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Ein Feuer, ein tödliches Geheimnis – und eine Spur, die Jahrhunderte überdauert.
1867 verwüstet ein verheerendes Feuer große Teile von Marstrand. Zahlreiche Familien verlieren ihr gesamtes Hab und Gut. Auch die junge Johanna zählt zu den Opfern. Erst vor Kurzem hatte sie ihre Stelle als Dienstmädchen bei dem unverheirateten Goldschmied angetreten. Doch war das Feuer wirklich ein Unfall?
Fast 150 Jahre später zieht Lotta in die Stadt, um ein Hotel zu übernehmen. Zur gleichen Zeit befindet sich Kriminalkommissarin Karin Adler im Erziehungsurlaub – doch die Ruhe trügt. Als sie Lotta kennenlernt, beginnt sich die Vergangenheit auf unerwartete Weise mit der Gegenwart zu verweben. Währenddessen ermitteln Karins Kollegen Robert und Folke in einem scheinbaren Arbeitsunfall: Ein Matrose stirbt auf einem Frachtschiff. Doch war es wirklich ein Unfall? Und welche Rolle spielen die mysteriösen Hubschrauberübungen der schwedischen Schifffahrtsbehörde?
Ein längst vergessenes Verbrechen droht, ans Licht zu kommen – und plötzlich ist nichts mehr wie es scheint …
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Seitenzahl: 704
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein Feuer, ein tödliches Geheimnis – und eine Spur, die Jahrhunderte überdauert.
1867 verwüstet ein verheerendes Feuer große Teile von Marstrand. Zahlreiche Familien verlieren ihr gesamtes Hab und Gut. Auch die junge Johanna zählt zu den Opfern. Erst vor Kurzem hatte sie ihre Stelle als Dienstmädchen bei dem unverheirateten Goldschmied angetreten. Doch war das Feuer wirklich ein Unfall?
Fast 150 Jahre später zieht Lotta in die Stadt, um ein Hotel zu übernehmen. Zur gleichen Zeit befindet sich Kriminalkommissarin Karin Adler im Erziehungsurlaub – doch die Ruhe trügt. Als sie Lotta kennenlernt, beginnt sich die Vergangenheit auf unerwartete Weise mit der Gegenwart zu verweben.Währenddessen ermitteln Karins Kollegen Robert und Folke in einem scheinbaren Arbeitsunfall: Ein Matrose stirbt auf einem Frachtschiff. Doch war es wirklich ein Unfall? Und welche Rolle spielen die mysteriösen Hubschrauberübungen der schwedischen Schifffahrtsbehörde?
Ein längst vergessenes Verbrechen droht, ans Licht zu kommen – und plötzlich ist nichts mehr wie es scheint …
Ann Rosman ist passionierte Seglerin, die es auf ihren Langsegeltouren unter anderem bis zu den Äußeren Hebriden geführt hat. Sie hat Universitätsabschlüsse in Computertechnologie und Betriebswirtschaft absolviert. Ann Rosman lebt auf Marstrand, wenn sie nicht gerade durch die Weltgeschichte segelt.
Im Aufbau Verlag liegen ihre Kriminalromane »Die Tochter des Leuchtturmmeisters«, »Die Tote auf dem Opferstein«, »Die Wächter von Marstrand«, »Die Gefangene von Göteborg«, »Das Totenhaus« und »Der Fluch von Orkney« vor.
Mehr zur Autorin unter annrosman.com.
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Ann Rosman
Die Toten von Marstrand
Aus dem Schwedischen von Anna-Saida Jessen
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Prolog
1.
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Epilog
Nachwort
Danksagungen
Quellen
Impressum
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Natürlich wusste er, dass dies hier nicht die richtige Stelle für ein Versteck war. Wenn sie danach suchen sollten, wäre die Wohnung der erste Ort, an dem sie nachsehen würden, aber er hatte nun mal keinen besseren Platz dafür.
»Verdammt!«
Lennie grummelte in einem fort vor sich hin. Ein Geräusch im Treppenhaus ließ ihn innehalten, er verstummte und starrte eine halbe Minute lang auf die Tür, bevor er den Blick wieder auf den Haufen Geldscheine zu seinen Füßen richtete.
»Verdammt, verdammt, verdammt!«
Er kniete vorm Kleiderschrank und ließ die Bündel in einer schwarzen Bowlingtasche verschwinden. Hier mussten sie bleiben, bis er das nächste Mal an Land ging. Wenn er es nur wieder aufs Meer schaffte, würde sich die Sache regeln lassen. Dort draußen konnten sie ihm nichts anhaben. Dann würde er zum Mokum Club gehen und eine neue Lieferung annehmen, zusehen, dass jedes Milligramm sein Ziel erreichte, jedes einzelne kleine weiße Staubkorn. Er würde beweisen, dass sie sich auf ihn verlassen konnten, dass es ein Ausrutscher gewesen war, ein einziger Fehler, verflucht nochmal. Das konnte doch wohl jedem passieren!? In Zukunft würde er es besser machen. Selbst Janko musste doch einsehen, dass es klüger war, ihn weitermachen zu lassen; er kannte die Route, die Zulieferer, hatte immer astrein gearbeitet. Außer beim letzten Mal. Aber einmal ist keinmal. Er hatte nichts von der Ware abgezwackt, sondern nur eine Extraportion für sich mitgenommen. Eine kleine Menge, um wieder auf die Beine zu kommen.
Er warf einen Blick aufs Handydisplay und sah wieder Jankos Nummer. Shit! Wenn er nur an Bord käme, dann könnte er sich später um das hier kümmern. Sie sollten ihr Geld wiederkriegen, aber zuerst musste er ihnen zeigen, dass er sich gefangen hatte. Wenn er jetzt mit dem Geld hinführe, würde er nicht mehr zurückkommen. Er war ja nicht blöd.
Lennie schlug die Schranktür zu, schob sich das vibrierende Handy in die Hosentasche und stopfte ein paar Kleidungsstücke in eine Plastiktüte von Willys, dann verließ er eilig die Wohnung.
Einen Augenblick blieb er vor der Tür der Nachbarwohnung stehen. Mutter. Normalerweise schaute er immer kurz bei ihr rein und sagte Tschüss, bevor sie wieder ablegten, aber diesmal schaffte er es ums Verrecken nicht. Stattdessen eilte er die Treppe hinunter und nach draußen, wo das Taxi bereits wartete. Ignorierte die ausgestreckte Hand des Taxifahrers, schmiss die Tüte in den Kofferraum des Mercedes und setzte sich auf die Rückbank.
»Anschnallen«, sagte der Fahrer. Als ob der Sicherheitsgurt seine größte Sorge wäre. Als ob das überhaupt irgendeine Rolle spielte. Himmel. Mit einem Seufzen schnallte Lennie sich an. Sah hinauf zum Lichterbogen im Fenster seiner Mutter. Es war noch viel zu früh, den aufzustellen, dachte er, während der Wagen sich in Bewegung setzte. Es war ja noch nicht einmal November.
In sechs Wochen würde er zurück sein. Dann sollte all das hier hinter ihm liegen. Dann hätte er diese Scheiße wieder in Ordnung gebracht. Er schloss die Augen und hörte, wie der Motor beschleunigte.
Das Handy vibrierte. Er schob die Hand in die Hosentasche und brachte es schließlich mit dem Feuerzeug und ein paar Tabakkrümeln zum Vorschein. Die Nachricht leuchtete ihm entgegen.
Wir wissen, was du getan hast.
Das Herbstwetter hatte sich von mild und freundlich zu stürmisch und launisch gewandelt. Dieser letzte Samstag im Oktober machte da keinen Unterschied. Der Wind blies von der nördlichen Hafeneinfahrt her und fegte wie ein unsichtbares Raubtier durch Haare und Kleider. Aber Karin war vorbereitet, hielt den Kinderwagen fest und hatte dessen Verdeck hochgeklappt.
»Was für ein Luxus, zum Abendessen auszugehen«, sagte sie lächelnd zu Johan.
»Stimmt.« Sie merkte ihrem Lebensgefährten die Unruhe an. Er machte sich Sorgen, dass Sebastian schreien würde.
»Lotta und …?« Obwohl Johan ihr den Namen gesagt hatte, konnte sie sich nicht erinnern.
»Mattias. Lotta und Mattias.«
»Ach ja, richtig.«
Die graue Wolkendecke, die seit dem Morgen über Marstrand gehangen hatte, öffnete sich einen Spaltbreit und ließ ein paar Sonnenstrahlen hindurch, die das Wasser zum Glitzern brachten. Gerade hatte es noch bedrohlich gewirkt, doch plötzlich sah es einladend und freundlich aus, trotz der schäumenden Wellen, die das Salzwasser bis nach oben gegen die cremeweiße Fassade des Warmbads spritzten. Wie schön ein bisschen Sonnenlicht alles machte.
Ein paar Minuten später knöpfte sie sich die Jacke auf und machte eine Verschnaufpause, als auf dem Vorplatz des Badehauses das Steinpflaster in Schotter überging.
»Schotter«, stöhnte sie. »Wenn die Reifen einsinken, wird so ein Weg echt zum Ganzkörpertraining.«
»Ich habe doch angeboten, zu schieben.«
»Nein, ich brauche das. Wenn ich wieder zur Arbeit gehe, muss ich den Kerlen beim Armdrücken ja ein bisschen Widerstand leisten.«
»Den Kerlen? Meinst du die bösen Buben?«
»Ja, die auch.«
Sie hatte versucht, bei Spaziergängen mit dem Kinderwagen wieder in Form zu kommen, hatte sogar im Fitnessstudio vom Havshotell trainiert. Voller guter Vorsätze hatte sie sich eine Jahreskarte inklusive Zugang zur luxuriösen Wellnessabteilung des Hotels besorgt, doch wenn das Wetter es zuließ, lief sie lieber eine Runde über die Felsen oder einmal um die Insel Marstrand. Sie war gerne unter freiem Himmel und genoss die salzige Meeresluft.
»Hast du was gesagt?«, fragte sie, als sie merkte, wie Johan sie ansah.
»Ja«, meinte er, während der Wagen, den er mittlerweile schob, übers Pflaster holperte. »Sie müssen tagelang gemalert haben.« Er deutete auf zwei Zehn-Liter-Farbeimer neben einem Haufen Flickenteppiche voller Farbflecken, die vor der gelb gestrichenen Fassade lagen. »Um diese Jahreszeit schon ein gewisses Wagnis.«
Das Haus lag an der Ecke und folgte der Långgatan, führte aber auch ein Stück die Villagatan hinauf. Es hatte aufwendig verzierte Holzbalkone, und dazwischen hing eine dunkelblaue Fahne, auf der in weißer Schrift »Hotell Nautic« stand.
»Lotta und Mattias«, sagte Karin. »Haben die auch noch ein Haus, in dem sie wohnen?«
»Nein, ich habe es so verstanden, dass sie im Hotel wohnen.«
»Und wer hatte eine Verbindung hierher?« Sie war stehen geblieben und setzte sich nun wieder in Bewegung. »Also, lass uns reingehen, mir ist kalt.«
»Mattias ist von den beiden der, den ich kenne, die waren immer im Sommer hier, als wir jünger waren. Und dann waren er, sein Bruder und ich vor Ewigkeiten in diesem Skiurlaub. Puh, meine Güte.« Johans Miene verklärte sich.
Der berühmte Skiurlaub. Es gab sogar ein Video, in dem er durch unberührten Pulverschnee einen Berg hinunterfuhr. In eleganten Kurven und mit beeindruckender Kniebeugung. Es hatte ausgesehen wie ein Werbefilm. Als er erzählt hatte, dass das er war, hatte Karin ihm zuerst nicht geglaubt.
»Sie war also damals nicht dabei? Lotta?«
»Nein, nein. Ich habe sie nur ein paar Mal getroffen.« So, wie er es sagte, hatte es wohl noch einige andere Kandidatinnen gegeben.
»Und zwei Kinder haben sie auch.« Johan sagte ihr die Namen, doch sobald er sie ausgesprochen hatte, hatte sie sie auch schon wieder vergessen. Sicher, sie hatte schon von Stilldemenz gehört, aber es fiel ihr schwer, mit einem solchen Teflongehirn umzugehen. Bei Telefongesprächen schrieb sie Stichworte mit, wenn es ging, um sich später an das Gesagte zu erinnern. Jetzt wiederholte sie im Stillen »Lotta und Mattias« und hoffte, sich gleich noch daran zu erinnern. Und das, obwohl sie nie Schwierigkeiten mit Namen gehabt hatte. Wie sollte das werden, wenn sie wieder zur Arbeit ging?
Zwar gab es bei der Göteborger Polizei genügend Kolleginnen und Kollegen mit kleinen Kindern, die bestimmt Verständnis haben würden; aber sich nicht zu erinnern, was zwei Minuten zuvor gesagt worden war, ging nun mal einfach nicht. Eine vergessliche Kriminalinspektorin war nicht gerade von großem Nutzen.
»Wie kam es, dass sie Hotell Nautic gekauft haben? Ich meine, man kauft so ein Hotel ja nicht einfach nebenbei?«
»Mattias hat sich früher an der Rezeption etwas dazuverdient. Die ehemalige Besitzerin, eine ältere Frau, mochte ihn, und sie fand die Idee gut, dass ein junges Pärchen hier rauszieht und das Hotel ganzjährig betreibt. Wenn ich mich recht entsinne, haben sie den Betrieb Anfang des Jahres übernommen.« Johan kratzte sich an der Stirn. »Oder war das letztes Jahr?«
»Okay.«
»Was machen wir mit Sebastian?«, fragte Johan mit einem Blick auf den schlafenden Jungen.
»Wie meinst du das? Wir schieben den Wagen rein und hoffen, dass er noch ein Weilchen schläft. Es kommt, wie es kommt.«
»Was, wenn er schreit?«
»Es bringt ja wohl nichts, zu spekulieren, was alles passieren kann?«, erwiderte Karin. »Jetzt haben wir die Einladung zum Abendessen doch schon angenommen.«
»Schlimmstenfalls müssen wir wohl einfach mit ihm nach Hause gehen«, überlegte Johan laut.
Karin seufzte.
»Du meine Güte, die haben doch selbst zwei Kinder, sie wissen ja wohl, wie das ist. Und sie wussten ja auch, dass wir ein Baby haben, als sie uns eingeladen haben.«
Manchmal regte es sie wirklich auf, wie wichtig es ihm war, was andere über sie dachten. Im Grunde war Rücksichtnahme ja eine gute Eigenschaft, aber hin und wieder übertrieb er es damit.
Sobald sie um die Ecke bogen, ließ der Wind nach. Das Haus hatte eine L-Form, und ein gepflasterter Weg führte zum Eingang in der Mitte des Gebäudes. Ein Kupferkübel mit Heidekraut stand neben zwei Fahrradanhängern und einem roten Lastenmoped, auf dem der Name des Hotels stand.
Noch bevor sie sich bemerkbar machen konnten, wurde die Tür geöffnet. Eine rothaarige Frau trat heraus. Auf ihrem Gesicht erstrahlte ein Lächeln.
»Hallo, wie schön, dass ihr kommen konntet«, sagte sie.
»Danke, dass ihr euch traut, eine Familie mit sechs Monate altem Baby einzuladen. Wir haben keine Ahnung, wie das hier laufen wird«, meinte Karin und streckte die Hand aus. »Karin.«
»Lotta. Wir haben einen Vierjährigen und eine Siebenjährige. Benjamin und Felicia. Das ist mitunter mindestens genauso spannend. Der Vorteil ist, dass sie mittlerweile die Nächte durchschlafen.«
»Ohhh«, machte Karin.
»Ja. Ich erinnere mich mit Grauen an diese Zeit zurück.«
»Was sagst du da?«, kam es von einem dunkelhaarigen Mann, der hinter ihr erschien und sich als Mattias vorstellte. Als er Johan sah, strahlte er.
»Die Zeit war toll«, meinte er, ergriff Johans Hand und legte seine andere auf dessen Schulter, dann schaute er in den Kinderwagen.
»Du bist also ein Störenfried?«
»Er schläft«, sagte Johan leise. Als hätten die geschlossenen Augen das nicht bereits verraten.
»Aber er sieht doch allerliebst aus«, fand Mattias.
»Ja, so ist das, wenn sie schlafen. Aber der Schein trügt«, antwortete Karin und stellte fest, wie ausgeschlafen ihre Gastgeber aussahen. »Manchmal stehe ich auf der Fähre, sehe mich um und denke darüber nach, dass alle anderen bestimmt die ganze Nacht schlafen durften.«
»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Lotta.
»Wie gut es hier aussieht. Habt ihr gestrichen?«, fragte Johan. Eine vollkommen unnötige Frage beim Blick auf die »Frisch gestrichen«-Schilder, die entlang der Hauswand standen.
»Wir hatten gedacht, dass wir es im Frühling schaffen, aber da wurde es nichts; und dann kam die Sommersaison, und wir waren voll und ganz beschäftigt. Also musste es jetzt sein«, erklärte Mattias und sah mit zurückgelegtem Kopf die Hauswand hinauf. »Verdammtes Glück mit dem Wetter.«
»Hat das eine lokale Firma gemacht?«
»Kann man wohl sagen. Henrik. Mein Bruder.« Letzteres fügte er erklärend mit einem Blick in Karins Richtung hinzu.
»Wie praktisch, dass dein Bruder Maler ist«, erwiderte Karin.
»Na ja, er ist als unser Hausmeister und so ein bisschen Mädchen für alles angestellt.«
Lotta machte eine Geste, einzutreten, und sie und Karin gingen ins Haus. Ließen die Männer an der Tür zurück.
»Mutig, einen Hotelbetrieb zu übernehmen. Hat einer von euch Erfahrung damit?«
»Ich war Hotelchefin im Sheraton in Stockholm, als ich Mattias kennengelernt habe. Dann bin ich umgezogen und beim SAS Radisson in Göteborg gelandet, weißt du, das am Drottningtorget.«
Karin wusste, welches Hotel sie meinte. Es lag in der Södra Hamngatan, direkt am Kanal.
»Und nun bin ich hier. Ist schon was anderes, ein eigenes Hotel zu führen. Ich war es gewohnt, ein großes Unternehmen hinter mir zu haben. Da war immer klar, wen man anrufen konnte, man musste nur den Hörer in die Hand nehmen. Da war ich eher eine Art Organisatorin, die den Laden am Laufen hält.« Lotta schüttelte den Kopf. »Das läuft hier ein bisschen anders. Meistens bin ich auf mich gestellt, wobei seit Neuestem noch Henrik hilft, Mattias’ Bruder. Mattias hilft auch, wenn er zu Hause ist, aber oft ist er unterwegs. Er hat seinen Job behalten, weil wir nicht wussten, ob das hier funktioniert.«
»Wo arbeitet er denn?«
»Er verkauft Küchenausstattungen an Großküchen. So haben wir uns kennengelernt, das Hotel in Stockholm sollte eine neue Küche bekommen.«
Karin nickte und schaute sich in dem kleinen, aber gemütlichen Eingangsbereich um. Ein Sofa und zwei Sessel standen in einer Ecke des Raumes. Waagerechte Holzleisten verkleideten sowohl die Wände als auch den Empfangstresen auf der linken Seite. Hinter dem Tresen konnte man einen weiteren Raum erahnen.
»Ich war tatsächlich noch nie hier drinnen«, stellte Karin fest. »Schön habt ihr es.«
»Danke! Willst du dich umsehen?«
Lotta folgte Karins Blick zur geöffneten Eingangstür, wo Johan nach wie vor in Jacke stand. »Zwei erwachsene Männer, da kann man doch erwarten, dass sie mit einem Baby fertigwerden.«
»Fraglich«, meinte Karin und ging zur Tür. »Johan, ich lasse mir von Lotta eine Führung durchs Haus geben.«
Johan war ganz in sein Gespräch mit Mattias versunken und nickte bloß. Karin fühlte sich jedes Mal hin- und hergerissen, wenn sie sich von ihrem Sohn entfernte. Aber es war auch eine Erleichterung, etwas zu tun, ohne dass Sebastian an ihr hing. Einfache Dinge, wie allein zur Toilette zu gehen oder etwas zu essen, bevor es kalt wurde, fühlten sich mittlerweile wie purer Luxus an.
Lotta deutete auf die weiß gestrichenen Wände. »Wir haben die Vertäfelung gerade erst angebracht. Hier möchte ich am liebsten alte Schwarz-Weiß-Fotos aufhängen.« Sie gestikulierte, als würde sie Bilder an unsichtbaren Haken aufhängen. »Mich dem Haus mithilfe von überlieferten Geschichten aus der Vergangenheit der Insel nähern.«
»Was für eine wunderbare Idee. Sprich mal mit Johan darüber, er kennt sich mit der Geschichte der Insel aus.«
»Ja, Mattias hat schon erzählt, dass er Ahnung hat, also wollte ich ihn tatsächlich fragen. Und dann kann man hier auf dem Sofa sitzen und einen Kaffee trinken und dabei die Bilder betrachten. Besonders toll wäre es, wenn ich Fotos der früheren Besitzer bekommen könnte.«
Sie zeigte auf die Treppe auf der rechten Seite, fünf Schritte vom Eingang entfernt. »Die Treppe hoch befindet sich der Speisesaal, dort werden wir gleich essen. Und hier hinten geht es zu den Zimmern im Erdgeschoss.«
Sie betraten einen kleinen Korridor, die Schritte wurden von der Auslegware gedämpft, und der Boden gab ein bisschen unter ihnen nach. Die Wände waren hell tapeziert, die Türen altmodisch, mit Türschließern, deren Arme in den Korridor ragten. Sie hatten keine Kartenschlösser, sondern Messinggriffe und Schlösser für normale Schlüssel. Lotta blieb vor einer Tür ganz hinten im Flur stehen.
»Das hier ist eines meiner Lieblingszimmer«, erklärte sie und öffnete die weiß gestrichene Tür.
Die Tapete war hellblau mit einem Muster in einem dunkleren Farbton, der sich in den Gardinen und dem Überwurf wiederholte. Das Doppelbett war so platziert, dass man gleich nach dem Aufwachen die Aussicht durch das Sprossenfenster auf die nördliche Hafeneinfahrt genießen konnte.
»Oh. Wow!«, sagte Karin. »Stell dir hier Frühstück im Bett vor.«
Lotta grinste. »Im Stockwerk drüber ist es sogar noch besser. Aber mir gefällt, dass man hier die Nähe zur Straße und zum Wasser hat.«
Karin nickte und unterdrückte ein Gähnen. Hoffentlich hatte Lotta es nicht bemerkt.
»Das Kopfsteinpflaster sieht wirklich toll aus, aber abgesehen davon ist dieser steile Anstieg im Winter katastrophal.«
Lotta brach in schallendes Gelächter aus. »Absolut! Wir haben letzten Winter einen Kühlschrank bestellt, aber der Liefertyp hat ihn dort drüben abgeladen. Eine Straße zu früh. Es war ein Heidenaufwand, den hier reinzukriegen. O Gott, ja.«
Letzten Winter. Also waren sie bereits letztes Jahr im Frühling hergezogen.
Das Haus wirkte eher wie eine Pension als wie ein Hotel. Die Möbel waren weiß lackiert und schon etwas in die Jahre gekommen. Offenbar alte Kiefernholzmöbel, die wiederhergerichtet worden waren.
»Statt die ganzen alten Sachen rauszuschmeißen, haben wir versucht, möglichst viel davon zu streichen und auf Vordermann zu bringen. Oder was heißt wir? Ich war wohl diejenige, die alles behalten wollte. Ein Teil war schon zu runtergekommen und musste weg, aber vieles konnten wir noch verwenden. Im Obergeschoss gibt es einen ganzen Raum voller alter Möbel. Einiges davon ist richtig alt. Glaube ich zumindest.«
»Es fühlt sich heimelig an«, meinte Karin.
»Findest du? Wie schön. Wir wollten es etwas persönlicher gestalten«, erklärte Lotta und zog die Gardinen zurecht. »Mit verschiedenen Tapeten und Stoffen in den einzelnen Zimmern.«
Sie gingen plaudernd weiter, liefen die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk des Hotels. Lotta öffnete hier und da eine Tür, zeigte das eine oder andere Zimmer, jedes mit einem anderen Ausblick über die Hausdächer oder die Straßen darunter.
»Aber wo wohnt ihr denn eigentlich?«
»Hier hinten. Es gibt hier zwei Wohnungen.« Lotta deutete auf eine Treppe, auf deren Absatz sich zwei Türen befanden. »Henrik wohnt in der einen und wir in der anderen. Komm, ich zeige sie dir.« Sie ging mit ein paar schnellen Schritten hinauf und öffnete die weiß gestrichene Tür. »Wir haben ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, und ganz dahinten gibt es noch ein Badezimmer mit Dusche. So klein, dass man rückwärts reingehen muss, wenn man auf Toilette will.«
Karin lachte. »Ich bin an Boote gewöhnt, so schlimm klingt das also nicht. Keine Küche?«, fragte sie. Die Wohnung hatte schräge Decken, und hier und da gab es kleine Dachgauben, damit mehr Licht hereinfiel.
»Wir haben eine kleine Kochnische und einen Kühlschrank, mit ein bisschen gutem Willen könnte man also vermutlich etwas zustande bringen, aber meistens kochen wir unten.«
Die Fensternischen waren so tief, dass man darin sitzen konnte, und in Anbetracht der Kissen, die dort lagen, war Karin wohl nicht die Einzige, der dieser Gedanke gekommen war. In einer Ecke der Nische lag eine graue Strickjacke.
»Sitzt du oft hier?«, fragte Karin und zeigte auf die Jacke.
»Nicht so oft, wie ich gern würde. Eigentlich fast nie.«
Karin ging zum Fenster und schaute hinaus in die Dunkelheit. Sie mochte den Herbst, mal abgesehen davon, dass es so schnell dunkel wurde. Von hier aus konnte man den Leuchtturm Lyktan sehen, der Seeleuten den Weg in die nördliche Einfahrt wies. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Villagatan waren hell erleuchtet, und sie sah Menschen, die sich darin bewegten. Sie bekam Lust, nach einer Decke zu fragen und es sich bequem zu machen.
»Unglaublich, was für ein Platz. So schön! Schau, jetzt fährt das Lotsenboot raus.«
Sie standen schweigend da und sahen dem Boot nach, den Laternen, die in einiger Entfernung durch die Dunkelheit schwebten. Karin seufzte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lotta.
»Ach ja«, gab Karin zurück und wandte den Blick vom Fenster ab. Manchmal wurde sie von der Sehnsucht überwältigt, die ein Teil von ihr war, solange sie denken konnte. Die Sehnsucht nach Abenteuern, einfach abzulegen und davonzusegeln. Diese Sehnsucht, von der Johan zwar wusste, die er aber schwer nachvollziehen konnte. Die sie rastlos machte. Und hier war nun eine Familie, die ganz und gar Wurzeln geschlagen hatte. Und dadurch, dass sie in dem Hotel lebten, das sie betrieben, war selbst die Arbeit Teil des Familienlebens. Von hier konnte man nicht einfach die Leinen lösen und los. Ihr Magen knurrte, hoffentlich war das nicht zu hören gewesen.
»Supergemütlich«, sagte sie und lächelte Lotta an.
Eine Schranktür öffnete sich langsam, scheinbar von Geisterhand.
»Die Türen gehen auf, wenn ein starker Wind weht«, erklärte Lotta und schloss die weiße Lamellentür wieder.
»So ist das wohl mit alten Häusern«, sagte Karin. »Die führen ein Eigenleben.«
Ein unbehaglicher Ausdruck huschte über Lottas Gesicht.
»Auf eine gute Art, meinte ich. Sie haben eine Seele.« Karin wollte die Äußerung korrigieren, die offensichtlich falsch angekommen war, schwieg dann aber, weil ihr nichts Besseres einfiel. »Es riecht irgendwie besonders hier.«
Lotta zuckte zusammen. Auf ihrer Stirn erschien wieder die Sorgenfalte, die doch gerade erst verschwunden war.
»Nach Rauch? Riechst du das auch?«
»Hm? Nein, eher nach Lavendel.«
Lotta nickte und deutete auf eine Schale mit Potpourri. »Komm, ich zeige dir noch den Rest«, sagte sie.
In jedem Flur hing ein Feuerlöscher, und hier und da stand eine Kommode oder ein kleiner Tisch mit einer Vase oder einem Blumentopf darauf.
»Hier sind zwei Häuser zusammengefügt worden«, erklärte Lotta. »Deshalb ist es etwas krumm und schief und schwurbelig.«
Karin mochte das Wort und nickte.
»Aber genau das gefällt mir auch. Schau mal hier«, fuhr Lotta fort und zog einen Schlüsselbund hervor, um eine Tür aufzuschließen. Sie suchte noch nach dem richtigen Schlüssel, als Karin bemerkte, dass die Tür einen Spalt offen stand, und sie darauf aufmerksam machte.
»Komisch«, sagte Lotta nachdenklich. »Ich war so sicher, dass ich abgeschlossen hatte.«
Marstrand, April 1849
Johanna dankte dem Schiffer und nahm die helfende Hand an, die er ihr anbot. Die Aprilsonne wärmte sie, als sie am Kai von Marstrand an Land ging. Sie nahm die beiden Koffer entgegen, die von Bord gehoben wurden, und stellte sie neben sich ab. Der Boden war gepflastert. Große Lagerhäuser standen entlang des Kais. Und richtige Häuser, Holzhäuser mit Steinfundamenten, Stufen zur Eingangstür und einem Tor. Nicht wie die einfachen Katen, die sie gewohnt war.
Ihr Blick fiel auf die Koffer. Sollte sie jemanden bitten, sie auf einen Karren zu laden? Vielleicht schickte es sich nicht, sie einfach zu tragen? Doch ein Laufbursche würde für seine Dienste bezahlt werden wollen, und sie fürchtete um die wenigen Münzen, die sie besaß. Na schön, wenn sie es recht verstanden hatte, war der Weg nicht weit, und nach der ganzen Arbeit auf dem Hof hatte sie kräftige, sehnige Arme. Also nahm sie einen Koffer in jede Hand und lief los. Buchstabierte sich durch die Wörter auf allerhand Schildern und erfuhr dadurch, dass es hier ein Manufakturgeschäft, eine Schneiderei, eine Bäckerei und eine Apotheke gab. Was für eine Vorstellung, all dies in Reichweite zu haben.
Sie hörte das Schellen der Türglocke, als eine ältere Frau die Tür der Apotheke öffnete. Einen Augenblick blieb Johanna stehen und beobachtete durch die Fenster, wie der Apotheker sich hinter dem Tresen bewegte. Mithilfe einer Leiter stieg er zum obersten Regal, holte dunkle Flaschen herunter und zog Schubladen auf. Fasziniert sah Johanna ihm zu. Allein der Gedanke, wie viel es da zu beachten gab.
Die Türglocke erschallte aufs Neue und riss sie aus ihren Gedanken. Sie konnte hier doch nicht einfach stehen. Also besann sie sich darauf, weshalb sie hier war, und setzte ihren Weg fort. Die Anhöhe hinauf, bis über die höchste Stelle, und am Rathaus sollte sie nach rechts abbiegen. Das Haus mit dem Kiesvorplatz war das einzige aus Stein. Es sah aus wie ein Schloss, hatte zwei Stockwerke und eine Dachgaube mit herrlich verziertem Giebel. Während sie langsam weiterging, konnte sie den Blick nicht von der Steinfassade und den vielen Fenstern abwenden.
Heute sollte sie ihren Dienst als Magd bei Margareta Sofia Nordström antreten. Dreiundsechzig Jahre alt und die Witwe des Goldschmieds Nordström. Das verlieh ihr Bedeutung, hatte Johannas Mutter erklärt. Eine Witwe konnte das Bürgerrecht übernehmen und das Gewerbe nach dem Tod des Mannes weiterführen. Junge Goldschmiedsgesellen heirateten die Witwen unabhängig vom Alter, um das Bürgerrecht zu erlangen. Das Recht, den Beruf des Goldschmieds auszuüben, war von großem Wert. Wobei Mutter nicht davon ausging, dass Margareta Sofia Nordström vorhatte, wieder zu heiraten. Sie war nicht darauf angewiesen. Wahrscheinlicher war es, dass sie das Gewerbe an ihren Sohn Sven Edward weitergab. Wenn er es nicht bereits übernommen hatte. Er hatte in Göteborg eine Anstellung gehabt und war nach dem Tod des Vaters auf die Insel zurückgekehrt.
»Also pass auf und benimm dich.«
Die Worte klangen bei der Tochter nach. Sie würde ohne Zweifel ihr Bestes geben, aber da gab es noch diese andere Sache. Oder vielleicht war auch alles in Ordnung. Vielleicht war sie nur spät dran. Aber sie war nie spät. Nie.
Die Reise, die am elterlichen Heim begonnen hatte, dem Bootsmannshaus am Ufer der Bucht Myggstaviken in Bremnäs, war schnell vorüber gewesen. Zuerst war sie das kurze Stück hinunter zum Steg gelaufen und an Bord gegangen, dann hatte das Boot mithilfe südöstlicher Winde schnell den Albrektsunds-Kanal erreicht, wo sie wiederum Glück mit der Fließrichtung gehabt hatten. Insgesamt hatte die Reise nur eine Stunde gedauert.
Und nun war sie in Marstrand. Hufgetrappel auf Pflastersteinen und Schieferplatten, das Scheppern der Wagen und überall diese Menschen. So viele und überall! Sie kamen aus den Bäckereien, sie gingen zum Schuhmacher und zum Friseur. Es war, als wäre ständig Markttag. Bedienstete mit Körben in den Händen, bestimmt voller Besorgungen für wichtige Leute. Mägde und Haushälterinnen liefen eilig umher, mit weißen Schürzen und schönen Schultertüchern, obwohl sie zum Gesinde gehörten. Zumindest glaubte Johanna, dass es Bedienstete waren. Und dann gab es noch die anderen. Die, deren Kleider so oft geflickt und so voller Schmutz waren, dass es unmöglich war, zu erkennen, welche Farbe der Stoff irgendwann mal gehabt hatte. Jene, die die Hände ausstreckten und die rockgewandeten Herren mit Gehstöcken und die Damen in schönen Gewändern um Almosen anbettelten. Mit geradem Rücken spazierende Frauen mit Hüten und Parasols in den behandschuhten Händen. Im Vergleich zu ihnen fühlte sie sich grau und gebeugt, obwohl sie erst vierundzwanzig war. Johanna streckte sich und strich sich über den Rock, ehe sie weiterlief.
Die Långgatan machte ihrem Namen alle Ehre, dachte sie, während sie sie entlangging und die Häuser betrachtete. Die Straße war auf der linken Seite mit schwarz glänzenden Schieferplatten und auf der rechten mit Kopfstein gepflastert. Am Fuß des Hanges hörte die Straße auf, und dort hinten, am Ende, glitzerte das Wasser der nördlichen Hafeneinfahrt auf diese spezielle Weise, wie es nur wellenbewegtes Meerwasser konnte. Der Duft von frischen Backwaren wehte ihr in die Nase, und weiter unten die Straße hinab schwang eine große Holzbrezel an einer Stange vor einem Hauseingang. Als sie näher kam, erkannte sie Buchstaben auf der Brezel. Diese heimtückischen kleinen Zeichen. Zahlen waren eine Sache, aber Buchstaben eine völlig andere. Boustedts Bäckerei, buchstabierte sie sich schließlich zusammen. An der Bäckerei sollte sie nach rechts in die Köpmansgatan einbiegen. Da es, abgesehen von einer kleinen Gasse, nur eine einzige Straße auf der rechten Seite gab, bestand keine große Gefahr, sich zu verlaufen.
An der Ecke stand ein stattliches Haus, und Johanna erinnerte sich an die Worte ihrer Mutter, dass der Goldschmiedsfamilie ein Großteil des Quartiers gehörte. Alle Grundstücke zwischen der Holländaregränd, der Långgatan und der Köpmansgatan gehörten ihnen. Alle. Beinahe das ganze Quartier. Wie konnte man denn ein ganzes Quartier besitzen?
Es war, als wäre sie in eine andere Welt eingetaucht. Ja, auch hier lagen Pferdeäpfel auf der Straße, aber es fühlte sich dennoch wie ein anderes Land an. Ihr fiel auf, dass es hier offenbar keine Kühe gibt, nur auf der anderen Seite des Sundes, auf Koön; dort hatte sie vom Boot aus welche entdeckt. Vielleicht würde sie gar nicht melken müssen. Aber was tat eine Magd in einer Stadt, in der die Straßen gepflastert waren?
Johanna blieb vor dem Haus stehen und beäugte das steinerne Fundament. Die Holzfassade war weiß gestrichen, die Fensterrahmen und das Geländer grün. Echte Farbe, kein Teer, und an der Ecke zur Holländaregränd war sogar eine Laterne angebracht. Eine hauseigene Laterne.
Als sie so dort stand, wurde die Tür des Hauses von einem jungen Mann geöffnet. Johanna zuckte zusammen. Sie konnte doch nicht hier so stehen und glotzen. Ihre Wangen glühten, und sie fühlte sich ertappt. Er winkte sie zu sich heran. Sie ging so aufrecht, wie es mit einem Koffer in jeder Hand nur möglich war, und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während sie über die runden Pflastersteine zu den glatten Schieferplatten ging, die an der anderen Seite der Straße lagen. Der Mann sah ihr zu. Sie spürte seinen Blick und war erleichtert, als sie die ebenmäßigen Steinplatten erreichte. Darauf zu gehen war keine Kunst.
Er sah nicht wie ein Knecht aus, war dafür viel zu gut gekleidet, stand in allzu entspannter Haltung da. Das musste der Sohn sein, überlegte sie und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Sven Edward. So hieß er doch? Sven Edward Nordström.
»Johanna Olsson?«, fragte er.
Sie bejahte, trat noch ein Stück näher, stellte die Koffer ab und machte einen Knicks.
Als sie den Blick hob, streckte er ihr die Hand entgegen. Sie war warm und trocken. Rau und mit Schwielen. Nicht so ausgeprägt wie die der Knechte, aber dennoch spürbar. Ein Goldschmied arbeitete wohl auch mit Werkzeugen.
»Sehr schön. Sven Edward Nordström. Kommen Sie herein, dann können Sie sich bei meiner Mutter vorstellen, der Goldschmiedswitwe Margareta Sofia Nordström.«
Johanna warf einen fragenden Blick zu dem Haus an der Ecke, aus dem er herausgekommen war. »Das ist mein Haus. Meine Mutter lebt dort.« Er deutete auf das Gebäude nebenan, das nur einen Steinwurf entfernt den Hügel hinauf lag.
Ein Zaun umgab sein Grundstück, und hinter dem Wohnhaus befand sich ein weiteres, kleineres Haus. Er folgte ihrem Blick.
»Meine Werkstatt. Sie gehörte meinem Vater, dem Goldschmied Sven Nordström, doch er ist letztes Jahr von uns gegangen. Nun gehört sie mir.«
»Mein Beileid.« Johanna war unsicher, ob sie noch etwas sagen sollte. Dass so das Leben war. Dass mancher kam und mancher ging. Aber schweigen war immer besser als allzu viel Geplapper.
Sven Edward nickte. »Danke. Ein Hühnerhaus und einen Holzschuppen gibt es auch noch, aber die sind von hier aus nicht zu sehen.«
»Wie schön«, sagte sie schließlich, obwohl sie die anderen Bauten nicht gesehen hatte, und hob wieder die Koffer auf.
»Ich habe etwas mit Mutter zu besprechen, daher kann ich Sie begleiten«, erklärte er, und sie gingen die wenigen Schritte zum Nachbarhaus.
Das Haus war einstöckig, genau wie Sven Edwards. Die Holzfassade war gestrichen, hatte strahlend saubere Fenster und gepflegte Spitzengardinen, die von Schlaufen gehalten wurden. Selbst im kleinen Giebelfenster hingen Gardinen. Sie zählte im unteren Stockwerk auf der Längsseite sechs Fenster. Drei auf jeder Seite der Tür. Blühende Gewächse in blau-weißen Töpfen standen in jedem dieser vielen Fenster.
Sven Edward ging die Steintreppe hinauf und drehte sich zu ihr um.
»Sie reden sie bitte mit ›gnädige Frau‹ an«, bat er und öffnete die rechte Seite der Doppeltür. Er trat ein und hielt sie auf, so dass Johanna in den Windfang treten konnte, dann schloss er sie wieder.
Johanna nickte, betrachtete die dunkle Holzverkleidung und den Teppich, der im Flur auf dem Boden lag, und fragte sich, ob sie darüber- oder besser außen herumlaufen sollte. Dies hier war der Haupteingang, und sie war es gewohnt, feinere Häuser durch den Kücheneingang zu betreten. Sie beschloss, den Teppich zu umrunden, und wusste nicht recht, wie sie Sven Edwards Lächeln deuten sollte.
Aus dem Inneren des Hauses ertönte eine auffordernde Stimme. Geradezu durchdringend.
»Wer ist es, Sven Edward? Ist sie das? Die Kleine von Olle Mört, ist sie es?«
Wenn sie doch nur dann und dort kehrtgemacht hätte. Sich entschuldigt hätte und nach Hause gefahren wäre. Dann hätte das Leben einen anderen Lauf genommen. Dann wäre nichts von alledem jemals geschehen.
»Wir achten sehr darauf, hier abzuschließen, denn wenn die Kinder reinkommen und rumtoben, besteht die Gefahr, dass alles zusammenkracht. Im schlimmsten Fall auf sie drauf. Hm, tja.« Lotta steckte die Schlüssel zurück in die Tasche und zog die Tür auf. Die Luft im Zimmer war abgestanden, und der Geruch erinnerte an eine Sommerhütte, die man das erste Mal nach dem Winter öffnete. Karin sah sich im Raum um, zwischen den Möbeln, die übereinandergestapelt und teilweise mit Laken bedeckt waren. Sie konnte gut verstehen, warum Lotta nicht wollte, dass die Kinder allein hier drinnen waren.
In einer Ecke stand ein altertümlicher Schreibtisch mit dazugehörigem Holzstuhl, der eine geschwungene Lehne und ein Sitzpolster aus Leder hatte. Er sah einladend aus, als wartete er nur darauf, dass jemand sich auf ihm niederließ und mit der Arbeit fortfuhr.
»Ich würde den Schreibtisch samt Stuhl gern runterbringen und im Büro benutzen. Oder was man nun als Büro versteht – es ist nur eine kleine Kammer hinter der Rezeption. Aber Mattias findet, dass der Schreibtisch ausreicht, den wir da unten haben, und außerdem gibt es so viel anderes, das getan werden muss. Und alleine kann ich den ja schlecht runtertragen.«
Karin stellte sich vor, wie anstrengend es wäre, den Schreibtisch die schmale Treppe hinunterzutragen. Sie beugte sich tiefer, um zu sehen, wie er gebaut war und ob es irgendwelche Fugen gab.
»Kann man den vielleicht auseinandernehmen, also in einen oberen Teil und die zwei unteren?«, überlegte sie laut. »Diese Aktenschrank-Unterteile?«
»Keine Ahnung.« Lotta ächzte, als sie nur mit Mühe den Stuhl hochhob. »Himmel, ist der schwer.« Danach kroch sie unter den Schreibtisch. »Nicht, soweit ich erkennen kann, aber so was sieht man ja nicht immer gleich.«
»Johan versteht sich auf alte Möbel, soll er mal einen Blick drauf werfen?«, schlug Karin vor.
Lotta erhob sich. »Du denkst bestimmt, ich bin nicht ganz dicht. Lade euch hierher ein und schleppe dich in ein Zimmer, um dann unter einem alten Schreibtisch herumzukriechen.«
Karin lachte. »Ehrlich gesagt macht es mir Spaß.«
»Sicher?«
»Ganz sicher. Ich bin ja andauernd mit Sebastian zu Hause; das ist zwar kuschelig, aber manchmal ist es etwas eintönig.«
»Schon verstanden. Ich habe gehört, du bist Polizistin. Wo denn eigentlich?«
»In Göteborg. Also, ich meine, es ist ja schon andauernd was los, und es gibt immer etwas zu tun, aber mir fehlt eine intellektuelle Herausforderung. Nicht, dass ich tatsächlich irgendetwas beitragen könnte oder mich auch nur an den Inhalt eines Gesprächs erinnern würde, denn im Augenblick habe ich das Gedächtnis eines Goldfischs.«
Lotta sah Karin an. »Das geht vorbei. Doch ich erinnere mich daran. Mit der Zeit wird es leichter und verlangt dir weniger ab. Aber versucht, euch die Arbeit zu teilen. Von Anfang an.«
Karin nickte.
Lotta zog die oberste Schublade auf, soweit es ging, bevor sie von einer großen Holzkiste mit der Aufschrift »Göteborger Dampfbrotbäckerei« gestoppt wurde. Sie schaute in die Öffnung, die sie zustande gebracht hatte. »O mein Gott, schau mal! Hier sind lauter alte Sachen drin. Hilf mir mal, die hier wegzuschaffen.«
Zusammen zerrten sie die Holzkiste so weit aus dem Weg, dass sie die oberste Schreibtischschublade aufbekamen. Sie ließ sich überraschend leicht öffnen. Zuoberst lag ein Bündel Briefe, fein säuberlich mit einer Schnur zusammengebunden. Darunter befand sich ein Notizbuch.
»Wie spannend«, sagte Karin und wartete ungeduldig darauf, dass Lotta die Sachen aus der Schublade holte.
»Rektor Myrberg«, las Lotta mit einiger Mühe und betrachtete danach das Buch. »Also, das mit der Sehkraft ist wirklich hoffnungslos. Hast du eine Lesebrille?«, fragte sie Karin.
»Noch nicht, aber der Augenblick rückt näher.«
Lotta hielt das Buch eine Armeslänge von sich weg. »So geht’s. Sekundarschule Marstrand.« Sie legte die Briefe auf den Schreibtisch und widmete sich dem Notizbuch. Der Einband knackte, als sie ihn aufschlug. Die Seiten waren mit einer eleganten, weich geschwungenen Handschrift gefüllt. »Also, das hier kann ich sofort vergessen.«
»Darf ich mal sehen?«, bat Karin und drehte das Buch, so dass sie lesen konnte. »Albin Jonsson. C in Religionslehre, das war wohl nicht so besonders. War das hier mal eine Schule?«, fragte Karin.
»Keine Ahnung«, antwortete Lotta.
»Das lässt sich ja herausfinden.« Sie dachte an Johans Mutter, die sich im Heimatverein engagierte, seit sie in Rente war.
»Vielleicht haben die Leute, denen das Haus vorher gehört hat, einfach alte Möbel gesammelt.«
Karins Magen knurrte, diesmal ziemlich laut. Lotta zog ihr Handy heraus und sah auf die Uhr.
»Das Gratin im Ofen ist fertig. Wir gehen am besten runter zu den anderen.«
Karin stand immer noch über das Notizbuch gebeugt. Las die Namen derjenigen, die einst die Schule der Insel besucht hatten, deren Zukunft damals noch vor ihnen lag.
»Möchtest du das mit nach Hause nehmen?«, fragte Lotta. »Ich erkenne ja doch nicht, was da steht.«
»Ich kann nicht versprechen, dass ich es schaffe, reinzuschauen«, erwiderte Karin.
»Es kann ebenso gut bei dir herumliegen wie hier«, stellte Lotta fest und überreichte ihr das Buch.
Karin konnte Johan lachen hören. Dieses entspannte, sprudelnde Lachen, das er hatte, wenn er unter Freunden war. Der Kinderwagen stand beim Eingang, Sebastian schlief noch immer.
»Erinnerst du dich, als du durch den Neuschnee zwischen den Lärchen fahren musstest …?« Den Rest hörte sie nicht. Stattdessen dachte sie darüber nach, ob sie ihrem Sohn die Mütze abnehmen sollte, entschied sich aber dagegen, um ihn nicht zu wecken. Johan hatte die Decke heruntergezogen und den Reißverschluss des Overalls geöffnet.
»Der kleine Kerl schläft so friedlich«, sagte Lotta. »Ist es in Ordnung, dass er hier steht, oder sollen wir den Wagen in den Speisesaal tragen? Der ist dort oben, die Treppe rauf.«
Die Treppe bestand nur aus drei Stufen, und sie würde es mitbekommen, falls Sebastian aufwachte. Johan winkte ihr aus dem Speisesaal zu.
»Hier ist gut«, sagte Karin. Wieder hörten sie Johan lachen.
»Der Skiurlaub nach Chamonix«, stellte Lotta fest.
Karin nickte.
»Manchmal habe ich die Vermutung, dass der in der Erinnerung besser ist als zu der Zeit, als er stattfand.«
»Mama, kannst du mit Benjamin zur Toilette gehen? Ich habe Papa Bescheid gesagt, aber er redet und redet nur.« Die Stimme kam von einem Mädchen im roten Kleid und mit Glitzerhaarspangen, die die lockigen Haare zusammenhielten. Neben ihr stand ein Junge mit hellen, zerzausten Haaren, großen blauen Augen und in Jogginghosen. Er nahm Lottas Hand und versuchte, sie mit sich zu ziehen.
»Das hier ist Benjamin. Benjamin, das ist Karin.«
»Mama«, sagte der Junge drängend und mit angestrengtem Gesicht.
»Ich habe ihm schon gesagt, dass ich mitgehen kann, aber das wollte er nicht.«
»Okay, Felicia. Hast du schon Karin begrüßt?«, fragte Lotta mit ruhiger Stimme. »Kannst du sie mit hoch zu Papa in den Speisesaal nehmen und dafür sorgen, dass sie etwas zu trinken bekommt?« Lotta blinzelte Karin zu.
»Komm«, sagte das Mädchen und machte eine Handbewegung, dass Karin ihr folgen sollte, dann ging sie mit einer Hand am Geländer voran.
Als Lotta von der Toilette zurückkehrte, stand Mattias mit einem Glas in der Hand da und erzählte Johan etwas, das mit den Kameras zur Geschwindigkeitsüberwachung auf dem Marstrandsvägen zu tun hatte. Karin saß ein Stück entfernt auf einem Stuhl und gab Sebastian die Brust, der inzwischen aufgewacht war. Sie hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet. Auf die Elstern, die im Baum neben der Terrasse saßen. Ein leeres Wasserglas stand vor ihr. Lotta ging zum Ofen.
»Ich hatte es im Auge«, erklärte Mattias, der ihr gefolgt war.
Lotta kniete sich hin und begutachtete das dunkelbraune Kartoffelgratin. Hier und da war die Oberfläche verkohlt. Das konnte selbst Karin erkennen, als die Ofentür in der Küchenecke geöffnet wurde und ein verbrannter Geruch durch den Speisesaal waberte.
»Und du hast nicht gemerkt, dass es langsam verbrennt?«, erkundigte sich Lotta bei Mattias und schaltete die Lüftung an. Danach schaute sie sich um, vermutlich nach etwas, mit dem man die heiße Form aus dem Ofen holen konnte.
Mattias beugte sich vor. »Ach, so schlimm sieht das ja gar nicht aus.«
Karin sah, wie Lotta ihrem Mann einen wütenden Blick zuwarf, während sie ein Paar oft benutzte Topflappen aus einem Schrank nahm, sie ihm unsanft gegen die Brust drückte und sich offensichtlich nicht einmal darum scherte, ob Fett und eingebrannter Schmutz Flecken auf seinem blauen, fischgrätgemusterten Hemd hinterließen.
»Nimm das verdammte Gratin da raus«, fauchte sie. Dann holte sie einen Krug, ließ ihn mit kaltem Wasser volllaufen, kam zu Karin und füllte deren Glas auf.
Karin hielt Lotta am Arm fest. »Bestimmt kann man einfach die oberste Schicht abkratzen, meinst du nicht?«, fragte sie.
Lotta seufzte und probierte ein Lächeln. »Also sorry, aber das war das Einzige, worum ich Mattias gebeten hatte. Ich habe ihn gebeten, es im Auge zu behalten, und erklärt, dass es lauwarm serviert werden soll. Und ich kann ja schlecht innerhalb von zehn Minuten ein neues aus dem Ärmel zaubern.«
»Es schmeckt bestimmt trotzdem lecker. Ach, übrigens, kann ich hier irgendwo Sebastians Windel wechseln?«
»Ja klar, hier hinten«, sagte Lotta. Karin folgte ihr in den kleinen Eingangsbereich, wo Lotta eine Tür öffnete und einen an der Wand befestigten Wickeltisch herunterklappte.
»Kann ich behilflich sein?«, fragte Lotta.
»Du darfst uns gerne Gesellschaft leisten«, antwortete Karin und hoffte, dass dies Mattias Zeit gab, die Situation in der Küche zu lösen. Und Lotta vielleicht wieder auf andere Gedanken brachte.
Lotta stand neben dem Wickeltisch und versorgte Karin mit Feuchttüchern, einer neuen Windel und Babykleidung, während sie abwechselnd mit ihr und mit Sebastian sprach. Schließlich waren sie fertig, packten alles zurück in die Wickeltasche und befestigten den Tisch wieder an der Wand.
Oben in der Küche stand das Gratin immer noch im Ofen.
»Das kann doch nicht wahr sein«, stieß Lotta zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und Karin befürchtete, sie würde jetzt explodieren. Doch dann merkte sie, dass etwas anders aussah. Das Gratin war nicht mehr dunkel, sondern hell.
»Wir haben uns bemüht, es zu retten, hoffentlich haben wir es nicht schlimmer gemacht«, bemerkte Johan, der hinter ihr auftauchte. »Wir haben die obere Schicht abgetragen und, wenn es gut läuft, einen Eierstich mit Parmesan zusammengerührt. Ist in ein paar Minuten fertig.«
»Weniger wir«, fügte Mattias hinzu. »Die Rettung ist Johan zu verdanken.«
»Danke schön!«, sagte Lotta und nahm das Weinglas entgegen, das Mattias ihr reichte.
»Entschuldige, wenn ich dich falsch verstanden habe«, sagte er leise und strich ihr über den Rücken.
»Gleichfalls«, erwiderte sie und lächelte erschöpft.
Vier Erwachsene und drei Kinder waren nun um einen der runden Tische in Hotell Nautics Speisesaal versammelt. Im Baum vorm Fenster leuchteten kleine Lämpchen, die an den Zweigen befestigt waren. Aus der Stereoanlage, die Mattias mit seinem Smartphone verbunden hatte, schallten Achtziger-Jahre-Klassiker. Karin betrachtete ihn verstohlen, nun, da er ihr gegenübersaß. Er sah gut aus. Kurz geschnittenes dunkles Haar, das an den Schläfen langsam grau wurde, und aufgekrempelte Hemdsärmel. Er lächelte viel und lachte gern. Jetzt entfernte er die Alufolie von der Platte mit dem Schweinefilet und den Champignons und reichte Karin das Besteck dazu.
Sie ließ den Blick schräg über den Tisch schweifen, wo Sebastian auf einem Hochstuhl zwischen Johan auf der einen und Felicia und Benjamin auf der anderen Seite saß. Sebastian schaute fasziniert zwischen den beiden Kindern und dem Kandelaber hin und her, in dem die Kerzen flackerten.
»Das Essen war phantastisch«, lobte Karin und trank einen Schluck alkoholfreien Wein. Allein schon, dass sie sich den Umstand gemacht hatten, den zu kaufen.
»Ja, allerdings«, stimmte Johan zu. »Ganz besonders die knusprige Schicht auf dem Gratin.«
Lotta lachte.
»Oben gibt es ein Zimmer mit alten Möbeln«, sagte Karin und dachte an den Schreibtisch, den Lotta unten bei der Rezeption haben wollte.
»Ja, da steht alles Mögliche. Das meiste davon ist aber totaler Schrott«, winkte Mattias ab.
»Das kannst du so ja wohl nicht sagen«, unterbrach ihn Lotta. »Ich dachte, wir könnten die Sachen durchgehen und schauen, ob wir einige der Möbel verwenden können.«
»Glaubst du nicht, dass die Gäste lieber neue, frisch eingerichtete Zimmer haben wollen?«, fragte Mattias.
»Wir sind keine seelenlose Hotelkette. Ich glaube, dass die Gäste sich hier gerne ein bisschen in alte Zeiten zurückversetzt fühlen, und das versuche ich, ihnen zu geben.« Karin entging der Tonfall zwischen ihnen nicht – auch nicht, wie Lotta das Wörtchen ich betonte.
»Ich möchte, dass die Zimmer von den früheren Besitzern des Hauses erzählen. Kurze Geschichten hier und da, und ein Foto, falls vorhanden.« Sie blickte von Karin zu Johan.
Der stellte sein Glas ab. »Frag mal beim Heimatverein nach. Du kannst mit meiner Mama sprechen, die hat da bei vielem mitgearbeitet. Vor ein paar Jahren haben sie eine Bestandsaufnahme gemacht und alles zusammengesammelt, was über die Grundstücke auf Koön und Marstrandsön bekannt ist.«
Lotta nickte.
»Habt ihr das Boot um diese Jahreszeit im Wasser?«, fragte Mattias. Als hätte er gerade beschlossen, dass es klüger war, das Gesprächsthema zu wechseln.
»Die liegen beide hinten am Schwimmsteg«, erklärte Johan.
»Beide? Noch eins außer deiner Skäreleja?«
»Wir haben auch noch ein Segelboot. Aus Stahl. Ein bisschen eckig, aber auf seine Art hübsch.«
»Ach, das? Und das gehört euch beiden?«
»Es gehört Karin«, erklärte Johan.
Karin lächelte automatisch beim Gedanken an die Andante.
»Wie schön«, sagte Mattias. »Was für ein Modell ist es denn?«
»Ein französisches Stahlboot. Knocker Imram.«
»Sieht auf jeden Fall solide aus. Und ist gut ausgestattet. Windfahne, Radar, alles da. Bist du schon weit damit rumgekommen?«
»Shetlands, Orkney, Schottland. Die Ecke. Bevor dieses Kerlchen aufgetaucht ist.« Sie nickte in Richtung Sebastian, der mittlerweile auf Johans Schoß saß. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, rauszufahren und mit Sebastian die Küste von Bohuslän entlangzusegeln, vielleicht …«
Ein Blick auf Johan genügte, und sie hielt es für klüger, die Idee vom Herbst- oder Wintersegeltörn nicht auszusprechen. Aber die Häfen entlang der Küste waren um diese Jahreszeit so wunderschön, und man fand immer einen Platz, egal, wohin man kam. Sie könnte sogar längsseits anlegen. Gott. Nordkoster. Ramsö. Kornö. Kalvö. Schon beim Gedanken an die Inseln wurde ihr ganz warm. Aber klar, sie konnte den Kinderwagen natürlich auch noch eine Weile hier herumschieben. In der Zwischenzeit könnte sie dann zumindest an Bord schlafen. Und vielleicht schaffte sie es, Johan zu einem Wochenendausflug zu überreden. Sie hatte eigentlich gedacht, dass sie und Sebastian ein Stück nach Norden segeln könnten und Johan mit dem Auto hinterherkäme. Aber in dieser Sache waren sie uneins gewesen. Johan hatte gefragt, was sie tun würde, wenn Sebastian genau dann anfing zu schreien, wenn sie dabei war, anzulegen. Karin verstand das Problem nicht. Es war ja nicht so, dass der Kleine einfach abhauen würde. Und es war doch einerlei, ob sie zu Hause unter der Dusche stand oder gerade anlegte, wenn er zu schreien anfing. Vielleicht konnte sie das Thema doch noch mal ansprechen.
Es war kurz nach elf, als Karin und Johan durch die Herbstnacht nach Hause gingen. Der Wind hatte nachgelassen, und Johan war entspannt vom Wein. Am Himmel leuchteten die Sterne, und Sebastian schlief im Kinderwagen.
Sie gingen schweigend nebeneinanderher. Das Rauschen des Marstrandsfjords folgte ihnen noch ein Stück die Långgatan hinauf. Die Holzhäuser der historischen Stadt sahen im Dunkeln anders aus. Die Straßenlaternen spendeten ein sanftes Licht, das wie kleine, golden schimmernde Kugeln auf den blau gestrichenen Pfählen saß und Karin an Herrn Tumnus aus den Narnia-Büchern erinnerte. Viele der Häuser standen zu dieser Jahreszeit leer und waren dunkel. Phantastische Voraussetzungen für eine Familie mit Kindern, die hierherzog und das ganze Jahr über ein Hotel betreiben wollte.
Nachdem Sebastian endlich versorgt war, krochen sie ins Bett.
»Ein schöner Abend, aber jetzt bin ich völlig erledigt«, meinte Karin.
»Allerdings. Ach, stimmt ja, Winterzeit«, sagte Johan und drückte auf seinem alten Radiowecker herum, bis die rote Zeitanzeige sich änderte.
»Ist das heute Nacht?«, fragte Karin. »Vor oder zurück? Das kann ich mir nie merken.«
»Eine Stunde zurück. Morgen Abend um sechs ist es eigentlich schon sieben.«
»Gute Nacht.«
»Schlaf gut«, erwiderte Johan und schaltete seine Nachttischlampe aus.
Dunkelheit, dachte Karin. Nun lagen mit November und Dezember die dunkelsten Monate vor ihnen, bis das Licht dann langsam zurückkehrte.
Marstrand, Juni 1849
Johanna hatte sich bei der Goldschmiedswitwe Nordström in der Köpmansgatan gut eingelebt. Sie hatte ein kleines Zimmer neben der Küche bekommen, dessen Fenster nach Süden in den Hof ging. Anfang Juni war die Sommerwärme gekommen, doch die Abende und Nächte waren weiterhin so kühl, dass man das Fenster öffnen und sich abkühlen konnte. Die Geräusche waren in der Stadt anders. Es war lauter als auf dem Land, und man hörte das Klappern und Lärmen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Knechte gerieten aneinander, wenn sie Branntwein getrunken hatten, und dann konnte es laut zur Sache gehen.
Nachtwächter Lomberg rief, wenn er seine Runde durch die Stadt ging. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich an seinen Ruf gewöhnt hatte. Nun hörte sie ihn nur noch durch ihre Träume, wie er verkündete, was die Uhr geschlagen habe, woher und wie stark der Wind wehe und dass alles in bester Ordnung sei. Seine Stimme war angenehm und verbreitete Sicherheit. Und wenn der Wind aus westlicher Richtung kam, wehte in den frühen Morgenstunden der Duft von frisch gebackenem Brot aus Boustedts Bäckerei in der Långgatan herüber. Ein herrlicher Duft. Sie liebte es, zu backen, und fragte sich, wie es wohl war, ganze Tage in der Backstube zu verbringen. Verschiedene Teige herzustellen und dann auf den Holzbänken zu Brotfladen und Kringeln zu formen. Jeden Tag den weichen Teig mit den Händen zu kneten. Die Fladen im Ofen zu backen und den himmlischen Duft zu riechen, wenn aus dem Teig Brot wurde.
Während sie in der Stadt ihre Besorgungen machte, traf Johanna auf die unterschiedlichsten Menschen und lernte, dass es viele Arten gab, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie brachte Schuhe, die eine Reparatur benötigten, zum Schuhmacher und holte sie wieder ab, wenn sie fertig waren. Sie kaufte Fisch direkt bei den Fischern, und Milch, Mehl und Honig gab es bei den angereisten Bauern, die am Kai standen. Und dann all die Händler in ihren Geschäften. Es gab Waren, von denen sie noch nie gehört hatte; die Kräuter in den Keramikkrügen verströmten Düfte, die sie nie zuvor gerochen hatte. Es gab Apotheker, Ärzte, Höker und Krugmacher. Lotsen und Zöllner und allerhand Seeleute hatte sie schon getroffen, seit sie ein Kind war, ebenso Mägde und Knechte, mit denen sie früher Seite an Seite auf den Höfen gearbeitet hatte. Aber die Stadt hatte so viele Gesichter, so viele Berufe, mit denen sie vorher noch nie in Kontakt gekommen war. Und vom Beruf des Goldschmieds hatte sie keine Ahnung gehabt, bevor sie Sven Edward kennenlernte.
Die Badegäste waren angekommen. Die Hälfte von Sven Edwards Haus war an zwei ältere Damen aus Stockholm vermietet. Beide ließen sich mit Frau anreden, wobei Margareta Sofia nachdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass mindestens eine der beiden nichts anderes als ein altes Fräulein war. Sie verfügten über zwei der Zimmer und nutzten den Windfang und den Haupteingang, der zur Straße hinausging. Jeden Tag ihres sechswöchigen Aufenthalts servierte Johanna ihnen den Morgenkaffee, während alle anderen Mahlzeiten in den Wirtshäusern und Restaurants der Stadt eingenommen wurden. So hatte Margareta Sofia es erklärt. Wenn sie zusätzlich um etwas baten, sollte Johanna dafür entlohnt werden.
Dann und wann hatte Johanna etwas bei Sven Edward zu erledigen, in seiner Wohnung oder der Werkstatt, in der er arbeitete. Sie bewegte sich, so leise sie konnte, um die Kurgäste nicht zu stören, und selbst Sven Edward sprach mit gedämpfter Stimme, während die Zimmer vermietet waren. Meistens war es die Mutter, die Johanna nach ihrem Sohn schickte. Johanna hatte nichts dagegen, hinüberzugehen. Weder zum Haus noch zur Werkstatt. Das Haus war kleiner als das der Witwe, es war weniger teuer eingerichtet, aber auch weniger dunkel. Aus irgendeinem Grund schien das Licht bei Sven Edward leichter durch die Fenster zu fallen, obgleich es weniger waren als bei Margareta Sofia.
Manchmal seufzte Sven Edward und fragte, ob es eile oder wichtig sei. Johanna pflegte zu antworten, dass sie es nicht wisse, und vielleicht verstand er, dass sie schlecht ohne ihn zurückkehren konnte. Dass dies nur dazu führen würde, dass sie ein weiteres Mal zwischen den Häusern hin- und hergeschickt werden würde. Oder er wollte es seiner Mutter einfach recht machen. Was es auch war, so kam er doch jedes Mal mit.
»Was halten Sie davon, Johanna?«, hatte er sie beim letzten Mal gefragt.
»Wovon, Herr Nordström?«, fragte Johanna verwundert.
Sven Edward deutete auf etwas auf dem Tisch vor sich, das wie eine Zeichnung aussah. Johanna ging näher heran und beugte sich darüber. Ein zweistöckiges Haus mit Balkon und einer Eingangstür in der Mitte, davor eine Treppe. Mit Stufen, die von zwei Richtungen hinaufführten. Drei Fenster zu beiden Seiten des Eingangs. Das gleiche im Stockwerk darüber. Drei Fenster zu beiden Seiten der Balkontüren.
»Wie schön«, sagte sie. »Wo ist das?« Sie warf einen Blick auf das Lineal und die Stifte, die er benutzt hatte und die nun neben dem Papierbogen lagen.
»Hier, hoffe ich. In einigen Jahren.«
»Hier?«
»Das ist eine technische Zeichnung«, erklärte er und führte dann aus, wie er sich vorstellte, sein Haus auszubauen, damit es eine weitere Etage bekam. »Es ist zu klein für eine Familie.«
Johanna überlegte, ob es wohl schon eine Frau gab, die er als Frau Nordström im Sinn hatte, wusste es aber besser, als danach zu fragen.
»Wie schön«, sagte sie stattdessen und merkte, dass sie sich wiederholte. »Ich meine, das sieht wunderbar aus«, fügte sie hinzu. »Allerdings verstehe ich nichts von Häusern. Aber es sieht gut aus. Stattlich gebaut.« Hör auf zu reden, dachte sie.
»Stattlich gebaut – kann man das auf der Zeichnung sehen?«, wunderte sich Sven Edward.
»Ich meinte nur, dass …«, stammelte Johanna. »Dass es ein schönes Haus werden kann.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Sven Edward zu. »Nun, dann muss ich wohl mitkommen und sehen, was Mutter von mir will.« Damit stand er auf und folgte ihr.
Sven Edwards Werkstatt lag in einem separaten Haus, in dem sich sowohl der eigentliche Arbeitsraum als auch eine Wohnung im ausgebauten Dachstuhl befand. Letztere war klein, doch Sven Edward erzählte, dass er hin und wieder dort gewohnt hatte, als sein Vater noch lebte. Er selbst war früh in die Fußstapfen des Vaters getreten und hatte einige Jahre bei einem Goldschmied namens Göthblad in Göteborg gearbeitet, bevor er seine Prüfung in Stockholm ablegte.
»Göthblad«, sagte er manchmal und schüttelte den Kopf bei der einen oder anderen Erinnerung. Als müsste Johanna verstehen, was er meinte.
»Stockholm«, sagte Johanna beeindruckt. Und Sven Edward erzählte. Von der Stadt, den Geschäften und vom königlichen Schloss. Johanna versuchte, es sich vorzustellen, doch alles, was er beschrieb, klang so fremd. Sie würde höchstwahrscheinlich nie in die Hauptstadt kommen. Aus welchem Grund sollte eine Magd von der Myggstaviken sich schon dorthin begeben?
In der Werkstatt gab es eine Werkbank mit mehreren Schubladen und eine Wand, an der allerlei Werkzeuge der Größe nach geordnet aufgehängt waren. Vom größten zum kleinsten. Hammer und Walzen, die das Metall dünner und dünner machten, und winzig kleine Scheren. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so kleine Schraubenzieher und Bohrer gab. Sie sahen aus wie für Kinder. Und trotzdem lagen sie ihm ganz natürlich in den Händen. Alles hatte seinen Platz, und er war sorgsam darauf bedacht, die Dinge wieder dorthin zu legen, wohin sie gehörten. Er brauchte den Blick nicht zu heben, sondern streckte einfach die Hand nach einem Werkzeug aus und konnte sicher sein, es dort zu finden. Fasziniert beobachtete sie seine sorgsamen, gewohnheitsmäßigen Bewegungen, die Gold- und Silberdrähte und die Silberbleche, die auf ihre Bearbeitung warteten. Sie fragte sich, wie viel ein solches Blech wohl kostete. Sven Edward zeigte ihr Stücke, die er begonnen hatte, und solche, die bereits fertig waren und abgeholt oder ausgeliefert werden sollten. Ringe, Ohrringe, Duftdosen, Kelche und Kandelaber. Was für eine Vorstellung – sich so etwas leisten zu können. Aus Silber und Gold. Man stelle sich vor, die Magd zu sein, die einen solchen Gegenstand für ihren Hausherrn abholte, und ihn dann auf dem Weg zu verlieren. Allein der Gedanke bereitete ihr Bauchschmerzen. In letzter Zeit hatte sie häufiger Bauchkneifen gehabt, vielleicht aus Sorge, nicht gut in diese Gesellschaft hineinzupassen. Aber sie war eine fähige Magd, das wusste sie. Sie tat ihr Möglichstes, damit es keine Beschwerden gab, und soweit sie wusste, waren sowohl die gnädige Frau als auch der Sohn nach diesen ersten zwei Monaten im Dienst zufrieden mit ihr.
Johanna fragte immer beide, Margareta Sofia und Sven Edward, ob es etwas gab, wobei sie behilflich sein konnte. Zwar hatte Margareta Sofia sie angestellt, doch Johanna war nicht dumm und begriff, dass es nur zu ihrem Vorteil war, wenn auch der Sohn die neue Magd guthieß. Sie spürte, wenn er eine Pause brauchte, brachte ihm eine Scheibe Brot und sorgte dafür, dass er Kaffee bekam. Steckte ihm sogar heimlich Kuchen als Zwischenmahlzeit zu, wenn er darum bat, obwohl sie wusste, dass Margareta Sofia nichts davon hielt. Vielleicht war das der Grund dafür, dass Sven Edward sich umso mehr darüber freute. Als wäre es ein Geheimnis zwischen ihnen beiden.
Inzwischen gab es Mägde, die erst nach ihr in die Stadt gekommen waren – sie war also nicht länger der Neuankömmling oder die, die am wenigsten vom Stadtleben wusste. Langsam begriff sie, wie die Dinge sich verhielten, hörte zu und überlegte erst, bevor sie etwas fragte. Verstohlen beobachtete sie Margareta Sofia und Sven Edward beim Essen. Schaute zu, wie sie mit Besteck, Gläsern und Servietten umgingen. Johanna merkte es sich. Nicht, weil sie erwartete, mit am Tisch zu sitzen, sondern um auf eine bessere Weise aufzutischen, zu zeigen, dass sie wusste, was sie tat. Immerhin hatte sie einige Male auf dem Gut Tofta Herrgård mitgeholfen.
Sie hatte sogar schon mitbekommen, wie die Goldschmiedswitwe ihre Fähigkeiten gegenüber ein paar Bekannten lobte, die zu Besuch waren. Die anderen Damen hatten darüber geklagt, wie schlecht ihre eigenen Mägde sich betrugen. Johanna fragte sich, ob das wirklich stimmte. Sie wusste, wie leicht es zu Missverständnissen kam. Manchmal gab es eine Magd, die eine andere niedermachte, um selbst in besserem Licht dazustehen. So etwas kam vor. Selbst hatte sie immer Glück mit denen gehabt, die mit ihr arbeiteten; sie hatten sich gegenseitig geholfen. Sie wollte glauben, dass Gutes aus Gutem entstand und man ein anständiges Leben führen konnte, solange man sein Bestes gab und seiner Arbeit nachging.