Die Toten von Ralswiek - Jens-Uwe Berndt - E-Book

Die Toten von Ralswiek E-Book

Jens-Uwe Berndt

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Beschreibung

Intrigen und Leidenschaften hinter den Kulissen. Bei den Störtebeker Festspielen in Ralswiek auf Rügen sterben nacheinander vier Menschen auf höchst unterschiedliche Art und Weise. Mordet hier jemand systematisch und kaltblütig mit äußerst per den Methoden? Von den Schauspielern hat allem Anschein nach so ziemlich jeder etwas zu verbergen. Selbst die Intendantin, die mit aller Macht verhindern will, dass die Saison baden geht, gerät ins Visier der Kriminologen. Ein wahrer Intrigenreigen wird hinter den Kulissen gesponnen, was die Ermittlungen von Oberkommissar Karsten Schwinka und seinem Team in der Kripo-Außenstelle Bergen nicht einfacher gestaltet. Die Nachforschungen führen die Polizisten dabei nicht nur ins Ostseebad Binz oder nach Putbus, sondern auch auf den Darß, nach Stralsund, ins beschauliche Mirow und schließlich sogar in den niedersächsischen Landtag nach Hannover.

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Jens-Uwe Berndt

Die

TOTEN

von Ralswiek

Inhalt

1 Tod auf der Theaterbühne

2 Lehrjahre

3 Lufthoheit

4 Frauenknast

5 Gift

6 Geschlossene Gemeinschaft

7 Erinnerungslinien

8 Kanonendonner

9 Polizeialltag

10 Politische Aspekte

11 Freiheit und Gerechtigkeit

12 Vernehmungsprotokolle

13 Café Central

14 »falsche fährte«

15 Wie die Katzen

16 Biest

17 An die Oberfläche gespült

18 Pflicht zur Illusion

19 Informationsdynamik

20 Eisenhut

21 Zwischen Ritter und Sklavin

22 »Unglücksfall«

23 Laufbursche

24 Um Kopf und Kragen

25 Rote Spitze

26 Zettelwirtschaft

27 Verhuschtes Lächeln

28 Verbindlichkeiten

29 Gedankliche Seitenstraßen

30 Gute Stimmung

31 Eiseskälte

32 Liga der Begierde

33 Klackgeräusch

34 Aufmerksamer Bürger

35 Gleichberechtigung

36 Komplexe Probleme, einfache Antworten

37 Flutlicht

38 Reißleine

39 Mordfallinszenierung?

40 Vorschusslorbeeren

41 Brückenmonster

42 Offizielle Korrespondenzen

43 Maulwurf

44 Täterwissen

45 Abgründe

46 Schlupflöcher

47 Gewehr bei Fuß

48 Krimiklischees

49 Denunziant

50 Auf Gedeih und Verderb

51 Dringender Tatverdacht

52 Pure Ecstasy

53 K.o.-Tropfen

54 Engmaschiges Netzwerk

55 Ohrfeige

56 Blaues Auge

Letztes Kapitel Nebensächlichkeiten

1

Tod auf der Theaterbühne

»So fängt eigentlich ein schlechter ›Tatort‹ an«, knurrt Karsten Schwinka, als er die Tür seines Wagens öffnet und sich in den Sitz fallen lässt. Dabei macht er dicke Backen und stößt die Luft durch die zusammengepressten Lippen. ›Tod auf der Theaterbühne. Und keiner hat’s gesehen‹, denkt er. ›Bescheuerter Plot, aber Kommissarin Valerie Ziegenbart-Bunsenbrenner wird dem Bösewicht schon auf die Spur kommen.‹ Schwinka grinst. TV-Krimis findet er ziemlich daneben. Immer, wenn er die Geschichten mit seinen realen Fällen vergleicht, blickt er auf zwei völlig unterschiedliche Welten. Vor allem, was die Ermittlungen betrifft. Da echauffiert er sich an einem Krimiabend vor dem Fernseher manchmal genauso wie bei einem Spiel der deutschen Fußballnationalelf. »Jedenfalls geschafft«, sagt er. Und als würde jemand aus dem Off fragen, wie er das wohl gemeint habe, fügt er für sich noch ein »Sowohl als auch« hinzu.

Vier Stunden Vernehmungen liegen hinter Schwinka. Nicht, dass er so etwas nicht gewohnt ist – aber heute? Heute hat es nicht gepasst, denn als Neuer vor dem eigentlichen Dienstantritt im Bergener Hauptrevier mit einem mysteriösen Todesfall konfrontiert zu werden, ist kein guter Start.

Karsten Schwinka lässt den Wagen an. Der Motor surrt leise. Draußen auf dem Parkplatz vor der Gaststätte Zum Störti ist wegen der dramatischen Ereignisse bei den Störtebeker Festspielen immer noch reger Betrieb. Es ist zwar schon kurz nach 2 Uhr, zur Ruhe wird hier vermutlich aber bis in die Morgenstunden niemand kommen. ›Kann mich nicht jucken‹, denkt der Kriminaloberkommissar und lenkt seinen Jaguar XJ 3.0 an den herumstehenden Gruppen vorbei, in denen heftig diskutiert wird.

Die Wenigsten wollen wahrhaben, was hier vor ein paar Stunden während der Vorstellung auf der Ralswieker Naturbühne passierte: Jan Möhricke, Darsteller des Herzogs Hinrich, war zusammengebrochen und unter den Augen von 5000 Zuschauern gestorben. Und für Schwinka gibt es keinen Zweifel: Den hat jemand umgelegt.

2

Lehrjahre

Karsten Schwinka ist heimgekehrt. Auf der Insel wurde er geboren, ging hier zur Schule und machte sein Abitur. Genügend Zeit also, um sich jenes dicke Fell zuzulegen, für das die Rüganer bekannt sind. Wie viel davon Klischee ist, weiß er bis heute nicht zu sagen. Es zu bedienen, hat aber immer einen Heidenspaß gemacht – und manchmal auch positive Nebeneffekte mit sich gebracht. Schon auf der Polizeihochschule in Münster sind ihm dadurch nervige Mitanwärter vom Hals geblieben – und die Kolleginnen dort haben diese Verschlossenheit meist ausgesprochen interessant gefunden. Irgendwie stehen angehende Polizistinnen darauf, Geheimnisse zu ergründen. Ob es nun eines gab oder nicht. Wie im »Tatort« halt. Wieder muss er lächeln bei dem Gedanken.

Ausgerechnet jetzt, wo er über die Bundesstraße 96 zurück nach Bergen fährt, um von dort weiter nach Putbus zu gelangen, geht ihm seine Ausbildungszeit durch den Kopf. »Lehrjahre sind keine Herrenjahre« heißt es zwar, für Schwinka hat sich dieser Lebensabschnitt allerdings als eine einzige Sause gestaltet. Ein wenig kommt ihm dabei die Sehnsucht nach der Leichtigkeit von einst in den Sinn. Denn wenn er nur daran denkt, was ab morgen alles auf ihn wartet, meldet sich sein nervöser Magen. Das Wissen um die bevorstehenden Rituale des sich Beschnupperns in einer neuen Dienststelle bereitet ihm Unbehagen. Sicher – er ist einer der besten seines Fachs, weshalb er entspannt alles auf sich zukommen lassen könnte. Wer will ihm hier das Wasser reichen? Aber so läuft das auf Rügen nicht. Mit »Meine Jacht, mein Haus, mein Auto, meine Fälle« wäre er in den Augen der Kollegen schnell der Dödel vom Festland. Da spielt es nicht einmal eine Rolle, dass er hier aufgewachsen ist. Denn nach fast drei Dekaden Abwesenheit erinnert sich kaum jemand an ihn – und seine Eltern sind schon einige Jahre tot.

3

Lufthoheit

»Ich darf euch vorstellen: Kriminaloberkommissar Karsten Schwinka. Er übernimmt ab sofort, wie ihr wisst, die Leitung unserer Krimitruppe.« Silvio Uhlmann, der Chef des Bergener Hauptreviers, pflegt einen saloppen Ton mit seinen Untergebenen, die aufgereiht wie in einem Zeltkino auf alten Stapelstühlen sitzen. Eigentlich ist bereits alles im Vorfeld geklärt, sagt Uhlmann. Und deshalb habe er die Mannschaft auch nur für ein paar Minuten in den Versammlungsraum beordert. »Und der Kollege Schwinka hat gleich eine ganz harte Nuss zu knacken, denn gestern Abend ist bei Störtebeker einer der Schauspieler tot umgefallen.«

Einer der Kripobeamten, der Schwinka unterstellt sein wird, grinst bei dieser Bemerkung.

Schon bei der kurzen Vorstellung in seinem neuen Dienstzimmer war Schwinka dieser Typ unangenehm. Kantiges, fast eckiges Gesicht, vorgeschobenes Kinn, Augenbrauen, die sich in der Mitte beinahe berühren und der Mund ein Strich. Selbst jetzt, wenn er grinst, bleiben die Lippen annähernd parallel zueinander. ›Er lächelt mehr mit den Augen‹, denkt Schwinka, ›und die Mundwinkel zieht er dabei eher runter als hoch.‹

»Eben – tot umgefallen«, ruft der Quaderkopf plötzlich und schaut Karsten Schwinka herausfordernd an.

»So ist es«, schneidet der neue Kripochef dem Revierleiter die Erwiderung ab, »und die Umstände untersuchen wir jetzt.«

»Schon mal mit der Rechtsmedizin telefoniert?«, lässt der Schmallippige nicht locker. »War vielleicht ein Herzinfarkt, ein Zuckerschock oder Nierenversagen.«

»Darum kannst du dich sofort kümmern, Micha!«, hakt Uhlmann wieder ein, obwohl ihm die Kriminalbeamten gar nicht unterstehen. Er erträgt es aber beileibe nicht, wenn er bei Revierversammlungen in Gesprächen die Lufthoheit verliert.

»Wir setzen uns gleich zusammen und besprechen die weitere Vorgehensweise«, sagt Schwinka und nickt Uhlmann dezent zu.

Der ruft nur »An die Arbeit, Kollegen!« und drängelt sich an Schwinka vorbei, um als Erster den Raum zu verlassen. Das sind sie also. Mit diesen drei Männern soll er künftig Schurken jagen und dingfest machen.

Kriminalhauptmeister Danilo Schobel steht im Büro seines neuen Chefs an die Wand gelehnt und schaut dienstbeflissen unter seinem in die Stirn hängenden Scheitel hervor. Der große Mann, von dem Schwinka weiß, dass er aus Magdeburg stammt, wirkt umgänglich. Als er heute Morgen auf die insgesamt sechs Kollegen traf, war Schobel der einzige, der ihm entgegenkam, um ihm die Hand zu reichen. Sogar jenes andere Trio, das sich ausschließlich mit Alltagsvergehen befasst und bei Tötungen außen vor bleibt, zeigte sich zurückhaltend.

Der zweite, Kriminalobermeister Steffen Dorvitz, ist locker zwei Köpfe kleiner als Schobel. Da er obendrein einen kleinen Buckel macht, schätzen ihn manche nicht einmal auf 1,65 Meter. Die ist er aber. Was die beiden allerdings weit mehr unterscheidet als die Größe, ist ihre Ausstrahlung. Da, wo Schobel gelassen und freundlich wirkt, hat Dorvitz etwas Unentspanntes, fast Nervöses. Mit dem scheinbar noch aus DDR-Beständen stammenden Drehsessel, in dem er sitzt, jackelt er unentwegt hin und her, was ein rhythmisches metallisches Quietschen erzeugt. Dorvitz scheint das aber nicht zu bemerken. Fahrig blickt er aus seinen kleinen, eng zusammenstehenden Augen mal auf den neuen Chef, mal an diesem vorbei aus dem Fenster und ab und zu auch an die Decke.

Und dann Polizeikommissar Michael Neumann. Der Typ hätte durchaus die Leitung der Bergener Außenstelle übernehmen können. Der Dienstgrad stimmt, die Erfahrung auch. Er ist wie Schwinka ein Rüganer und kurzzeitig sogar als Nachfolger des erst kürzlich pensionierten Leiters gehandelt worden. Als sich jedoch Schwinka für die Stelle interessiert hatte, war Neumann schnell wieder aus dem Spiel. Eine unangenehme Situation.

Schwinka weiß darüber Bescheid. Aber der Heimkehrer hat in seiner Laufbahn schon Konflikte mit vermeintlichen Mitstreitern von ganz anderem Kaliber ausgetragen. Manchmal ist er dessen aber auch müde gewesen.

Daran denkt er, während er in den Vernehmungsprotokollen der letzten Nacht blättert. Die anderen schauen ihn an. Und für den Bruchteil einer Sekunde durchfährt Schwinka diese Müdigkeit, als er sich vorstellt, was mit Neumann auf ihn noch alles zukommen könnte. Aber vielleicht ist es auch nur die Enttäuschung über den verpassten Chefposten, die sich bei dem anderen schon nach ein paar Tagen legen wird, wenn sie gemeinsam an einer Sache arbeiten werden.

»Na, Herr Kriminaloberkommissar, alle Unterlagen beisammen?« Michael Neumann macht den Anfang. Die Ironie in seiner Stimme ist unüberhörbar. Er sitzt breitbeinig und mit verschränkten Armen neben Dorvitz auf dem zweiten Bürostuhl vor Schwinkas Schreibtisch.

Als der neue Mann den Blick hebt, rutscht Neumann mit seinem Hintern nur ein paar Zentimeter in Richtung Stuhllehne, als wollte er seine legere Haltung verbessern. Und es ist nur dieser kurze Augenblick, in dem der Polizist ob seiner Herausforderung Unsicherheit verrät.

Karsten Schwinka bemerkt es. Er würde lächeln, legte ihm sein Gegenüber das nicht als Arroganz aus, und so denkt er nur, wie rührend er solche verräterischen Bewegungen findet. Allerdings empfindet er keine Genugtuung, denn Unsicherheiten eines Kontrahenten bringen nicht automatisch Vorteile. Es sei denn, Schwinka versteht es, diese auszunutzen, geradezu zu instrumentalisieren. Und wenn er das tut, geht er vor wie bei seinen Ermittlungen.

Mit Freunden hat er oft darüber sinniert, warum die Menschen im Allgemeinen so missgünstig und intrigant sind. Das waren erbauliche Gespräche, die die Möglichkeit gaben, sich Ballast von der Seele zu reden. Meist zu Viert haben sie sich gleichzeitig in der Annahme gesonnt, besonders gut zu sein.

Dass das nicht so einfach ist, weiß Schwinka. Keineswegs grundlos halten ihn viele, die mit ihm über einen längeren Zeitraum zu tun hatten, für schwierig. Er kann aber mit Fug und Recht von sich behaupten, noch nie eine zwischenmenschliche Fehde ausgefochten zu haben, zu der er nicht gezwungen wurde.

Und so folgt dem inneren Schmunzeln über Neumanns Unsicherheit auch gleich das leicht zornige ›Blödmann!‹ in seinem Kopf. »Ich denke schon, Kollege Neumann«, sagt Schwinka förmlich, »es handelt sich um Vernehmungsprotokolle, die von Kollegen des Stralsunder Kriminaldauerdienstes nach den Befragungen bei den Störtebeker Festspielen gestern Abend angefertigt worden sind. Und die werden wir noch einmal detailliert durchgehen.«

»Ich soll die Rechtsmedizin anrufen«, näselt Michael Neumann das »Ich« übermäßig betonend und schaut Beifall heischend zu Dorvitz.

Der grinst.

»Machen Sie das! Dort werden Sie aber noch nicht so viel Neues erfahren. Kriegen Sie lieber alles andere über den Toten heraus, das wir für die weiteren Ermittlungen benötigen! Sie sind ein erfahrener Mann und wissen, was zu tun ist.« Das klingt viel spitzer, als es gemeint ist. Also schiebt Schwinka gleich den Lagebericht hinterher. Der beinhaltet alle Details der letzten Nacht. Zumindest soweit sie bekannt sind. Ob der Schauspieler eines natürlichen Todes gestorben ist oder es sich um einen Unfall handelt, ist ungewiss. Der Oberkommissar verhehlt nicht, dass er von einem Mord ausgeht. Eine Begründung dafür bleibt er seinen neuen Kollegen aber noch schuldig.

4

Frauenknast

In Ralswiek scheint alles seinen Gang zu gehen. Als Schwinka und Danilo Schobel ihren Dienstwagen vor der Gaststätte Zum Störti parken, sind kaum Leute zu sehen. Ein Securitymann schleppt Verkehrsleitkegel hin und her, eine junge Frau verschwindet mit einem Karton im Restaurant und ein paar Urlauberfamilien flanieren über den Platz und bestaunen die Schlitten von Festivalleitung und Schauspielern. Der Himmel ist verhangen, die Luft trotzdem angenehm warm. Am Abend sind kleine Schauer angesagt. Für die Intendanz aber kein Grund, sich wegen der Vorstellung Sorgen machen zu müssen. Hier wurde schon gespielt, wenn es wie aus Kannen goss. Dass auch am heutigen Donnerstagabend wie gewohnt die Piraten durch den Sand toben werden, findet Schwinka bemerkenswert. Dabei beeindruckt ihn aber mehr, dass die Verantwortlichen sofort einen Ersatz für Jan Möhricke aus dem Halfter zogen.

»Alle Achtung, Frau Strabach! Es wirkt fast so, als hätte kaum jemand etwas davon mitbekommen, dass es hier gestern Abend einen Toten gab.« Der Oberkommissar sitzt der Intendantin in ihrem Büro zum ersten Mal gegenüber. Gestern Nacht war sie partout nicht zu erreichen. ›Sie hat sofort alles in Bewegung gesetzt, um die ganze Sache auf Sparflamme zu halten‹, denkt Schwinka.

Was Ilona Strabach auch gelungen ist. Die Polizei hat vorerst keine Informationen an die Presse gegeben. Wegen der unklaren Sachlage, heißt es.

»Die Zuschauer haben gestern wahrscheinlich kaum mitbekommen, was da auf der Bühne geschehen ist?«, fragt Schwinka.

»Die anderen haben professionell reagiert und den abgeklappten Möhricke in die Handlung eingebaut«, antwortet Strabach. Dabei wirkt sie kühl, als spräche sie über eine Autopanne. »So etwas haben die drauf. Es geschieht immer mal wieder, dass einem Schauspieler mitten in einer Aufführung etwas Unvorhergesehenes zustößt. Da kann man nicht jedes Mal gleich die ganze Vorstellung abblasen. – Außerdem wusste in jenem Moment niemand, dass er sterben würde.«

»War er krank?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Wer kann das wissen?«

»Seine Kollegen.«

»Die sagen, soweit sie schon vernommen wurden, es sei ihm gut gegangen.«

»Dann wissen Sie doch Bescheid.« Ilona Strabach hat eine spitze Zunge, bleibt dabei aber freundlich.

»Nun, es hätte ja sein können, dass Sie mehr wissen.«

»Über Möhricke? Pah, ich weiß nur, dass der im nächsten Jahr nicht mehr dabei gewesen wäre. Miserabler Mime.«

»Oh, wer hat den Mann denn ausgesucht?«, zeigt sich Schwinka ehrlich überrascht.

»Tja, ich habe mich von seinen Reitkünsten beeindrucken lassen. Und seine Rollen bei ›Gute Zeiten, schlechte Zeiten‹ und ›Der Frauenknast‹ waren auch nicht gerade klein.«

»Frauenknast?« Der Ermittler lächelt. »Wen hat er da denn gespielt?«

»Einen Anwalt.«

»Und jetzt den Herzog.«

»Ist eine relativ kleine Rolle.«

»Hat er getrunken?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Strabach bleibt unverbindlich.

»Hatte er eine Frau, Freundin, Affäre?«

»Keine Ahnung.«

»Ich bitte Sie, Frau Strabach!« Der Oberkommissar schaut die Intendantin an und versucht, eine versöhnliche Miene aufzusetzen. »Wir werden im Verlaufe der weiteren Ermittlungen vermutlich noch so oft miteinander zu tun haben, dass Sie mich irgendwann zum Teufel wünschen. Und die Fragen, die noch gestellt werden könnten, sind dann von einem ganz anderen Kaliber als diese hier. Verstehen Sie mich, es geht mir doch darum, Jan Möhricke besser kennenzulernen. Naja, und Sie.«

»Mich? Wieso mich?« Ilona Strabach macht sich in ihrem Stuhl gerade.

»Verzeihung, aber sind Sie nicht die Chefin des Ganzen? Es gibt kaum eine wichtigere Person im …«

Danilo Schobel kommt herein. Angeklopft hat er nicht. Bei dem Hauptmeister ist das aber keine Unhöflichkeit. Schobel ist ein Vollblutkriminalist, der derart in seine Arbeit einzutauchen vermag, dass er links und rechts nur noch Silhouetten wahrnimmt. Dabei gehen Höflichkeitsfloskeln und Benimmregeln flöten. »Oh, ’tschuldigung«, haspelt er hervor, als er den strafenden Blick Strabachs bemerkt, »habe ganz vergessen, zu klopfen. Störe ich?«

»Nö, eigentlich nicht«, sagt Schwinka. Und an die Intendantin gewandt: »Wir sind erst einmal fertig. Vielleicht reden wir heute Nachmittag noch einmal, wenn wir uns intensiver umgeschaut haben. Gestern Nacht war zu viel Aufregung.«

»Gut. Ich bin ab 14 Uhr aber weg. Nur, dass Sie das wissen.«

»Kein Problem.«

5

Gift

Ilona Strabach ist einmal eine schöne Frau gewesen. Sie hat noch immer eine blendende Figur und einen Sinn für modische Raffinessen. Ihr schmales Gesicht, dem sie schon seit Jahren kaum noch Make-up gönnt, wirkt verhärmt. Ihre Gestik und Mimik strahlen eine gewisse Härte aus – sich selbst und anderen gegenüber. Der Ausdruck ihrer dunklen Augen gilt im Allgemeinen als unergründlich. Man muss mit der Intendantin aber nicht in stundenlange vertrauliche Gespräche versinken, um in ihrem Blick der tiefen Traurigkeit gewahr zu werden. Natürlich setzt das voraus, dass man hinsieht.

Karsten Schwinka sah hin. Die empathielose Entschlossenheit der Frau war nur Fassade. Ja, sie war eine Machtfrau. Ob die Zeit auf Rügen sie dazu hat werden lassen oder ob sie schon so gewesen war, als sie hierherkam, weiß keiner mehr zu sagen. In 25 Jahren ist so viel geschehen, dass sich niemand mehr Gedanken darüber macht, wie es einmal begonnen hat. Nicht einmal Strabach selbst, die aus Bielefeld mit echtem Idealismus auf die Insel gekommen war. Damals war sie Anfang 30, hatte als Theaterleiterin schon hier und da Erfahrungen gesammelt. Ihr damaliger Mann, ein Spediteur großen Kalibers, hat das nötige Geld beigesteuert, um den Festspielort am Jasmunder Bodden zu errichten und die richtigen Leute um sich zu sammeln, die ein Piratenabenteuer erfanden, das sich schnell zum Freilichthit gemausert hat. Der Spediteur war vier Jahre später nach einem Herzinfarkt gestorben. Ehemann Nummer zwei, ein Verleger aus Westberlin, suchte erst vor acht Monaten das Weite. Strabach schien beides jedoch kaum zu berühren. Sie hat sich noch intensiver in ihre Arbeit gestürzt und das Regime noch rigoroser geführt. Ob Darsteller, Bühnentechniker oder Komparsen – wer nicht funktionierte, wurde einmal verwarnt. Meist eher subtil. War jemand dann nicht in der Lage, diesen Wink zu verstehen, wurde nach einem zweiten Fauxpas aussortiert.

Der Vorfall mit Jan Möhricke nervt Ilona Strabach unendlich. Die diesjährige Saison läuft im Vergleich zum Vorjahr eher mäßig. Wegen des unbeständigen Wetters entscheiden sich die Störtebeker-Fans erst sehr kurzfristig für einen Besuch der Festspiele. Manche Vorstellungen sahen die fast 8000 Sitzplätze nicht einmal zu einem Drittel belegt. Zwar ist es erst Anfang Juli, bliebe die Situation jedoch so, risse sie empfindliche Löcher in die Investitionskasse. Denn nach 25 Jahren gibt es einiges zu renovieren und Neues hinzuzufügen.

Sie hat bereits in der Nacht des Schauspielertodes alle Fäden ihrer Netzwerke gezogen, um nichts nach draußen dringen zu lassen. Und da sich der Vorfall unter den Augen der Öffentlichkeit zutrug und bei den Festspielen von der Klofrau bis zum Hauptdarsteller alle davon wissen, ist die Geheimhaltung in Schwinkas Augen eine logistische Meisterleistung.

›Wird nicht leicht mit ihr‹, denkt der Oberkommissar, als er mit seinem Kollegen durch den Sand quer über die Bühne stapft, um zu Möhrickes Unterkunft über den Pferdeställen zu gelangen.

»Sie ist nicht übel«, sagt Danilo Schobel unvermittelt, »nur ziemlich alt.«

»Ja.« Schwinka ist immer noch in Gedanken.

»Alte Frauen sind aber unendlich dankbar.« Schobel kichert, hat dabei aber ein aufgewecktes Gesicht. Keine Spur von Häme.

Der Oberkommissar überhört die Anspielung. »Sie mauert«, wechselt er das Thema. »Im Prinzip kann sie sich komplett raushalten. ›Nichts gesehen. Nichts gehört. Keine Ahnung. Ich stecke bis zum Hals in Arbeit!‹«

»Die kennt hier jedes Sandkorn und kann einem sogar sagen, wo welches Blatt an welchem Baum hängt!«

»Echt jetzt?« Schwinka muss über das von Schobel gezeichnete Bild lachen.

»Echt! Strabach mischt überall mit. Die weiß ganz genau, was hier läuft. Und auf der Insel ist sie nicht nur gesellschaftlich eine Persönlichkeit, sondern auch auf politischem Feld nicht ganz unbeschlagen.«

Sie sind angekommen. Die Apartments über den Pferdeställen, die man über einen kleinen Waldweg erreicht, liegen nur wenige hundert Meter nördlich der Naturbühne. Jan Möhricke hat in der Nummer 4 gewohnt, die sie nun mit einem Polizeisiegel gesichert vorfinden. Das hat Schwinka bereits in der Nacht veranlasst, wenngleich ihm seine Stralsunder Kollegen das als Übereifer auslegten. Denn an Mord glaubte keiner. Nicht einmal jetzt. Außer Schwinka.

Als sie in dem recht großen Apartment stehen, begreift Schwinka sofort, dass hier nichts zu holen sein wird. Hier herrscht ein geordnetes Chaos, wie es für Teilzeitunterkünfte üblich ist, wenn sie von einem Einzelnen bewohnt werden. Überall liegen Dinge herum: Bekleidung, Zeitschriften, schmutziges Geschirr, ein Smartphone, eine Packung Tic-Tac, Automatenkondome, Notizen.

»Bis zu seinem Tod lief der Abend für unseren Herzog nach den Aussagen seiner Kollegen wie üblich ab«, sagt Karsten Schwinka zu seinem Kollegen. »Er ist hier losmarschiert, durch den Sand gestapft, in die Schauspielerumkleide gegangen, hat in der Maske sein Make-up bekommen und ist dann auf die Bühne gestürmt. Alles wie immer.«

»Und dann?« Noch ist Schobel nicht wirklich bereit, ein Szenario zu ersinnen, dass ein heimtückisches Verbrechen beinhaltet. Denn auch er glaubt weiter an einen Unfall.

»Es sind die Zwischenstationen, die uns interessieren sollten!«, gibt Schwinka eine Denkrichtung vor, während er im Bad die Hygieneartikel begutachtet. »Irgendwo hat Möhricke etwas zu sich genommen, das ihm das Leben gekostet hat. Und das bestimmt nicht aus Versehen!«

»Warum sind Sie sich da so sicher?«

»Er ist merkwürdig gestorben.«

»Den ersten Protokollen nach zu urteilen, hat er sich zwischen seinen Auftritten hinter der Bühne mehrfach übergeben.«

»Aufs Klo rannte er auch mehrfach«, sagt Schwinka, während er langsam den Deckel anhebt und in die Toilette schaut, »vielleicht nur, um dort weiter zu kotzen. Vielleicht hatte er aber auch Durchfall.«

»So was kriegt man aber schon, wenn man zu viele grüne Tomaten isst.«

»Das stimmt, Schobel. Aber es gibt Aussagen, dass er plötzlich über ein Brennen auf der Haut sprach und unter Atemnot litt. Das sind zu viele Symptome für einen verdorbenen Magen.«

Der Kriminalhauptmeister blättert in einem Notizblock, den er auf dem großen Tisch im Wohnraum gefunden hat. Interessantes steht nicht drin. Allerdings nimmt er die hingekritzelten Zeilen auch nur oberflächlich wahr, denn ihm gehen seine Fälle durch den Kopf, in denen Gift eine Rolle gespielt hat. Viele waren es nicht. Vier oder fünf vielleicht. Und meist hat es sich um versehentliche Einnahmen gehandelt, wie sich später herausstellte. Nur einmal konnte eine Frau überführt werden, die mit einem Unkrautvernichtungsmittel ihren Gatten ermordet hatte. Das Ganze hatte sie ziemlich dilettantisch durchgezogen. Jetzt klingt das alles irgendwie ausgeklügelter. »Was könnte es denn gewesen sein?«, fragt Schobel.

»Abwarten! Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Rechtsmediziner Aconitin in seinem Blut nachweisen werden – wenn sie die richtigen Methoden anwenden.«

»Wieso? Halten Sie die Laborratten in Greifswald nicht für ausreichend befähigt?«

»Doch, das schon. Allerdings findest du das Zeug nicht ohne Weiteres. Weder im Blut noch im Urin. Dazu bedarf es der Flüssigchromatografie mit Massenspektrometriekopplung.«

»Bitte, wie?« Schobel blickt von dem Zettelkram auf und starrt Schwinka entgeistert an.

»Jaja, Chemiker-Blabla. Ich habe den Greifswaldern schon den Tipp gegeben, mal in diese Richtung zu testen.«

6

Geschlossene Gemeinschaft

Im Störti ist es ruhig. Obwohl es auf 13 Uhr zugeht, essen nur wenige Gäste zu Mittag. Schwinka und Schobel mieten sich für ein paar Verhöre im Büro des Küchenchefs ein. Der kleine schmucklose Raum befindet sich im als Biergarten gestalteten Gaststättenhof am Ende des linken Laubengangs.

Regisseur Pedro Puls ist der Erste. »Wir hatten doch schon in der Nacht das Vergnügen«, sagt er in Richtung Schwinka, als er das enge Zimmer betritt.

»Um herauszufinden, was hier passiert ist, werden wir das unter Umständen noch öfter haben«, entgegnet der Ermittler und bietet Puls mit einer Handbewegung einen Platz an.

Der Regisseur ist drahtig, hat eine faltige Haut, als wäre sie für seinen Körper ein wenig zu groß geraten. Das sieht man vor allem an seinem Hals und an den Händen. Sein Haar – eine Mischung aus braun und dunkelgrau – ist immer etwas zerwühlt. Allerdings ist das kein Überbleibsel einer mangelnden Morgentoilette, als vielmehr Stil. Er möchte unkonventionell wirken und ist sich dabei nicht zu schade, Klischees zu bedienen. »Also, was gibt’s noch?« Puls gibt sich ungeduldig.

»Laut Zeugenaussagen hat Möhricke noch ein Bier getrunken, bevor er in die Männergarderobe ging. Sie sollen ihn dafür angezählt haben. War er allein am Tresen?«

»Ich habe ihn nicht angezählt.« Der Regisseur dreht mit den Augen.

»›Möhricke! Nicht saufen, bevor es auf die Bühne geht!‹ sollen Sie gesagt haben. Für mich ist das sowas wie ein Anzählen.«

»Ich muss die Schauspieler führen. Das gilt nicht nur für die Probenzeit. Manch einer zieht die gesamte Saison durch, ohne dabei auch nur einen Zentimeter von seiner Linie abzuweichen, ein anderer braucht immer mal wieder eine Justierung. Möhricke war so einer.«

»Trank er viel?«

»Nicht mehr als andere. Aber, wie Sie wissen, manchmal halt zur falschen Zeit. Vor der Vorstellung geht so was nicht.«

»Ein Bier?« Schwinka wundert sich.

»Ein oder zwei oder drei Schnaps – das ist per se nicht in Ordnung. Wenn es einreißt, schlägt mal einer über die Stränge und versaut die gesamte Vorstellung.«

»War er denn nun allein?« Danilo Schobel, der sich Gesprächsnotizen macht, erinnert noch einmal an den eigentlichen Kern der Frage.

»Denke schon. Er hat ein bisschen mit Silvie, der Kellnerin, geflirtet.«

»War da was?«, schaltet sich Schwinka wieder ein.

»Glaube nicht.« Puls macht ein paar Sekunden Pause. »Oder vielleicht doch. Silvie nimmt es da nicht so genau.«

»Hat Möhricke auf Sie gehört?«

»Weiß nicht. Bin einfach weitergegangen. Aber er wird sich zusammengerissen haben, denn er wusste genau, dass es knallen würde, wenn er für die Aufführung nicht fit wäre.«

»Hatte Möhricke Streit mit jemandem?«, bohrt der Oberkommissar weiter.

»Mit mir nicht«, grinst Puls. »Ansonsten – keine Ahnung.« Das Grinsen wird noch um einiges breiter.

Schobel holt Luft für eine nächste Frage, da schneidet Schwinka ihm das Wort ab: »Danke, Herr Puls! Das war schon alles.«

Der Regisseur ist überrascht, steht aber auf und wendet sich zur Tür. Dort bleibt er für einen Moment stehen, schaut auf die Ermittler, grinst wieder und geht.

»Wieso haben Sie das Gespräch so plötzlich beendet?«, fragt Schobel.

»Er will nicht. Zumindest noch nicht«, sagt Schwinka. »Sie müssen aufpassen, lieber Kollege, dass mögliche Verdächtige – oder nennen wir sie meinetwegen auch Zeugen – Sie nicht zum Narren halten. Wir stehen hier einer in sich geschlossenen Gemeinschaft gegenüber, in der sich alle untereinander irgendwie beeinflussen oder sogar manipulieren. Hat nur einer das Gefühl, dass es ihm gelungen ist, Sie auflaufen zu lassen, haben Sie bald noch andere vor sich sitzen, die Sie nicht für voll nehmen.«

Schobel schaut Schwinka an. Er spürt, dass etwas anders ist an der Art, wie der Neue arbeitet. Gut, der Gedanke des Chefermittlers ist simpel, ihm selbst wäre er aber nicht gekommen. Er hätte weitergemacht. Wie so oft. Und er erinnert sich gut, wie in ihm die kalte Wut hochgestiegen war, wenn Zeugen oder Verdächtige ihn offensichtlich mit frei erfundenem Zeug vollquatschten. »Naja, aber wir sind gegenüber solchen Leuten nicht gerade machtlos«, hält Schobel trotzdem dagegen. »Ist er nicht kooperativ, holen wir ihn aufs Revier. Und da ist es dann eine Vernehmung, bei der wir Gas geben können.«

»Den knallharten Bullen raushängen zu lassen, nur weil wir es können, halte ich für Blödsinn«, sagt Schwinka ruhig. »Und wenn es unbedingt sein muss, ist dafür auch noch Zeit, wenn wir auf der Zielgeraden sind. Im Moment müssen wir sortieren. Es gibt gut 200 Leute, die hier arbeiten oder auf der Bühne stehen. Wenn wir jedem die Chance einräumen, vor uns eine Show abzuziehen, werden wir nie fertig.«

An diesem Nachmittag folgen Schwinka und Schobel noch jenem Verhörprogramm, das der Oberkommissar festgelegt hat. Aber ob Küchenchef, Bühnenmanager, Schauspielerkollegen oder Techniker – außer gering voneinander abweichende Aussagen zum Ablauf des fraglichen Abends treten keine erhellenden Erkenntnisse zutage. Karsten Schwinka will aber unbedingt den Weg rekonstruieren, den Möhricke nahm, nachdem er am Tresen sein Bier getrunken hatte.

Dort ist heute Nachmittag eine junge Frau zugange. Vielleicht 22 Jahre alt, schwarzhaarig, hübsch, aber pausbäckig. Für ihre Größe von höchsten 1,70 Meter hat sie gut fünf Kilo zu viel.

»Sind Sie Silvie?«, fragt Schwinka, als er sich auf einen der Tresenstühle setzt.

»Sie sind die Kripotypen?«, fragt sie zurück. Es klingt nicht dreist, vielmehr wie eine Absicherung, dass sie es mit den richtigen Leuten zu tun hat.

Schwinka nickt.

»Sind wir«, sagt Schobel.

»Ich hätte ein paar Fragen«, übernimmt wieder der Oberkommissar.

»Bitte!«, sagt die Kellnerin und schiebt das Bierglas beiseite, von dem sie gerade Wasserflecken herunterpolierte.

»Nicht hier. Lassen Sie uns in den abgetrennten Schauspielerbereich gehen! Da sind wir ungestört.«

Silvie nimmt die Schürze ab, unter der sie einen schwarzen Stretch-Minirock über einer ebenso schwarzen Stretch-Hose trägt. Die Schürze gibt sie einer Kollegin, die neugierig nähergetreten ist.

»Wollen Sie was trinken?«, fragt diese die Ermittler.

»Megastarken Kaffee!«, sagt Schwinka.

Schobel will eine Cola.

Die Schauspielerecke ist vom Rest der Gaststätte durch einen Raumteiler getrennt, der mit seiner gedrechselten Holzverzierung eher als gestalterisches Element, denn als Barriere gedacht ist. Um es den Darstellern zu ermöglichen, ungestört von den Fans zu speisen, eignet sich dieser Bereich aber gut. Während sich jetzt, zur Kaffeezeit, der Gastraum schon beachtlich gefüllt hat, ist der Bereich leer.

Die beiden Kriminalisten setzen sich auf die mit Leder bezogene Bank mit dem Rücken zum Fenster. Silvie nimmt ihnen gegenüber auf einem Stuhl Platz. Ihr Gesicht ist offen.

»Kannten sie Jan Möhricke?«, fragt Schwinka ohne einführenden Small Talk.

»Ja, kannte ich«, erwidert sie. »Ein Netter. Hat vor der Vorstellung meist ein, zwei Bier bei mir getrunken.« Und während sie sich ein wenig über den Tisch beugt, setzt sie flüsternd hinzu: »Wenn es der Puls nicht gesehen hat.«

»Haben Sie ihm gestern Abend das Bier gezapft?«, fragt Schwinka weiter, ohne auf Silvies Einwurf einzugehen.

»Ich glaube schon«, sagt sie, und überlegt. »Ja, habe ich gemacht.«

»War Möhricke die ganze Zeit allein am Tresen?«

»Er war nur kurz da, denn der Puls kam ja gleich.«

»Haben sie miteinander geredet?«

»Ja.« Silvie grinst.

»Worüber?«

»Über dies und das.« Silvie grinst weiter und klemmt die Hände zwischen ihre Oberschenkel.

»Hatten Sie … Wie ist überhaupt Ihr Name?«, unterbricht sich Schwinka selbst.

»Silvie.«

»Nein, Ihren Nachnamen meine ich.«

»Pochowski.«

»Also, Frau Pochowski …«

»Sie können Silvie sagen«, unterbricht die Kellnerin den Polizisten und lächelt verschmitzt. Dabei legt sie den Kopf leicht schräg.

»Also, Silvie«, sagt Karsten Schwinka und runzelt die Stirn, »hatten Sie etwas mit Möhricke?«

»Aha.« Silvie grient weiter. »Ist das so wichtig?«

»Zumindest nicht unwichtig.«

»Was sagen denn die Leute?«

»Sie hatten …«

»Dann hatte ich wohl.« Mittlerweile grient Silvies ganzes Gesicht. Ihre Hände hat sie immer noch zwischen den Oberschenkeln, die Schultern zieht sie jetzt leicht in die Höhe.

»Gab es Streit zwischen ihnen?«

»Ich streite mich nicht mit Männern.«

Silvies Kollegin bringt die Getränke und schaut dabei nur auf Danilo Schobel. Über seinen Notizblock gebeugt, merkt der davon nichts.

»Mit wem konnte Möhricke nicht?«, nimmt Schwinka den Faden wieder auf.

»Mit Puls.« Silvie schaut ernst. »Aber mit dem können nur Wenige.«

»Ging es um den Alkohol?«

»Auch. Nach den Proben und jetzt nach den Vorstellungen wird im Störti immer gefeiert. Puls ist da beim Trinken meistens vorneweg. Dann zieht er über das Publikum und die Schauspieler her. Und Möhricke war immer Mode. Ab und zu haben die sich richtig angeschrien, wenn sie so richtig voll waren.«

»Worum ging es?«

»Puls hat sich über Jans Spiel lustig gemacht.« Zum ersten Mal nennt sie Möhricke beim Vornamen. Für Schwinka ein Zeichen, dass die junge Frau warm wird. »Manchmal ging es auch um Geld. Oder um Frauen. Männerkram halt.«

»Hat Möhricke Ihnen irgendwann mal erzählt, er sei auf Puls so wütend, dass er alles hinschmeißen wolle?«

»Nö, so intensiv haben wir nicht geredet. Dazu war keine Zeit.« Jetzt wird das Grinsen so breit, dass Silvie die Augen fast schließen muss.

»Lassen Sie uns nicht ums Ei tanzen!« Karsten Schwinkas Ton wird derart sachlich, dass Silvie zu Grinsen aufhört und große Augen macht. »Wenn Sie beide in der Kiste waren, haben sie zumindest hinterher miteinander geredet. Überlegen Sie, Silvie! Hat er jemals einen Mann oder eine Frau erwähnt, gegen die er eine besonders große Abneigung empfand? Oder die ihm am übelsten mitspielten? Oder mit denen er womöglich eine Rechnung zu begleichen hatte?«

»Naja«, sie zögert, »Puls fand er doof. Und die Strabach auch. Naja, und den Tröger.«

»Das ist der Goedeke-Darsteller.«

»Ja, den …«

»Was war das Problem?«

»So genau weiß ich das nicht.« Silvies Mimik überrascht mit Facetten. Wurden ihre Augen beim Grinsen eben noch zu ganz schmalen Schlitzen, zieht sie nun die Augenbrauen vieldeutig hoch. »Jan meinte nur ab und zu, das sei ein Arsch. Und er wollte es ihm geben.«

»Warum?«

»Weiß ich nicht.«

»Klingt aber bedrohlich.«

»Wissen Sie, ich bin seit vier Jahren hier im Restaurant. Seit ich 18 bin, arbeite ich bei den Festspielen. Und da macht man eben die ein oder andere Bekanntschaft. Deswegen ist man aber nicht gleich schlecht oder so was. Aber man hört und sieht so einiges. Und wenn ein Schauspieler sich über den anderen aufregt, ist das normal. Und wenn die sich mit ihren besoffenen Ärschen belegen oder an den Kragen gehen, dann ist das so. Was soll ich da sagen?«

»Alles gut, Silvie«, beschwichtigt Schobel, der von seinem Notizblock aufgesehen hat, als die Dunkelhaarige mit ihrem Redeschwall begann.

Schwinka hat genug gehört. »Sie haben uns geholfen, Silvie«, sagt der Oberkommissar.

Die Frau versteht, lächelt, steht auf und geht zurück hinter den Tresen. Die Kollegin, der sie die Schürze in die Hand gedrückt und die dann die Getränke gebracht hatte, tuschelt mit ihr. Dabei schauen beide zu den Kriminalpolizisten.

»Was denken Sie, Schobel?«, fragt Schwinka seinen Kollegen.

»Puls spielt hier eine unangenehme Rolle, glaube ich«, entgegnet der.

»Sicher. Aber den können Sie vergessen. Mit dem Mord an Möhricke hat der nichts zu tun.«

7

Erinnerungslinien

Als Karsten Schwinka die Tür seiner Putbuser Wohnung aufschließt, sieht er, dass im Flur noch Licht brennt. ›Das war heute morgen eindeutig zu früh‹, denkt er. Auch gesteht er sich obendrein ein, aufgeregt und deshalb unkonzentriert gewesen zu sein. ›Lief aber ganz gut. Vor allem Schobel ist okay.‹

Der großgewachsene Kriminalhauptmeister war in Bergen bis zu Schwinkas Eintreffen der Einzige, der die nötige Ausbildung besaß, um für Mordermittlungen herangezogen zu werden. Den Löwenanteil bei solchen Fällen hatten bisher Kollegen der Anklamer Mordkommission geschultert. Aber Tötungsverbrechen gab es auf Rügen extrem selten, weshalb Schobels Spürsinn etwas verkümmert war. Schwinka schätzte allerdings bereits nach diesem ersten Tag den Enthusiasmus seines Mitarbeiters. Danilo Schobel war nicht nur jemand, der beflissen erledigte, was man ihm auftrug. Nein, er dachte mit.

Schwinka wirft seine Jacke auf einen der Umzugskartons im Flur, nachdem er das Diensttelefon aus der Innentasche genommen hat. Noch sieht hier alles aus, wie in einer Garage, die als Abstellraum dient. Zumindest in der Wohnstube stehen die Möbel bereits an ihrem Platz, wenngleich Schränke und Regale noch nicht eingeräumt sind. Der ziemlich zerkratzte, kniehohe antike Couchtisch mit den geschnitzten Löwengesichtern an den Ecken hat den Umzug ebenfalls überstanden. Die Kratzer sind Erinnerungslinien an jene Zeit, als Schwinkas Söhne anfingen, alle Stifte und Dinge, die wie Stifte aussahen, zum Hinterlassen von Spuren zu verwenden. Jetzt sind die Jungs zehn und 14 Jahre alt und leben bei der Mutter, die sich erst vor ein paar Wochen von dem Polizisten scheiden ließ.

Die Trennung war unschön. Was Karla am Ende tatsächlich bewogen hat, die Ehe zu beenden, wusste Schwinka zuletzt nicht mehr. In den zurückliegenden zwei Jahren hatte er vor allem versucht, Konflikte zu vermeiden. Mehr und mehr hatte er sich in die Arbeit gestürzt und immer seltener war er nach Hause gekommen. Dass diese Bewältigungstaktik überhaupt nicht funktionieren konnte, da Karla genau darunter litt, dass er zu selten zu Hause war, dafür hatte ihm die Einsicht gefehlt. Zuletzt hatte sie ihn nur noch mit Vorwürfen überhäuft, wenn sie aufeinandertrafen. Jetzt war das alles vorbei. Das empfindet er irgendwie als angenehm.

Schwinka sucht sein privates Smartphone und findet es im Wohnzimmer auf dem Fensterbrett. 13 WhatsApp-Nachrichten, sechs SMS. Die meisten von Karla. ›Oh Mann‹, denkt er, ›lese ich die jetzt oder heb ich mir den Stress für morgen früh auf?‹ Da hat er den ersten Textblock schon geöffnet.

Hallo Karsten, an diesem Wochenende hast du die Kinder. Lass uns absprechen, wann du kommst. Karla

»Gar nicht«, stöhnt Schwinka. Und scrollt weiter.

Hallo Karsten, ich habe noch Unterlagen aus deiner Studienzeit gefunden. Soll ich die wegschmeißen oder nimmst du sie am Wochenende mit?

»Schmeiß weg«, führt Schwinka den imaginären Dialog brabbelnd fort. Nächste Nachricht. Diesmal ohne Anrede.

Mein Anwalt hat mich darauf hingewiesen, dass für die Unterhaltszahlungen noch deine Vermögenswerte herangezogen werden müssen. Dazu gehört dein Jaguar ebenso wie eine Eigentumswohnung, falls du dir auf Rügen eine zulegen solltest. Schicke dazu bitte bis nächste Woche Freitag eine Auflistung! Von meinem Anwalt bekommst du dazu noch ein offizielles Schreiben.

»Leck mich!« Schwinka lässt sich auf dem Sofa zurückfallen und wirft das Telefon auf den Couchtisch. »Die Kohle. Die Jungs haben davon doch eh kaum was.«

Karla lebt mit den Kindern in Dresden. Das war ihre letzte Station vor der Scheidung gewesen. Vielleicht hatte die Trennung eine Rolle bei der Entscheidung gespielt, wieder nach Rügen zu gehen. Nur weg von dem Ärger. Weg von dieser Frau mit ihren ständigen Gängeleien. Allerdings funktioniert das Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Prinzip heutzutage nicht mehr wie noch vor 20 oder 30 Jahren. Damals konnte man bei einem räumlichen Abstand gleichzeitig emotional runterkommen, denn außer Telefon und Briefpost gab es keine Kontaktmöglichkeiten. Und während man ans Telefon nicht rangehen brauchte, hatte Briefverkehr die Eigenschaft, langwierig zu sein. Hätte Karla all das in einen Brief schreiben wollen, was sie ihm heute über die Nachrichtendienste per Smartphone zukommen ließ, hätte es noch Tage gedauert, bis der Schriebs fertig gewesen wäre. ›Am Inhalt hätte es aber auch nichts geändert‹, denkt Schwinka.

8

Kanonendonner

Ilona Strabach ist zurück in ihrem Büro. Heute Nachmittag war sie bei einem Treffen von Touristikern im Binzer Rugard Strandhotel. Es ging wieder einmal um Ideen für diese vielbeschworenen saisonverlängernden Maßnahmen, was Strabach eigentlich nicht interessierte. Aber bloße Anwesenheit bei solchen Veranstaltungen hatte ihr schon so einige Türen geöffnet.

›Die Kripo war ja gar nicht mehr bei mir‹, schießt es ihr durch den Kopf. ›Was die hier rumwühlen. Schrecklich!‹ Der Tod von Jan Möhricke berührt sie nicht. Weil sie das merkwürdig findet, bleibt sie an ihrem Bürofenster plötzlich stocksteif stehen und horcht in sich hinein. Nichts. Gar nichts. Sie kann sich nicht einmal auf ihren nun toten Mitarbeiter konzentrieren, sondern schweift gedanklich sofort ab. Zu den sinnlosen Gesprächen des Nachmittags, zu ihrem Ex und zu der Aufführung. Das ist aber nicht verwunderlich, läuft diese doch gerade. Kanonendonner hallt übers Gelände, Schwerter klirren und die Schauspieler rufen sich ihre Dialoge in die Gesichter.

Den Herzog Hinrich spielt jetzt Justus Schmiedt. Das ist ein Schauspieler aus dem Theater Vorpommern in Greifswald. Vielleicht ein bisschen jung für die Rolle, aber ehrgeizig, findet Strabach. Schmied bewirbt sich seit Jahren bei den Festspielen. Mit dem Hinweis auf die einmalige Chance, einen Fuß in die Tür zu bekommen, griff er zu und drückte sich Text und Darstellung am Vormittag in nur wenigen Stunden auf. Nun steht er auf der Bühne.

Jetzt denkt Strabach an Möhricke. »Säufer!«, sagt sie. »Amateur! Hätte er sich auf seinen Job konzentriert, wäre ihm das vermutlich nicht passiert.«

Plötzlich hat sie eine Idee. Da der Tod des Schauspielers womöglich morgen, aber spätestens übermorgen medial die Runde machen wird, könnte sie versuchen, die Angelegenheit für die Festspiele auszuschlachten. »Ein Toter zieht immer«, sagt Strabach zu sich selbst und wendet sich vom Fenster ab. »Mitleid, Neugier, Sensationslust. Das könnte die Besucherzahlen anheben. Und kein Mensch wird es wagen, von einem Mord zu sprechen. Wenn es überhaupt einer war.« So sicher ist sich die Intendantin da aber auch nicht mehr. Das Interesse der Kripo kommt nicht von ungefähr. Und Möhrickes Sterben war schon merkwürdig. Ilona Strabach greift zum Telefonhörer und drückt ein Kurzwahltaste. Es tutet nur einmal. »Maja? Schick mir mal den Silvio hoch! Wir müssen etwas für morgen besprechen.«

9

Polizeialltag

Vorbei am Diensthabenden hinter der Scheibe hat Karsten Schwinka die drei Treppen im Eingangsbereich genommen. Die Tür summt auf. Dahinter steht Michael Neumann. Der Kripobeamte sieht aus wie aus dem Ei gepellt: eine babyblaue, enganliegende Stoffhose, weinrote Sneakers, ein weinrotes T-Shirt, das seinen im Fitnessraum gestählten Oberkörper nachzeichnet, und ein glänzendes Kinn. Weil das so kantig ist, springt es Schwinka förmlich an.

»Na, frisch rasiert?«, entfährt es dem Oberkommissar.

»Äh …« Neumann ist verwirrt.

»Wie ist der Stand der Dinge?«, fragt Schwinka und schiebt sich an dem Kollegen vorbei.

Der hat wegen der Frage nach seiner Rasur für den Bruchteil einer Sekunde zu spät reagiert und muss Schwinka jetzt hinterhertrippeln. »Ich habe alle nötigen Informationen zu dem Verstorbenen zusammengetragen«, sagt Neumann.

»Schön! Legen Sie mir die Rechercheergebnisse in einer halben Stunde in meinem Büro vor! Wir sehen uns gleich.«

Neumann bleibt stehen und sieht seinen neuen Chef ein paar Schritte weiter in dessen Arbeitszimmer verschwinden. Sein Gesicht ist versteinert. Er fühlt sich respektlos behandelt. Und außerdem: Was geht diesen Schwinka seine Morgentoilette an? Neumann dreht sich um und sucht jenes Büro auf, das er sich mit Steffen Dorvitz teilt.

Hier sitzen beide Tag für Tag, führen Telefonate, durchsuchen Aktenordner, werten Protokolle aus, schreiben Anzeigen. Wenn es auf Rügen zu Straftaten kommt, seien es Diebstähle, Körperverletzungen, Einbrüche, Sachbeschädigungen und was der Polizeialltag sonst noch bereithält, verspürt Neumann jedes Mal so etwas wie Glücksgefühle. Das ist Polizeiarbeit! Vor Ort sein. Verbrecher aufspüren. Leute vernehmen.

»In einer halben Stunde sollen wir zu Schwinka kommen«, grummelt Neumann, als er sich an seinen Schreibtisch setzt.

»Ich hab nicht viel«, nuschelt Dorvitz. »Die Vernehmungsprotokolle aus der Nacht geben nur wenig her. Frage mich echt, was die da vier Stunden gemacht haben?! Vermutlich hat Herr Oberschlau irgendwann die Übersicht verloren.«

»Ist bei mir ähnlich«, erwidert Neumann. »Dieser Möhricke ist ein Schauspieler, wie es wohl Hunderttausende in Deutschland gibt: kleine Kleinstrollen, ein bisschen Familie, Theatererfahrung und vollkommen unbescholten. Stell dir vor, Steffen, der wurde noch nie geblitzt.«

»Wow, Hut ab!«, sagt Dorvitz und macht dabei eine kleine Verbeugung. Mit der linken Hand deutet er an, seinen Hut zu lüften, um dann sarkastisch hinzuzufügen: »Solche Leute sind natürlich besonders gefährdet, Opfer eines Mordkomplotts zu werden.«

»Haben Sie schon gelesen? Im Netz finden Sie jetzt überall einen tränenreichen Abgesang auf Jan Möhricke. Von Ilona Strabach persönlich«, sagt Schwinka. Diesen Aspekt findet er heute Morgen am interessantesten, nachdem ihm die Kollegen ihre zusammengetragenen Informationen über Möhricke und aus den Vernehmungsprotokollen vorgetragen hatten. »Jetzt geht Frau Intendantin in die Offensive«, spricht Schwinka die Erkenntnis laut aus.

»Bei allem Respekt, Herr Schwinka, aber ist es nicht menschlich, dem Verstorbenen Ehre zu erweisen?«, fasst Neumann mit Betroffenheitsmiene nach. »Außerdem war Jan Möhricke ein bekannter Schauspieler, dessen Tod man nicht so einfach unter den Tisch kehren kann.«

»Da mögen Sie recht haben, Neumann«, erwidert Schwinka. Und weiß sofort, dass er zu verbindlich war.

»Herr Neumann, bitte, so viel Zeit muss sein. Oder gehört das zu ihrem Führungsstil, Untergebene nur mit ihrem Nachnamen anzusprechen?«

»Natürlich nicht, Herr Neumann.« Jetzt lächelt Schwinka. Egal, ob das arrogant wirkt. Aber mit solchen Spitzfindigkeiten hat er zu tun, seit er im Polizeidienst ist. Er kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es noch andere Institutionen oder Behörden gibt, in denen die Mitarbeiter jeden Tag aufs neue Rangordnungen, Umgangsformen und Kompetenzen aushandeln. Meist ist das abhängig von Beförderungen, der Zuweisung neuer Aufgaben oder Bildung von Arbeitsgruppen. Ebenso oft hat das Gerangel aber auch mit persönlichen Befindlichkeiten zu tun. Und diese können sich wiederum von heute auf morgen komplett verändern.

»Herr Dorvitz kann sich wieder mit den täglichen Ereignissen befassen«, ordnet Schwinka an, ohne sich womöglich auf eine Debatte über Anreden einzulassen. »Das gilt auch für Sie, Herr Neumann! Wenngleich Sie immer damit rechnen müssen, für weitere Zuarbeiten im Fall Möhricke herangezogen zu werden. Ich danke Ihnen.«

Neumann ist sauer. »Zuarbeiten«, giftet er draußen auf dem Gang. »Bin ich sein Handlanger, oder was?« In seinem Büro angekommen, greift der Polizeikommissar zum Telefonhörer. Er wählt die Nummer aus dem Kopf. Es ist die von Ilona Strabach.

10

Politische Aspekte

Am Nachmittag sind Schobel und Schwinka wieder in Ralswiek. Diesmal hat die Intendantin ihr Büro zur Verfügung gestellt, damit die Polizisten während ihrer Gespräche ungestört sind. Sie wählen die gemütliche Sitzecke gleich links neben der Tür und fläzen sich in die dunkelbraunen Ledersessel.

»Großes Hauptquartier«, sagt Danilo Schobel und streicht sich sein Haar aus den Augen. Der tief in die Stirn hängende Scheitel ist ein Markenzeichen des Mannes aus der Börde. Er trägt die Frisur schon seit dem Studium. Auch, weil sie ihm immer noch gefällt. Aber Schobel hadert damit, bereits die Vierzig überschritten zu haben. Deshalb klammert er sich an alles, das ihn mit seinen jungen Jahren verbindet. Nicht, dass er darüber nachdenken würde. Aber immer, wenn sich der Kriminalist vor dem Spiegel die Haare aus dem Gesicht hält und kurz überlegt, ob er die Schere regieren lassen sollte, findet er, dass er dadurch alt aussehe. Also bleibt alles, wie es ist.

Karsten Schwinka steht auf und mustert den penibel aufgeräumten Schreibtisch. Außer einem Laptop, einem Flachbildschirm, einem Becher mit Stiften und zwei Notizbüchern befindet sich nichts weiteres darauf. Auch der Rest des Raumes ist tipptopp, als handele es sich um ein Zimmer in einem Museum. An den Wänden hängen Fotos alter Störtebeker-Aufführungen. Von den Darstellern aus den 90ern ist so gut wie keiner mehr mit dabei. Das erkennt Schwinka, ohne jemals ein Stück gesehen zu haben. Die Gesichter der aktuellen Bühnenmannschaft hat er sich auf Fotos und während der nächtlichen Befragungen präzise eingeprägt. Und so weiß er auch ganz genau, dass das nicht, wie erwartet, Helmar Tröger ist, der da zur Tür hereinkommt.

»Guten Tag, meine Herren«, sagt der breitschultrige Blondschopf mit dem Dreitagebart, »ich bin Robert Kranich.«

Schwinka kennt den Mann schon. Das ist der aktuelle Klaus Störtebeker. Und man sagt ihm nach, dass er seine Sache sehr gut machen soll. »Hallo Herr Kranich, sie sind heute gar nicht in unserem Plan«, reagiert Schwinka.

»Oh, ich will mich auch gar nicht aufdrängen. Denn bei dieser delikaten Angelegenheit kann sich jeder glücklich schätzen, der nicht im Fokus der Polizei ist.« Kranich ist äußerst höflich. Er gibt sich fast ein wenig unterwürfig. Schwinka ist aber vorsichtig mit solchen Urteilen. »Aber ich würde gern was zu dem Abend sagen, an dem Jan Möhricke starb.«

»Geht es über das hinaus, was sie den Kollegen bereits in der besagten Nacht mitteilten«, fragt Karsten Schwinka.

»Durchaus«, erwidert der Titelheld.

Und Schobel zückt seinen Schreibblock.

»Dann nehmen Sie Platz und erzählen Sie uns, worum es geht!« Schwinka setzt sich wieder in seinen Sessel, Kranich nimmt auf dem Zweisitzer Platz.

»Ich glaube, dass Jan umgebracht worden ist.«

»Wie kommen Sie darauf?«, gibt sich Schwinka überrascht.

»Viele haben zwar mitbekommen, wie es ihm ging an diesem Abend. Und das haben die Ihnen dann vermutlich auch alle geschildert. Aber niemand weiß, was er sagte, als wir ihn von der Bühne trugen.«

»Was denn?«

»Das Biest …!«

»Mehr nicht?«

»Doch. Aber das kommt diesem ›Das Biest‹ sehr nahe.«

»Was denn?«

»Diese verdammte Fotze!«

»Ach, herrje«, entfährt es Danilo Schobel, »da war aber einer richtig sauer.«

»Ich baute seinen Sturz in das Stück ein, fing ihn auf und meinte: ›Der Herzog ist ohnmächtig. Ein Schwertstreich hat ihn am Nachmittag beim Kampf auf den Zinnen verletzt. Der Blutverlust ist zu stark.‹ Dann packte ich ihn und schleifte ihn von der Bühne. Da hat er es gesagt. Keine Minute später gab er kein Lebenszeichen mehr von sich.«

»Nun, das klingt schwer nach einem Hinweis darauf, wer ihm da etwas verabreicht haben könnte«, sagt Karsten Schwinka und schaut Kranich fest an.

»Das dachte ich auch«, sagt der. »Naja, nicht gleich. Aber als ich das dann sacken ließ, ist es mir gedämmert.«

»Was denn?«, fragt der Oberkommissar.

»Dem ist eine Frauengeschichte auf die Füße gefallen.«

»Wissen Sie, um welches ›Biest‹ es sich da gehandelt haben könnte?«

»Ich würde sie nicht gleich als ›Biest‹ bezeichnen. Aber die Silvie, diese Kellnerin, hatte etwas mit dem Möhricke.«

»Mit wem noch?«

»Wieso?«

»Wir hörten, dass sie es nicht so genau nehmen soll.«

»Hörte ich auch. Aber derzeit macht sie wohl nur mit dem ein oder anderen Stuntman rum.«

»Könnte sie einen Grund haben, Möhricke etwas anzutun?«

»Oh, das weiß ich nicht. Auf jeden Fall hat Jan im Sterben offenbar irgendwie eine Frau belastet. Zumindest für mein Verständnis.«

»Das sehen wir genauso«, versichert Schwinka. »Und wir danken Ihnen für den Hinweis. Der ist enorm wichtig. Entschuldigen Sie uns jetzt bitte, wir haben die nächste Vernehmung.«

»Alles klar«, sagt Robert Kranich und steht fast ein bisschen zu schnell auf. Dann hebt er entschuldigend beide Hände, verabschiedet sich und geht.

»Gar nicht so der Störtebeker, wie ich ihn mir vorstellen würde.« Danilo Schobel blickt dem Schauspieler nachdenklich hinterher.

»Stimmt. Man erwartet einen souverän agierenden Seebären, der sich breit macht und in seinen Bewegungen signalisiert, dass er in sich ruht. Aber da gehen wir der Illusion des Theaters auf den Leim, denn die Persönlichkeit des Schauspielers hat sehr oft nichts mit der Figur zu tun, die er verkörpert.«

»Was halten Sie davon, Herr Schwinka?«

»Ich bin Karsten«, sagt der Oberkommissar und streckt Schobel die Hand entgegen.

»Vielen Dank!«, entgegnet dieser. »Ich bin Danilo. Aber das weißt du ja. Die Kollegen nennen mich Dani. Das ist allerdings ein Spitzname, auf den ich nicht unbedingt bestehe.«

Die beiden Polizisten lachen.

Da klopft es und Helmar Tröger tritt ein. Wieder wird der Türrahmen fast ausgefüllt. Nur dass Tröger noch ein klein wenig massiger wirkt als Robert Kranich. Die Stimme des Goedeke-Michels-Darstellers ist auch tiefer und fester als die des eigentlichen Helden der Festspiele. »Jetzt bin ich also fällig«, donnert er los und lässt sich unaufgefordert auf den Zweisitzer fallen. »Den Schilderungen aus der Nacht des Unfalls habe ich aber nichts hinzuzufügen.«

Die Polizisten gehen ebenso grußlos in das Gespräch, wie Tröger es begann. »Warum nennen Sie das einen Unfall?«, fragt Schwinka ohne Übergang.

»Wie soll ich es sonst nennen? Tod nach Unwohlsein? Ableben nach kurzer, schwerer Krankheit? Oder soll ich von Mord reden? Sie geistern hier doch nicht ohne Grund herum.«