Die Tränen der Schatten - Nicolas von Szadkowski - E-Book

Die Tränen der Schatten E-Book

Nicolas von Szadkowski

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Beschreibung

Während eine mächtige Invasionsstreitmacht der Artanen von Osten her weiter ins Reich eindringt, besteigt die Erstgeborene des verstorbenen Königs den Thron Herdrinlands. Die junge Estrith muss die Krone auch gegen Feinde im Inneren verteidigen, denn Teile des Adels erheben ebenfalls Anspruch auf die Herrschaft. Es droht ein Bürgerkrieg, der dringend benötigte Kräfte im Westen des Reiches bindet. Zur selben Zeit sucht die Mu-Unay in der Steppe des Windes mithilfe des Shamanen Osh-Odan nach der Zukunft ihres Volkes. Die Vorzeichen, auf die sie stößt, sind dunkel...

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Seitenzahl: 96

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Tränen der Schatten

I KayasinaII AnkarthoIII BramIV TibaldV AnkarthoVI Mu-UnayVII RikaVIII TibaldIX AnkarthoX Mu-UnayXI TibaldXII EstrithImpressum

I Kayasina

Amethyst-Arkaden von Eth-El, Kaiserreich Artanisia

Kayasina träumte vom Riss. Jenem dutzende Meilen langen Abgrund im Süden Artanisias, der die Ebene von Gabbed in zwei Hälften teilte. Zu breit, um eine Brücke darüber zu errichten, bedeutete er einen Umweg für alle Reisenden zwischen der Hauptstadt und der Hohen Küste. Zu tief, als das man den Grund hätte sehen können. Blickte man hinab, war weit unten nur tiefe Dunkelheit zu erkennen.

In jener Schwärze war Aredias verschwunden, Kayasinas älterer Bruder, der Erstgeborene ihres Vaters und Thronfolger des Reiches. Hinabgestoßen in die Tiefe von einer vermummten Gestalt wenige Wochen zuvor.

In ihrem Traum schwebte die Tochter des Kaisers von Artanisia hoch über dem Riss und blickte hinab auf die zerklüfteten Felshänge. Es wirkte, als hätte etwas von unten her die Erde aufgebrochen, um ans Licht zu gelangen.

An ein paar Stellen gab es Felsplateaus, die tiefer lagen als das Umland. In die Felswände gehauene Treppen führten zu ihnen hinab. Auf dem größten davon, das den Tempel der Priester von Gabbed beherbergte, erblickte Kayasina ihren Bruder. Aredias trug eine der traditionellen dunklen Roben des artanisischen Adels und sein rabenschwarzes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten. Das war eines der Dinge, an die sich Kayasina am stärksten erinnerte. Aredias Haar war wie das ihre. In ihrem Traum ruhte seine rechte Hand auf dem Griff eines reich verzierten Schwertes an seinem Gürtel. Er wirkte gelöst, amüsiert.

Während sich der Prinz mit einem der Priester aus dem Tempel unterhielt, schlenderten die beiden an der Abbruchkante des gähnenden Schlunds entlang, die nur notdürftig mit einem einfachen Holzgeländer gesichert war. Schließlich erreichten sie die Kräne, die die Priester benutzten, um zu meditieren. Kopfüber ließen sie sich an hunderte Ellen langen Seilen in den Abgrund hinab, wo sie dann stundenlang verharrten. So waren sie dem Gott, der ihrem Glauben nach in der Tiefe schlief, am nächsten. Den Herrn des Abgrunds nannten sie ihn.

Erst kurz vor Sonnenaufgang holte man sie wieder empor. Und manchmal, ganz selten, hing am Ende eines der Seile niemand mehr. Dann sprachen die Anhänger des Kults von großem Glück, dass ihrem Bruder zuteil geworden war. Denn dann hatte der Herr des Abgrunds ihn zu sich geholt, auf dass er an seiner Seite lebe, in dessen Reich.Kayasina kannte diesen Traum nur allzu gut. Er war erfüllt von wirren Gedankenfetzen, alten Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit mit Aredias und den Informationen, die ihr über die Umstände seines Verschwindens bekannt waren. Allerdings konnte sie nichts tun, war nur Zuschauerin bei den Dingen, die nun gleich passieren würden. Zuerst verdunkelte sich ihr Blickfeld etwas, als stünde eine Mondfinsternis bevor. Dann bemerkte sie die Gestalt, die sich ihrem Bruder und dem Priester mit lautlosen Schritten näherte. Ein vermummter Attentäter, der zwei Klingen trug. Und schon im nächsten Augenblick fuhr Aredias herum und riss seine Waffe heraus, einen Herzschlag, bevor ihn ein kräftiger Tritt des Attentäters traf. Die Wucht des Angriffs schleuderte ihn gegen das marode Geländer am Abgrund, das mit einem Knacken nachgab. Aredias ruderte mit den Armen und verlor seine Waffen, während der Attentäter eine seiner Klingen über seine Brust führte, sein Gewand zerschnitt und seine Haut ritzte. Allein das beherzte Eingreifen des Priesters, der sich todesmutig auf den Vermummten warf, verhinderte, dass dieser Aredias weitaus schlimmere Wunden zufügte. Doch das war auch gar nicht nötig, denn der Prinz fiel, begleitet von einem markerschütternden Schrei, halb aus Zorn, halb aus Schmerz geboren, in den Abgrund. Und noch ehe der Attentäter den Priester mit raschen Bewegungen tötete um danach wieder zu verschwinden, war Aredias nur noch ein kleiner schwarzer Punkt, der vom Dunkel der Tiefe verschluckt wurde.

Kayasina fuhr schreiend aus dem Schlaf hoch und rang dann keuchend nach Luft. Das Bild ihres Bruders, der in den Tod stürzte, war kaum zu ertragen. Sie spürte, wie heiße Tränen über ihre Wangen liefen.

Nur wenige Herzschläge später stürmten ein halbes Dutzend Bewaffneter durch die Tür in ihre Gemächer, die Schwerter gezogen. Es waren Shetani, die Anführerin der Schwesternwache und fünf ihrer Streiterinnen. Die Frauen trugen die Rüstung der kaiserlichen Elitetruppen, eine Mischung aus dickem Leder und darauf genieteten, stumpfen Messingplatten. Maßgefertigt und gut gefettet, machten sie kaum ein Geräusch, wenn sich der Träger darin bewegte.

Als Kayasina die rechte Hand hob machten die Kriegerinnen abrupt halt.

»Es ist gut.«, sagte die Tochter des Kaisers mit vor Erschöpfung geschlossenen Augen. »Es war nur ein Traum. Ihr könnt gehen.«

Die Angesprochenen wechselten stumm ein paar Blicke, dann steckten sie ihre Waffen weg, verneigten sich und begaben sich zurück auf ihre Posten. Nur eine von ihnen blieb, näherte sich dem Bett und zog dabei ihren Gesichtsschleier beiseite. Das auberginefarbene Tuch hatte markante Züge rund um ihre dunklen Augen verborgen. Die Kriegerin war mittleren Alters, wie ein paar ergraute Strähnen in ihrem fest geflochtenen, schwarzen Zopf belegten. Ihre Haut war dunkler als die ihrer Herrin, wie bei allen Angehörigen ihres Volkes.

»Wieder der eine Traum, Hoheit?«, fragte sie vorsichtig.

Ihr Blick war wachsam, besorgt.

»Meine liebe Shetani, du kennst die Antwort bereits…«, erwiderte Kayasina grimmig, während sie an eines der Bogenfenster trat und hinaus blickte. Ein kühler Nachtwind fuhr in den dünnen Stoff ihres Gewandes und ließ sie frösteln.Es entsprach der Wahrheit. Es war nicht neu, dass Kayasina des Nachts mit einem Schrei aus dem Schlaf auffuhr. Es mussten inzwischen dutzende Male gewesen sein, dass dies geschehen war. Seit Aredias‘ Verschwinden quälte sie der Alptraum von seinem Tod. Dabei war sie selbst nicht dabei gewesen, als es geschah. Es war ihr lediglich davon berichtet worden. Ihr Unterbewusstsein schien damit fortlaufend beschäftigt.

»Welche Stunde haben wir?«, wollte Kayasina wissen.

»Die vierte des Morgens hat gerade erst geschlagen.«, erwiderte Shetani. »Ihr solltet Euch noch einmal hinlegen, Hoheit.«

Kayasina schien einen Moment zu überlegen, denn sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und schüttelte schließlich leicht den Kopf.

»Mir ist nicht mehr nach Schlaf. Wenn ich auf meinem Lager keine Ruhe finde, brauche ich mich auch nicht darauf herum zu wälzen.«

Sie wandte sich zu Shetani um, die sie stumm beobachtete.

Ein Lächeln stahl sich auf das Gesicht der Kaisertochter.

»Ich würde die Zeit lieber sinnvoll nutzen. Geh und hol mir Yadinas.«

Überraschung trat auf Shetanis Züge.

»Seid Ihr sicher, Hoheit?«

Aber Kayasina ließ sich nicht beirren.

»Geh und wecke ihn. Er soll seine Gehilfen mitbringen. Mit ist nach dem Klang von Stahl auf Stahl...«

Shetani zögerte noch immer, doch ihre Herrin gab ihrer Anordnung mit einem Wink Nachdruck. »Worauf wartest du?«

Als die Kriegerin den Raum eilig verließ spürte Kayasina, wie der Zorn in ihr wuchs. Zorn auf die unfähigen Agenten ihres Vaters, die den Mörder ihres Bruders nicht zu finden vermocht hatten. Zorn auf seine Leibwache, die es zugelassen hatte, dass er sie zurück ließ. Zorn auf Shetani, die offenbar immer noch glaubte, besser zu wissen, was Kayasina brauchte. Und auch ein wenig Zorn auf sich selbst, weil sie so viel Schwäche gezeigt und vor ihren Leuten geweint hatte.

Sie trat vor einen Rüstständer an einer der Seitenwände des Raums und ließ ihr Nachtgewand zu Boden gleiten. Dann nahm sie eine der zusammengefalteten Tuniken aus dickem, robustem Stoff von einem Stapel auf einem nebenstehenden Schränkchen und schlüpfte hinein. Es folgten Polsterwams, Beinlinge, verstärkte Stiefel, Kürass und schließlich Arm- und Beinschienen.

Ihre Rüstung war weitaus prunkvoller als die ihrer Wächterinnen und darauf ausgelegt, dass man sie allein anlegen konnte. Die Herrscher der Artanen benötigten dazu keine Hilfe ihrer Dienerschaft. Alle Teile des Panzers bestanden aus überlappenden Metallplatten, die sich der Form ihrer Schultern und Arme, ihres Oberkörpers und ihrer Oberschenkel anpassten. Jedes einzelne war versilbert und trug ein eingeätztes Flammenmuster. Die weiße Flamme war das Symbol der artanischen Herrscher und in der Hauptstadt des großen Reiches beinahe allgegenwärtig. Auch auf der Stirnplatte ihres Helms war das Symbol zu sehen, umgeben von einem komplizierten Muster aus feinen Linien. Kayasina entschied sich allerdings dagegen, den konischen, mit Wangenklappen versehenen Kopfschutz zu tragen, dessen Spitze der eines Speers mit breitem Blatt nachempfunden war. Viel lieber als die kühle Umarmung des recht schweren, mit Leder unterfütterten Stahls war ihr die kühle Nachtluft auf dem Gesicht.

Sie gürtete sich ihr Schwert um, machte ein paar Armbewegungen und streckte sich einmal kurz, um sicher zu stellen, dass die Schnallen der einzelnen Rüstungsteile richtig eingestellt waren und alles gut saß. Als Letztes zog sie ihre gepanzerten Handschuhe an und betrachtete sich anschließend in einem hohen Spiegel.

Dort stand eine entschlossene, junge Frau, die kaum etwas mit der gemein hatte, welche vor wenigen Augenblicken schreiend aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Auf ihrer rechten Wange prangte eine kleine, helle Narbe, die ihr einer ihrer Fechtlehrer vor Jahren zugefügt hatte. Ihr Vater hatte den Mann dafür auspeitschen lassen, doch Kayasina fand, dass die Narbe mehr Schmuck war, als dass sie sie entstellte. Sie ließ sie verwegener aussehen, erfahrener, kampferprobt. Obwohl sie im Grunde nichts davon wirklich war. Kampferfahrung hatte sie kaum vorzuweisen, es sei denn man zählte die Lehrstunden mit wechselnden Lehrern in den vergangenen zehn Jahren dazu. Auch an einem Feldzug hatte Kayasina noch nie teilgenommen. Zweimal erst hatte sie ihr Schwert gegen Gegner gezogen, die ihr nichts darüber beibringen wollten, wie man es geschickt und effektiv führte. Und auch dann waren es keine ernsten Kämpfe gewesen.

Vielleicht war das der Grund für die Entscheidung ihres Vaters, ihren jüngeren Bruder Sonaytas mit dem Oberbefehl über die vier Kontingente zu betrauen.

Achtundvierzigtausend Soldaten, die nun durch die Steppe des Windes nach Westen marschierten, um Rache für den Tod des artanischen Thronfolgers zu nehmen.

Kayasina hatte darauf gebrannt, an der Spitze der Truppen in Herdrinland einzufallen, das Land zu verheeren und jeden Herdren, der ihr vor das Schwert lief, zu töten. Bis sie den Mörder ihres geliebten Bruders fand. Sie hatte sich in ihrem Zorn und ihrem Schmerz dazu bereit gefühlt. Doch offensichtlich hatte ihr Vater, der Kaiser, diese Ansicht nicht geteilt.

Sie kochte innerlich, als sie wenig später den runden Übungssaal betrat, an dessen Wänden ringsumher unterschiedlichste Waffen aus allen Landen der Welt hingen. In Kisten stapelten sich Holz- und Metallschilde, hölzerne Nachbildungen von unterschiedlichsten Schwertern, Säbeln, Dolchen und Messern. Kampfstäbe und Speere ruhten in an der Wand befestigten Korbgestellen aus Messing. Auch Wurfwaffen und Bögen waren vorhanden, ebenso wie diverse Körbe mit Pfeilen unterschiedlicher Machart und Länge und eine Reihe Zielscheiben. Alle Waffen waren in einem perfekten Zustand, die Schneiden der Klingen scharf geschliffen und geölt, die Sehnen der Bögen gefettet, die Schilde auf Hochglanz poliert.

Der Raum durchmaß etwa fünfzig Schritte und wurde nur von Angehörigen der kaiserlichen Familie genutzt. Ab ihrem zwölften Geburtstag hatte Kayasina hier einen großen Teil ihrer Zeit verbracht.

Gerade waren ein paar Diener eilig dabei, mehrere Feuerschalen zu entzünden, die auf Metallständern rund um den Saal verteilt waren. In der Mitte wartete der Schwertmeister Yardinas mit drei seiner Gehilfen.Ein kaltes Lächeln schlich sich auf Kayasinas Züge. Es war Zeit, die Klingen tanzen zu lassen. Und eines nicht mehr fernen Tages würde sie dies tun, das schwor sich Kayasina, um ihren Bruder zu rächen.

II Ankartho

Königlicher Palast von Herdringard, Provinz Herdland

»...und so kam ich in Euren Palast, Hoheit. Gerade noch rechtzeitig, um meine Mission zu erfüllen.«, endete Ankartho, der im Audienzzimmer der Hochkönige Herdrinlands auf ein Knie herab gesunken war. Vor ihm saßen Estrith, Rika und Alastir auf hölzernen Sesseln, neben und hinter ihm hatte die Leibwache der Thronfolgerin Aufstellung genommen. Im Augenwinkel konnte Ankartho erkennen, dass die Männer und Frauen, die Estriths Leben schützen, alles andere als ruhig waren. Einer der Krieger nestelte ständig an seinem Schwertgriff herum, eine der Schildmaiden verschob ihr Gewicht in kurzen Abständen immer wieder von einem Fuß auf den anderen.

Der junge Wächter sah auf und versuchte, die Stimmung der zukünftigen Königin zu erkennen. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und die Lippen zusammen gepresst. Trotz der Ähnlichkeit zu ihrer Zwillingsschwester fand Ankartho, dass Rika die Hübschere der beiden war, entschieden attraktiver. Vielleicht lag es daran, dass Estrith viel nüchterner wirkte, vielleicht aber auch daran, dass Ankartho Rika bei ihrem ersten Zusammentreffen bereits unbekleidet gesehen hatte.

Er riss sich zusammen und schob diese Gedanken beiseite. Ogas Nim hatte ihn schließlich nicht hierher gesandt, damit er mit einer der Schwestern anbandelte.

»Ich verstehe noch immer nicht, wieso eine völlig fremde Macht Rika oder mich, oder gar uns beide, tot sehen will.«, sagte Estrith schließlich und wechselte einen kurzen Blick mit ihrer Schwester, die ebenfalls die Schultern zuckte.