Die Toten vonne Ruhr - Ben Weber - E-Book

Die Toten vonne Ruhr E-Book

Ben Weber

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Beschreibung

... Ohne darüber nachzudenken, ging er an den Toten vorbei und weiter am Ufer den Fluss hinab. Über den alten Weg aus Pflastersteinen, der früher einmal als Treidelpfad für die Pferde gedient hatte, die Lastkähne den Fluss entlangzogen, als es noch keine motorisierten Schiffe gab. Kowallik atmete tief ein, tief aus. Da war er wieder, der Geruch! Den hatte er früher so gemocht. Er war überrascht. Der herbe Duft des Flusses gefiel ihm immer noch ... Dreizehn Geschichten über Mord und andere Miseren, zwischenmenschliche Begegnungen mit überraschenden Wendungen, tragikomischen Verstrickungen und jeder Menge Augenzwinkern. Gewürzt mit Krimi-Elementen und einer ordentlichen Prise Ruhrpott-Charme.

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Seitenzahl: 188

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis:

Potato Man

Die Toten vonne Ruhr

Lisdoonvarna

Ein guter Jahrgang

Grundsätzlich männlich

Zombiekeller

Die Puppensammler

Ein Mord zu früh

Out of Order

Irgendwann musst du bezahlen

Goldschimmer

Die Farben der Kindheit

Der gute Duft von altem Holz

Vorwort

Kennen Sie das? Dass Sie ein gutes Buch lesen oder sich einen Film ansehen und bei dem Gedanken ertappen: Ach, nee – ist ja ganz schön spannend, aber leider ziemlich unrealistisch ... Und damit meine ich nicht etwa den bärenstarken Batman oder unseren unverwüstlichen James Bond. Nein, gemeint ist hier eine Handlung wie sie zum Beispiel an einem gewöhnlichen Sonntagabend im Tatort stattfindet. Wenn das, was dort geschildert wird, real sein könnte, bietet es uns einen zusätzlichen Nervenkitzel. Trotzdem würde ich selbst nicht auf die Idee kommen, meinen Roman, um des schnöden Mammons willen, als „Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ zu verkaufen.

Nichtsdestotrotz haben die Ereignisse in meinem Buch einen Bezug zu meiner eigenen Lebensgeschichte. So war es in unserer Kindheit tatsächlich verboten, zur Ruhr zu wandern und dort am Ufer zu spielen oder im Fluss zu baden. Bei Nichtbeachtung dieser Regel war es damals gar nicht ungewöhnlich, als Strafe dafür eine Tracht Prügel zu bekommen. Eine Maßnahme, die heutzutage durchaus den Tatbestand der Kindesmisshandlung erfüllen würde ...

Nun, trotz der Berührungspunkte zu meinem eigenen Leben, muss ich gestehen, dass der größte Teil der Geschehnisse in meinem Buch frei erfunden ist. Allerdings wird diese Tatsache in diesem besonderen Frühling des Jahres 2020 die Leserin/den Leser wahrscheinlich viel weniger stören, als die in meinem Roman beschriebenen Alltagssituationen. Da werden doch tatsächlich noch Hände geschüttelt, Schultern geklopft, Partys geplant und mit der neuen Bekanntschaft nicht nur getanzt, sondern sogar ...

Sie sehen, all das, was früher ganz alltäglich und Normalität war, ist nun – in diesen Zeiten, die plötzlich von einem Virus namens Covid19 fremdbestimmt werden, verboten oder zumindest unangebracht. Sind nun deshalb unsere Geschichten weniger lesenswert, weil sie die gegenwärtige Situation nicht wiederspiegeln? Ich denke, nein. Schließlich zeichnen wir Autoren und Regisseure nicht nur die Bilder einer (relativ) unbeschwerten Vergangenheit, sondern – und das ist meine große Hoffnung – ebenso die Bilder einer kommenden, sorgenfreieren Zukunft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute, bleiben Sie optimistisch, so gesund wie möglich und genießen sie meinen Roman ...

Herzlichst, Ihr Ben Weber

Potato-Man

Ding-Dong, das Alarmzeichen, die Türklingel!

Jetzt hieß es Farbe bekennen.

Carinas Galgenfrist währte noch genau 82 Treppenstufen. Du siehst verdammt gut aus, machte sie ihrem Spiegelbild Mut. Immerhin hatte sie einiges investiert, sich eine neue Kurzhaarfrisur zugelegt, die Fingernägel lackiert und etwas Rouge aufgelegt. Dazu ein knallendes Rot für die Lippen. Verdammt, das Lipgloss am unteren Rand, verwischt! Schnell mit dem Finger... sie zitterte ein wenig. Jetzt konnte sie seine polternden Schritte auf der Holztreppe hören. Wann hatte sie das letzte Mal vor Aufregung so geschwitzt? Ein kurzes Schnuppern an den Achseln – das Versace Eros Pour Femme brannte höllisch, aber es hielt, was die Werbung versprach: Ein sinnlicher Duft, Zitrusblüte, Granatapfel, ein Hauch von Sandelholz und Moschus. Ob sie deshalb allerdings wie eine „Göttin der sinnlichen Verführung“ wirken würde?

„Lass ma gucken.“

Hoppla, der Kerl ging ja ganz schön ran, ein verheißungsvoller Beginn! Doch Niklas würdigte Carina kaum eines Blicks, schob sie beiseite und drängelte sich in den Flur. Im Vorbeigehen hauchte er ihr ein schlaffes Küsschen auf die Wange.

„Mal gucken, wie´s bei dir so aussieht.“

Er huschte wie ein nervöses Eichhörnchen auf Futtersuche durch ihre Wohnung, blieb hier und da stehen, ließ seine Blicke kurz schweifen, um dann weiterzuhasten ...

„Das Meiste ist von IKEA, oder?“

Er ließ ihr keine Zeit zu antworten, legte ihr stattdessen seinen Arm um die Schulter.

„Na, das wird schon noch ... Weißt du, früher hab ich auch bei denen eingekauft. Aber jetzt shoppe ich nur noch bei WALDMANN. Echt feiner Laden, in Hattingen, direkt hinter der Ruhrbrücke. Da wirst du schon am Eingang mit einem Gläschen Sekt begrüßt. Und die Möbel werden nur aus edlen Hölzern hergestellt, kann man nur wärmstens empfehlen. Kostet natürlich.“ Er hob seine Hand bis vor ihre Nase und rieb demonstrativ Daumen und Zeigefinger gegeneinander.

„Aber es lohnt sich. Alles wird individuell angefertigt, nach deinen ganz persönlichen Bedürfnissen. Unter besonderer Berücksichtigung der Lehre des Feng Shui. Daraus entsteht dann eine vollkommene Harmonie.“

Niklas lächelte mit einem verklärten Ausdruck, der sich ebenso schnell verflüchtigte, wie er aufgetaucht war.

„Deine Wohnung dagegen ... die unterschiedlichen Materialien und dieser ganze Krimskrams, der hier überall rumliegt, das hat kein gutes Karma. Und dieser große Spiegel, der verstärkt die negative Energie noch, den würde ich sofort rausschmeißen.“

Für einen Moment lag es Carina auf der Zunge: Apropos negative Energie und rausschmeißen, da fällt mir was ein ... aber sie schluckte es herunter und hörte sich stattdessen sagen: „Komm, lass uns in die Küche gehen. Ich hab das Meiste schon vorbereitet.“

Stolz präsentierte sie ihre Bratkartoffeln mit bunter Gemüsebeilage.

„Mit frischem Lauch, Möhren und Paprika. Kümmel, rotem Pfeffer und etwas Oregano. Gerösteter Knobi ist auch drin. Na, was sagst du?“ Sie reichte ihm einen gut gefüllten Löffel. Niklas schmatzte ihn leer, sah eine Weile an die Decke, als ob er dort etwas suchen würde, dann zog er seine Stirn in Falten.

„Also frischer Knoblauch wäre besser gewesen.“

Er nahm noch eine weitere Portion und kaute hörbar vor sich hin. In Gedanken sah ihn Carina an einer Weinprobe teilnehmen. Fehlte nur noch, dass er ihr alles vor die Füße spuckte.

„Da ist zu viel Thymian drin. Und der Pfeffer ... also da hätte ich dir fermentierten Kampotpfeffer oder tasmanischen Bergpfeffer empfohlen. Schade drum. Trotzdem, ich würde dir noch ´ne Drei plus dafür geben. Gar nicht mal so übel, ne.“

Er gönnte ihr ein aufmunterndes Schulterklopfen, doch seine Nachsicht währte nicht allzu lange. Er sah Carina an, ohne sie wirklich anzusehen, und mümmelte intensiv auf seinen Resten herum, bis er plötzlich die Nase rümpfte.

„Aus biologischem Anbau sind die Kartoffeln aber nicht.“

Carinas um ein diplomatisches Lächeln bemühten Gesichtszüge froren schlagartig ein, sie schluckte.

„Kerl, die sind so was von Bio, die hab ich gestern noch frisch gepflückt!“

Ihr grimmiger Ton schien an ihm abzuprallen.

„Ach herrje, Mäuschen. Die schmecken doch sehr nach Sieglinde. Und Sieglinde ist alles andere als Bio.“

Niklas aß zwei große Portionen. Erstaunlich viel für eine Drei plus. Aber immerhin beruhigte sein Heißhunger ihr Gemüt, und drei Gläser Rotwein taten ein Übriges ... Als sie auf ihr Bett fielen und sich gegenseitig die Klamotten herunterzerrten, wechselte Carinas Kochfrust zur Sinneslust. Das Essen hatte ihm doch halbwegs gemundet, und ihre Mühen hatten sicherlich eine Belohnung verdient. Niklas schnaufte, keuchte und stöhnte – doch ein gemeinsamer Rhythmus schien ihm völlig fremd zu sein. Ach, sie hätte es ja ahnen müssen, nach ihren ersten Erfahrungen. In der Tanzschule Fuchs in Bochum-Gerthe. Da hatten sie sich kennengelernt ...

„Auch alleine hier?“

Was für eine dämliche Frage!

Schließlich war das der Schnupper-Tanzkurs für Singles. Doch seine tiefe Stimme hätte sich auch nach dem Wetterbericht oder den Aktienkursen erkundigen können, Carina wäre es schnurzpiepegal gewesen. Denn der Besitzer dieses Wohlklangs sah unverschämt gut aus. Große Statur, blaue Augen und hellblondes Haar, das wild durcheinanderfiel und zum Wuscheln einlud. Der Dreitagebart, ein kunstvolles Unterarm-Tattoo und das lässig über der Designerjeans getragene Holzfällerhemd gaben ihm etwas Abenteuerlustiges. Und selbst wenn sich das Hemd über dem Bauch etwas spannte, der Kerl war genau ihr Typ.

„Hallo, ich bin Carina.“

„Hohoho, und ich bin der Nikolaus. Mit Sack und Rute, allzeit bereit.“

Er grinste und gönnte ihr ein Augenzwinkern.

„Mein Name ist Niklas. Das ist die Abkürzung für den alten Mann im roten Anzug. Da staunste ...“

Sie bemühte sich zu lächeln, reichte ihm die Hand und verkniff sich eine angemessene Erwiderung. Sein Händedruck war kräftig, aber nicht grob. Ganz im Gegensatz zu seinem Rhythmusgefühl. Weil er aber nicht nur sexy aussah, sondern auch noch gut duftete – herb, mit einem Hauch von Südfrüchten – ließ sich Carina von ihm beim Samba auf die Füße treten, beim Cha-Cha-Cha den Arm verdrehen und sich im Tangoschritt übers Parkett zerren.

Nach der Tanzstunde fragte sie ihn mit einem Augenzwinkern: „Hör mal, Niklas, was hältst du davon, wenn wir bei mir zu Hause noch ein bisschen im Wegweiser des Kamasutra blättern?“

Leider passierte das nur in ihrer Phantasie, tatsächlich sagte sie nur: „Hast du nicht Lust, mich nächste Woche zu besuchen? Ich koch uns was Schönes.“

Für einen Moment blieb sein Mund offenstehen, dann strahlte er über das ganze Gesicht.

„Aber immer doch! Was gibt´s denn Feines?“

„Ach, ich dachte an Bratkartoffeln mit bunter Gemüsebeilage, da kenn ich ein ganz simples Rezept“, rutschte es ihr heraus, was sie aber im gleichen Moment bereute, als sie sah, wie er die Stirn krauszog und seine Mundwinkel herunterfielen. Doch nach einem kurzen Augenblick der Enttäuschung bemühte er sich um ein gequältes Lächeln.

„Na gut, okay. Solide Hausmannskost soll man nicht verachten. Da kommt es dann eben auf die Feinheiten an. Aber geben wir dem Ganzen schon mal einen anderen Namen, nennen wir es doch lieber ‚Pommes de terre sautées avec des légumes colorés‘.“

„Du hast recht, das klingt ja viel interessanter... “, stimmte Carina ihm zu und dachte dabei: Du Blödel! Bratkartoffeln mit buntem Gemüse ist das einzige Gericht, das ich ohne Probleme hinbekomme. Und wir sollten es doch nicht unnötig verkomplizieren. Hauptsache es schmeckt und wir haben danach noch genug Zeit für andere Köstlichkeiten ...

In den nächsten Tagen kaufte Carina Kartoffeln, Gemüse und frische Kräuter ein und besorgte Rotwein. Halbtrocken, für 12,95 Euro die Flasche. Der sollte ihnen doch munden. Wie es schien, war sie für alles gerüstet. Gründlich aufgeräumt hatte sie auch, denn, obwohl Niklas auf den ersten Blick wie ein Teufelskerl aussah, wurde Carina das dumme Gefühl nicht los, dass Ordnung sein halbes Leben war. So hatte er ihr doch tatsächlich nach der Tanzstunde mit großer Geduld und in aller Ausführlichkeit erläutert, welche Fehler ihr bei den einzelnen Schritten unterlaufen waren. Und das, obwohl er selbst fortwährend dem Takt der Musik hinterhergehoppelt war.

Genau wie jetzt, in diesem Augenblick ...

Ein Déjà-vu der unangenehmen Art.

Sein heftiges Stoßen erinnerte Carina an einen wütenden Holzhacker, der einen Baumstumpf bearbeitet. Ein Mann fürs Grobe, aber leider keiner für die filigrane Kunst. So war es kaum verwunderlich, dass es vorbei war, bevor Carina überhaupt auf Touren kam. Für einen Moment lag Niklas noch schnaufend neben ihr, dann bückte er sich nach seinen müffelnden Socken und schnupperte ausgiebig an ihnen.

„Nimm´s mir nicht übel, Mausi, aber du kommst zu früh. Klar, bei einem Typ wie mir, da kann einer Frau schon mal die Sicherung durchbrennen.“

Er lachte und zwinkerte ihr zu.

Carina war sprachlos. Dieser eingebildete Sack!

Der hatte doch tatsächlich bei ihr einen Höhepunkt festgestellt, von dem sie selbst nichts mitbekommen hatte. Sie hüpfte aus ihrem Bett und zog sich in Windeseile wieder an ...

Kurz darauf reichte sie ihm seine Jacke und bugsierte ihn zur Tür hinaus. Niklas schien zu überrascht, um Gegenwehr zu leisten. Kein spaßiger Spruch mehr, nur noch große, staunende Augen. Carina bemühte sich um einen freundlichen Ton.

„Ach, das hätt ich fast vergessen: Gib mir mal deinen Rucksack. Ich pack dir noch was von den pommes de terre ein. Ist ja noch einiges übriggeblieben.“

Niklas guckte für einen Augenblick irritiert, dann hob er mahnend den Zeigefinger: „Aber füll mir das bitte nicht in so ´ne billige Tupperdose. Da geraten nämlich Nanoteilchen ins Essen und das muss ich wirklich nicht haben.“

Draußen im Flur übergab Carina ihm wortlos seinen Backpacker. Er nahm ihn mit der linken Hand in Empfang und reichte ihr dann zögernd die andere zum Abschied.

„Ja ... dann. Das Essen, also das war ganz okay. Und der Sex, na ja, der war so Zwei bis Drei. Auf jeden Fall ausbaufähig.“ Noch einmal ein selbstgefälliges Lächeln, dann fiel sein Blick auf den Schrubber, den sie gemeinsam mit dem Putzeimer und einem Wischlappen neben ihrer Wohnungstür geparkt hatte. Missbilligend schüttelte er den Kopf.

„Drinnen wie draußen. Kein gutes Karma.“

„Flurwoche ...“, murmelte Carina ...

Sie zögerte noch einen Moment, dann packte sie den Schrubber wie ein Ritter seine Lanze zum Turnier und stieß kurz, aber heftig, zu. Sie traf Niklas direkt auf dem Brustbein. Er stöhnte auf, stolperte rückwärts, ruderte wild mit den Armen, ohne Halt zu finden, und stürzte über die Brüstung ins Treppenhaus hinunter. Carina lauschte gespannt. Ein kurzer Schrei, dann ein dumpfer Schlag. Irgendwie enttäuschend ...

Von unten schallte eine Stimme herauf: „Watt is denn da los? Watt soll der Lärm?“

Carina beugte sich über die Brüstung und erblickte den Kopf von Frau Berger aus dem zweiten Stock. Die Nachbarin schaute kurz zu Carina herauf, dann nach unten.

„Jesus! Da liegt ja einer ... und allett volla Blut!“

Jetzt hörte Carina Schritte auf der Etage direkt unter ihr. Das war Kevin, der sechsjährige Filius der Familie Janka. Er guckte ebenfalls nach unten und schrie los.

„Kevin, sofort zurück in die Wohnung!“, rief Carina ihm zu, denn das war ja kein schöner Anblick, schon gar nicht für ein kleines Kind. Im Erdgeschoss dagegen tauchte nun Willi Marquardt auf, seines Zeichens Frührentner und selbsternannter Blockwart ihres Häuserkomplexes.

„Der lebt noch!“, brüllte er nach oben, und es klang wie eine Aufforderung an die anderen, aktiv zu werden. Frau Berger reagierte entsprechend und rief Marquardt zu: „Ich besorch ´en Krankenwagen...“, und schon war sie wieder verschwunden.

„Fräulein Carina, könnse nich erste Hilfe oder sowatt?“, schallte es von unten herauf, und sie dachte: Das fehlt mir noch, dass ich den Burschen rette und der womöglich gegen mich aussagt ...

„Hey, Sweetheart, hörst du mir noch zu oder träumst du gerade ...?“

Niklas sah Carina mit geneigtem Kopf prüfend an.

„´Tschuldige, ich war in Gedanken. Ach, Niklas, weißt du was? Nimm doch bitte den Lappen mit runter, nur für den Fall, dass du Flecken machst. Ich hab ja vorhin erst gründlich geputzt.“

Ihr Gegenüber staunte mit offenem Mund.

„Ich mein ja nur. Wegen der Bratkartoffeln, die ich dir eingepackt habe. Ohne billige Plastikdose, wie gewünscht. Direkt in deinen edlen Wolfskin Survival Rucksack hinein.“

Niklas machte große Augen, dann schwenkte sein Blick langsam hinunter. Vom Grund seines Rucksacks tropfte es ölig auf den Fußboden.

„Siehst du, da geht´s schon los. Na, dann hinterlass mal keine Spuren. Meine Nachbarn verstehen da keinen Spaß. Und schmeiß den Lappen bitte unten in die Tonne, das wär echt lieb von dir.“

Carina zwinkerte ihm noch einmal zu, klopfte ihm auf die Schulter, drehte sich um, stapfte erhobenen Hauptes in ihre Wohnung und ließ die Tür knallend hinter sich zufallen.

Die Toten vonne Ruhr

„Verfluchter Scheiß!“

Kowallik stocherte mit einem Zweig an seinen Schuhen herum. Zu blöd, die Gummistiefel hatte er in der Garage stehen lassen. Und nun lag da diese öde Flusslandschaft vor ihm, die nur aus graubraunem Wasser, Unkraut und Ungeziefer bestand. Ein Rätsel, wie andere sich für so etwas begeistern konnten ...

Als Treffpunkt hatten sie den Parkplatz hinter den Bahngleisen in der Nähe des Flusses verabredet.

„Bist du der vonne FLASH?“

Kowallik zuckte zusammen. Er hatte den jungen Mann nicht kommen hören. Der Bursche grinste ihn an. Stand breitbeinig da, die Hände in den Hosentaschen. Kowallik mochte diese plumpe Vertraulichkeit nicht, aber die meisten seiner Informanten gaben sich so. Selbstgefällig, als ob sein Glück von ihrer Gunst abhänge. Dabei waren die Regeln doch klar. Cash gab´s nur gegen brauchbare Infos.

„Ich hab euch angerufen. Wegen die Toten vonne Ruhr. Ich kann dir zeigen, wo se liegen.“

„Tach auch. Peter Kowallik, ich bin der Fotograf. Von mir aus können wir sofort los. Bringen wir es doch gleich hinter uns.“

Der Informant tippte sich an die Stirn und rümpfte seine Nase. „Hömma, ich bin doch nich verrückt! So ´ne Sauerei muss ich nich nochma haben. Sieht ziemlich eklig aus. Und datt stinkt vielleicht!“

Der junge Mann war nähergekommen. Kowallik spürte, dass er seinen Geruch nicht mochte und gerne wieder auf Distanz gegangen wäre. Aber das hier war sein Informant, mit dem musste er wohl oder übel verhandeln. Die Augen seines Gegenübers flackerten unruhig hin und her. Dann tat der Bursche etwas, das Kowallik auf den Tod nicht ausstehen konnte: Er tippte mit seinem ausgestreckten Zeigfinger gegen Kowalliks Brust.

„Ich will ´ne satte Prämie, aber so richtig satt, dann beschreib ich dir den Wech.“

Kowallik schob den jungen Mann ein Stück zurück.

„Hör´n Sie auf, an mir rumzustochern. Wir werden uns sicher einigen. Am besten Sie sagen mir, wo die Toten liegen und wenn ich meine Schnappschüsse gemacht habe, komm ich zurück und geb Ihnen die Kohle. Wir müssten dann nur noch einen Treffpunkt vereinbaren.“

Sein Gegenüber schüttelte heftig mit dem Kopf.

„Nee, so läuft datt nich, Alta! Die Hälfte vom Zaster sofort – und den Rest später, wenn du die Fotos gemacht hast. Und für den Fall, datt du versuchst, mich zu veraschen: Ich hab mit mein Handy schon selba ein paar töfte Bilda gemacht, die kricht dann ebend der Stadtspiegel!“

Kowallik spürte, dass sein Herz schneller schlug. Er hatte große Lust, mit diesem Schmierlapp Klartext zu reden. Und ihm zu erklären, dass ein guter Fotograf nicht darauf angewiesen sei, mit jedem dahergelaufenen Schwachmaten Geschäfte zu machen. Doch er schluckte seinen Ärger herunter.

„Okay, okay. Ist ja gut. Ich bin einverstanden. Fünfzig Euro auf die Hand und die anderen Fuffzig, wenn ich alles im Kasten habe.“

Einen Moment lang zögerte der junge Bursche noch, dann streckte er Kowallik seine flache Hand entgegen. Sie verabredeten sich dann für später im Anglerheim Bochum-Dahlhausen. Den Wegweiser dorthin hatte Kowallik bei seinem Eintreffen auf dem Parkplatz entdeckt.

Kowallik stapfte los, immer am Ufer entlang, bis ihn ein zugewucherter Trampelpfad stoppte. Er suchte sich einen Ast, mit dem er das Gestrüpp zur Seite drücken konnte. Mit der anderen Hand schlug er nach den Insekten, die er dabei aufscheuchte. Verdammte Nervensägen! Hoffentlich war er bald am Ziel. Zum Glück war die Beschreibung seines Informanten ziemlich präzise, der schien sich hier gut auszukennen. Noch eine Flussbiegung, und dann ... da hinten im Schilf, da musste es sein! Schon von Weitem sah er die Fliegen in kleinen Wolken geschäftig hin- und hersausen. Gleich würde der üble Geruch seine Vermutung bestätigen. Kowallik band sich sein Halstuch vor die Nase. Vorsichtig näherte er sich seinem Ziel, setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, immer bemüht, mit seinen Halbschuhen nicht zu versumpfen. Hier war keine Menschenseele. Er würde die Toten als Erster ablichten und spektakuläre Fotos schießen ...

Für die FLASH, das berüchtigte Skandalblatt.

Über zwanzig Jahre war es nun her, dass Peter Kowallik sein Kunststudium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Wie die meisten seiner Kommilitonen hatte er von einer großen Karriere geträumt. Als Fotograf für eine bekannte Tageszeitung oder ein anspruchsvolles Fachmagazin. Doch seine Bewerbungen blieben erfolglos, schließlich war er froh gewesen, überhaupt einen Job zu bekommen. Einen, den er nie gewollt hatte. Den die meisten Menschen mit Verachtung straften. Denn nun machte er sich auf die Suche nach Bildern, die den Betrachter zum Voyeur werden ließen. Die Quote war entscheidend, nicht der Anstand oder die Moral.

Kowallik blickte über die Flusslandschaft, die früher mal eine magische Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte. „Wir gehen zum Bolzplatz!“, hatte er als Kind seine Mutter oft angeflunkert, wenn sie zum Ufer der Ruhr hinunterschleichen wollten. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen, sonst setzte es Prügel. Doch die Ruhr und ihre Umgebung waren es wert. Vor allem an Tagen, an denen die Hitze des Sommers unerträglich wurde. Dann spritzten sie sich gegenseitig nass oder setzten kleine Papierboote auf das Wasser. Einige der Jungs ließen sich sogar als „Toter Mann“ ein Stückchen im Fluss treiben oder wagten sich bis in die Mitte des Stroms hinaus, obwohl das Baden in der Ruhr verboten war – schon damals. Wegen der gefährlichen Strudel durch die Bombentrichter unter den Brücken, das hatten sie als Kinder immer wieder eingebläut bekommen. Der Fotograf seufzte ...

Warum tauschte man eigentlich diese kindliche Begeisterung gegen die nüchterne Betrachtungsweise eines Erwachsenen ein?

Ohne nachzudenken, ging er an den Toten vorbei und weiter am Ufer den Fluss hinab. Über den alten Weg aus Pflastersteinen, der früher einmal als Treidelpfad für die Pferde gedient hatte, die Lastkähne den Fluss entlangzogen, als es noch keine motorisierten Schiffe gab. Kowallik atmete tief ein, tief aus. Da war er wieder, der Geruch! Den hatte er früher so gemocht. Er war überrascht. Der herbe Duft des Flusses gefiel ihm noch immer ... vielleicht war ja doch nicht alles verloren gegangen? Diese kleine Landzunge dort, die sah doch sehr einladend aus. Ein frischer Wind von vorne, die Sonne im Rücken. Eine ideale Position. Mit einem Tempotuch wischte er an einem großen Steinbrocken herum, bis der ihm halbwegs sauber erschien. Kowallik ging in die Hocke. Er stöhnte, in seinem rechten Knie stocherte jemand mit einer Nadel herum. Doch kaum hatte er sich hingesetzt, warfen ein paar Sonnenstrahlen ihr Licht durch die Wolken auf den Fluss und seine Ufer und ließen ihn die Schmerzen vergessen. Für einen Augenblick spürte er die Sehnsucht nach diesen Tagen aus seiner Kindheit ...

„Alter, verdammt, was ist bloß los mit dir?“

Kowallik schüttelte seinen Kopf und stand langsam wieder auf. Konzentrier dich mal auf deinen Job!

Und der hieß: Hier im Schilf drei ertrunkene Schafe aufzuspüren, die ein wilder Hund vor einigen Tagen in die Ruhr getrieben hatte. Die Tiere dann möglichst spektakulär zu fotografieren und der Redaktion das gewünschte Material zu liefern.

Kowallik drehte abrupt seinen Kopf, aus der entgegengesetzten Richtung klang ein merkwürdiges Geräusch zu ihm herüber. Das Flattern zweier Schwäne, die dem Flussverlauf folgten und knapp über dem Wasser schnatternd vorbeiflogen. Leuchtendes Weiß über fließendem Blau. Er drückte spontan den Auslöser. Die Schafe liefen ihm ja nicht weg, die konnte er auch später noch ... Er setzte sich auf einen anderen Stein, ohne sich Gedanken über den Dreck an seiner Hose zu machen, und sah auf den Fluss hinaus. Diese innere Ruhe, die er hier verspürte, wie lange vermisste er das schon? Die Sonne brachte das Wasser zum Funkeln und machte aus dem matten Braun ein leuchtendes Blau. Wie die Natur alles verwandelte – er hatte es fast vergessen. Wie gut das tat! Einfach nur dasitzen und den Moment genießen. Ganz allein mit dem Fluss. Kowallik begriff ... Es war so einfach.

Seine Arbeit für die FLASH bedeutete ihm nichts. Ja, er verdiente gutes Geld, aber mehr war da nicht. Keine Begeisterung, keine Lebensfreude, nichts davon.

Aber das hier, das bewegte ihn ...

Was für eine wunderschöne Libelle!

Kowallik drückte den Auslöser. Solche Momente musste man festhalten! Sollten doch andere den Dreck und Schmutz ablichten, den die Redaktion forderte. Ein paar Enten flatterten davon, ein Klingelton hatte sie aufgeschreckt. Kowallik starrte auf das Smartphone, das ihm der Ressortleiter der FLASH zum Jubiläum geschenkt hatte. „Ist nicht mehr so ganz up-todate...“, hatte der damals grinsend zu ihm gesagt, „aber das nimmst du dann auch nur für die Arbeit, no private! Immer erreichbar, allzeit bereit. Und die Kamera ist echt solide. Nur für den Fall, dass deine Spiegelreflex mal nicht on the top ist.“



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