Todesinsel Rügen - Jens-Uwe Berndt - E-Book

Todesinsel Rügen E-Book

Jens-Uwe Berndt

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Beschreibung

Rügen versinkt in einem Verbrechensstrudel: An der Schaabe findet man eine bestialisch zugerichtete Frauenleiche; zur gleichen Zeit wird in Stralsund ein Rügener Bauunternehmer am helllichten Tag erschossen; kurz danach werden die Bergener Kripo-Beamten zu einer toten Frau in den Inselsüden gerufen – sie ist an Stichverletzungen verblutet. Von einem der Morde persönlich betroffen und seit seinem letzten Fall psychisch angeschlagen, droht Kriminalhauptkommissar Karsten Schwinka hinzuschmeißen. Hinzu kommt, dass Oberstaatsanwalt Pjotr Dückert diesmal den Ideen seines Topkriminalisten nicht folgt und Schwinkas schlimmster Rivale, Ex-Kollege Michael Neumann, wieder aktiv wird. Als weitere Verbrechen geschehen, gleichzeitig Ermittlungserfolge ausbleiben, steht Schwinka wegen einer Intrige kurz vor seiner Suspendierung. Ist das das Ende?

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2025

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TITEL

Jens-Uwe Berndt

Todesinsel Rügen

Schwinkas vierter Fall

Impressum

Trotz gewissenhafter Bearbeitung kann eine Haftung für den Inhalt nicht übernommen werden. Für aktuelle Ergänzungen und Anregungen ist der Verlag jederzeit dankbar. Wir bedanken uns bei allen, die uns unterstützt haben.

© 2025 RhinoVerlag Dr. Lutz Gebhardt & Söhne GmbH & Co. KG

Am Hang 27, 98693 Ilmenau

Tel.: 03677 / 46628-0, Fax: 03677 / 46628-80

[email protected]

www.RhinoVerlag.de

1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, Vervielfältigung und Verbreitung – auch von Teilen – bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verbreitung in elektronischen Systemen. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Weise zum Zweck des Trainings von Technologien oder Systemen der künstlichen Intelligenz verwendet oder reproduziert werden. In Übereinstimmung mit Artikel 4 (3) der Richtlinie über den digitalen Binnenmarkt 2019/790 wird dieses Werk ausdrücklich von der Ausnahme für Text- und Data-Mining ausgenommen.

Titelgestaltung: Nicole Güntek

Titelbild: Kmtextor (CC BY-SA 4.0), bearbeitet mit KI-Tools (Adobe Photoshop)

Lektorat: Angelika Hoffmann

Satz & Layout: Nicole Güntek, Verlag grünes herz®

Schrift: Garamond

ISBN 978-3-95560-711-1 (EPUB)

001

Alles war Feuer. Aus dem Dach, das nur noch aus leckenden Flammen bestand, stürzten die ersten brennenden Balken herab. Karsten Schwinka konnte gerade noch zur Seite hechten, als das glühende Holz funkenstiebend auseinanderbarst. Er wollte aufspringen, zur Tür rennen, deren genaue Position er in dem dicken Qualm nicht zu erraten vermochte – und wurde mit aller Gewalt an seinem rechten Bein zurückgerissen. Schwinka fiel ungebremst bäuchlings auf den Kellerboden, der mit einem Mal derart heiß wurde, dass er sich die Haut verbrannte. Er sprang erneut auf, sah die Kette an seinem Fuß und zerrte daran. Auf seinem Rücken brannten sich herabregnende Holzscheite ein, Flammenzungen griffen nach seinen Haaren, seiner Hose, dem T-Shirt. Schwinka schnaufte, dachte nicht an das Feuer um ihn herum und über seinem Kopf. Er sah nur die Kette, an der er zog und deren Ende in der Wand … Nein, sie war nicht in der Wand verankert. Auf der anderen Seite zog ein riesiger Hund. Die gigantischen Zähne hatte er fletschend in den Stahlgliedern verklemmt, die Zunge hing heraus wie abgerissen. Schwinka zog, der Rücken stand in Flammen, die Haare zischten, die Augen der Bestie leuchteten und das Knurren schwoll an, wurde lauter, wurde ein Dröhnen und brach urplötzlich kreischend und mit einem ohrenbetäubenden Donner ab …

Karsten Schwinka schreckte hoch. Schweißgebadet und nach Luft ringend stützte er sich mit seinen Unterarmen ab und blinzelte in das Licht der Nachmittagssonne.

»Verdammt«, sagte er knurrend. »Ich werde noch bekloppt.« Der Kripomann setzte sich auf die Bettkante und rieb sich mit beiden Händen über Gesicht und Haar.

Schon wieder hatte er diesen Traum gehabt. Wieder war es eine ausweglose Situation gewesen und wieder lieferte er sich einen Kampf mit einem Hund. »Vielleicht sollte ich anfangen zu meditieren«, knurrte er weiter und erhob sich.

Erschöpft ging er Richtung Bad. Hätte er Latschen getragen, würde er jetzt wohl schlurfen.

Schwinka blickte in den Spiegel. Er sah elend aus. Das Gesicht war faltig. Faltiger als sonst, fand er. Die Augen hatten Schatten. Das Haar stand ihm wirr zu Berge.

»Na, wenigstens ist es nicht verkohlt«, sagte er. Und das nicht einmal galgenhumorig, sondern einfach so.

Der Kriminalhauptkommissar stand da, ließ die Arme baumeln und schaute sich an. Ohne etwas zu suchen. Ohne irgendwelche Stellen in seinem Gesicht mit größerer Aufmerksamkeit zu mustern. Nein. Er stand nur da und blickte durch sein Spiegelbild hindurch. Und dort auf der anderen Seite sah er einen in einem Verlies angeketteten Klumpen Mensch. Der sollte eine Frau sein. Der Klumpen stöhnte, ein kleines Feuer brannte, Hunde wurden getötet, und Polizisten in schusssicheren Westen und mit Maschinenpistolen im Anschlag quälten sich durch hüfthohen Schnee.

»Scheiße«, sagte Schwinka, riss sich aus seinen Gedanken und senkte den Kopf. Er ärgerte sich. Niemals hätte er geglaubt, dass ihn ein Fall eines Tages bis in den Schlaf verfolgen würde. Das war lächerlich. Das war unprofessionell. Und ein bisschen Weichei.

Draußen versuchte jemand erneut, einen benzinbetriebenen Rasenmäher in Gang zu bringen. Er riss an der Schwungschnur. Drei- oder viermal, und der Mäher knatterte los. Erst stotternd, mit zunehmenden Umdrehungen glich das Motorengeräusch einem Moped, dem der Schalldämpfer abgefallen war.

Schwinkas Nachbar betrieb Rasenpflege. Wie fast jeden Sonnabend. Der Rentner Arne Syboldt aus Ofterdingen in Baden-Württemberg hatte sich mit seiner Gattin hier in Putbus auf Rügen ein Haus gekauft. Eigentlich lebte er noch in der alten Heimat, erzählte er immer wieder. Dafür war er aber kaum noch weg. Wenn Schwinka nach Hause kam, waren auch die Syboldts da.

Das Paar war eigentlich geräuschempfindlich. Zumindest, wenn andere für etwas Lautstärke sorgten. Knatterte draußen auf der Straße der Motor eines Krades, schrien Kinder im Spiel oder lief Musik im Garten eines Anwohners der Straße, stand Arne Syboldt Gewehr bei Fuß und pochte auf die Einhaltung irgendwelcher Ruheregelungen.

Da – jetzt knallte es erneut ohrenbetäubend und kreischend endete das Motorengeräusch.

›Ah‹, dachte der Polizist. ›Davon bin ich also aufgewacht: Syboldt hat sich wieder Steine in die Messer gefahren.‹

Draußen wetterte der Mittsiebziger. Offenbar hatte sich die weitere Rasenmahd erledigt, schienen dem Nachbarn doch endgültig die Schneidwerkzeuge abgerissen zu sein.

Karsten Schwinka ging zum Küchenfester, öffnete es und stieß es weit auf. Dabei reckte sich der große Mann mit einem erleichternden Stöhnen. Er zog die klare Frühlingsluft ein und wandte sich zur Küchenzeile, um einen Kaffee zu kochen.

002

Michael Neumann telefonierte. Das war im zurückliegenden Jahr eine seiner Hauptaktivitäten geworden – telefonieren. Dazu organisieren, Netzwerke betreuen, Gerüchte dementieren, Verbündete finden oder diese einfach halten – ungefähr so liefen seit Monaten seine Tage ab. Damit fiel er Frau und Kindern gehörig auf den Wecker. Das war ihm aber egal. Was wollten die denn. Immerhin unternahm er doch alles, um der Familie weiterhin das bieten zu können, was sie gewohnt gewesen ist.

Nachdem das Urteil gesprochen worden war, hing er nur ein paar Tage durch. Er gehörte nicht zu jenen, die man klein bekam. Neumann nannte sich selbst bei jeder Gelegenheit »eine Kämpfernatur«.

Bis zuletzt hatte er gehofft, man würde ihn nur milde aburteilen und er könnte weiterhin als Polizist arbeiten. Aber als hätten sie es darauf abgesehen, verpassten sie ihm ein Strafmaß von einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis – zur Bewährung ausgesetzt. Das bedeutete: Entlassung aus dem Polizeidienst. Das Disziplinarverfahren wurde eingestellt.

Was er auch immer verzapft, wie weit er in kriminellen Kreisen verkehrt und mit einigen dieser Halunken den Schulterschluss gesucht haben mochte – das personifizierte Übel war Karsten Schwinka. Dieser Emporkömmling, dieser Karrierist und Verräter.

Michael Neumann war zwar nie jemand gewesen, der unerschöpflich Empathie in sich trug und Freundlichkeiten verteilte, aber brennenden Hass hatte er bisher nicht empfunden. Zumindest wusste er jetzt, dass es so gewesen ist, denn die Abneigung, die er gegenüber seinem einstigen Vorgesetzten empfand, überstieg alles bisher Dagewesene.

Genau das erzählte er gerade Jan Kress, einem Zugezogenen aus Berlin, der Ende der Neunziger Rügen zu seiner neuen Heimat gemacht hatte. Wegen ein paar Kleindelikten war er in den Dunstkreis von Neumann geraten, der mehrfach Ermittlungen gegen den Enddreißiger geleitet hatte.

»… also ick find’et uff jeden Fall verwejen, dat du ausjerechnet mir anrufst«, sagte Kress zum wiederholten Mal. »Da kannste noch so ville Tipps in’n Koffer ham – mit Bullen will ick nix zu tun ham …«

»Du scheinst mich beim besten Willen nicht verstehen zu wollen«, entgegnete Neumann energisch und rieb sich zornig über seinen Bürstenschnitt. »Ich stehe nicht mehr auf der anderen Seite. Und mit meinem Wissen um Abläufe und Zusammenhänge bist du praktisch ab sofort nicht mehr zu schnappen. Wenn sich Leute wie du und ich zusammentun, erhöht sich deren Erfolgsquote um ein Vielfaches.«

»Du vastehst ja och nich – ick mach nix mehr. Ick bin nich mehr uff de schiefen Bahn …«

»Wer’s glaubt, wird selig.«

»… und deswejen brauchen wa och nich weitareden.«

»50.000 Euro! Ich versichere dir, du bekommst 50.000 Euro, wenn du dabei bist.«

Kress schwieg.

Neumann hörte nur den Atem seines Gesprächspartners. Und ab und zu knackte es in der Leitung.

»Watt 50.000?«

»Das klingelt in deinen Ohren, nicht wahr?« Neumann triumphierte. »Lass uns verabreden. Und dann erkläre ich dir das Ganze. Du wirst begeistert sein.«

»Nun, wia wern seh’n. Du findest mia in Binz. Weest ja wo.«

»Ja, weiß ich.«

Neumann klang unternehmungslustig.

Nachdem Kress das Gespräch beendet hatte, griente der Ex-Polizist so sehr, dass sich seine Mundwinkel tatsächlich um Nuancen in die Höhe schoben. Neumann lächelte nicht freundlich, das konnte er gar nicht. Aber immerhin lächelte er. Nur die Gedanken passten nicht dazu:

›Kress kann mich am Arsch lecken. Woher soll ich solch einen Haufen Geld auftreiben. Aber egal, Hauptsache der Vollidiot macht mit. Und am Ende schicke ich ihn in den Bau, das kriege ich schon hin.‹

Michael Neumann zuckte mit den Schultern.

»Schwinka kann sich frisch machen«, murmelte er. Dabei verzog er seinen Mund wieder zu einem Lächeln, bei dem nicht mehr als der übliche Strich heraussprang. »Vielleicht braucht er das ja nicht einmal mehr. Denn manche Wege kann man auch mit dreckigem Hals gehen.«

003

Nadja Schumann spazierte den Strand an der Schaabe entlang. Das hier war ihre Lieblingsecke. Irgendwie ruhiger als die riesigen »Kiesgruben« in Binz oder Sellin. Als sie vor zwölf Jahren erstmals auf Rügen Sommerurlaub gemacht hatte, quartierte sich ihre Familie im Binzer Charisma-Hotel ein. Das gefiel vor allem ihrem Mann und den beiden Kindern, die damals noch neun und 13 Jahre alt waren. Mittlerweile kamen sie nur noch als Paar auf die Insel, denn die Kinder waren aus dem Haus. Aber Rügen blieb eine Leidenschaft. Nur nicht die beengenden Ostseebäder. Und auch nicht mehr der Sommer, in dem sie Rügen mittlerweile fast unerträglich fand. Seit drei Jahren kamen sie nur noch im Frühjahr. So schlecht war das Wetter häufig gar nicht. So wie heute zum Beispiel: Die Sonne schien, der Himmel strahlte blau, es war warm, Paare schlenderten unmittelbar an der Wasserkante entlang und dort hinten gingen ein paar Mutige sogar ins Wasser.

Nadja Schumann genoss das Wellenrauschen und die angenehme kühle Seeluft – die ihr für den Bruchteil einer Sekunde einen unangenehmen Geruch in die Nase wehte.

Im ersten Moment nahm sie das gar nicht richtig war. Aber als ein zweiter sanfter Windstoß den Geruch noch strenger werden ließ, verzog sie angewidert das Gesicht. Die kleine Frau blieb stehen, zog sich den Jackenkragen höher, als würde sie frieren und ging über den leicht ansteigenden Strand langsam Richtung Düne.

Je näher sie dem mit Kiefern bestandenen Streifen zwischen Strand und Straße kam, die in Richtung Norden nach Breege führte, nahm der Gestank zu und erzeugte bei Nadja Schumann Ekel. Es roch nach Ausscheidungen, einem Mix aus Kot und Urin. Und das hier, unweit des Glower Strands, wo es geradezu absurd gewesen wäre, sich in der Natur zu erleichtern.

Die nächsten öffentlichen Toiletten waren gar nicht so weit weg. Und außerdem – so intensiv, wie die Urlauberin aus Thüringen mittlerweile den Gerüchen ausgesetzt war, ging sie gerade auf eine Stelle zu, die offenbar häufig oder sogar regelmäßig benutzt wurde.

Nadja Schumann schreckte zurück.

Da lag was.

Sie blieb stehen und reckte den Hals. Zusätzlich versuchte sie, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, was im weichen Sand nicht funktionieren wollte.

Also begab sie sich noch ein Stück näher. Dann noch ein paar Meter. Und schließlich weitere drei Schritte.

Ihr Magen verkrampfte und ließ sie zweimal würgen. Nadja beugte sich nach vorn und stützte den Körper mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Es kam aber nichts. Die Kehle war wie zugeschnürt, die Augen tränten.

Sie richtete sich wieder auf, wich ein kleines Stück nach links aus, um dann weitere vier, fünf Schritte in Richtung Geruchsquelle zu schleichen.

Da lag jemand. Daran bestand kein Zweifel mehr.

Ihr Herz pochte so heftig, dass die Luft knapp wurde. Da lag ein nackter Mensch. Wohl eine Frau. Nadja erkannte den weißen Rücken, den Unterleib, die angewinkelten Beine. Ein bisschen wirkte es so, als würde die Frau dort schlafen, so lagen vermutlich viele Leute im Bett, die auf der linken Seite am besten einschlummern konnten.

Nadja schaute sich um. Immer noch nach Luft ringend vor Aufregung.

Dort hinten Richtung Glower Strand waren drei junge Leute im Wasser, Spaziergänger erspähte sie dort keine. Und wenn sie sich umdrehte, konnte sie sehen, dass sich das Paar, das vor zehn Minuten an ihr vorübergegangen war, schon in einer erheblichen Entfernung befand.

Die im Leben immer so besonnene Frau bekam Angst. Sie wusste ja, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht lag dort zwischen den Bäumen sogar eine Tote. Was sollte sie tun? Um Hilfe rufen? Fortlaufen und Hilfe heran telefonieren? Oder womöglich gleich an Ort und Stelle zum Handy greifen? Und was, wenn sie von jemandem beobachtet wurde, der ihr weh tun könnte?

Sie lief davon. So schnell wie es durch den Sandstrand ging. Zweimal drehte sie sich um, ob ihr jemand folgte. Merkwürdigerweise hatte sie dabei sogar die nackte Frau vor Augen, wie sie die Düne herab taumelte. Nadja lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Noch während sie voran stolperte, griff sie in die Jackentasche, fingerte das Handy hervor und wählte 110.

004

Kriminalhauptmeister Danilo Schobel sprang jetzt schon zum zweiten Mal zur Seite und übergab sich. Da sich sein Magen bereits bei der ersten Attacke schon weitgehend geleert hatte, würgte er nur noch klaren Schleim hervor, der beim Ausspeien bitter schmeckte.

»Mein Gott«, sagte er sich mit der rechten Hand an einer Birke abstützend und mit der linken die tränenden Augen reibend. »Ist ja widerlich.« Dabei ließ er offen, ob er den Anblick der Toten meinte oder die eben vollzogene Prozedur.

Schobel drehte sich um, blickte auf die Leiche und wandte sich mit verzerrtem Gesicht erneut ab.

Kriminalhauptmeisterin Diana Chupaski kniete bei dem Opfer und nahm in stoischer Gelassenheit Proben – von den Fäkalien, die merkwürdigerweise nicht nur inmitten der herausgetretenen Eingeweide lagen, sondern auch Schmierspuren auf dem äußeren Oberschenkel hinterlassen hatten; von den unterschiedlichen Blutspuren im Bauchbereich, im Gesicht, an den Beinen und Händen; von den Aschepartikeln auf dem Gesicht der Frau; von den aus dem Magen gesickerten Essensresten. Chupaski tat mehr, als vor Ort üblich gewesen wäre, aber beim Stralsunder Erkennungsdienst, wo sie noch im vergangenen Jahr tätig war, hatte sich die junge Polizistin eine außergewöhnlich akribische Arbeit angewöhnt. In kürzester Zeit wurde Chupaski bekannt dafür, Dinge zu entdecken, die selbst Ermittlern im ersten Moment entgingen.

Diese Erfahrung hatte auch Schwinka schon machen dürfen, was ihn darin bestärkt hatte, die fast 30-Jährige in sein Ermittler-Team nach Bergen auf Rügen zu holen.

Der Hauptkommissar lächelte leicht. Das galt weniger den Anfällen seines Kollegen Schobel als vielmehr der Kaltschnäuzigkeit von Diana Chupaski, von der in dem weißen Ganzkörperanzug und dem Mundschutz nur die Augen zu sehen waren, die mit einer fast schon starren Konzentration auf die Arbeitsabläufe an der Toten blickten. Auf der rechten Seite hatte sich eine blonde, verschwitzte Haarsträhne unter dem Gummizug der Anzugshaube hervor gestohlen und verriet, unter welchen psychischen, aber auch körperlichen Anstrengungen die Polizistin arbeitete.

»Du musst dich hier nicht rumquälen«, sagte Schwinka zu Schobel. »Wenn du das nicht abkannst, warte etwas abseits, bis wir die Tote abtransportieren lassen.«

»Ich weiß auch nicht, was los ist«, entgegnete Schobel entschuldigend, der im Gegensatz zu Chupaski in seinem Anzug recht hilflos wirkte. Ihm war die ganze Zeit schon anzumerken, wie unendlich peinlich ihm die Situation war. Immerhin war die Frau im Dünenwäldchen der Rügener Schaabe nicht das erste übel zugerichtete Mordopfer, das er zu Gesicht bekam. Aber offensichtlich hatte auch er seine Schmerzgrenze. Und das hier ging gehörig zu weit.

Karsten Schwinka fühlte nichts. Er schaute auf die Arbeit Chupaskis und der Erkennungsdienstler aus Stralsund, die hier ebenfalls mit Hand anlegten, ohne jegliche Anteilnahme.

Einen gewissen Mangel an Empathie hatte er schon immer bei sich festgestellt, das aber für eine Eigenschaft gehalten, die seinem Beruf sehr zuträglich war. Nach dem jüngsten Fall, als er in der Weihnachtswoche bei tiefsten Temperaturen und Dauerschneefall allein und auf sich gestellt in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Dorf auf Jasmund dem absoluten Grauen in die Visage geblickt hatte, war seine Haut noch mehr vernarbt, der Panzer noch dicker geworden.

Chupaski erhob sich, zog den Mundschutz herunter und blies sich die Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Nun, erst die Laborwerte werden uns tatsächlich Auskunft geben können, aber angesichts der Anordnung einiger …«, sie druckste, »… sagen wir, Dinge, stammt nicht alles davon auch tatsächlich von der Toten.«

Schwinka nickte.

›Gut beobachtet‹, dachte er und sagte: »Auf jeden Fall bedarf der am Oberschenkel breit geschmierte Kot einer speziellen Untersuchung, denn in der Pampe hat ganz offensichtlich jemand rumgerührt.«

»Ja, offensichtlich …«, bestätigte Chupaski.

005

»Nach ersten Erkenntnissen ist die Frau an ihren eigenen Eingeweiden erstickt, was die Vermutung zulässt, dass sie noch lebte, als der Mörder sie vom Brustkorb bis zum Schambein öffnete«, schrieb Karsten Schwinka in einem Kurzbericht an den zuständigen Oberstaatsanwalt Pjotr Dückert, der extra aus seinem Urlaub zurückgeholt worden war. Zwar war Dückert in der Stralsunder Staatsanwaltschaft nicht der Einzige, der Mordermittlungen leiten konnte, er hatte sich aber ausbedungen, bei Verbrechen auf der Insel hinzugezogen zu werden.

Dückert war das, was man einen Kontroll-Freak nannte. Er konnte sehr schwer delegieren. Und was Rügen betraf, hielt er sich für die einzige Person, die es mit den Medien aufnehmen konnte. Denn brach sich die Information Bahn, dass auf der beliebten Urlaubsinsel in der Ostsee ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen war, staubte es in den Redaktionsstuben bundesweit. In solch einem Fall kamen sogar jene Journalisten in Bewegung, deren Anwesenheit selbst Kollegen schon seit Monaten gar nicht mehr für möglich gehalten hätten.

Schwinka wusste, dass Dückert weniger seiner sich selbst zugestandenen Kompetenz wegen das große Interesse am Presserummel entwickelt hatte. Vielmehr gefiel dem etwas zu klein geratenen Oberstaatsanwalt, der mit seinem schütteren Haar und dem nervösen Gesicht im Alltag nicht einmal auffiel, wenn er in einer Kneipe eine Saalrunde ausgeben würde, die ihm zuteilwerdende Aufmerksamkeit. Kameras waren auf ihn gerichtet, die Telefone standen nicht mehr still, und alle wollten nur mit ihm sprechen.

Dem Bergener Kripomann war diese Eitelkeit aber komplett schnurz. Denn nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten die zwei unterschiedlichen Männer einen Weg gefunden, miteinander auszukommen. Oder besser – der Weg hatte sie gefunden. Denn Dückert stellte irgendwann fest, dass er sich auf diesen, im ersten Moment recht unbequem erscheinenden, Polizisten in jeder Sekunde verlassen konnte. Und Schwinka wusste es zu schätzen, dass der eigentlich durch und durch korrekte Oberstaatsanwalt die Zügel schleifen lassen konnte, wenn es vonnöten war, und Tote aufstehen ließ, um Schwinka die erforderliche Unterstützung zukommen zu lassen.

»Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass sich der Täter nach dem Mord auf der Leiche erleichterte und vermutlich noch so viel Zeit hatte, um der Toten mit Kajal angedeutete Wimpern auf die Augenbrauen zu malen und neben ihr eine Zigarette fast vollständig aufzurauchen.«

Nachdem der Hauptkommissar den Bericht per E-Mail abgeschickt hatte, lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, verschränkte die Hände vor seinem Körper unterhalb der Brust, schloss die Augen und holte tief Luft.

Das tat Schwinka nicht etwa, um einen ordentlichen Schwung Sauerstoff in die Lungen zu lassen, denn die Büroluft war gerade nicht sehr erfrischend. Der Ermittler leitete damit vielmehr ein komplexes Gedankenspiel ein, das ihn zuallererst weg vom aktuellen Fall brachte.

Ihm gingen die Weihnachtstage durch den Kopf, er dachte an die nervenaufreibenden Träume, erinnerte sich an den wochenlangen Krankenhausaufenthalt, von dem er die Hälfte verschlief, grollte mit sich, da er sich mal wieder mit seiner Freundin Nadine überworfen hatte, streifte den Serienmord aus dem vergangenen Spätsommer und fühlte Erschütterung über den neuen Fall.

›Was stimmt hier nicht?‹, dachte er. ›Wieso massakrieren hier ständig irgendwelche Idioten ihre Mitmenschen?‹

Rügen mochte zwar eine eigenwillige Atmosphäre besitzen, die nicht unbedingt auf jeden gleich besonders anziehend wirken musste, aber dass Leute hier auf irgendeine Weise unter einen psychischen Druck gerieten, der sie austicken ließ, war bisher nicht bekannt.

Das Telefon klingelte.

Schwinka nahm ab und hörte am anderen Ende die Stimme von Dückert.

»Interessant, interessant«, plärrte der Oberstaatsanwalt euphorisch. »Bei Ihnen ist ja wieder der Teufel los.«

»Ja, kann man so sagen«, entgegnete Schwinka.

»Da versaut mir jemand den Urlaub. Ich meine nicht Sie, Herr Schwinka. Aber solch eine Abgangsquote hatten wir auf Rügen noch nie. Nicht in meiner Zeit und nicht in der Zeit davor. Seit der Wende natürlich. Aber davor war eh nie was passiert.«

»Ähnliche Gedanken hatte ich gerade auch.«

»Was meinen Sie? Was ist los?«

»Vielleicht haben die Rüganer einfach die Schnauze voll von dem Urlauberansturm.«

Dückert lachte schallend.

»Wo ist die Frau denn her?«, fragte er.

»Vermutlich Leipzig.«

»Also eine Urlauberin, vermute ich.«

»Davon gehen wir aus.«

»Hatte sie ihre Papiere dabei?«

»Nein, aber in der Gesäßtasche einen Rewe-Kassenbon von vor zwei Wochen. Der stammt aus Leipzig.«

»Ach, dann wissen wir noch gar nicht, wer sie ist.«

»Nein.«

Schwinka wollte nicht plaudern, weshalb er recht kurz angebunden blieb.

»Haben Sie schon einen Ermittlungsansatz?«

»Nein.«

Darauf reagierte Dückert nicht. Der Oberstaatsanwalt war überrascht. Und nicht nur das: Er fühlte sich geradezu vor den Kopf gestoßen.

»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte er hörbar verblüfft.

»Was soll sein?«, stellte Schwinka eine fast schon phlegmatische Gegenfrage.

»So kenne ich Sie gar nicht. Bisher haben Sie mir immer gleich bei unserem ersten Gespräch zu einem Fall die absolute Zuversicht vermittelt.«

»Tja, so kann’s gehen …«

»Herr Schwinka?«

»Ja?«

»Bei aller Liebe. Aber schon aus rein dienstlicher Sicht erwarte ich von Ihnen, dass Sie mir Ermittlungsansätze mitteilen. Denn bekanntlich sind die ersten Stunden entscheidend für einen Ermittlungserfolg.«

»Das können sie durchaus sein«, sagte Karsten Schwinka weiter mit einer Gelassenheit, als redete er mit Dückert über ein Rezept zum Abendessen.

»Nun, und wie ist es bei Ihnen?«

Dückert wurde ungeduldig. Das war typisch für den kleinen Mann.

»Der Tatort ist immer noch weiträumig abgesperrt. Ungefähr 25 Beamte suchen nach Spuren.«

»Brauchen Sie noch welche?«, fragte Dückert und offenbarte einmal mehr die neu gewonnene Hilfsbereitschaft in Bezug auf Schwinka.

»Im Moment nicht«, sagte der.

»Rufen Sie mich bitte morgen an – oder werden unsere Kräfte länger brauchen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich melde mich morgen.«

Schwinka legte grußlos auf.

Durch das Gespräch mit Dückert war ihm bewusst geworden, dass er völlig kraftlos war. Den Mord an der Frau hatte er noch gar nicht recht begriffen. Ebenso wenig, dass jetzt erneut seine ganze Energie und Aufmerksamkeit gefordert war. Nur wusste er nicht, wo er diese hernehmen sollte.

Schwinka zog den rechten Ärmel seiner Jacke hoch und betrachtete die Narben, die noch feuerrot leuchteten. Hier hatten sich die Hunde festgebissen, die letztes Jahr kurz nach Weihnachten in dem abgelegenen Dorf über ihn hergefallen waren. Wenn er nicht daran dachte, spürte er nichts. Jetzt, wo er drauf schaute, schmerzten Hand und Elle.

Insgeheim hatte er sich schon so manches Mal gefragt, ob ihn nicht womöglich eine Depression gepackt hatte. Jetzt war er sich dessen gewiss. Aber ebenso sicher konnte er für sich festmachen, dass er sich nie im Leben in die Hände eines Seelenklempners begeben würde. Um nichts in der Welt würde er einem fremden Menschen aus rein medizinischer Sicht seine Ängste, Sorgen und Probleme anvertrauen.

Aus diesem Tal musste er sich selbst herausziehen. Eigentlich kam dafür dieser Mord genau richtig. Mit der Frau war etwas ganz Entsetzliches passiert. Dieser Gedanke gehörte nicht gerade zu den wegweisenden Erkenntnissen. Im Moment war aber schon eine Menge gewonnen, dass Schwinka sich jetzt langsam dem Fall zuwandte und im Kopf Sätze formulierte, die nach Binsenweisheiten klangen.

006

In der »Reuse« in Altefähr waren alle Zimmer belegt. Seit Ostern reisten jedes Wochenende Stammkunden an. Und tat sich mal für ein paar Tage eine Lücke auf, gab es genug Interessenten, die diese zu füllen bereit waren.

Auf Rügen startete die Urlaubersaison mit den Osterfeiertagen. Das wirkte schon zwanghaft: Ostern, Winterabschied, Frühling, verlängertes Wochenende, Rügenurlaub. Davor war auf der Insel im Allgemeinen tote Hose. Selbst wenn die Natur mal so richtig aufdrehte und schon im März warme Tage zu bieten hatte, blieben die Touristen weg.

Das war ein bisschen so, als würde ein Schalter umgelegt, durch dessen Impulsgabe langsam ein Turbo anlief. Hielt sich das Wetter und wurde womöglich mit den Wochen immer besser, lief er ziemlich schnell auf Hochtouren. Erwiesen sich allerdings über längere Zeit ausgerechnet die Wochenenden als durchwachsen und regnerisch, stotterte das Ganze.

So war es in diesem Jahr. Ostern war im wahrsten Wortsinn bereits baden gegangen. Es goss von Karfreitag bis Ostermontag durch. Und die Wochen danach wollte sich das Wetter einfach nicht wieder einkriegen.

Jetzt war es Anfang Mai. Zum ersten Mal erreichten die Temperaturen Frühlingsniveau. Seit Tagen schien die Sonne, trocknete die vom Dauerregen beinahe schon sumpfigen Böden wieder aus und zog Wochenendausflügler an, als hätten diese jeden Tag nur darauf gewartet, dass von der Insel das entsprechende Signal kam.

Die »Reuse« musste sich darum nicht scheren. Das kleine Hafenhotel lebte von seinen treuen Gästen. Meist ältere Ehepaare, kamen einige doch schon seit fast 30 Jahren hierher.

Hanka Scheuer fragte sich immer wieder, worin der Reiz lag, sein halbes Leben im Urlaub oder – wenn man schon im Rentenalter war – zur Erholung ein und denselben Ort aufzusuchen. Sicher kannte auch sie Gegenden, die ihr so gut gefielen, dass sie dort noch einmal hinfliegen würde. Diese befanden sich dann aber in Spanien, Portugal, Griechenland oder Italien. In Landstrichen eben, die so ganz anders waren als dieses langweilige Deutschland und erst recht als Rügen, was für sie die Spitze der Tristesse darstellte.

Hanka hatte zu Beginn der Neunziger nach Rügen geheiratet. Das sagte man so – »nach Rügen geheiratet«. In Erfurt aufgewachsen, in Magdeburg studiert, hatte sie dort einen jungen und außerordentlich attraktiven Rüganer kennengelernt, von dem sie bereits am ersten Abend erfuhr, dass er der einzige Sohn eines eingeborenen Ehepaares war, das in Altefähr ein gut gehendes Hotel betrieb und das es zu einem beachtlichen Wohlstand gebracht hatte.

Hanka stammte aus einer Arbeiterfamilie, zu der neben ihr noch zwei ältere Schwestern und ein jüngerer Bruder gehörten. Ihre Eltern gaben sich alle Mühe, den Kindern grundsätzlich schöne Ferien zu bieten. Hin und wieder war es dann auch auf die Insel Rügen gegangen.

Für Hanka Scheuer war die Insel ein Traumort geworden. Mindestens die schönsten Kindheitserinnerungen. Als sie also diesen hübschen Inselmann kennenlernte, erwachte auf Schlag ihr Traum zum Leben. Sie musste gar nicht überlegen. Sich ihm hinzugeben, ihn zu umgarnen, ihn schließlich komplett verrückt nach ihr zu machen, passierte fast von selbst.

Natürlich zog sie eine Masche ab, die sie schon einige Male ans Ziel gebracht hatte. Aber diesmal war es einfacher gewesen. Zwischenzeitlich glaubte sie sogar, sie sei diesem Mann, der einmal das Hotel erben würde, in Liebe zugetan.

Nach sechs Monaten Leidenschaft heirateten sie, Hanka brach ihr Studium ab, Mario – ihr Mann – nahm sie mit auf die Insel und sie verlebten zwei geradezu dekadente Jahre. Das Hotel lief wie von selbst, kamen doch kurz nach der Wiedervereinigung reichlich zahlungskräftige Westdeutsche nach Altefähr. Der alte Scheuer blieb auch unter kapitalistischen Verhältnissen sehr geschäftstüchtig und reagierte auf sich verändernde Bedürfnisse und neue Anforderungen.

Sohnemann Mario arbeitete im Hotel mit und für Hanka gab es keine Verwendung. Nicht, dass sie das gegrämt hätte. Vielmehr verstand sie es, allen den Eindruck zu vermitteln, eine unheimlich liebenswerte und zuvorkommende Person zu sein, die wahnsinnig gern allen zur Hand gehen würde, aber irgendwie im Moment gar nicht so recht gebraucht wurde.

Hanka zog über die Insel, ging einkaufen, pflegte oberflächliche Bekanntschaften und mischte sich ein, wenn es darum ging, auf Rügen Vertretungen für die Gastronomie- und Tourismusbranche aus der Taufe zu heben. Sie war von morgens bis abends beschäftigt, ohne etwas zu tun. Das führte sie zu einer Perfektion, dass sich die beiden alten Scheuer immer wieder mal bei ihr entschuldigten, dass sie keinen ihrer Qualifikation entsprechenden Posten im Unternehmen für sie fanden.

Jetzt schuftete sie schon über 25 Jahre für den Betrieb, denn der alte Scheuer war 1996 an einem Herzinfarkt gestorben. Mario musste übernehmen und Hanka bekam Buchhaltung und Buchungsaufgaben aufgebürdet. Davon hatte sie schon nach nicht einmal 24 Monaten die Schnauze gestrichen voll. Und Rügen verlor spätestens zu jener Zeit ebenfalls seinen Reiz.

»Arbeiten, wo andere Urlaub machen« sollte eigentlich zum Ausdruck bringen, dass man es im Alltag gut getroffen hatte. Sie sah das anders. Denn wieso sollte sie für jene, die Urlaub machten, arbeiten?

In diesem Widerstreit lebte sie nun schon zwei volle Dekaden. Darüber war sie 53 geworden und hatte versäumt, Mutter zu werden.

Hanka Scheuer dachte oft über ihr Leben nach. So auch heute Morgen, nachdem sie in der Zeitung gelesen hatte, dass an der Schaabe jemand zu Tode gekommen war. Eine Frau sei dort wohl umgebracht worden und jetzt versuche man, ihre Identität festzustellen.

»Wieso vermisst die keiner«, fragte Hanka in den Schankraum hinein, während zwei angestellte Frauen die Frühstücksgedecke abräumten. »Wenn die von hier ist, muss sich jemand wundern, dass die schon zwei Wochen nicht zu Hause war. Und wenn sie als Urlauberin auf der Insel war, dürften sich doch die Zimmervermieter langsam Gedanken darüber machen, wie sie an ihr Geld kommen. Aber vielleicht hat die ja im Voraus bezahlt.«

»Mich wundert gar nichts mehr«, sagte Sophie, die vor vier Wochen in der »Reuse« angefangen hatte, als Servicekraft zu arbeiten. »Die Bullen beschäftigen sich den lieben langen Tag mit Kleinkram, und wenn es mal drauf ankommt, sehen sie alt aus.«

»Jaja, wennst ma zu schnell fährst oder falsch parkst, sind ‘se da, wennst aber die richtigen Verbrecher kommen, findste keinen«, brummte Inge Müller, die in Abwesenheit von allen nur »die Müllersche« genannt wurde. Sie arbeitete schon zu DDR-Zeiten in der »Reuse« und hatte das Rentenalter längst überschritten.

Hanka Scheuer mochte die Frau nicht. Damals genauso wenig wie heute. Aber wo der Vater ihres Mannes die Müllersche wegen ihres Arbeitseifers zu schätzen gewusst hatte, hing Mario aus nostalgischen Gründen an der Alten.

»Ach, halt die Klappe, Inge«, plärrte Hanka genervt. »Geblitzt wird meist von der Landkreisbehörde und Falschparker straft das Ordnungsamt ab.«

»Was weißt du schon«, brummte die betagte Angestellte und gab sich wieder ganz ihrer Arbeit hin.

Die Restauranttür flog auf, Mario Scheuer stürzte in den Frühstücksraum und blieb schnaufend stehen, neigte sich nach vorn und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. Jacke, Hose und Schuhe sahen aus, als wäre er stundenlang bäuchlings über den feuchten Waldboden gekrochen. Das Gesicht war mit Erde beschmiert, die Haare wirkten verklebt. An den Händen hatte er rotbraune Schlieren.

›Ist das Blut?‹, fragte sich Hanka und erschrak darüber so sehr, dass sie den Gedanken los werden musste und »Ist das Blut?« herausschrie.

Mario hob den Kopf, schaute mit einem unruhigen Blick und flackernden Augen zuerst seine Frau und dann die beiden Service-Kräfte an, die beide verschreckt einen Schritt zurückwichen. Die Müllersche hob wie zum Schutze sogar die Hände, als wär sie dem Leibhaftigen begegnet.

Immer noch schnaufend, als hätte er einen 3000-Meter-Lauf hinter sich, polterte Mario Scheuer in seiner gebückten Haltung plötzlich durch den Gastraum, warf dabei drei Stühle um und verschwand hinten im privaten Bereich der Familie.

Hankas Herz raste. Was war geschehen?

Sophie und Inge waren wie erstarrt. Als Hanka Scheuers Mann verschwunden war, schauten sie verunsichert auf die Chefin. Diese bemerkte das.

»Was guckt ihr?«, fragte sie in jener kurzen, nur aufs nötigste reduzierten Art, mit der sie die Angestellten kommandierte. Nur klang es diesmal keineswegs herrisch, sondern sorgenvoll und verhalten. So, wie sie solche Fragen grundsätzlich rhetorisch stellte, erwartete sie jetzt erstrecht keine Antwort.

Hanka stand auf und ging durch die Tür mit dem »Privat«-Schild.

Ihr Mann war in der Diele und auf der Treppe nicht zu finden. Geräusche drangen ebenfalls nicht an ihr Ohr.

»Oh, Gott …«, murmelte sie.

007

»Krüger hat sich aufgehängt!« Opa Schmiergels Stimme knarrte. Britta Kehrts hielt inne und blickte überrascht auf den alten Mann, der am Ladenfenster auf einem der Stühle saß. Vor gut zwei Stunden hatte er dort Platz genommen, mit ihr, der Verkäuferin in einer Backwarenfiliale, geplaudert und jeden der hereinkommenden Kunden angesprochen, die er ja alle kannte.

»Wie, ›aufgehängt‹?«, entgegnete Britta Kehrts skeptisch, ohne es wie eine Frage klingen zu lassen.

»Na, aufgehängt eben«, sagte der Greis. »Mit einem Seil um den Hals am Türpfosten oder Scheunenbalken oder was weiß ich denn.«

»Du sitzt hier geschlagene zwei Stunden und rückst mit der Geschichte jetzt erst raus?«

»Hab ich vorher nicht dran gedacht«

»Nicht dran gedacht?« Kehrts klang fast empört. »Da knüpft sich der Stadtrat auf und du hast nicht dran gedacht.«

»Stadtvertretervorsteher«, verbesserte Hans Schmiergel spitz. »Das ist ja wohl jetzt komplett egal«, meinte die untersetzte Verkäuferin, deren rosa Wangen wirkten wie aufgemalt. Diese zwei kreisrunden Flecken in ihrem Gesicht waren aber echt. Mittlerweile ärgerte sie sich über die intensive Durchblutung an jenen Stellen. Hatte sie als junges Mädchen dadurch immer etwas schüchtern ausgesehen, da die Wangen ein dauerndes Erröten suggerierten, bekam es mittlerweile etwas von einer geschminkten Larve zum Karneval. Na gut – vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber es sah zumindest derart ungewöhnlich aus, dass Kunden, die sie nicht kannten, eigentlich nur auf ihre Wangen starrten, wenn sie ihr bei den Bestellungen ins Gesicht schauten.

»Erzähl mir lieber, was du weißt«, forderte die Verkäuferin ihren betagten Gast auf.

»Wissen? Wissen tu ich gar nichts«, meinte Schmiergel, der mit zitternder Hand einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm.

Davon trank er vier, wenn er beim Bäcker am Supermarkt einkehrte. Hier war morgens immer am meisten los. In der Urlaubshochsaison sowieso, aber auch in diesen Tagen, denn viele Sassnitzer kamen bewusst in die Filiale, bot sie doch eine recht üppige Auswahl an Brötchensorten. Die auch tatsächlich alle recht schmackhaft waren.

»Ich habe lediglich gehört, dass er sich aufgehängt hat.«

»Dann muss es ja nicht stimmen«, meinte Britta Kehrts schon wieder ein bisschen beruhigt. »Man hört ja Vieles in den letzten Tagen seit dieser Sache an der Schaabe.«

»Nee, nee«, ließ der alte Mann nicht von seinem Thema ab. »Der Krüger hat sich aufgehängt. Das hat mir meine Nichte gestern Abend am Telefon erzählt. Und die will es direkt von seiner Frau haben. Und ich habe das heute Morgen noch von Pauke gehört. Du weißt doch, dass der beim Bürgermeister geradezu auf dem Schoß sitzt.«

»Du meine Güte«, erschrak Britta Kehrts jetzt gleich noch ein zweites Mal. »Was hat den denn dazu getrieben? Ärger mit seiner Frau? Da war doch eigentlich alles okay, oder nicht?«

»Was weiß ich«, knarrte Schmiergel. »Jedenfalls hat der sich aufgehängt.«

»Der war doch auch noch gar nicht so alt«, sinnierte die Rotwangige weiter und holte frisch aufgebackene Weizenbrötchen aus dem Ofen, der durch einen Piep signalisiert hatte, dass das eng belegte Blech lange genug der Hitze ausgesetzt war. »Vielleicht 50 oder 55.«

»Das Alter ist ja kein Grund sich aufzuhängen oder es sein zu lassen.«

»Das habe ich doch auch gar nicht gemeint«, schimpfte die Verkäuferin ein wenig gespielt. »Aber man fragt sich doch trotzdem, was einen Mann im besten Alter dazu treibt, sich aufzuhängen.«

»Meistens sind’s die Weiber«, knarrte Schmiergel wieder und kicherte dabei ein wenig.

»Ach red’ nicht! Wenn es zwischen ihm und seiner Frau so schlimm gewesen wäre, hätten wir längst etwas mitgekriegt.«

»Man steckt nicht drin«, meinte der Alte wieder ernst. »Nach außen können sie wie das harmonischste Liebespaar wirken, hinter der Fassade gibt es Mord und Totschlag.«

»Ach red’ nicht! Die Jutta kenne ich. Nie hat die sich beklagt. Naja, das Übliche vielleicht, aber sonst nichts Bestimmtes.«

»Warum soll die sich auch beklagen? Wenn es zwischen den beiden etwas gegeben hat, dann hätte er vermutlich Grund gehabt, sich zu beklagen, denn ER hat sich ja aufgehängt, nicht SIE.«

»Scheint für Rügen nicht das beste Jahr zu werden«, sagte Britta Kehrts. »Erst das an der Schaabe, jetzt Krüger. Ich weiß nicht. Irgendwie wird es immer schlimmer.«

»Menschen sind immer schon gestorben. Ob durch Krankheiten oder Unfälle, oder sie wurden umgebracht. Und manche tun es halt eben selbst. Das ist nichts Ungewöhnliches. Wer die Zeit um ‘45 mitgemacht hat, den kann in dieser Hinsicht nichts mehr erschüttern.«

»Also bitte, wir haben ja wohl auch nicht die Situation von ‘45.«

»Nein, wohl nicht. Und Gott bewahre uns davor. Ihr jungen Dinger könnt euch nicht in euren schlimmsten Träumen vorstellen, wie es damals war – ‘45. Wenn wir hier von schlimm sprechen, dann war ‘45 schlimm. Heute leben wir im Vergleich dazu im Schlaraffenland.«

»Ach, Opa Schmiergel, da warst du doch selbst noch ein kleiner Junge … Aber darum geht es ja auch gar nicht. In der heutigen Zeit ist es für Rügen eben ganz schön schlimm, wenn an der Schaabe zuerst eine ermordete Frau gefunden wird und sich dann zwei Wochen später der Stadtrat von Sassnitz aufhängt. Ich glaube, Urlauber mögen solche Gegenden nicht unbedingt.«

»Ein paar weniger von denen kann der Insel nur guttun«, grinste der alte Mann.

»Wir leben aber davon«, mahnte Kehrts.

»Ach, Papperlapapp«, schimpfte Schmiergel. »Wir leben davon, wir leben davon – immer diese Leier. Was, wenn die Urlauber nicht mehr kämen? Würden dann alle von der Insel weggehen? Oder sich womöglich aufhängen?«

Wieder kicherte er und verzog sein zerfurchtes, schmales Gesicht zu einer Grimasse. Da er dabei sein Gebiss ein wenig nach vorn schob, wirkten seine Züge geradezu grotesk. Mit einem klackenden Geräusch ließ er die künstlichen Zähne in ihre dafür vorgesehene Position zurück rutschen. Schlürfend zog Schmiergel ein paar Speichelreste von der Unterlippe nach innen.

»Ich mochte den Krüger eh nicht«, meinte er dann. »Mir ist es egal, ob der sich aufgehängt hat oder nicht. Ich finde es viel spannender, was da an der Schaabe passiert ist. Ich glaube, du hast Recht: Das wird für Rügen ein spannendes Jahr.«

»Schlimmes Jahr«, verbesserte die Verkäuferin.

»Ja, mein Gott, meinetwegen auch das.«

008

Als Hagen Porwitz mit seinem VW Touran an der südlichen Kreuzung der Bergener Bahnhofstraße wegen der sich auf Rot stellenden Ampel anhielt, sah er beim kurzen Routineblick in den Rückspiegel hinter sich einen Nissan Van vom Typ NV300. Porwitz kannte sich aus bei Autos, weshalb ihm die Bezeichnung des Fahrzeugs tatsächlich kurz durch den Kopf ging, als er es nur für den Bruchteil einer Sekunde registrierte.

Als die Signalanlage auf Grün schaltete, fuhr Porwitz bedächtig an und erntete von hinten ein kurzes Hupen.

»Jaja«, brummte der rundliche Bauunternehmer mit dem gemütlichen Gesicht, dessen Züge ihm nicht einmal entglitten, wenn er so richtig sauer war. »Hast es eilig oder was?«

Tempo 50 für Ortschaften einhaltend, rollte Hagen Porwitz entlang der B 196 aus der Stadt in Richtung Bergener Kreuz. Hier fädelte er sich auf die B 96 nach Stralsund ein. Dort war ein Termin anberaumt, um ein ihm übertragenes kommunales Vorhaben in der Hansestadt zu besprechen. Erst als der 40-Jährige bereits ohne Eile mit 80 über die Inselautobahn rollte, stellte er fest, dass der Nissan immer noch hinter ihm war – und dies auch blieb, obwohl es bereits mehrere Möglichkeiten zum Überholen gegeben hatte.

»Fahr schon vorbei, du Quatschkopp, hast es vorhin doch so eilig gehabt«, grummelte Porwitz und verringerte die Geschwindigkeit auf 75 Stundenkilometer, um dem hinter ihm Fahrenden zu signalisieren, dass er ihm ein Überholen leicht machen wollte. Der Nissan wurde jedoch ebenfalls langsamer. Das fand Porwitz merkwürdig.

Jetzt nahm er den Fuß erneut vom Gas und fiel auf beinahe 60 km/h. Dabei ließ er den Blick beharrlich auf dem Rückspiegel ruhen und orientierte sich nur flüchtig nach vorn.

Der Nissan fuhr nicht vorbei.

»Was ist denn das für ein Idiot«, schimpfte Hagen Porwitz und trat aufs Pedal. In wenigen Sekunden erreichte er eine Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometer und zog danach gleich noch einmal an, so dass er mit gut 120 km/h eine der auf der B 96 regelmäßig angelegten Fahrbahnverengungen befuhr. Auf dieser einspurigen Strecke waren nur 100 km/h gestattet. Der Nissan zog mit. Also war es kein Zufall, dass der Unternehmer den Van an seinen Hinterreifen kleben hatte.

»Pass bloß auf, Freundchen«, brummte Porwitz wieder. »Wenn du mir auffährst, mach ich dich zur Schnecke.«

Egal wie schnell er mit seinem Touran fuhr oder wohin er sich wandte – der Nissan blieb dran. Sogar in Stralsund.

Langsam dämmerte es Hagen Porwitz, dass der Fahrer hinter ihm eine Konfrontation suchen könnte. Bei diesem Gedanken wurde ihm mulmig. Das »Pass bloß auf, Freundchen« war vergessen. Vielmehr überlegte sich der Rüganer, wo er am öffentlichsten halten könnte, um viele Zeugen zu haben, sollte der Typ aus dem Nissan ihn attackieren.

Jedes Mal, wenn Porwitz an einer der vielen Kreuzungen hielt, die wie ein Verteidigungsring um die Stralsunder Innenstadt angelegt waren, schaute er in den Rückspiegel und versuchte, das Gesicht des Mannes hinter dem Lenkrad zu erkennen. Das gelang ihm aber nicht, da der obere Teil der Frontscheibe zum Schutz vor zu starker Sonneneinstrahlung eingefärbt war. Als Porwitz schließlich nahe des Alten Marktes in der Mühlenstraße hielt, rollte der Nissan so weit vor, dass er in voller Länge links neben ihm stand.

Hagen Porwitz blieb im Auto sitzen und schaute hinüber zu dem Mann, der ihn eine halbe Stunde lang verfolgt hatte. Dieser hatte seine Hände aufs Lenkrad gelegt und schien aufmerksam irgendein imaginäres Ereignis auf dem Alten Markt zu beobachten.

Zwar empfand Porwitz erst einmal einen Hauch von Erleichterung, da der Nissan-Fahrer nicht ausgestiegen war, um die Tür seines VW aufzureißen und ihm eine zu verpassen. So oder so ähnlich liefen solche Straßenverkehrsduelle doch ab. Er hatte das selbst schon beobachten können.

Gleichzeitig versetzte ihn die Physiognomie des Unbekannten schon wieder in Unruhe. Der sah nämlich ausgesprochen merkwürdig aus.

Die Stirn wölbte sich ungewöhnlich weit nach vorn. Die riesige Nase fiel geradezu hinab und das markante Kinn strebte in einem leichten Bogen in Richtung Nasenspitze.

Plötzlich wandte ihm der Nissan-Fahrer sein Gesicht zu. Kalte, durchdringende Augen starrten Porwitz an, unwillkürlich zuckte dieser zurück.

Langsam bewegte der Mann im Van die rechte Hand in seine Richtung, als wollte er mit dem Finger auf ihn deuten. Dazu kam es jedoch nicht, griff der Unbekannte doch nach etwas auf seinem Beifahrersitz, ohne dabei den Blick von Porwitz abzuwenden.

Schlagartig riss der Mann im Van die Hand in die Höhe, in der sich jetzt eine Pistole befand. Porwitz hatte nicht einmal die Zeit für eine reflexartige Bewegung, als sich der Schuss löste, die beiden Scheiben der jeweiligen Fahrzeugtüren durchschlug, in die Stirn des Bauunternehmers eindrang, durch dessen Gehirn raste, beim Austritt die hintere Schädeldecke zerriss, um schließlich, die Scheibe der Beifahrertür des Touran pulverisierend, in der Fassade des angrenzenden Hauses steckenzubleiben.

Porwitz war dabei zur Seite geschlagen worden, im Gurt aber hängengeblieben. Der Mann aus Bergen starb sofort.

Der Schütze im Van legte gelassen die Pistole auf den Sitz neben sich, setzte sein immer noch laufendes Fahrzeug in Bewegung, wendete gelassen und fuhr ohne Eile davon.

009

Karsten Schwinka saß an seinem Bürotisch und ging konzentriert einige Vernehmungsprotokolle zum Mord an der Schaabe durch. Seit fast drei Wochen arbeiteten sie an dem Fall und kamen nicht voran.

Was sich ereignet hatte, konnten sie zwar mittlerweile exakt rekonstruieren, die Identität der Toten war aber immer noch nicht geklärt. Ein Amtshilfeersuchen an die Leipziger Kripo war zwar positiv beantwortet worden, jedoch meinte man dort, sich darum aus Kapazitätsgründen nicht unverzüglich kümmern zu können. Selbst mit der Liste von vermissten Frauen aus den zurückliegenden 40 Tagen durfte er erst in drei bis vier Tagen rechnen. Sogar die Indiskretion der lokalen Presse hatte ihnen keinen Hinweis zugeführt.