auch hin und her drehte, sie hatte offenbar nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder ganz alleine in der Dunkelheit draußen bleiben, oder eben seine Hilfe annehmen. Krampfhaft versuchte sie, die aufkommende Panik zu unterdrücken, als sie sah, wie Michael einen Energieriegel und eine kleine Trinkflasche aus seinem Trikot zog und sich dieses anschließend über den Kopf streifte. Danach stieg er aus seiner Sporthose.
„Was …, was tust du da?“
„Ich schaue zu, dass ich aus den nassen Sachen rauskomme und an deiner Stelle würde ich schleunigst das Gleiche tun, wenn du dir hier nicht den Tod holen willst.“
Ihre großen Gollum-Augen weiteten sich entsetzt.
„Nein, ich kann nicht …“
„Jetzt stell dich nicht so an! Du brauchst wirklich absolut keine Angst vor mir zu haben! Erstens würde ich eine solche Situation sowieso nie ausnutzen und zweitens“, er zwinkerte ihr zu, „bist du mir viel zu mager!“
Als sie ihn weiter nur regungslos anstarrte, wurde er deutlicher.
„Du pass auf! Ich gehe jetzt für genau zwei Minuten nochmal da raus und lass dich alleine zum Umziehen. Dann komme ich wieder rein und es ist deine Entscheidung, ob du die Nacht nass oder trocken verbringen willst! Mir ist das egal!“
Fünf Minuten später saßen sie beide in die kratzigen aber warmen Decken gewickelt am Tischchen und ihre nassen Klamotten hingen zum Trocknen über dem kleinen Wandregal. Diese Situation konnte es eigentlich gar nicht geben. Normalerweise hätte sie sich von Angstzuständen geplagt in eine Ecke verkriechen müssen, aber dieser Michael Stadler hatte eine irritierende Art und Weise, seinen Kopf durchzusetzen. Ziemlich nachdrücklich, mit einem flapsigen Spruch, eine Alternative anbietend, die im Grunde keine war und ehe sie sich versah, hatte sie gemacht, was er wollte. Außerdem konnte er gnadenlos pragmatisch sein, wie auch seine nächste Frage bewies: „Hast du noch etwas zum Trinken in deinem Rucksack oder etwas zum Essen? Mein Beitrag zum Dinner beschränkt sich auf einen Energieriegel!“
Patrizia besaß genau ein feuchtes Toastsandwich und einen Rest Wasser.
Michael füllte die Flasche mit Regenwasser auf und anschließend teilten sie sich im schwachen Licht der Stirnlampe Energieriegel und Toast.
„Na ja, das Ritz ist es nicht gerade, aber wir könnten es auch schlechter haben.“, meinte er.
„Riesenglück, das die Decken da waren, ist nicht selbstverständlich. Wie geht’s deinem Fuß? Arge Schmerzen?“
Sie schüttelte fast zaghaft ihren Kopf.
„Geht schon!“
„Wir sollten ihn kühlen! Lass mich mal machen!“
Ehe sie groß widersprechen konnte, hatte er sein ohnehin schon nasses Trikot mit frischem Regenwasser getränkt und ihr vorsichtig einen Wickel um ihren Knöchel angelegt, den er anschließend auf seinem Knie hoch lagerte, während er gleichzeitig sanft ihre kalten Zehen massierte.
„So, mehr können wir im Augenblick leider nicht tun. Was hat dich eigentlich bei diesem Wetter auf den Zeda getrieben?“
Patrizia starrte wie paralysiert auf seine Hände an ihrem Fuß, aber aus Gründen, die ihr selber nicht ganz klar waren, ließ sie ihn gewähren und sah ihm zögernd ins Gesicht. Sie hatte überhaupt keine Routine im Plaudern, sie hatte eigentlich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr richtig geredet und schon gar nicht über sich selbst. Aber er hatte ziemlich selbstlos ihre Haut gerettet und damit wohl auch ein Recht auf eine Antwort.
„Ich wohne zurzeit in Cannobio und irgendwie hatte ich heute die spontane Schnapsidee, das tolle Wetter für eine Bergtour auszunutzen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ist aber alles ziemlich schiefgelaufen. Wettersturz, Fuß vertreten und den Rest kennst du ja.“
Sie hatte keine Lust, über sich selbst zu reden, und versuchte einen Themenwechsel.
„Und du? Wieso bist du so spät noch Richtung Gipfel unterwegs gewesen?“
„Abendliche Trainingstour.“
„Training wofür?“
Das braungebrannte Gesicht unter den zerzausten blonden Haaren verzog sich zu einem Grinsen, das sie unwillkürlich an einen kleinen Lausbuben erinnerte, der irgendeinen Streich ausheckt.
„Keine Chance, Bohnenstange! Sagst du mir nix, sage ich dir auch nix! Wenn du etwas über mich und mein Training wissen willst, musst du mir schon ein bisschen mehr von dir erzählen. Ich habe zuerst gefragt!“
Patrizia zögerte: „Was willst du denn wissen?“
„Ach da gibt es so einiges. Warum auf andere Gedanken kommen? Warum eine Bergtour? Warum bist du so ein Strich in der Landschaft und warum diese Panik vor der Dunkelheit?“
Seine Direktheit ließ sie erstaunt aufblicken und ihre heftige Antwort überraschte sie selbst. Wenn sie in letzter Zeit überhaupt mit jemand gesprochen hatte, dann waren es sicher keine Streitgespräche gewesen.
„Also bitte! Ich bin im Chiemgau aufgewachsen und deshalb früher auch oft in den Bergen unterwegs gewesen. Und meine Gedanken und mein Gewicht gehen dich gar nichts an. Du bist ja schlimmer als mein Therapeut!“
„Aha, das wird ja immer interessanter! Was für ein Therapeut?“
„Vergiss es! Training wofür?“
„Triathlon! Was für ein Therapeut?“
„Geht dich gar nichts an, ist sowieso lange vorbei! Welcher Triathlon?“
„Ironman Hawaii! Na ja, was solls. Geht mich vielleicht ja wirklich nichts an. In jedem Fall war eine so lange Tour in deiner körperlichen Verfassung ganz schön bescheuert. Bohnenstange!“
Das war ja wohl die Höhe!
„Nicht mehr bescheuert als Training im strömenden Regen auf einem glitschigen Bergpfad! Ein Sturz oder eine Erkältung und du kannst deinen Triathlon vergessen. Und nenn mich bitte nicht Bohnenstange!“
„Ach komm, das passt irgendwie zu dir und ist allemal besser als Gollum!“
„Gollum?“, fragte Patrizia ungläubig.
„Na du hättest dich selbst sehen sollen, wie du da im Regen gehockt bist mit deinen riesengroßen Augen …“
Sie blies kopfschüttelnd die Luft aus den Backen.
„Dein Charme ist ja der Wahnsinn, Eisenmann. Hattest du jemals eine Freundin?“
Das leicht zynische Lausbubengrinsen erschien wieder auf seinem Gesicht.
„Alle paar Monate eine neue!“
„Wundert mich kein bisschen. Länger hat’s wohl keine bei dir ausgehalten, oder?“
„Gut pariert, Bohnenstange.“ Michael lachte. Sein Plan war aufgegangen und er hatte sie soweit aus der Reserve gelockt, dass sie sich nicht mehr jedes Wort aus der Nase ziehen ließ. Eigentlich hatte er die Hoffnung auf eine Unterhaltung mit diesem rätselhaften Geschöpf schon aufgegeben, aber überraschenderweise besaß sie sogar so etwas wie Temperament.
„Was weißt du über Training und Eisenmänner, Trish?“
„Trish?“, Patrizia stöhnte auf „dann lieber doch Gollum!“
Aber irgendwie war der Bann gebrochen und sie redete weiter.
„Ob du’s glaubst oder nicht, ich war selber mal Sportlerin und um zu wissen, dass die Teilnehmer am Ironman Eisenmänner heißen, muss man ja wirklich kein Sportjournalist sein! Aber Respekt, du bist wirklich für Hawaii qualifiziert? Altersklasse oder etwa gar Profis?“
Sie überraschte Michael. Nicht viele wussten, dass die Startplätze für Hawaii sehr begrenzt und nicht leicht zu bekommen waren und noch viel weniger kannten den Einteilungsmodus in die Altersklassen und die Profis.
„Ich starte bei den Profis. Du bist ja gut informiert. Welchen Sport hast du denn getrieben und warum hast du aufgehört?“
„Biathlon …“
Und plötzlich waren sie in ein Gespräch über Biathlon und Triathlon, Training und Wettkampf vertieft. Über ihre eigene Person verlor Patrizia Bertram dabei allerdings kaum ein Wort!
Zwei Stunden später lag sie eingewickelt in die alte Wolldecke auf der kleinen Holzpritsche und starrte in die Schatten, die das schwache Licht der Stirnlampe an die Wände warf. Sie hörte die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Mannes neben sich, spürte die Wärme seines Körpers, die ihr erstaunlicherweise nicht unangenehm war und konnte es immer noch nicht fassen, dass sie hier neben ihm auf einer schmalen Holzpritsche lag.
Ehrlich gesagt hatte sie seit zwei Jahren kein so normales Gespräch mehr geführt, die Zeit war wie im Flug vergangen. Sie fühlte sich merkwürdig ruhig in seiner Nähe, die Dämonen, die sie sonst nachts heimsuchten, schwiegen heute. Eigenartig, vielleicht würde sie sogar ein bisschen schlafen können …
… als sie erwachte, war die Pritsche neben ihr leer. Die Tür stand einen Spalt breit offen und ein schwacher Lichtstrahl fiel herein. Es dämmerte bereits der Morgen. Der Mann, den sie erst seit gestern kannte, war weg! Hatte er sie jetzt doch alleine gelassen? Ruckartig sprang sie auf, doch der stechende Schmerz in ihrem linken Knöchel erinnerte sie sofort an ihre Verletzung.
Sie zog ihre immer noch klammen Sachen an und humpelte vorsichtig zur Tür. Draußen tastete sie sich an der Steinwand entlang um die Hütte herum. Michael Stadler saß ein paar Meter entfernt auf einem Felsblock und sah bewegungslos geradewegs nach Osten. Hinter dem zackigen Felsgrat des Monte Vada war das erste goldgelbe Licht des nahenden Sonnenaufgangs zu sehen. Im Tal hingen tiefe Nebelbänke, doch darüber dehnte sich ein wolkenloser fahlblauer Himmel über die ganze Breite des Horizonts. Unzählige Vogelstimmen schickten sich bereits an, diesen perfekten Sommermorgen zu begrüßen. Sie biss die Zähne zusammen, ignorierte den Schmerz in ihrem Knöchel und humpelte einige Schritte auf Michael zu.
„Guten Morgen, ich …“
„… Schscht!“, flüsterte er nur, rückte ein wenig zur Seite und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Patrizia ließ ihren Blick in Richtung des erwachenden Tages schweifen und setzte sich widerspruchslos in seine Nähe. So saßen sie schweigend etwa fünf Minuten, als urplötzlich mit einem goldenen Aufblitzen der erste Sonnenstrahl über den Horizont blinzelte. Man konnte praktisch zuschauen, wie die Morgensonne binnen weniger Minuten den Himmel in ihren Besitz nahm.
„Irgendwie hält das Leben in solchen Augenblicken kurz den Atem an und es ist, als ob man sich selbst von außen zuschaut, findest du nicht?“, fragte Michael sanft.
„Moments of Excellence nennen die Psychologen das. Momente, die man einfach auf seiner mentalen Festplatte abspeichern muss, um sie später jederzeit wieder abrufen zu können.“
Dann schwiegen beide wieder. Irgendwann erklang die Stimme des mysteriösen Mädchens neben ihm in einem fast schüchternen Flüstern.
„Die Summe dieser Momente ist es wohl, die irgendwann unser Leben reich macht!“
Michael wandte ihr überrascht seinen Kopf zu. Sie hatte genau verstanden, was er ausdrücken wollte. Dann blickte er zum ersten Mal bei Tageslicht in ihre Augen und fiel förmlich in einen glasklaren Strudel von endloser Tiefe.
Beide hielten inne, und die Zeit schien stehen zu bleiben. Es war verrückt und merkwürdig, aber auf eigenartige Weise vertraut. Jeder schaute in seine eigenen Augen: Ein klares Türkis mit tiefblauen Rändern, lagunenblau hätte man es nennen können.
Sie hatten beide exakt dieselbe Augenfarbe.
Es war ein Spätsommertag vom Allerfeinsten und der Chiemsee lag träge im Voralpenland wie ein Straßenarbeiter, der nach einer Zehnstundenschicht in der Sommerhitze endlich seine Beine bei einem wohlverdienten Feierabendbier ausstrecken kann. Die Hitze, welche das Thermometer tagsüber bis weit über die 30-Grad-Marke getrieben hatte, begann einem lauen Abendlüftchen zu weichen und auch die Vögel bedankten sich für die ersehnte Abkühlung mit einem wahren Konzert in den Baumkronen. Keine drohenden Gewitter- und Hagelwolken im Westen und keine Sturmwarnung über dem See trübten die Ruhe dieses Sommerabends.
Da mittlerweile die meisten Leute von der Arbeit nach Hause kamen, begannen sich die Biergärten entsprechend zu füllen, so auch in Übersee am Ostufer des Chiemsees, wo sich die Einheimischen gerne zum „Sundowner“ einfanden. Die traumhaften Sonnenuntergänge, die hier immer wieder ihr phantastisches Farbenspiel über den Wasserspiegel zauberten, hatten sogar dem Restaurant an dieser Stelle den Namen Sundowner Bar eingebracht.
Unter den mächtigen Kastanien am Eingang stand eine große, schlanke Frau, die ihre brünetten, glatten Haare zu einem rückenlangen Pferdeschwanz gebunden hatte und an welcher der eine oder andere Männerblick durchaus etwas länger haften blieb. Claudia Keller ließ ihre Augen immer wieder suchend über die Zufahrtsstraße gleiten und sah zum wiederholten Mal auf ihre Uhr. Ihre Verabredung war mittlerweile schon fast zehn Minuten überfällig, was sie von früheren Zeiten her gar nicht gewohnt war.
Man konnte nicht behaupten, dass sie ihre älteste und beste Schulfreundin schon länger nicht mehr gesehen hatte. Nein! Sie brauchte nur einen Sportkatalog von Nike, eine Cosmopolitan oder irgendeine Mode- oder Frauenzeitschrift aufzuschlagen und die Chancen standen ziemlich gut, dass eine oder auch mehrere Seiten darin von Stephanie Seilers äußerst ansprechender Erscheinung geziert wurden. Sie war im Verlauf des letzten Jahres zweifellos der Shooting Star der Modelszene geworden und der kometenhafte Aufstieg ihrer alten Sportfreundin erschien Claudia an manchen Tagen immer noch etwas völlig Irreales zu sein.
Seit deren Abreise nach Los Angeles vor über einem Jahr, waren sie zwar ständig in Kontakt geblieben, aber persönlich hatten sie sich seitdem nicht mehr gesehen. Von daher sah sie dem heutigen Treffen mit etwas gemischten Gefühlen entgegen. Ihre Neugier, ob und wie sich Steffi im Scheinwerferlicht eines Promi-Lebens verändert hatte, wuchs von Minute zu Minute. Als kurz darauf ein Peugeot Cabrio ziemlich flott in die gekieste Parkbucht einbog und eine junge Frau ein Paar bemerkenswerter Beine aus dem Auto schwang, war ihr klar, dass sich zumindest eines nicht verändert hatte. Wo auch immer Stephanie Seiler auftauchte, versetzte sie die Hälse der umstehenden Männer in anhaltende Rotationsbewegungen.
„Ja bist du woahnsinnig!“, kam ein leiser Kommentar vom Tisch direkt hinter Claudia, an welchem drei junge Burschen sich gerade dem kollektiven Köpfedrehen angeschlossen hatten. Auch Claudia selbst war durchaus an den einen oder anderen anerkennenden Männerblick gewohnt, aber es war immer wieder faszinierend, zu beobachten, welche Wirkung ihre alte Schulfreundin auf jeden Y-Chromosom-Träger zwischen 16 und 66 Jahren ausübte.
Schlank und groß, ihre Wahnsinnsbeine in knappen ausgefransten Jeansshorts, darüber ein schwarzes Top, das ihre durchtrainierten Schultern freigab, pflügte die Blondine sich durch das Testosteron der oberbayerischen Männerwelt wie ein Filetiermesser durch warme Butter. Steffi Seiler hatte diese faszinierende Kombination von sportlicher Athletik und weiblichem Sex-Appeal, die sie binnen einem Jahr zu einem der meist fotografierten Sport- und Bademodenmodels Europas gemacht hatte.
Und das Beste daran war schon immer gewesen, dass sie sich ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht eigentlich nie so richtig bewusst gewesen war und auch nie damit kokettiert hatte. Auch das hatte sich offenbar nicht geändert, denn ohne die Spur irgendeiner Attitüde und ohne die Männerblicke groß zu beachten, kam sie direkt zum Eingang des Biergartens.
Mit ihrer imposanten Größe von fast eins achtzig blieb sie unmittelbar vor Claudia stehen, schob die Sonnenbrille auf ihre blonde Mähne und ihre vollen, perfekt geformten Lippen gaben ein Lächeln preis, das vermutlich jeden Mann problemlos dazu bringen konnte, seine gesamten Rentenansprüche an die Zeugen Jehovas abzutreten.
Ein Blick in diese irren Augen von der Farbe einer sonnendurchfluteten Lagune in der Karibik reichte Claudia, um zu wissen, dass ihre Freundin immer noch ihre Freundin war und dass sich zwischen ihnen nicht wirklich etwas verändert hatte. Dann lagen sie sich in den Armen.
„Hallo Claudia, tut mir echt leid, dass ich dich habe warten lassen, aber der mittlere Ring war voll, die A8 war voll …“
„… und außerdem war der Terminkalender von Miss Supermodel so voll, dass ich froh war, überhaupt einen Termin mit ihr zu kriegen“, fiel ihr Claudia lachend ins Wort.
„Servus Steffi, oder darf man mittlerweile Heidi zu dir sagen?“
„Äähhch, bitte nicht!“, erntete sie ein Aufstöhnen als Antwort.
„Erstens finde ich die Klum einfach nur ätzend und zweitens werden da hinten gerade zwei Plätze frei, die wir uns schnellstens schnappen sollten, wenn wir hier keine Stehparty geben wollen!“
Sie hatten Glück und ergatterten zwei der begehrten Sitzplätze mit Blick auf den See, über dem sich die Sonne langsam anschickte, eine Galavorstellung in punkto Sonnenuntergang zu geben. Erste Orangetöne in allen Schattierungen begannen bereits ihre Fühler über den wolkenlosen Himmel zu strecken und fanden ihr Abbild in der spiegelglatten Wasseroberfläche.
„Was darf’s denn sein, Ihr zwei Hübschen?“, fragte der Kellner, der verblüffend schnell an ihren Tisch gekommen war. „Geräucherte Chiemseerenken wären auf der Tageskarte und sehr zu empfehlen, mit Sahnemeerrettich und Feldsalat!“
„Ist ein Deal, dazu eine große Weißweinschorle!“, antwortete Claudia ohne überhaupt die Speisekarte in die Hand genommen zu haben.
„Zu wenig Fisch, zu viel Salat, also ich nehme den Seehecht auf Blattspinat mit Bratkartoffeln von der Tageskarte, dazu eine Apfelschorle!“, bestellte Stephanie ebenso kurz entschlossen und drückte dem anerkennend zwinkernden Ober die unbenutzten Karten wieder in die Hand.
„Also mit dir braucht’s nur eine männliche Bedienung und schon reduziert sich selbst in der schlimmsten Rushhour die Wartezeit auf ein Minimum!“, lachte ihre Freundin.
„Dafür dauert es bei weiblichen Bedienungen oft umso länger. Zickenkrieg und Stutenbeißen, du weißt schon. Überdies brauchst du dein eigenes Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Du bist doch die von uns beiden, der die Männerherzen schon immer zugeflogen sind.“
„Gut, und damit wollen wir die Bauchpinselei auch wieder lassen!“, bremste Claudia sie ein.
„Aber sag mal! Fotomodel und Bratkartoffeln? Nicht Low Carb und so? Ich dachte immer, ihr esst nur einzeln abgezählte Salatblätter.“
„Vergiss es! Joggen kannst du in München und sonst wo auf der Welt auch, es gibt überall Fitnessstudios und mein Mountainbike habe ich auch nicht nur zum Anschauen herumstehen. Zudem habe ich das Glück, dass die Hungermodels sowieso auf dem absteigenden Ast sind und ich hauptsächlich als die sportlich-dynamische Frau des 21. Jahrhunderts vermarktet werde.“, zitierte Stephanie mit etwas verdrehten Augen den Text aus ihrem Marketing-Konzept.
„Darum siehst du mich ja überwiegend mit Sportbekleidung und Bademoden.“
„Also immer noch der gleiche Bewegungsjunkie wie damals im Skigymnasium in Ruhpolding“, meinte Claudia kopfschüttelnd.
„Was heißt Bewegungsjunkie? Böse Zungen munkeln, ich sportle nur deshalb so viel, damit ich mehr essen kann, was ich gar nicht abstreiten will, womit wir wieder beim Thema wären.“
Ruhpolding war für die beiden Freundinnen das Stichwort, in Erinnerungen an ihre gemeinsame Schulzeit einzutauchen. Beide hatten früh ein Elternteil verloren, Claudia den Vater, Stephanie die Mutter, beide hatten keine Geschwister. Sie waren fast gleich alt und beide schon als Teenager sportlich gewesen.
So waren sie im zarten Alter von elf Jahren im Sportinternat Berchtesgaden gelandet. Dort teilten sie sich ein Zimmer. Das war der Beginn einer engen Freundschaft, die bis zum heutigen Tag, wiederum elf Jahre später, andauerte. Sie waren zunächst in der Skilanglaufstaffel gewesen, aber nach zwei Jahren zu den Biathletinnen gewechselt, da sich nach ein paar Trainingsversuchen am Schießstand herausgestellt hatte, dass sie ein ausgeprägtes Händchen für das Kleinkalibergewehr hatten.
Es folgten tolle Jahre im Sportinternat am Dürreck am Fuße des hohen Göll. Sie waren geprägt von strikt geregelten Tagesabläufen. Früh morgens aufstehen, erste Trainingseinheit, Unterricht in den Gymnasialklassen, Mittagessen, zweite Trainingseinheit, Physiotherapie, Hausaufgaben, Schlafengehen. Es blieb nicht sehr viel freie Zeit, aber eines lernten sie damals alle fürs Leben: Disziplin, sich Ziele zu stecken und diese durch harte Arbeit auch zu erreichen. Und obendrein hatten sie dabei auch verdammt viel Spaß gehabt.
„Weißt du noch, wie damals unser ganzer Jahrgang nachts heimlich ausgerückt ist, weil Tobi ein altes Militärschlauchboot aufgetrieben hatte, auf dem wir eine Mitternachtsparty mitten auf dem Königssee feiern wollten?“, fragte Steffi.
„Erinnere mich bloß nicht daran!“, ächzte Claudia.
„Du warst ja ganz begeistert beim Vorbereiten dabei. Tolle Nummer: Völlig überfülltes Boot beim Saufen und Herumblödeln gekentert. Tote gab’s wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil keine Nichtschwimmer dabei waren. Mann, ich weiß noch wie der alte Höfler getobt hat, als wir um drei Uhr morgens tropfnass wieder heimlich ins Internat zurückschleichen wollten.“
Im zarten Alter von achtzehn krönten sie ihre Sportkarriere gemeinsam mit Staffelgold bei der Juniorenweltmeisterschaft und standen danach beide am Scheideweg. Bei den Profis weitermachen, oder nach dem Abi ein Studium aufnehmen. Beide entschieden sie sich für die Uni.
Bereits zu Schulzeiten hatten sie zusammen in bester Teenagermanier schon immer leidenschaftlich gerne Visionen von ihren späteren Traummännern, Traumkindern und vor allem auch ihren Traumhäusern ausgetauscht und ihre Hauspläne auch begeistert zu Papier gebracht. Von daher war es irgendwie logisch, dass sie nach dem Abitur und ihrem Ausscheiden aus dem Sportförderprogramm sich gemeinsam in der Fakultät für Innenarchitektur in Rosenheim eingeschrieben hatten. Doch hier begannen entsprechend ihrem Temperament ihre Wege ganz langsam auseinanderzugehen.
Claudia war von Natur aus eher Realistin und bodenständig, während für Stephanie die Bäume nie weit genug in den Himmel wachsen konnten. Immer wenn sich die beiden bei einem ihrer zahlreichen „Mädelsabende“ gegenseitig ihre Lebensentwürfe ausmalten, träumte Claudia brav von eigenem Büro, eigener Familie und ihrem selbst entworfenem und gebauten Haus, wohingegen Steffi den Kopf immer voller verrückter Ideen und voll überschäumender Lebenslust hatte. Eines Tages hielt sie Claudia einen großen Bildband unter die Nase.
100 Dinge, die man im Leben unbedingt einmal getan haben sollte!
„Hast du dir so etwas schon einmal angeschaut? Hey Claudia! Die Welt da draußen wartet nur auf uns. Klar will ich auch mal eigene Familie, aber zunächst will ich meine Nase in den Wind stecken. Es gibt so viel, was man einfach mal gemacht haben muss, schau doch mal: Tauchen am Great Barrier-Riff, zwischen den Eisbergen der Antarktis segeln, durch das nächtliche Havanna schlendern, mit George Clooney am Sunset einen Cappuccino trinken oder einfach den Sonnenaufgang am Gipfel des Kilimandscharo erleben!“
„Ganz einfach mal so, auf 6000 Metern!“, hatte Claudia damals schmunzelnd dagegengehalten.
„Seit wann stehst du überhaupt auf George Clooney? Ich dachte immer du fliegst eher auf den Typ Kalifornischer Surferboy. Groß, sportlich, braungebrannt mit Wuschelkopf?“
„Tut hier gar nix zur Sache, laut Umfrage von Infas und Ipsos haben mehr als 60 Prozent aller Frauen schon mal von einem Nespresso und mehr mit George Clooney geträumt!“, hatte Steffi seinerzeit erwidert und war damit ihrem Ruf, die Queen des unnützen Wissens zu sein, wieder einmal gerecht geworden.
Als sie im dritten Semester waren, wurden sie eines Tages beim Frühstücken in einem angesagten Münchener Café von einem Typen angesprochen, der sich als Modefotograf herausstellte und der von den beiden Naturschönheiten völlig begeistert war. Während Claudia auch nicht eine Sekunde ernsthaft an eine Modelkarriere dachte, steckte sich Steffi seine Karte ein und vereinbarte drei Wochen später einen Termin für Probeaufnahmen. Danach ging alles ziemlich schnell: Die Kamera liebte Steffi, sie selbst machte es mit ihrem quirligen, lebensfrohen Wesen den Fotografen offensichtlich leicht und als sie eines Abends Claudia stolz ihre erste Mappe mit verschiedenen Aufnahmen präsentierte, war dieser sofort klar, dass sich hier mehr anbahnte als nur eine versponnene Mädchenschwärmerei. Vom Stylisten zurecht gemacht, war Steffis etwas burschikoser Typ völlig verschwunden und übrig blieb auf den Fotos etwas, das man einfach nur als Wahnsinnsfrau mit der natürlichen Ausstrahlung des Mädchens von nebenan bezeichnen konnte.
„Gib mir die Adresse von dem Typen, der dich da aufgebrezelt hat, damit ich ihn später mal für meine Hochzeit engagieren kann!“, hatte Claudia damals ehrfürchtig geflüstert und Steffi innig an sich gedrückt.
„Egal wo dich das Ganze noch hinführt, ich wünsche dir viel Glück dabei!“
Kurz darauf hatte ihre Freundin ihr Studium geschmissen, eineinhalb Jahre in der Modemetropole Düsseldorf gearbeitet und danach sogar in den Vereinigten Staaten Fuß fassen können. Vor einiger Zeit war sie jetzt als neuer aufgehender Stern am deutschen Modelhimmel wieder nach München zurückgekehrt.
So saßen sie heute in der Sundowner Bar in Übersee und nachdem sie ihre Teller leergeräumt hatten, erlebten sie während eines Espressos, dass dieser Ort seinen Namen völlig zurecht trug: Es war eine phantastische Farbenorgie, die die bereits untergegangene Sonne auf den Nachthimmel zauberte. Im Osten funkelten bereits die ersten Sterne und Tag und Nacht verschmolzen miteinander wie ein aneinander geschmiegtes Pärchen auf der Tanzfläche.
„Wie läuft’s eigentlich mit Tom?“, fragte Steffi nach einer Weile.
Claudia hatte Thomas während des Studiums in Rosenheim kennengelernt. Er war Informatikstudent, ein wahnsinnig sympathischer Typ und mittlerweile seit mehr als zwei Jahren Claudias fester Freund.
„Gut. Eigentlich sogar sehr gut!“
„Immer noch schwer verliebt?“
„Na ja, nach zwei Jahren sicher nicht mehr frisch verknallt. Aber er ist nach wie vor der netteste Kerl, den ich je getroffen habe und wir passen einfach super zusammen. Gleiche Interessen, viel Sport, viel Lust auf Freizeit in den Bergen. Seit wir zusammenwohnen …“
„Ihr wohnt zusammen, das hast du mir ja noch gar nicht erzählt!“
„Ja, wir sind vor einem halben Jahr zusammengezogen, in eine Zwei-Zimmerwohnung am grünen Markt in Rosenheim, ist auf die Dauer einfach billiger. Aber die Geldprobleme von armen Studenten dürften dir ja wohl mittlerweile nur noch ein müdes Lächeln entlocken.“
Damit schnitt sie ein für Steffi heikles Thema an.
Bedingt durch ihre Herkunft aus ganz einfachen Verhältnissen – ihre Eltern hatten einen Kleinbauernhof in der Nähe von Seebruck, den ihr Vater seit dem Tod ihrer Mutter praktisch alleine bewirtschaftete – hatte sie schon immer ein gespaltenes Verhältnis zu den Schönen und Reichen gehabt. Bedingt durch ihren Job und den unerwarteten Erfolg bewegte sie sich fatalerweise inzwischen selbst in diesen Kreisen, wollte aber den Promi-Status hier bei ihren alten Freunden auf gar keinen Fall heraushängen lassen. Andererseits war Claudia ihre älteste und beste Freundin, die sie einfach nicht anlügen wollte.
„Ach weißt du, am Anfang waren die Gagen ja bei weitem nicht so toll, wie du das vielleicht denkst, aber dann kam vor einem Jahr der Vertrag mit Adidas und vor drei Monaten hat dann Carsten tatsächlich unseren ersten richtig dicken Fisch an Land gezogen, einen Wahnsinnskontrakt mit Nike.“
„Carsten? Nur als Manager oder bist du mit dem immer noch zusammen?“
Claudia hatte Carsten Winhold bei einem Besuch in Düsseldorf kennengelernt und ihn von Anfang an nicht besonders sympathisch gefunden. Dreiunddreißig Jahre alt, Anzugträger, immer höflich, immer charmant, aber irgendwie auch völlig undurchsichtig. Bereits beim ersten Treffen hatte Claudia den Eindruck gehabt, dass man nie wirklich hinter seine Fassade schauen konnte. Schon damals hatte sie sich mit Steffi fast zerstritten, weil sie diesbezüglich kein Blatt vor den Mund genommen und klipp und klar gemacht hatte, dass sie deren Freund im Grunde unmöglich fand.
„Der Typ ist nicht nur 10 Jahre zu alt für dich, sondern auch viel zu seriös und unsportlich. Du hast doch ständig Hummeln im Hintern, was willst du denn mit so einem geleckten Managertypen?“
„Ach komm, geleckt ist für euch in Oberbayern doch jeder, nur weil er einen Anzug trägt. Ich glaube, du kommst einfach generell mit Nordlichtern nicht klar. Außerdem hat er mir in meiner Anfangszeit wahnsinnig geholfen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich den ganzen organisatorischen Mist ohne ihn auf die Reihe gekriegt hätte.“
„Und dann hat sich der Manager gleich das blutjunge Modepüppchen als Trophäe geschnappt, das ist ja schon fast klassisch blöd von dir.“
„Das kannst du ihm nachher am besten gleich selbst an den Kopf schmeißen, wenn er vorbeikommt“, erwiderte Stephanie leicht eingeschnappt.
„Carsten kommt hierher?“
„Er hatte heute im Rahmen eines Coaching-Kurses eine Ballonfahrt von Sondermoning aus und ist deshalb ganz in der Nähe. Die hatten ja ein wirkliches Megawetter heute.“
„Und was hat’s jetzt mit diesem Nike-Deal auf sich?“, wechselte Claudia wieder vorsichtig das Thema.
„Tja so, wie’s ausschaut, habe ich’s in der Modelbranche jetzt wirklich geschafft. Das Ganze ist immer noch nicht richtig in meiner Großhirnrinde angekommen, aber mit dem Vertrag werde ich tatsächlich reich werden, obwohl das für mich damals eigentlich gar nie an vorderster Stelle stand. Ich wollte nach dem Biathlon einfach wieder irgendein Ziel, in das ich mich richtig reinhängen kann.“
„Jetzt eiere nicht ständig um den heißen Brei herum, sondern spuck’s einfach aus: Wie viel kriegst du von den Amis?“
„Zwei Millionen Dollar vorab für zwei Jahre Exklusivrechte, nochmal so viel am Ende der Vertragslaufzeit!“
Die Reifen des langsam fahrenden Kastenwagens knirschten auf dem Schotter des einsamen Forstweges, in der Dunkelheit des dichten Waldes war das schwarze Fahrzeug kaum noch zu erkennen, nachdem es unter tiefhängenden Ästen zum Stehen gekommen war. Genauso dunkel wie das Auto und der Ort, wo es stand, war der große Mann, der ihm entstieg.
Raznan Kostrati verharrte einen kurzen Augenblick neben der geöffneten Fahrertür und ließ wie ein sicherndes Tier seine Augen durch die nahezu undurchdringliche Dunkelheit des Gehölzes wandern. Er hielt den Atem an, was die Geräusche der Nacht herausfilterte und die Stille dazwischen noch tonloser machte. Es war nichts Auffälliges zu hören und auch nichts zu sehen. Der Ort war gut ausgewählt, um die Arbeit, die vor ihm lag, reibungslos abzuwickeln. Und es würde alles glatt laufen! Dafür würde er sorgen. Er war ein Profi und im Gegensatz zu den meisten seiner Berufskollegen hatte er eine gute Ausbildung genossen!
Sein Vater war Mitglied der Securitate, der berüchtigten Geheimpolizei des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu gewesen und war dort am Ende für die Rekrutierung und Ausbildung der Polizisten zuständig, der sogenannten Luptatores – Kämpfer, wie sie intern genannt wurden. Als das Ganze nach der Palastrevolution von 1989 den Bach runterging, waren die goldenen Zeiten vorbei. Unter der nationalen Rettungsfront von Ion Iliescu herrschte ein Schmusekurs, der für richtige Männer in der Polizei keinen Platz mehr ließ.
Vater Ilie Kostrati hatte dies als kluger Mann rechtzeitig vorausgesehen und sich von daher schon beizeiten selbständig gemacht. Er gründete ein kleines, aber feines Familienunternehmen, in welchem er jeden ausbildete, der in seinem Beruf Geld eintreiben, töten, foltern oder verstümmeln musste. Es war eine Sache der Familienehre gewesen, dass er auch seinen einzigen Sohn Raznan frühzeitig in die Schule genommen hatte. Seine Lehrmethoden waren nicht immer angenehm, aber dafür sehr einprägsam gewesen. Raznan hatte schon früh gelernt, keinerlei Gefühle oder gar Mitleid mit seinen Opfern zu haben.
Er war gerade neun Jahre alt gewesen, als er auf dem Hof seiner Eltern, der gleichzeitig als Ausbildungslager diente, einen jungen Hasen versorgte, den er geradezu abgöttisch liebte. Als sein Vater eines Tages zufällig sah, wie sein Sohn das Tier liebevoll fütterte, holte er es aus dem Stall und drehte ihm vor den Augen des entsetzten Jungen den Hals um. Als Raznan daraufhin in Tränen ausbrach, verprügelte ihn sein Vater zunächst mit bloßen Händen, was nicht weiter unüblich war und sperrte ihn anschließend nur mit Unterhosen bekleidet in einen ungeheizten Lagerschuppen mit nacktem Lehmboden. Es war Spätherbst in den Karpaten gewesen und eine Lungenentzündung oder andere bleibende Schäden blieben ihm vermutlich nur deshalb erspart, weil seine Mutter nach 24 Stunden Mitleid mit ihm bekam und ihren Mann anflehte, den kleinen Raznan wieder frei zu lassen.
Wie dem auch sei, Raznan wurde ein guter Kämpfer. Er lernte, wie man Menschen verprügelte, tötete oder zum Reden brachte. Er lernte auch, wie man Menschen mit Schmerzen gefügig machte, ohne ihnen äußerlich sichtbaren Schaden zuzufügen.
Zu seiner Ausbildung gehörte auch theoretischer Unterricht, wobei sich sein Vater den Umstand zu Nutze machte, dass die ganze Menschheitsgeschichte praktisch ein einziges Lehrbuch darüber war, wie man Menschen quälen, misshandeln und psychisch brechen konnte. Die sibirischen Lager des Gulags, die Konzentrationslager des Holocausts, das Foltergefängnis des Pol Pot Regimes oder die mittelalterliche Inquisition. Die Liste hätte beliebig lange fortgesetzt werden können. Offenbar waren der menschlichen Phantasie noch nie Grenzen gesetzt gewesen, wenn es darum ging, Mitmenschen bis zum Äußersten zu peinigen. Alleine die Auszüge aus Alexander Solschenizyns Archipel Gulag widmeten sich seitenweise dem Thema, wie man stolze und scheinbar unbeugsame Menschen, die jeder physischen Folter widerstanden, zerbrechen konnte.
Zu Beginn hatte Raznan die Misshandlung von wehrlosen Opfern nicht unbedingt gefallen, aber er wollte vor allem eines: den Respekt und die Anerkennung seines Vaters gewinnen. Und so war er im Lauf der Jahre dessen gelehrigster Schüler geworden. Und mehr und mehr hatte er sich an der Macht berauscht, die man über einen Menschen hatte, den die Angst bis in den letzten Winkel seiner Seele gefangen hielt. Kontrollierte er die Angst eines Menschen, so kontrollierte er den ganzen Menschen. Manchmal konnte man förmlich zuschauen, wie die Angst die Seele zu Staub zerfallen ließ und dann hatte man diesen Menschen wirklich ganz und gar in seiner Gewalt. Mittlerweile gefiel ihm dieser psychologische Aspekt seines Berufes fast besser als die reine körperliche Gewalt.
Kurz nach dem Millennium starb sein Vater an Krebs und Raznan weitete seinen Aktionsradius mehr und mehr nach Mitteleuropa aus. Arbeit gab es hier mehr als genug, denn die westlichen Anzugträger, als Männer meist nur völlige Memmen, machten zwar gerne dreckige Geschäfte, sich dabei aber nur ungern selber die Hände schmutzig. Raznan hingegen erledigte für Geld alles. Kompromisslos und hocheffizient.
Dank seiner Vorsicht und seines Könnens war er bisher noch nie offen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und seines Wissens existierte beim BKA weder eine Akte noch ein Fahndungsfoto von ihm. Er hatte sich im Laufe der Jahre ein verlässliches Netz von einigen wenigen korrupten Kollaborateuren und Helfern bei der Polizei in ganz Europa aufgebaut. Diese stellten zwar ein gewisses Risiko dar, waren aber bei vielen seiner Aufträge eine unschätzbare Hilfe. Und Raznan hatte sich stets abzusichern gewusst. Jeden Beamten, den er auch nur einmal gekauft hatte, hielt er fest an der Kandare. Es existierten sorgfältig archivierte Tonaufnahmen oder Videomitschnitte ihrer Käuflichkeit. Wenn ihn einer seiner Maulwürfe hätte auffliegen lassen wollen, so hätte er unweigerlich auch sein eigenes Grab geschaufelt.
Nur ein einziges Mal in den letzten zwölf Jahren hatte einer dieser Zuarbeiter die Nerven verloren und damit gedroht, ihn zu verpfeifen. Sein Tod war eine hässliche Sache gewesen. Raznan hatte ihn mehrere Tage lang gefangen gehalten und langsam sterben lassen. Dann ließ er das Video, das er dabei gedreht hatte, seinen anderen Helfern zukommen. Angst war der Schlüssel zu allem! Bei Bedarf auch ein mehr als probates Mittel, um charakterschwache Menschen loyal zu halten.
Wer seine Arbeit brauchte, wusste normalerweise, wie er mit ihm in Kontakt treten konnte und dabei war es wie in jedem anderen Beruf auch. Es gab gute und weniger gute Aufträge.
Die Arbeit, die er jetzt gerade vorbereitete, würde voraussichtlich eher zu den guten gehören. Als ihn Theodora, die Tochter eines entfernten rumänischen Verwandten vor einigen Wochen um einen Gefallen gebeten hatte, hatte er zunächst gezögert. Persönliche Beteiligung war bei seiner Arbeit nie von Vorteil. Emotionen konnte er hier nicht gebrauchen. Andererseits war der Zusammenhalt der Familie in Rumänien viel wichtiger als hier im Westen und so hatte er schließlich zugesagt, das Geld einzutreiben, um welches Theodora von ihrem Ex-Freund betrogen worden war. Die Sache war also eher eine familiäre Gefälligkeit, als einer seiner üblichen Aufträge. Vielleicht war das der Grund dafür gewesen, dass er sich überhaupt mit seinem Opfer auf Verhandlungen eingelassen hatte, was sonst bei ihm absolut undenkbar war.
Theodora war eine rassige, dunkelhaarige Schönheit und als er ihren Ex zum ersten Mal gestellt hatte, konnte er nicht verstehen, was sie je an so einem Mann gefunden hatte. Der Kerl war ein Schwächling, Raznan hatte seine Angst förmlich riechen können, als er vor ihm stand und in der ihm eigenen nachdrücklichen Art klar machte, dass es keine Alternative zur Zahlung der Schulden gab. Der aalglatte Typ hätte ohne Skrupel seine Seele verkauft, um seine Haut zu retten.
„Hören Sie! Ich zahle meine Schulden und Ihnen das Doppelte dazu. Bitte! Ich weiß, wie wir zusammen an viel mehr Geld kommen!“, hatte er panisch von sich gegeben. Weiter war er nicht gekommen, weil ihn Raznan weg von der Tür in seine schicke Wohnung gedrängt und mit einem Unterarm auf der Kehle gegen die Wand gedrückt hatte. Dabei hatte er ihm nur kalt in die Augen geschaut. Solche Angebote hatte er schon dutzendfach gehört und er war noch nie darauf eingegangen.
„Wenn du deine Schulden zahlst, ist alles gut! Aber zusammen werden wir an gar nichts kommen. Du zahlst nächste Woche oder ich werde beim nächsten Treffen deutlicher werden! Sehr viel deutlicher, verstanden?“
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hatte er ihn noch stärker gegen die Wand gepresst. Aber irgendein idiotischer Zufall hatte gewollt, dass an ebendieser Wand, direkt hinter der Jammergestalt, die er in der Mangel hatte, ein großes Poster gehangen hatte. Normalerweise hätte sich Raznan von so etwas nicht von seiner Arbeit ablenken lassen, aber der Job war Alltagsroutine und auch ein Geldeintreiber war letztlich nichts anderes als ein Mann. Und das Poster zeigte eine Frau. Und was für eine Frau!
Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Wassertropfen perlten über ihre gebräunte Haut, ihre blonden Haare hingen feucht über ihre Schultern und ihr Gesicht war einfach makellos. Volle, perfekt geschwungene Lippen, strahlende Zähne. Über ihren hohen Wangenknochen warfen leicht schräg stehende, türkisblaue Augen dem Betrachter einen Blick zu, der ihm das Blut in die Lenden schießen ließ.
Auch die Schmeißfliege, die er gerade durch die Mangel drehte, hatte trotz aller Panik wohl seinen Blick auf das Bild bemerkt.
„Gefällt … sie … Ihnen …?“, hatte der Typ mühsam unter dem Würgegriff hervorgepresst, während Raznan seine Augen wie gebannt weiter über das Foto wandern ließ. Der winzige Bikini, den sie trug, überließ kaum etwas der Phantasie. Sie war keines dieser ausgehungerten Modepüppchen, sondern hatte den atemberaubend durchtrainierten Körper einer Amazone. Ihre Beine waren endlos lang, sportlich und muskulös. Ihre schmalen aber weiblichen Hüften gingen in eine flache Taille mit deutlich sichtbaren Bauchmuskeln über. Ihre Brüste waren nicht übermäßig groß, aber einfach perfekt geformte Halbkugeln. Auch Ihre Schultern und Oberarme zeigten, was sie hatte: Muskeln und dennoch die schlanke Linie einer unglaublich erotischen Frau.
Bereits im ersten Augenblick, als Raznan diesen unglaublichen Körper gesehen hatte, war er der Frau verfallen.
„… ich … kann … sie ihnen … liefern!“
Die Stimme des schmierigen Anzugträgers war nur noch ein Krächzen gewesen, als Raznan seinen Griff lockerte. Er wollte diese Frau haben! Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich mit seinem Opfer auf Verhandlungen eingelassen. Er hatte seinen Arm von der Kehle der Kröte genommen und auf das Bild gedeutet.
„Du kannst mir die da liefern?“
Das Kopfnicken der Schmeißfliege war schneller gekommen als ein Teenager beim ersten Sex.
„… Ich … kann sie … liefern …! Und … das Geld dazu!“
Und so war es zu einem Deal gekommen, der alle beteiligten Parteien zufrieden stellen sollte. Theodora würde ihr Geld bekommen, der Typ würde seine Haut retten und er selbst würde sein Geld und die Frau bekommen.
Zwar war es mit viel Aufwand verbunden gewesen, hier in der Umgebung ein geeignetes Versteck zu finden, aber dank gründlicher Recherche entdeckte er zuletzt einen alten Nazibunker an den Nordhängen des Hochgern. Die NS- Größen hatten ihn seinerzeit als Schutzunterkunft für ihre Fahrten zwischen München und dem Obersalzberg anlegen lassen, aber zwischenzeitlich war er verschüttet und vergessen gewesen. Es hatte ihn fast zwei Tage Arbeit gekostet, den Eingang soweit freizulegen, dass er ihn für seine Zwecke benutzen konnte.
Hier würde er sich mit seiner Beute in aller Ruhe beschäftigen können. Bald würde es soweit sein. Im Schutz der Dunkelheit des nachtschwarzen Waldes, der ihn umgab, brachte er seine letzten Vorbereitungen zu Ende. Vorsichtig holte er das leichte Motorrad aus seinem Transporter und legte es quer über den einsamen Feldweg. Anschließend drapierte er die Schaufensterpuppe, die er mit einer Motorradkombi und einem Helm bekleidet hatte, daneben.
Der Rest war einfach. Er musste nur noch sein Fahrzeug etwas aus dem Blickfeld schaffen und warten.
Der Abend mit ihrer besten