Die Traumarbeiter - Sabine Kranz - E-Book

Die Traumarbeiter E-Book

Sabine Kranz

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Beschreibung

Jo ist schon ganz gespannt auf ihre neue Schule. Niemand aus ihrem Umfeld kann ihr etwas über das Humanistica Gymnasium erzählen. Nur ihre Oma ist dort Schülerin gewesen, doch die ist schon lange tot. Auf dem Humanistica-Gelände geschehen merkwürdige Dinge. Dort gibt es viele Tiere, die sich ungewöhnlich verhalten. Ein Schwein kann zählen, ein Wiesel gibt Zeichen, Katzen können tanzen. Als Jo und die anderen Sechstklässler einen unfassbaren Abi-Streich miterleben, der die Roben ihrer Lehrer zum Glühen bringt, ist sie sich sicher: Sie ist auf der ungewöhnlichen Schule, von der sie immer geträumt hat! Noch ahnt sie nicht, welch unglaubliches Geheimnis sich hinter den Mauern des Humanistica verbirgt.

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Seitenzahl: 384

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Markus und Jasper gewidmet,

den besten Männern der Welt

Inhaltsverzeichnis

0. Fünfzig Jahre zuvor

1. Die Macht der Träume

2. Der Tag der Entscheidung

3. Die Empfehlung

4. Die lange Wartezeit

5. Die Ankunft

6. Der erste Abend

7. Die neue Klasse

8. Die Freizeit

9. Die Stallbewohner

10. Die Bibliothek

11. Der Gemeinschaftsraum

12. Das Ende des ersten Halbjahres

13. Die Winterferien

14. Die neuen Lehrer

15. Das Musical

16. Der Abschluss der Begabungskurse

17. Der Unfall

18. Die gefährdete Versetzung

19. Der Abi - Streich

20. Die Vorfreude

21. Der Traum

22. Der dreizehnte Sonnenstein

23. Der Tag vor der Offenbarung

24. Das Geheimnis des Humanistica

25. Die besondere Fähigkeit

26. Die neuen Fächer

27. Das Geschäft

28. Der Ausflug

29. Die sinnhafte ‚TA‘-Regel

30. Der Ausblick auf das zweite Halbjahr

31. Das Schneeunglück

32. Der neue Stundenplan

33. Die Somnium – Pforte

34. Die erste Reise

35. Die Vorarbeit

36. Die ersten Schritte

37. Die Reiseberichte

38. Die Auftraggeber

39. Der Badeunfall

40. Das Nachspiel

41. Die ‚ATA‘

42. Der Schutz

43. Die Sonderbehandlung

44. Die Nachhilfe

45. Die Zeugnisnoten

46. Das lebendige Netz

0. Fünfzig Jahre zuvor

Das hübsche Mädchen mit den braunen, schulterlangen Locken war gerade mit der Reparatur an der Wand fertig, als plötzlich ein anderes Mädchen vor ihr stand. Sie war ungefähr in ihrem Alter, hatte aber glatte, schwarze Haare, die zu einem kinnlangen Pagenschnitt geschnitten waren.

„Was machst Du denn schon hier, bist Du etwa fertig?", fragte das Mädchen mit den Locken überrascht.

Die Schwarzhaarige stemmte die Hände in die Hüften. „Oh ja, und mit Dir bin ich auch gleich fertig“, zischte sie wütend, „und diesmal gründlich!" Der Lockenkopf schaute sie verwirrt an, sie verstand gar nichts.

Dann ging alles blitzschnell. Die Schwarzhaarige hatte plötzlich ein Kabel in der Hand und warf es auf das andere Mädchen, wo es sich um den Hals legte und sofort verschloss. Die Angegriffene schrie auf und versuchte panisch, das immer enger werdende Kabel von ihrem Hals zu lösen. Die Schwarzhaarige beobachtete sie triumphierend und sah ungerührt zu, wie ihr das Kabel langsam die Luft abschnitt.

„Nox!“, röchelte die Erstickende mit letzter Kraft. Wie aus dem nichts tauchte plötzlich ein kleines Eichhörnchen auf, sprang ihren Arm hoch und biss das Kabel durch. Dann blieb es auf der Schulter des Mädchens, das gierig nach Luft rang, sitzen und fixierte die Angreiferin, die wütend aufschrie.

„Was ist los mit Dir, spinnst Du?", keuchte der braune Lockenkopf.

„Hier gibt‘s nur eine, die spinnt“, erwiderte die andere erzürnt, „und das bist Du, wenn Du meinst, Du könntest meinem Bruder die Karriere zerstören!" Funken zuckten an den Wänden entlang.

„Ach, hör doch auf“, antwortete das Mädchen mit dem Eichhörnchen, während sie sich den schmerzenden, roten Striemen am Hals rieb, „ich habe Dir schon x-mal gesagt, ich habe kein Interesse an ...", doch die andere unterbrach sie, bebend vor Wut:

„Nein, Du lügst, Ele - Johannes hat mir alles erzählt."

Erschrocken schaute Ele sie an. „Was hat Dir Hannes über mich und Deinen Bruder erzählt?"

„Die Wahrheit!“, schrie die Schwarzhaarige aufgebracht, „Du hast es ihm selbst gesagt, dass Du meinen Bruder liebst!",

„Hannes würde nie ...", erwiderte Ele verblüfft, doch das hysterische Lachen der Schwarzhaarigen schnitt ihr das Wort ab.

„Was würde Dein allerbester Freund nie? Hast Du wirklich nicht gemerkt, dass Johannes sich in Dich verliebt hat?“

Ele schüttelte ungläubig den Kopf. Verwirrt nahm sie das Eichhörnchen von ihrer Schulter und steckte es unter ihren Pullover. Wieder zuckten Funken an den Wänden entlang, einer der Blitze schlug gefährlich nahe bei ihr in den Boden ein.

„Hör mal, Liz, wir haben nicht mehr viel Zeit, lass uns das draußen ...", begann sie, doch die Schwarzhaarige ließ sie nicht ausreden: „Du verdrehst meinem Bruder nicht mehr den Kopf, dafür sorge ich nun endgültig. Das erste Mal haben sie Dich ja leider wiedergefunden."

Ele riss die Augen auf. „Du warst das? Du hast mir damals die Hände auseinander gerissen, sodass ich nicht zurückkonnte?"

Doch Liz erwiderte darauf nichts, sondern sah sie nur hasserfüllt an, während sie eine Hand in das Kabelgewirr in der Wand steckte und mit tiefer, drohender Stimme sagte: „Du sitzt in einem Boot, weit draußen auf dem Meer. Eine große Welle bringt Dein Boot zum Kentern, und Du stürzt in die tiefe See. Du wirst hinabgerissen in das kalte, dunkle Wasser, immer tiefer zieht es Dich hinunter ..."

Aus den Funken wurden augenblicklich Flammen, die durch die Gänge züngelten, immer mehr Blitze ließen die Wände bedrohlich aufleuchten.

„Nein, Liz, tu das nicht!", schrie Ele entsetzt. Doch Liz ignorierte sie, während sie genüsslich die schreckliche Szene eines Ertrinkenden mit gruseligen Details ausschmückte.

Plötzlich wackelte der Boden unter den Mädchen. Ele verlor den Halt und stürzte. Panisch sah sie sich nach dem Notausgang um, doch der war durch die Blitze schon stark beschädigt. „Los, komm, wir müssen hier raus!", rief sie Liz zu und robbte in Richtung Ausgang.

Kurz vor dem rettenden Ausgang ertönte ein fürchterlicher Schrei, der sie herumfahren ließ. Sie sah ein langes Kabel von der Decke hängen, an dessen Ende gleißend weiße Funken sprühten. Das Kabel musste die wütende Liz getroffen haben, denn sie war weit in den Gang zurückgeschleudert worden, wo sie regungslos lag.

„Oh nein!" brüllte Ele geschockt und kroch zurück zu der Bewusstlosen, um die Blitze und Funken zuckten.

Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein großer Mann mit grauen Haaren neben ihr und riss sie auf die Füße. „Los, sofort raus hier!“

„Nein“, Ele wehrte sich mit allen Kräften, „dort hinten liegt noch Liz!“

Doch der hochgewachsene Mann zerrte sie unerbittlich zu dem mittlerweile fast völlig zerstörten Notausgang. „Unmöglich, jede Sekunde kann der Rückweg für immer versperrt sein", rief er und schubste sie entschlossen durch den Ausgang.

„Hey, Ele, ich bin's, mach' die Augen auf."

Ihr wurde warm ums Herz, als sie seine Stimme vernahm. Sie öffnete die Augen - und blinzelte überrascht in sorgenvolle Gesichter. Mehrere Lehrer standen um sie herum und starrten sie von oben herab an. Ein hübscher junger Mann mit pechschwarzen Haaren kniete vor ihr und hielt fürsorglich ihre Hand. „Geht es Dir gut?"

Eles Augen füllten sich mit Tränen, als ihr die schreckliche Situation bewusst wurde. „Deine Schwester“, begann sie stockend, „sie war plötzlich da und ...", doch sie konnte nicht weitersprechen.

Das Gesicht des jungen Mannes wurde starr vor Schreck. „Was? Was ist mit Liz?" Er ließ ihre Hand los und wandte seinen Blick zu einem der Lehrer, die über ihm standen.

Der große Mann mit den grauen Haaren, der Ele in letzter Sekunde gerettet hatte, senkte den Blick und schüttelte den Kopf.

Das braungelockte Mädchen fing an zu weinen. „Liz war plötzlich da“, schluchzte sie, „und dann beschwor sie einen Alptraum und wurde von einem funkensprühenden Kabel getroffen.“

Der junge Mann schüttelte ungläubig den Kopf. „Warum sollte sie sowas Irres tun?“

Ele sah, dass er an ihren Worten zweifelte. Sie fühlte einen Stich in ihrem Herzen. „Hannes hat ihr von uns erzählt“, erklärte sie mit zittriger Stimme, „und sie wollte unsere Liebe unbedingt verhindern. Sie war es auch, die mir damals die Hände auseinandergerissen hatte, damit ich nicht zurückkomme.“

Wütend sprang der junge Mann auf seine Füße. „Das würde sie niemals tun, was redest Du da!“

Ele wollte vom Sofa aufstehen, aber ihr wurde sofort schwindelig. Flehend schaute sie ihn an: „Du musst mir glauben, ohne Nox hätte sie mich umgebracht!“

Sein Blick traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Diese hasserfüllten Augen hatte sie heute schon einmal gesehen.

„Nein, niemals“, sagte er kalt, „das würde Liz nie tun. Wenn ihr etwas zugestoßen ist, dann ist das allein Deine Schuld.“

„Ich fürchte, Eleonore", ergriff der große, grauhaarige Mann nun das Wort und sah das verstörte Mädchen mit ernster Miene an, „Du musst umgehend zu Professor Mossau und ihm Bericht erstatten."

1. Die Macht der Träume

Seit Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt die Neurobiologen, was beim Träumen im Körper passiert. Ein gigantisches Feuerwerk von elektrischen Nervenimpulsen wird im Stammhirn gezündet und scheinbar wahllos und chaotisch in alle Gehirnregionen geschossen. Jeder Mensch – sogar jedes Säugetier - träumt vier bis sechs Träume pro Nacht, die zeitlich präzise strukturiert sind.

In diesen Traumphasen sind schnelle Augenbewegungen, sogenannte „Rapid Eye Movements“ (REM), zu erkennen. 90 Minuten nach dem Einschlafen beginnt die erste REM-Phase. Alle weiteren Traumphasen, die jedes Mal länger werden, kommen im Abstand von 90 Minuten – so regelmäßig wie ein Uhrwerk! Die Traumphase zwischen den Tiefschlaf-Phasen dauert jeweils 10-20 Minuten. Pro Nacht sind es gut zwei Stunden, die wir träumen - das macht sechs Jahre unseres Lebens aus!

Der ‚Stoff‘, aus dem die Träume sind, nennt die Wissenschaft den Neurotransmitter Acetylcholin. Dieser Botenstoff wird während jeder Traumphase massiv im Gehirn ausgeschüttet. In den REM-Phasen ist das Gehirn nachweislich sehr leistungsstark. Die Großhirnrinde, die für das Sehen zuständig ist, ist dabei fast genauso aktiv wie im Wachzustand. Daher werden Träume vor allem bildlich wahrgenommen. Und die Amygdala - zuständig für die Verarbeitung von Emotionen - ist während der Traumphasen sogar aktiver als im Wachzustand.

Andere Gehirnregionen, die beispielsweise für das Schmecken, Riechen oder die Schmerzempfindung zuständig sind, werden in den Traumphasen kaum einbezogen. Die für Gedächtnisinhalte und deren Speicherung verantwortlichen Hirnbereiche sind während der Traumphasen sogar ausgeschaltet. Um Erinnerungen abzuspeichern, muss das Gehirn mindestens drei Minuten wach sein.

Erklärt das, warum manche Menschen glauben, sie träumten kaum oder gar nicht? Menschen mit leichtem Schlaf können sich besser an ihre Träume erinnern als diejenigen mit festem Schlaf. 80% erinnern sich jedoch an ihre Träume.

Der Traum ist ein bis heute nicht eindeutig erklärtes Phänomen. Träume haben eine wichtige Funktion für Menschen, darin sind sich die Wissenschaftler einig. Die Meinungen darüber gehen jedoch stark auseinander.

Metaphysiker, also Wissenschaftler, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende und die Zusammenhänge des Seins erforschen, vertreten die Ansicht, dass dem menschlichen Traum der Glaube an die Seele und den Geist zugrunde liegt. Dieser Glaube findet sich interessanterweise in fast jeder Religion und Zivilisation.

In frühen Zeiten wurden Träume für prophetische Botschaften gehalten. Sie sollten den Menschen von göttlichen Wesen geschickt worden sein, um das Schicksal der Welt positiv zu beeinflussen. Oder sie kamen von Dämonen, die das Verderben der Menschheit als Ziel hatten.

In unserer modernen Zeit sind Träume nicht mehr Botschaften einer spirituellen Macht, sondern Botschaften des Inneren, also des Unterbewusstseins. Das Gehirn entwirrt so die Ereignisse des Tages, löst Probleme und weist in schwierigen Situationen die Richtung. Im Schlaf kann der Geist – ohne Störung von äußeren Einflüssen - die Erlebnisse des Tages sortieren und bewerten. Das Gehirn mischt neue Informationen mit den alten. Statistiken belegen, dass 70% aller Träume Alltagssituationen behandeln.

Die neueste wissenschaftliche Erkenntnis besagt: Unser Gedächtnis trainiert nachts. Träume sind biologisch-funktionale Vorgänge im Gehirn, die für die kognitive Entwicklung unverzichtbar sind. Träume aktivieren gezielt Nervenverbindungen und starten ‚Programme‘, die neue Sinneseindrücke festigen und die Entwicklung des Gehirns vorantreiben. Dieser Ansatz wäre eine logische Erklärung dafür, warum gerade Babys viel häufiger und länger träumen als Erwachsene. Der Traum ist demnach ein Prozess, der das Gehirn reifen lässt.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit.

2. Der Tag der Entscheidung

Jo wachte früher als gewöhnlich auf, denn sie war sehr aufgeregt. Heute würden die Abschluss-Zeugnisse der 5. Klasse und die Empfehlung der Lehrer bekannt gegeben, welche weiterführende Schule sie besuchen durfte. Schon bei dem Gedanken schnellte ihr Puls nach oben. Sie hielt die Augen fest geschlossen und wünschte sich mit aller Kraft, dass ihr Wunsch in Erfüllung ginge: Sie träumte schon lange und intensiv von einer Schule, die alles andere als normal war!

Über dem großen, schmiedeeisernen Eingangstor prangte der Name der Schule: SOMNIUM. Davon hatte Jo zuvor noch nie gehört. Die Lehrer trugen lange, grelle Umhänge. Die Bibliothek und Lernräume waren riesig und funkelten grell, bis sie explodierten. Davon wachte sie meistens auf.

Ein andermal träumte Jo von bodenlosen Klassenzimmer, in denen sie fiel und fiel und fiel, bis sie schweißnass erwachte. Trotz – oder gerade wegen? - dieser Träume wollte sie genau in so eine verrückte Schule gehen.

Jo öffnete die Augen, sprang aus dem Bett und rannte im Pyjama in die Küche, wo ihre Mutter bereits das Frühstück zubereitete. „Mom, Mom, heute ist es endlich soweit, ich bin so aufgeregt!“ rief sie schon im Flur.

„Ach was“, lächelte ihre Mutter sie an, als Jo im Türrahmen erschien, „das wäre mir gar nicht aufgefallen. Komm, setz Dich und trink was. Der Tee ist schon fertig.“

Jo setzte sich an den großen Tisch, goss sich den wohlriechenden Tee in eine große Tasse und kühlte ihn mit kaltem Apfelsaft, um sich beim Trinken nicht die Lippen zu verbrühen.

„Ich hatte wieder diesen verrückten Traum, Mom“, murmelte sie, während sie in die immer noch dampfende Tasse blies.

„Wie schön, hast Du ihn schon aufgeschrieben? Oder willst Du ihn mir erzählen?“ fragte ihre Mutter, während sie Obst ins Müsli schnitt.

„Den hab ich schon 100 Mal geträumt und bestimmt zehn Mal aufgeschrieben oder erzählt“, ereiferte Jo sich, „und ich habe wieder ganz deutlich den Namen Somnium gelesen. Meinst Du, er geht in Erfüllung und ich komme in eine Schule, in der ganz verrückte Dinge unterrichtet werden?“

Ihre Mutter wischte sich die Finger am Küchentuch ab und kam zu ihr an den Tisch. Sie nahm den Kopf ihrer einzigen Tochter in die Hände und strich ihr die wild abstehenden, lockig-braunen Haare hinter die Ohren. Jo mochte das nicht, aber sie war viel zu aufgeregt, um sich dagegen zu wehren.

„Josefine Bäcker, ich liebe Dich nun seit 13 und kenne Dich seit 12 Jahren. Ich glaube, sogar ziemlich gut. Und verrückt würde gut zu Dir passen!“ Sie lächelte und küsste Jo zärtlich auf die Nase.

„Doch einzig und allein Deine Lehrer entscheiden heute - aufgrund Deiner Begabungen und Leidenschaften - für welches Gymnasium Du Dich eignest. Du weißt, das geht weit über Deine Noten hinaus, darin haben sie viele Jahre Erfahrung. Sie machen sich die Entscheidung sicher nicht leicht. Denn schließlich beeinflussen sie erheblich, ob Du später in Deinem Leben Spaß an dem hast, was Du machst. Das traf bei Deinem Vater und bei mir zu, und bei Deinen beiden großen Brüdern sieht es auch so aus, als hätten sie ihre Bestimmung gefunden.“

Das wusste Jo alles, denn sie hatte alle schon oft befragt, wie es bei ihnen damals - am Ende der 5. Klasse - gewesen war. Nur die Lehrer kannten das Auswahlverfahren, denn die Kriterien für die Empfehlung auf ein bestimmtes Gymnasium waren streng geheim. Die Eltern konnten der einmal getroffenen Entscheidung nicht widersprechen. Jeder Schüler musste das empfohlene Gymnasium für mindestens ein Jahr besuchen. Blieb der Wunsch des Schülers – wohlgemerkt nicht der der Eltern - nach einem Wechsel bestehen, musste er diesen schriftlich begründen und vor einem Gremium vertreten. Dieses setzte sich sowohl aus zwei Lehrern der neuen Schule als auch aus zwei Lehrern seiner Primus-Schule zusammen, die der Schüler selbst bestimmen durfte.

Aus den letzten zwanzig Jahren waren nur zwei solcher Fälle bekannt. Bei beiden kam am Ende heraus, dass es die Eltern waren, die etwas anderes für ihr Kind erwartet hatten. Letztendlich fühlten sich die Schüler im empfohlenen Gymnasium richtig aufgehoben und blieben dort bis zu ihrem Abschlussexamen.

Jos Vater war auf das Scienta-Gymnasium gegangen. Dort wurden seine naturwissenschaftlichen Begabungen gefördert, was ihn zu einem erfolgreichen Physiker machte.

Ihre Mutter wurde eine angesehene Malerin, nachdem sie das Artificium-Gymnasium abgeschlossen und Kunst studiert hatte.

Jos ältester Bruder Fredrik beendete gerade sein Abschlussjahr im Scienta-Gymnasium und hatte bereits einen Studienplatz für Physik und Chemie - zur Freude des Vaters sogar auf derselben Universität, auf der er selbst seinen Doktor der Physik gemacht hatte.

Christian, der zweitälteste der fünf Bäcker-Kinder, ging auf das Lingua-Gymnasium. Er sprach bereits drei Fremdsprachen fließend, zwei weitere würden noch bis zum Abitur hinzukommen.

Für Jo kamen all diese Schulen nicht in Frage. Sie konnte weder malen, noch lagen ihr Chemie oder Physik, und Fremdsprachen schon gar nicht.

„Ich weiß, Mom, aber ...“, wollte Jo protestieren, doch ihre Mutter unterbrach sie:

„Jo, wäre Geduld eine Voraussetzung für die weiterführende Schule, dann müssten wir Dich wohl ab morgen hier zuhause unterrichten!“ Sie gab ihr einen Stups auf die Nase und widmete sich wieder der Müslischüssel, worin schon frische Milch, Joghurt und Tannenhonig mit den Cerealien vermischt waren.

„Sehr witzig!“, grummelte Jo, als sie ihren Vater hereinkommen sah.

„Paps, was denkst Du, wie heute meine Lehrer entscheiden?“ Er setzte sich an den Tisch, strubbelte durch ihre schulterlangen Haare – was Jo auch nicht mochte – und schenkte sich Kaffee ein.

„Nun, lass mich mal nachdenken.“ Er trank einen Schluck und schaute sie amüsiert an. „Dass sie Dich auf das Artificium für Kunst- und Handwerksarbeiten empfehlen, kann ich mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen.“ Er stellte seine Kaffeetasse ab und betrachtete seine Handflächen. „Die Verbrennungen von Deinen selbst gehäkelten, erbsengroßen Topflappen, die wir aus Liebe zu Dir benutzt haben, sind immer noch zu sehen.“

Jo musste kichern, die Topflappen waren ihr wirklich vollkommen misslungen. Sie hatte das Schulfach ‚Kunst-Werken‘ gehasst, doch sie konnte es zum Glück nach den ersten beiden Schuljahren abwählen.

Als sie gerade weiterbohren wollte, trudelten ihre vier Geschwister in der Küche ein und nahmen an dem großen Esstisch Platz. Mutter stellte die große Schüssel Müsli auf den Tisch und half den sechsjährigen Zwillingen, sich Tee und Müsli zu nehmen.

„Jo“, begann Ted, einer ihrer jüngeren Brüder, „Deine Gutenacht-Geschichte gestern Abend war mega-cool, erzählst Du uns heute Abend, wie es weitergeht?“ Die Augen des Sechsjährigen leuchteten.

„Au ja, bitte!“ nuschelte sein Zwillingsbruder Tim, während er das Müsli verschlang.

„Jo“, ihre Mutter schaute sie argwöhnisch an, „war das wieder eine Deiner selbstausgedachten Gruselgeschichten?“

Schnell widmete Jo sich intensiv ihrem Müsli und stupste ihre Brüder unter dem Tisch an die Schienbeine. Die beiden verstanden sofort und blickten ebenfalls in ihre Schüsseln.

„Du weißt, was Gute-Nacht-Geschichten bewirken sollen?“, fuhr ihre Mutter unbeirrt fort, „Dass man ruhig und zufrieden einschläft - und nicht aus Angst vor bösen Monstern und Kriegern kein Auge zukriegt!“

Jos Vater und Brüder grinsten, und Fredrik meinte: „Aber Mom, Männer haben doch keine Angst vor Monstern und Kriegern!“

„Hey“, protestierte Jo, „ich hab‘ davor auch keine Angst!“

3. Die Empfehlung

Nervös wippte Jo auf ihrem Swopper-Stuhl, sie konnte kaum mehr still sitzen. Sie hörte den nicht enden wollenden Vorträgen der Lehrer ihrer Primus-Schule gar nicht mehr zu. Noch zwei Lehrer, die noch nicht geredet hatten, dann erst würde die Direktorin die Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse einzeln nennen. Dann konnten sie endlich nach vorne treten und ihr Zeugnis entgegennehmen, auf dem auch die Empfehlung der zukünftigen Schule stand.

Heute mochte sie ihren Nachnamen, denn Bäcker war alphabetisch der dritte der Klasse 5a, der aufgerufen wurde. Im Sportunterricht oder bei Tests hatte sie ihren Nachnamen immer verflucht. Denn da hatten die Lehrer oft gerufen: „Die ersten Drei im Alphabet nach vorne!“ Doch heute wollte sie am liebsten noch mit Clara Abs und Peter Bach tauschen, die ebenfalls vor Anspannung wippten. Sie drehte sich zu ihrer besten Freundin Lisa um, die in der Reihe hinter ihr saß. Lisa lächelte ihr zu und hielt beide Hände hoch, um Jo zu zeigen, dass sie ihr die Daumen drückte.

Ihnen war schon eine Weile klar, dass sie wohl nicht in die gleiche weiterführende Schule kamen. Ihre Neigungen und Begabungen gingen weit auseinander. Lisas Topflappen waren sicher heute noch bei Ihrer Verwandtschaft im Einsatz. Sie hatte gleich vier Paar gehäkelt, während Jo an ihren erbsengroßen Topflappen schwer zu kämpfen hatte. Lisa liebte es zu malen und zu basteln. Ihre Lampions für die Feier des ersten Vollmonds im Neuen Jahr bekamen immer den 1. Preis. Jo lächelte und winkte zurück. Sie würde Lisa sehr vermissen.

Plötzlich bemerkte sie, dass die Schuldirektorin, Doris Schwarpen, bereits das Wort ergriffen hatte. „Liebe Kinder, liebe Eltern, heute ist ein bedeutender Tag für Euch!“ Sie blickte die Abschlussklassen 5a bis 5j, in denen jeweils 15 Schüler waren, liebevoll an.

„Ihr seid uns alle ans Herz gewachsen. In den letzten fünf Jahren wurdet Ihr von acht Lehrern begleitet, die Euch in jeweils zwei Fächern betreuten. Ich konnte Euch in Euren wunderbaren Theaterstücken, Musicals, Lesungen oder Konzerten erleben, die mir ewig in Erinnerung bleiben werden.“

Jo musste grinsen, sie konnte sich gut an das entsetzte Gesicht ihrer Direktorin erinnern, als sie in ihrer letzten Lesung eins ihrer selbstgeschriebenen Geschichten vorgelesen bzw. vorgespielt hatte. Schwarpen war in dieser Hinsicht genau wie ihre Mutter, sie fand ihre Erzählungen zu gruselig und zu aufregend. Aber das störte Jo nicht wirklich, solange sie ihre Brüder und die meisten Schüler und Lehrer damit begeistern konnte.

„… unsere Entscheidung nicht leicht gemacht“, fuhr die Direktorin fort, „beeinflusst sie doch ganz erheblich, welchen Beruf ihr später wählen werdet, der Euch erfüllen und glücklich machen soll.“

Moment, das habe ich doch schon mal gehört, dachte Jo und drehte sich zu ihrer Mutter und ihrem Vater um, die mit den anderen Eltern und Angehörigen in der großen Aula weiter hinten, auf den harten Bänken, saßen. Die großen, bodentiefen Fenster an der rechten Seite ließen die Sonne den Raum durchfluten und verliehen der Zeremonie einen würdevollen Glanz.

Ihre Mutter winkte ihr aufmunternd zu, während ihr Vater sie mit einer Geste ermahnte, wieder nach vorne zu schauen. Sie schnitt ihm eine Grimasse und drehte sich wieder zur Bühne. Gleich weiß ich, dachte Jo aufgeregt, wie mein Leben von nun an weitergeht.

„Ich beginne heute von hinten, mit der Klasse 5j, der ich vor langer Zeit selbst angehörte“, lächelte Schwarpen in die Menge. Ein Raunen ging durch die Reihen, wahrscheinlich von den Schülern der 5j, die nun schneller als erwartet das Zeugnis erhielten. Jo stöhnte. Wieder warten. Wie lange wird das nun dauern? überlegte sie genervt.

Die Direktorin begann, immer drei Schüler auf die Bühne zu rufen. Dann ließ sie sich von der neben ihr stehenden Schulsekretärin Frau Rottenmeier das jeweilige Zeugnis aushändigen. Sie wiederholte den Namen des Schülers, schüttelte dessen Hand und überreichte das Zeugnis. Die Mädchen machten einen Knicks, die Jungen einen Diener und gingen, nachdem sie sich brav bedankt hatten, wieder von der Bühne.

Die Schüler waren in den letzten Tagen immer wieder von ihren Lehrern angehalten worden, nach Erhalt des Zeugnisses nicht gleich zu den Eltern zu rennen oder lauthals über ihre zukünftige Schule zu reden, sondern sich wieder ruhig auf den Platz zu begeben, damit auch die nachfolgenden Schüler eine würdige Zeremonie erhielten.

Jo sah auf die Uhr. Zwischen einer und zwei Minuten dauerte die Übergabe an drei Schüler, je nachdem, wie schnell diese nach vorne gingen. Sie biss sich auf die Unterlippe und verwünschte jeden ihrer Mitschüler, der ihrer Meinung nach nicht schnell genug auf die Bühne lief.

Der Geräuschpegel stieg nun doch an, sodass sich Schwarpen vor Aufruf der Namen aus Klasse 5h gemüßigt fühlte, mit der Zeremonie inne zu halten und die Schüler um Ruhe zu bitten. Die Lehrer in der ersten Reihe standen auf und stellten sich an die beiden Seiten der Aula, um der Bitte nach Ruhe mehr Nachdruck zu verleihen, was augenblicklich funktionierte.

Jo spürte, wie sie ein Blick förmlich durchbohrte. Sie drehte sich nach rechts und blickte zur Fensterfront. Konrad Korten, der sie die letzten Jahre in Geschichte und Dramaturgie unterrichtet hatte, schaute sie mit seinen verschmitzten, schelmischen Augen an und zwinkerte ihr zu. Jo lächelte zurück und drehte sich wieder nach vorne.

Oh, wie würde sie den Unterricht ihres Lieblingslehrers vermissen, seine lebhaften Erzählungen über Menschen und Ereignisse, die ihre Welt und ihre Kultur geprägt hatten. Er war es, der sie motiviert und angeleitet hatte, ihre Geschichten - mit denen sie ursprünglich nur ihre kleinen Brüder gruseln wollte - aufzuschreiben. Er gab ihr den Tipp, ihnen einen dramaturgischen Spannungsbogen zu geben und sie ihren Mitschülern vorzutragen. Ohne ihn hätte sie nie gewusst, wie schön es war, in anfangs nur wenige, später in über 100 Gesichter zu blicken, die sie mit ihren Erzählungen fesseln und begeistern konnte.

Clara Abs stand auf und zischte ihr zu: „Wir sind dran!“ Jo hatte genau gehört, wie die Direktorin ihre Namen aufgerufen hatte, wollte nun aber nicht den Anschein erwecken, es eilig zu haben. Sie holte tief Luft, stand auf, strich ihren neuen Blazer glatt, den sie mit ihrer Mutter extra für den heutigen Tag gekauft hatte, und folgte Clara und Peter auf die Bühne.

Während Schwarpen ihren beiden Mitschülern die Hand schüttelte und das Zeugnis überreichte, suchte Jo Blickkontakt zu ihren Eltern. Ihr Vater hob die Hand und nickte ihr aufmunternd zu. Ihre Mutter war sichtlich angespannt, denn sie saß kerzengerade auf der Kante der Sitzbank und hielt ihre Hände - die Daumen fest umschlossen - vor den Mund.

„Josefine Bäcker“, begrüßte sie die Direktorin und streckte ihr die Hand entgegen. „Ich beglückwünsche Dich zu Deinem Abschluss der Primus Schule“, fuhr sie fort, während sie ihre Hand schüttelte.

„Vielen Dank, Frau Schwarpen“, erwiderte Jo artig und machte einen Knicks.

„Hier ist Dein Zeugnis mit der Empfehlung auf …“, sie hielt kurz inne und zog die Augenbrauen leicht hoch, als sie auf das Dokument schaute, “… mit der Empfehlung für Dein zukünftiges Gymnasium. Ich wünsche Dir alles Gute.“

Jo bedankte sich nochmal mit einem Knicks und nahm das Zeugnis entgegen. Sie widerstand dem Impuls, gleich darauf zu schauen, und ging von der Bühne runter zurück zu ihrem Platz.

Beim Vorbeigehen hörte sie, wie Clara ihrer Nachbarin stolz zuflüsterte, zukünftig auf das Lingua-Gymnasium zu gehen. Dann drehte sie sich zu Jo um und wiederholte den Satz in Französisch, bevor sie Jo nach ihrem Gymnasium fragte.

„Hoffentlich nicht aufs Lingua“, antwortet sie Clara, die sich daraufhin beleidigt abwandte.

Jo hatte ihr Zeugnis die ganze Zeit vor die Brust gepresst, was sie nun bemerkte. Sie hob es vorsichtig nach vorne. Ihre Noten waren ihr bekannt, trotzdem las sie das Dokument von oben nach unten, bis sie zu der Empfehlung kam: Humanistica Gymnasium.

Jo schwirrten tausend Gedanken durch den Kopf. Was war das für eine Schule? Hatte sie von der schon mal gehört? Zumindest kannte sie keinen, der dorthin empfohlen worden war. Humanistica – was könnte das für einen Schwerpunkt haben? Menschlich zu sein?

Sie kramte in ihrem Gedächtnis. In Geschichte bei Korten hatten sie den Humanismus als Bildungsbewegung im 14. Jahrhundert durchgenommen, worin der einzelne Mensch in den Vordergrund gestellt wird. Jeder solle frei sein und seine Entscheidung nach seinem eigenen Gewissen treffen, erinnerte sie sich. War das ihre besondere Begabung?

Verwirrt und enttäuscht blickte sie rüber zu Korten. Der ermahnte aber gerade zwei Schüler, ruhig zu bleiben, bis die letzten Absolventen ihre Zeugnisse hatten.

Auf der Bühne gratulierte die Direktorin soeben Lisa Schmitz, die ihr Zeugnis mit einem tiefen Knicks entgegennahm. Mit roten Backen ging sie von der Bühne und lief extra einen Umweg, um ihrer besten Freundin Jo freudestrahlend zu verkünden, dass sie – wie erwartet - an das Artificium empfohlen worden war. „Und Du?“ fragt Lisa erwartungsvoll.

„Aufs Animal“, murmelte Jo verdrossen. Bevor Lisa nachhaken konnte, wurde sie von Schwarpen unterbrochen, die nun alle aufforderte, nochmal Platz zu nehmen, um sich - die Zeremonie beendend - bei allen Kindern und Eltern, auch im Namen aller Lehrer der Primus-Schule, zu verabschieden.

Kurz darauf – nach zwei endlos scheinenden Stunden Stillsitzen - brach der Tumult los. Alle riefen durcheinander, die Eltern bahnten sich ihren Weg durch tanzende oder rangelnde Schüler, während die Lehrer die verglasten Türen öffneten, die zum Garten der Schule führten. Auf der Terrasse wurden Getränke und kleine Snacks gereicht. Jo erblickte ihre Eltern, die bereits draußen standen und sie in der herausströmenden Schülermenge suchten.

Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um. Korten beugte sich zu ihr und flüsterte ihr mit seiner tiefen und warmen Stimme zu: „Josefine, Du hast Begabungen, die nicht jeder hat, nutze sie und vertraue ihnen. Du bist etwas ganz besonderes, denke immer daran!“ Jo war wie vom Donner gerührt.

„Und was immer Du über Dein Gymnasium erzählt bekommst“, Korten hielt inne und lächelte, „glaube kein Wort!“ Dann schob er die verdutzte Jo in Richtung Terrasse zu ihren Eltern.

„Mom, Dad, Ihr erdrückt mich ja!“ Jo löste sich aus der Umarmung ihrer Eltern, die ihre Tochter stolz anblickten. „Und ich gehe nicht gleich auf die neue Schule, erst kommen vier Wochen Sommerferien, Ihr erinnert Euch?“

Ihr Vater rollte theatralisch mit den Augen. „Oh nein, die hatten uns doch versprochen ...!“

Jos Mutter boxte ihn in die Seite und fragte ihre Tochter gespannt: “Na, Schatz, wo stecken sie Dich hin?“

Jo griff sich zuerst die Limo, die ihr Vater schon für sie bereithielt, und trank sie mit einem Zug leer.

„Jo, da bist Du ja, ich hab Dich schon überall gesucht!“, rief Lisa und zerrte ihre Eltern in Jos Richtung. Die Erwachsenen schüttelten sich die Hände, während Lisa Jos Eltern stolz ihr Gymnasium nannte.

„Und nun sag schon, Jo: wo kommst Du hin?“, forderte Lisa ihre Freundin auf, „Animal war doch ein Witz, oder?!“

Jos Vater verschluckte sich an seinem Sekt, während ihre Mutter trocken meinte: „Warum nicht, wenn sie mit den Sprachen zurechtkommt.“

Lisa und ihre Eltern schauten sie verwirrt an, es herrschte für einen Moment peinliche Stille.

„Ähem.“ Neben Jo räusperte sich ein Junge, den sie nur vom Sehen kannte, da er in einer der Parallelklassen gegangen war. Er konnte sehr gut Klavier spielen, erinnerte Jo sich.

„Du bist doch Josefine Bäcker, nicht wahr?“, fragte er, und als Jo irritiert nickte, sagte er freudestrahlend: „Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Felix Rosenberg, und ich bin auch auf das Humanistica Gymnasium empfohlen worden.“

Toll, dachte Jo sauer, während Felix den Eltern von Jo und Lisa die Hand schüttelte, danke, Du Schleimer, dass Du mir meine Szene vermasselst hast.

„Wir beide sind die einzigen hier an der Schule, hat mir Frau Schwarpen verraten“, ergänzte Felix stolz.

„Ja gratuliere, meine Große“, sagte Jos Vater und hielt sich gerade noch zurück, ihr die Haare zu verstrubbeln, „das gab’s in unserer Familie schon lange nicht mehr!“

Felix strahlte: „Also ich bin meines Wissens der erste, der ...“

„… und deshalb solltest Du das jetzt auch unbedingt mit Deiner Familie feiern!“, unterbrach Jo und schob ihn grob beiseite.

Sie sah ihre Eltern verdutzt an: „Wer war in unserer Familie schon auf diesem … diesem Humus Gymnasium?“ Lisa kicherte.

„Deine Großmutter, Jo“, klärte sie ihr Vater auf, „mütterlicherseits, natürlich!“, schob er grinsend nach und zwinkerte seiner Frau zu.

Diese trank ihr Glas Sekt in einem Zug aus, schnappte sich dann das ihres Mannes und leerte es ebenso schnell. Lisas Eltern umgriffen ihre Gläser fester und verabschiedeten sich höflich, aber hastig. Lisa machte Jo ein ‚Ich rufe Dich an‘-Zeichen und verschwand - einen erstaunten Felix hinter sich herziehend - in der Menge.

Als Jos Mutter sich nach weiterem Sekt umschaute, schob Hans Bäcker seine Frau und seine Tochter in Richtung Ausgang.

4. Die lange Wartezeit

„Mom, wie soll ich das alles schleppen? Glaubst Du, ich habe dort einen begehbaren Kleiderschrank oder wo soll ich das alles hin räumen? Ich bin doch nur fünf Monate weg!“

Jo stöhnte, aber ihre Mutter blieb unerbittlich. „Solange wir noch nicht wissen, was Du dort brauchst, musst Du für alles gerüstet sein.“ Sie legte sich auf den ersten Koffer und kämpfte um jeden Zentimeter, bis der Reißverschluss endlich zu war.

„Ja, stell‘ Dir vor, Du trittst jeden Tag in Humus“, kicherte Ted, der den Spitznamen von Jos Gymnasium liebte. „Dann brauchst Du viele Schuhe und Socken zum Wechseln“, ergänzte Tim. Das Kissen, das Jo nach ihren Zwillingsbrüdern warf, verfehlte sein Ziel nur um Haaresbreite.

„Wäre Deine Schule nicht so weit weg, könnten wir Dir viel einfacher was vorbeibringen“, sagte ihre Mutter entschuldigend und legte sich auf den zweiten Koffer, dessen Reißverschluss auch nur mit Mühe zuging.

„Ich hab‘ die Regel nicht gemacht, dass Ihr mich nicht begleiten dürft.“ Jo war schlechtgelaunt. „Ich würde auch lieber von Euch gefahren werden, als mit den fetten Koffern in den Flieger zu steigen.“

„Wenn der überhaupt abhebt mit Deinen schweren Koffern“, stichelte Ted. „Oder lange oben bleibt“, fügte Tim hinzu und wich geschickt dem Kissen aus, das Jo erneut nach ihm schmiss.

„So, nun ist mal Schluss mit der Stänkerei, Ihr zwei“, mahnte Ellen Bäcker, bevor sie die großen Koffer aus dem Zimmer rollte, „sonst lese ich ab morgen nur grottenlangweilige Gute-Nacht-Geschichten vor und keine Eurer Schwester!“

Das saß. Mit großem Geschrei schmissen sich die Zwillinge zu ihrer Schwester aufs Bett. „Das kannst Du uns nicht antun, Jo!“, flehte Ted und Tim schmollte: „Ich will keine Alpträume von Mamis Geschichten bekommen, nur von Deinen!“

Jo schlang ihre Arme um die beiden und flüsterte: „Ich hab‘ Euch neue Geschichten aufgenommen und zu den anderen in unser Geheimfach gelegt.“

Ihre kleinen Brüder strahlten sie um die Wette an. „Du bist die beste!“, hauchte Ted in ihr Ohr. „Die beste Schwester auf der ganzen Welt“, fügte Tim glücklich hinzu.

In dieser Nacht, der letzten vor der Abreise, hatte Jo das Gefühl, überhaupt nicht schlafen zu können. Sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und war noch vor Sonnenaufgang hellwach.

Sie freute sich, dass es endlich losging. Früher waren ihr die Sommerferien immer zu kurz gewesen, doch dieses Mal waren ihr die vier Wochen ewig lang vorgekommen. Lisa und sie waren wie jeden Sommer viel am nahegelegenen Badesee schwimmen gegangen. Während sie am Ufer lagen, hatten sie sich ausgemalt, wie es im Gymnasium wohl werden würde. Lisa musste nur 15 Minuten mit der Bahn fahren, um zu ihrer neuen Schule zu gelangen, worum Jo sie beneidete.

„Hey, dafür kannst Du morgens 15 Minuten länger schlafen“, war Lisas Gegenargument, „und wenn es mir im Arti nicht gefällt, dann stelle ich einen Antrag und komme einfach zu Dir, Jo!“

Seit dem Tag der Zeugnisübergabe und der Empfehlung auf das Humanistica Gymnasium geschah Jo allerhand Rätselhaftes. Da waren zunächst die Worte von ihrem Lieblingslehrer Korten, die sie mit Stolz erfüllten, aber auch verwirrten.

Warum soll ich nichts glauben, grübelte sie, was über das Humanistica erzählt wurde? Gut, es gab nicht viele, die dort gewesen waren und von ihren Erfahrungen hätten berichten können. Eigentlich kannte Jo nur eine, ihre Großmutter Eleonore, und die konnte sie leider nicht mehr befragen, weil sie schon lange tot war.

Verflixt, dachte Jo, warum weiß Mom so wenig über die Schulzeit ihrer Mutter? Warum hatte sie das Gymnasium nie erwähnt?

Gleich nach der Abschlussfeier in ihrer Primus-Schule, als Jo samt Eltern im Auto saß und heimfuhr, hatte sie sich nach vorne gebeugt und ihre Mutter gelöchert, mehr zu erzählen. „Jo, ich weiß nichts über das Humanistica Gymnasium, meine Mutter hat darüber nichts erzählt.“

Jo ließ nicht locker. „Aber Mom, irgendwas muss sie Dir doch erzählt haben! Du hast sie doch bestimmt auch befragt, als Du in der fünften Klasse warst!“

Doch ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Ja, ich habe sie gefragt, Jo. Und nein, sie hat mir nichts erzählt. Sie sagte, wenn ich auf das Humanistica gehen sollte, erzählt sie mir davon.“ Sie seufzte. „Aber wie Du weißt, wurde ich auf das Artificium empfohlen, und von da an interessierte ich mich nur noch dafür.“

Jo war noch nicht zufrieden. „Und Du, Paps, kennst Du jemand?“ Auch er schüttelte den Kopf, während er weiter nach vorne schaute und auf den Verkehr achtete, obwohl er das gar nicht musste. Er traue dem Autopiloten nicht, sagte er oft, obwohl es keinen Grund zur Sorge gab. Es geschahen nur noch Unfälle mit Oldtimer-Fahrzeugen, die nicht nachgerüstet waren.

„Vielleicht jemand auf Deiner Arbeit, Paps?“ Wieder verneinte er. „Nicht einen einzigen?“ Jo ließ sich auf die Rückbank zurücksinken, wo Brust- und Hüftgurt sie sofort wieder umschlangen.

„Ist das nun mein Schicksal?“ maulte Jo. „Mit diesem klimpernden Felix-Schleimer auf eine Schule zu kommen, von der niemand etwas weiß? Wo liegt die überhaupt?“

Das war der nächste Schock an diesem Tag. Denn als sie zuhause nachforschten, wie weit das nächste Humanistica Gymnasium entfernt lag, mussten sie feststellen, dass es nur eines gab. Und das war am anderen Ende der Erde, so kam es Jo zumindest vor.

Auch ihre Mutter sah nicht gerade glücklich aus. „Hans, heißt das, unsere Tochter muss dort auch über die Wochenenden wohnen und kann nur in den Ferien heimkommen?“ Ihr Mann nickte stumm.

„Das könnt ihr vergessen, da mache ich nicht mit!“ rief Jo entsetzt.

Ihre Mutter nahm sie in den Arm und drückte sie fest. „Sieh mal, Jo, Fredrik muss nun auch ...“, begann sie tröstend, doch Jo fiel ihr wütend ins Wort: „Aber er kann jedes Wochenende heimkommen!“

Ihr Vater nickte mitfühlend. „Das stimmt, seine Universität liegt nur zwei Bahnstunden weit entfernt. Aber wenn ich mich an meine Studienzeit erinnere, bin ich auch nicht jedes Wochenende nach Hause gefahren.“ Er zwinkerte seiner Frau verschmitzt zu.

Jo verdrehte genervt die Augen. „Ja, ja, ich weiß, Du bist irgendwann lieber zu Mom gefahren. Aber was soll ich denn die ganze Zeit dort machen – ohne Euch?“ Jo stiegen die Tränen in die Augen.

Ihre Mutter strich ihr die Haare hinter das Ohr und küsste sie auf die Schläfe. „Also wenn es eine 12jährige schafft, dann bist Du das, Jo!“ sagte sie sanft. Doch auch ihr lief eine Träne über die Wange.

„Hey, hört auf“, Hans Bäcker hob beide Hände, „das kann ich nicht mit ansehen, dass meine zwei Lieblingsfrauen weinen. Dann ziehen wir halt alle dort hin und ich werde Hausmeister und Gärtner.“

Jo musste bei der Vorstellung kichern, denn ihr Vater war zwar ein begnadeter Physiker, hatte aber im Haus und Garten zwei linke Hände.

„Und Deine Mutter kocht für alle und malt die Wände voll mit …“, er zögerte kurz, als ihn der strenge Blick seiner Frau traf, die das Wort ‚malen‘ für ihre Kunst unangebracht fand, „… mit Karikaturen Deiner Lehrer!“ Da mussten alle drei lachen.

Im Laufe der nächsten Tage und Wochen erfuhren sie über die Internetseiten der Schule mehr und mehr über das Humanistica Gymnasium. Jos Vater war begeistert von den dortigen Lehrern, insbesondere von denen, die die Naturwissenschaftlichen Fächer unterrichteten. Zwei der Lehrer kannte er sogar aus wissenschaftlichen Vorträgen und Abhandlungen über die Zusammenhänge von Metaphysik und Evolution. Jo konnte seine Begeisterung nicht teilen, Fredrik umso mehr. Abends saßen er und sein Vater oft auf der Terrasse und diskutierten über Raum und Zeit, Paralleluniversen und lauter Zeug, was Jo weder verstand noch interessierte.

Auch ihre Mutter, die in den ersten Tagen nach Bekanntwerden noch sorgenvoll und gar nicht glücklich darüber schien, war ganz aus dem Häuschen, als sie erfuhr, dass weltbekannte Künstler und große Maler im Humanistica Kurse und Vorträge hielten.

„Sowas gab es auf meiner Schule nicht! Einige von denen hab‘ ich erst an der Universität leibhaftig kennenlernen beziehungsweise in Vorträgen erleben können - und Du wirst sogar von ihnen unterrichtet, Jo“, schwärmte sie, „Du kannst ihnen Fragen zur Entstehung ihrer Werke stellen und vielleicht sogar mit ihnen zusammenarbeiten!“

Jo schüttelte genervt den Kopf, als die Begeisterungsstürme ihre Mutter nicht aufhören wollten. „Bis auf den Teil mit dem ‚zusammenarbeiten‘ hab‘ ich nichts dagegen“, brummte sie gerade, als ihr Bruder Christian im Wohnzimmer auftauchte.

„He, Schwesterchen, hast Du gewusst, dass einer Deiner Lehrer 35 Sprachen fließend spricht? Er ist meines Wissens der einzige weltweit“, sagte er mit leuchtenden Augen.

„Solange ich die nicht alle verstehen und lernen muss, darf er das“, antwortete Jo.

„Bring mir ein Autogramm von ihm mit, okay?“

Jo grinste ihren Bruder an: “Klar, in welcher Sprache hättest Du es gerne?“

Mitten in den Sommerferien hatte Opa Gustav Geburtstag, was jedes Jahr im Garten von Jos Familie gefeiert wurde. Tante Ruth, die ältere Schwester ihrer Mutter, lebte mit ihrem Vater in einer großen Loft-Wohnung auf der anderen Seite der Stadt, direkt am Hafen, damit der alte Herr keine Treppen mehr zu steigen brauchte und immer sein geliebtes Meer, auf dem er über vierzig Jahre als Schiffselektriker gearbeitet hatte, vor Augen sah. Jo liebte die Wohnung, die früher als Lagerhalle gedient hatte. Die hohen Decken und die bodentiefen alten Gitterfenster, auf denen die Meereswellen das Sonnenlicht spielen ließen, gaben Jo das Gefühl, dass alles im Wohnraum in ständiger Bewegung war.

Jo kannte Opa Gustav, der Mann von der verstorbenen Oma Eleonore, von klein auf nur stumm. Warum das so war, wusste keiner genau. Die Ärzte vermuteten, dass er irgendwann einmal unbemerkt einen kleinen Schlaganfall hatte, der das Sprachzentrum in seinem Gehirn beschädigt hatte.

Für Jo sprach er mit seinen Augen. Die waren immer wach und aufmerksam, wenn Jo - als sie noch kleiner war - auf seinem Schoß gesessen hatte. Oder sie lachten Jo an, wenn sie ihm eine ihrer Geschichten erzählte.

Als Tante Ruths Wagen vorfuhr, rannte Jo hinaus. Hans Bäcker half seinem Schwiegervater beim Aussteigen, da er inzwischen lieber den Rollstuhl benutzte, wenn er die Wohnung verließ. Jo nahm Opa Gustav sofort in Beschlag und schob ihn unter die große Kastanie hinten im Garten. Dort hatten sie alles im Blick und konnten ungestört sein.

„Opa, Opa, hast Du es schon gehört?“ fragte Jo und setzte sich vor ihm in den Rasen. Für Jo bestand nie ein Zweifel, dass Opa jedes Wort verstand, das man an ihn richtete. Sie war sich sicher, dass er ihr auch manchmal zuzwinkerte, obwohl Mom und Dad sagten, dass er das vielleicht nicht mehr bewusst steuern könnte.

„Ich komme auf das Humanistica Gymnasium, genau wie Oma Eleonore!“ Opas Augen weiteten sich. „Leider ist es weit weg, aber ich bin so gespannt, Opa! Da soll es voll die berühmten Lehrer geben, sagen Mom und Dad.“

Ihr Großvater starrte sie immer noch mit großen Augen an, aber Jo beobachtete gerade eine Fliege auf ihrem Arm und fuhr fort: „Leider kenne ich niemanden, der dort schon mal war und mir mehr erzählen könnte – außer Oma natürlich, aber die kann ich ja leider nicht mehr fragen.“

Da bemerkte Jo, dass Opa Gustav die Hand nach ihr ausstreckte. Sie sprang aus dem Schneidersitz auf und nahm seine große, warme Hand in die ihren.

„Oh, wenn ich doch nur mit Oma sprechen könnte – hat sie Dir eigentlich von ihrer Zeit auf dem Humus erzählt, Opa?“ Opas Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Augen wurden schmal, was Jo falsch interpretierte und verlegen meinte:

„Oh, entschuldige bitte, Opa, die Abkürzung hab‘ ich mir schon angewöhnt, ich meinte natürlich, ob Oma Dir von ihrer Zeit auf dem Humanistica erzählt hat?!“

Ihr Großvater zog sie zu sich heran. Jo fiel ihm um den Hals und flüsterte: „Oh, Opa, ich werde Euch alle so vermissen!“ Für eine Sekunde glaubte Jo gehört zu haben, dass Großvater ihren Namen gesagt - nein, eher geflüstert hatte und hob ungläubig ihren Kopf. Just in diesem Moment stürmten Ted und Tim heran und umarmten und küssten ihren Großvater, während sie abwechselnd auf ihn einredeten.

„Kommt jetzt bitte alle an den großen Gartentisch!“, rief Mutter von der Terrasse aus.

Vielleicht war es nur ein Räusperer, dachte Jo und achtete darauf, dass Opa nicht aus dem Rollstuhl fiel, als Ted und Tim ihn gemeinsam an den Geburtstagstisch bugsierten.

Zu ihrem großen Verdruss wusste auch Tante Ruth nichts über die Zeit ihrer Mutter auf dem Humanistica. Obwohl es Jos Mutter schon Tage vor dem Fest prophezeit hatte, fragte sie lieber noch einmal nach. „Nein, Liebes“, sagte Tante Ruth, während sie das Geschirr in die Küche trugen und in die Spülmaschine stellten, „unsere Mutter hat nie viel geredet.“

Na, das scheint ja vererbbar zu sein, dachte Jo lakonisch und bohrte weiter: „Was hat Oma eigentlich nach dem Gymnasium gemacht, welchen Beruf hat sie denn ergriffen?“

Tante Ruth unterbrach das Einräumen des Geschirrs, überlegte kurz und sagte dann: „Über ihren Beruf hat sie auch nicht viel geredet.“

Mutter kam mit den Resten der Geburtstagstorte in die Küche, um sie wieder kühl zu stellen. Jo war sich sicher, dass bis abends kein Krümel mehr übrig war, wenn sich für Ted und Tim die Gelegenheit dazu bot. „Nun hör‘ auf, Jo, Tante Ruth Löcher in den Bauch zu fragen!“ befahl sie verärgert, und Jo gab auf.

Den ganzen Nachmittag über hatte Jo das Gefühl, dass Opa sie beobachtete. Selbst als die Zwillinge ein lustiges Stück auf ihren Klarinetten vortrugen, schaute er nicht zu ihnen, sondern zu ihr. Ich muss mit Opa nochmal alleine sein heute, nahm Jo sich vor, aber immer war irgendjemand in der Nähe.

Die untergehende Abendsonne färbte den Kastanienbaum und den Rasen in ein Feuermeer, als Christian und Fredrik die Fackeln im Garten entzündeten. „Du, wir müssen langsam los“, hörte Jo Tante Ruth zu ihrer Mutter sagen, als sie Opa gerade ein frisch eingeschenktes Glas Bier reichte.

„Nein, kommt nicht in Frage, jetzt kommt doch noch eine Geburtstagsüberraschung, Ruth!“ rief Hans Bäcker und gab Christian und Fredrik, die hinten im Garten warteten, ein Zeichen. Kurze Zeit später pfiff die erste Rakete in den Himmel, wo sie in eine leuchtend rote Kugel zerplatzte, was alle mit einem langen ‚Ooh‘ bedachten. Es folgten eine gelbe, eine grüne und eine blaue Leuchtkugel.

Jo strahlte ihren Opa an und beugte sich nah an sein Ohr: „Die Raketen haben Chrissi und Freddy selbst gebastelt, nur für Dich!“ Da glaubte sie, es erneut gehört zu haben: Opa hatte ihren Namen gerufen. Sie hielt ein Ohr ganz nah an seinen Mund, während ihre großen Brüder laut pfeifende Raketen zündeten, die am dunkler werdenden Abendhimmel in weiße Seifenblasen zerplatzten.

„Grüß‘ sie von mir“, flüsterte Opa Gustav kaum hörbar.

Jo war verwirrt. Sie sah die Lichtreflexe der explodierenden Raketen in seinen Augen, die fest auf Jo gerichtet waren. „Was hast Du gesagt, Opa?“ flüsterte sie in sein Ohr und hob gleich wieder ihr Ohr an seinen Mund.

„Grüß‘ sie von mir, Jo. Und verrate mich nicht.“

Jo war so perplex, dass sie nicht bemerkte, dass das Feuerwerk zu Ende war, als sie Opa erneut fragte: „Wen soll ich grüßen?“

Tante Ruth, die neben Opa saß, sah sie verständnislos an, sagte aber nichts. Jo schätzte diese Eigenschaft ihrer Tante mehr und mehr.

Ihre großen Brüder eilten heran und begannen, für Opa ‚Zum 70. Geburtstag viel Glück‘ zu singen. Nach und nach stimmten die Anwesenden mit ein. Nun standen alle vor dem Jubilar und jeder war gerührt, als auf seinen Wangen Tränen glitzerten. Nur Jo ahnte, dass diese Tränen nicht nur vom Feuerwerk herrührten.

Kurz darauf verabschiedeten sich Tante Ruth mit dem Geburtstagskind, sodass Jo keine Gelegenheit mehr fand, die merkwürdige Bitte ihres Großvaters zu hinterfragen.