Die Träumenden von Madras - Abraham Verghese - E-Book

Die Träumenden von Madras E-Book

Abraham Verghese

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Beschreibung

„Eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe – und ich lese, seit ich drei bin.« Oprah Winfrey

Die bewegende Geschichte einer Familie starker Frauen, die ein besonderes Geheimnis birgt …

Kerala, um 1900: Die junge Mariamma verlässt ihr Zuhause, um bei ihrem neuen Mann in Parambil zu leben, inmitten von Flüssen und Kanälen, Palmen und Jackfruchtbäumen. Sie vermisst ihre Mutter, und ihr Mann scheint sich kaum für sie zu interessieren. Doch bald findet sie in ihrem fünfjährigen Stiefsohn Jojo einen Gefährten, der nicht von ihrer Seite weicht. Als er, der stets das Wasser gescheut hat, bei einem Unfall ertrinkt, kommt sie einem Geheimnis ihrer neuen Familie auf die Spur: Seit Generationen gibt es immer wieder Familienmitglieder, die unerklärliche Angst vor dem Wasser haben; viele von ihnen sind ertrunken. Doch was dahintersteckt, bleibt ein Rätsel.
In den folgenden Jahrzehnten wächst Mariammas Familie und sie wird zur glücklichen Mutter, Großmutter und Matriarchin »Big Ammacchi«. Und auch der Fortschritt hält Einzug in Parambil. Während in der Welt Kriege toben und Indien der Befreiung zustrebt, werden in Parambil Straßen und Schulen gebaut, die Häuser mit Elektrizität versorgt und die Menschen endlich medizinisch betreut– und schließlich kann auch das Rätsel um den »Fluch des Wassers« aufgeklärt werden.

Abraham Verghese schlägt in seinem lang erwarteten, bewegenden und bildgewaltigen neuen Roman einen epischen Bogen durch fast ein ganzes Jahrhundert indischer Geschichte. Er erzählt anhand des Schicksals einer Familie vom Sieg des Wissens und der modernen Medizin, von der Überwindung von Klassen und Kasten – und von den ganz großen Dingen: von Liebe und Tod, Schuld und Erlösung.

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Seitenzahl: 1165

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Cover

Titel

Abraham Verghese

Die Träumenden von Madras

Roman

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2023 unter dem Titel The Covenant of Water bei Grove Press, einem Imprint von Grove Atlantic, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2023.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© Abraham Verghese 2023Landkarte © Martin Lubikowski, ML Design, London

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagmotiv: Rajdeep Ghosh/Peter Zelei Images/Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77804-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Mariam Verghese

In Memoriam

Motto

Und es ging aus von Eden ein Strom, zu wässern den Garten.

– 1. Mose 2,10

Nicht Hammerschläge, sondern Tanz des Wassers singt die Kiesel zur Vollendung.

– Rabindranath Tagore

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Karte

I

. Teil

1

. Kapitel Alle Tage

1900

, Travancore, Südindien

2

. Kapitel Zu Lieben und zu Ehren

1900

, Travancore, Südindien

3

. Kapitel Unerwähntes

1900

, Parambil

4

. Kapitel Initiation einer Hausherrin

1900

, Parambil

5

. Kapitel Hauswirtschaft

1900

, Parambil

6

. Kapitel Paare

1903

, Parambil

7

. Kapitel Eine Mutter weiß das

1908

, Parambil

8

. Kapitel Bis dass der Tod uns scheidet

1908

, Parambil

9

. Kapitel Im geringsten Treu

1908

, Parambil

II

. Teil

10

. Kapitel Ein Fisch unterm Tisch

1919

, Glasgow

11

. Kapitel Kaste

1933

, Madras

12

. Kapitel Zwei Große

1933

, Madras

13

. Kapitel Vergrößerung

1933

, Madras

14

. Kapitel Die Kunst des Handwerks

1934

, Madras

15

. Kapitel Ein guter Fang

1934

, Madras

16

. Kapitel Das Handwerk der Kunst

Weihnachten

1934

, Madras

17

. Kapitel Eine Rasse für sich

1935

, Madras

18

. Kapitel Steinerne Tempel

1935

, Madras

19

. Kapitel Pulsatil

1935

, Madras

20

. Kapitel In Glashäusern

1935

, Madras

21

. Kapitel Vorgewarnt

1935

, Madras

22

. Kapitel Stillleben mit Mangos

1935

, Madras

III

. Teil

23

. Kapitel Was Gott schon vor unserer Geburt wusste

1913

, Parambil

24

. Kapitel Ein Sinneswandel

1922

, Cochin

25

. Kapitel Ein Fremder im Haus

1923

, Parambil

26

. Kapitel Unsichtbare Wände

1926

, Parambil

27

. Kapitel Hoch ist Gut

1932

, Parambil

28

. Kapitel Die große Lüge

1933

, Parambil

29

. Kapitel Morgenwunder

1936

, Parambil

IV

. Teil

30

. Kapitel Dinosaurier und Bergstationen

1936

, AllSuch Estates, Travancore-Cochin

31

. Kapitel Die größere Wunde

1936

, Saint Bridget’s

32

. Kapitel Der verwundete Krieger

1936

, Saint Bridget’s

33

. Kapitel Hände schreiben

1936

, Saint Bridget’s

34

. Kapitel Hand in Hand

1936

, Saint Bridget’s

35

. Kapitel Das Mittel gegen deine Plagen

1936

, Saint Bridget’s

36

. Kapitel Im Grab keine Weisheit

1936

, Saint Bridget’s

37

. Kapitel Verheißungsvolles Zeichen

1937

, AllSuch

V

. Teil

38

. Kapitel Postamt Parambil

1938

-

1941

, Parambil

39

. Kapitel Geographie und Eheschicksal

1943

, Cochin

40

. Kapitel Etiketten, die Schmälern

1943

, Madras

41

. Kapitel Der Vorteil des Nachteils

1943

, Madras

42

. Kapitel Alle Kommen miteinander aus

1943

, Madras nach Parambil

43

. Kapitel In dein eigen Haus

1943

, Parambil

44

. Kapitel In einem reichen Land

1943

, Parambil

45

. Kapitel Die Verlobung

1944

, Parambil

46

. Kapitel Hochzeitsnacht

1945

, Parambil

47

. Kapitel Fürchte den Baum

1945

, Parambil

48

. Kapitel Regengötter

1946

-

1949

, Parambil

49

. Kapitel Der Blick

1949

, Parambil

VI

. Teil

50

. Kapitel Gefahren in den Bergen

1950

, Gwendolyn Gardens

51

. Kapitel Bereit, verletzt zu werden

1950

, Parambil

52

. Kapitel Wie es einmal war

1950

, Parambil

53

. Kapitel Steinfrau

1951

, Parambil

54

. Kapitel Ein pränataler Engel

1951

, Parambil

55

. Kapitel Das Problem ist ein Mädchen

1951

, Parambil

56

. Kapitel Vermisst

1951

, Parambil

VII

. Teil

57

. Kapitel Invictus

1959

, Managervilla im Dorf M___

58

. Kapitel Entzünde die Lampe

1959

, Parambil

59

. Kapitel Freundliche Unterdrücker und die dankbaren Unterdrückten

1960

, Parambil

60

. Kapitel Die Offenbarung des Krankenhauses

1964

, die Maramon Convention

61

. Kapitel Die Berufung

1964

, Parambil

62

. Kapitel Heute Abend

1967

, Parambil

VIII

. Teil

63

. Kapitel Die Verkörperten und die Körperlosen

1968

, Madras

64

. Kapitel Das Ginglymoarthrodialgelenk

1969

, Madras

65

. Kapitel Könnte Gott nur sprechen

1971

, Madras

66

. Kapitel Die Trennlinie

1971

, Mahabalipuram

67

. Kapitel Lieber draußen als drin

1971

, Madras

68

. Kapitel Der Hund des Himmels

1973

, Madras

69

. Kapitel Das vorgestellte Sehen

1974

, Madras

70

. Kapitel Den Sprung wagen

1974

, Cochin

71

. Kapitel Die Toten sollen unbestechlich Auferstehen

1974

, Madras

72

. Kapitel Die Krankheit von Recklinghausens

1974

, Madras

IX

. Teil

73

. Kapitel Drei Regeln für die künftige Braut

1976

, Parambil

74

. Kapitel Ein betrachteter Geist

1976

, Parambil

75

. Kapitel Bewusstseinszustände

1977

, Parambil

76

. Kapitel Erwachen

1977

, Saint Bridget’s

77

. Kapitel Revolutionäre Wege

1977

, Saint Bridget’s

78

. Kapitel Sieh her

1977

, Vellore

79

. Kapitel Gottes Plan

1977

, Parambil

X

. Teil

80

. Kapitel Sie blinzelt nicht

1977

, Saint Bridget’s

81

. Kapitel Vergangenheit trifft auf Zukunft

1950

, Gwendolyn Gardens

82

. Kapitel Das Kunstwerk

1950

, Gwendolyn Gardens

83

. Kapitel Die Kranke lieben

1950

, Gwendolyn Gardens

84

. Kapitel Die bekannte Welt

1977

, Saint Bridget’s

Dank

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Die Träumenden von Madras

Karte

I. Teil

1. Kapitel

Alle Tage

1900, Travancore, Südindien

Sie ist zwölf Jahre alt, und am Morgen wird sie verheiratet. Mutter und Tochter liegen auf der Matte, die nassen Wangen fest aneinander.

»Der traurigste Tag im Leben eines Mädchens ist ihr Hochzeitstag«, sagt ihre Mutter. »Danach wird es, so Gott will, besser.«

Bald hört sie, wie das Schniefen ihrer Mutter zu regelmäßigem Atmen wird, dann zu ganz leisem Schnarchen, das die verstreuten Nachtgeräusche von den Holzwänden, welche die Hitze des Tages abgeben, bis hin zum Scharren des Hundes auf dem sandigen Hof für das Mädchen in eine Ordnung bringt.

Ein Wechselkuckuck schreit: Kezhekketha? Kezhekketha? Wo ist Osten? Wo ist Osten? Sie stellt sich vor, wie der Vogel auf die Lichtung hinabschaut, in der das rechteckige Strohdach auf ihrem Haus hockt. Er sieht die Lagune davor und den Bach und das Reisfeld dahinter. Das Geschrei des Vogels kann Stunden dauern, ihnen den Schlaf rauben … doch da bricht es abrupt ab, als hätte sich eine Kobra an ihn herangeschlichen. In der darauffolgenden Stille singt der Bach kein Schlaflied, er grollt nur über die glatt geschliffenen Kiesel.

Sie erwacht schon vor Morgengrauen; ihre Mutter schläft noch. Durchs Fenster schimmert das Wasser im Reisfeld wie Blattsilber. Vorn auf der Veranda steht der ornamentreiche chary kasera, also der Liegestuhl ihres Vaters, leer und verloren da. Sie hebt das Schreibbrett an, das quer über den langen Holzarmen liegt, und setzt sich. In dem Korbgeflecht spürt sie den geisterhaften Abdruck ihres Vaters bewahrt.

Am Ufer der Lagune wachsen schräg vier Kokospalmen, sie streifen das Wasser, als wollten sie sich noch in ihrem Spiegelbild putzen, bevor sie sich himmelwärts aufrichten. Leb wohl, Lagune, leb wohl, Bach.

»Molay?«, hatte der einzige Bruder ihres Vaters am Tag davor zu ihrer Überraschung gesagt. Zuletzt hatte er sie nicht mehr mit dem Kosewort molay – Tochter – angeredet. »Wir haben eine gute Partie für dich gefunden!« Sein Ton war ölig, als wäre sie vier und nicht zwölf. »Dein Bräutigam schätzt es, dass du aus einer guten Familie stammst, die Tochter eines Priesters bist.« Sie wusste, dass ihr Onkel schon seit einer Weile die Absicht hatte, sie zu verheiraten, dennoch fand sie, dass er es mit dem Arrangement dieser Partie zu eilig hatte. Doch was konnte sie sagen? Derlei Dinge wurden von den Erwachsenen entschieden. Die Hilflosigkeit auf dem Gesicht ihrer Mutter machte sie verlegen. Sie empfand Mitleid mit ihr, wo sie sie doch so sehr respektieren wollte. Als sie dann allein waren, sagte ihre Mutter: »Molay, das ist jetzt nicht mehr unser Haus. Dein Onkel …« Sie sagte es flehentlich, als hätte ihre Tochter protestiert. Ihre Worte verloren sich, sie warf nervöse Blicke umher. Die Eidechsen an den Wänden bargen Geschichten. »Wie anders als hier kann das Leben dort schon sein? Du wirst Weihnachten feiern, zur Bußzeit fasten … sonntags in die Kirche. Die gleiche Eucharistie, die gleichen Kokospalmen und Kaffeesträucher. Es ist eine gute Partie … er ist gut bemittelt.«

Warum wollte ein gut bemittelter Mann ein schlecht bemitteltes Mädchen heiraten, eines ohne Mitgift? Was halten sie vor ihr geheim? Was fehlt ihm? Erstens Jugend – er ist vierzig. Er hat schon ein Kind. Einige Tage davor, der Heiratsvermittler war gerade gegangen, hörte sie mit an, wie ihr Onkel ihre Mutter schalt: »Seine Tante ist ertrunken, na wenn schon? Ist das dasselbe wie Wahnsinn, der in der Familie liegt? Wer hat schon gehört, dass Ertrinken in der Familie liegt? Andere sind immer neidisch auf eine gute Partie und finden immer eine Sache, die sie aufbauschen können.«

Sie streicht über die glatt polierten Armlehnen des Stuhls, auf dem sie sitzt, und denkt kurz an die Unterarme ihres Vaters; wie die meisten Malayali-Männer war er ein liebenswerter Bär gewesen, Haare auf Armen, Brust und sogar dem Rücken, daher berührte man die Haut immer nur durch weiches Fell. Auf seinem Schoß, auf diesem Stuhl, lernte sie ihre Schriftzeichen. War sie in der Kirchenschule gut, sagte er: »Du hast einen guten Kopf. Noch wichtiger aber ist Neugier. Du gehst mal auf die Highschool. Und aufs College! Warum denn nicht? Ich lasse dich nicht jung wie deine Mutter heiraten.«

Der Bischof hatte ihren Vater an eine schwierige Kirche in der Nähe von Mundakayam versetzt, die keinen festen achen hatte, weil die mohammedanischen Händler Unfrieden gestiftet hatten. Es war kein Ort für eine Familie, wo der Morgennebel noch um Mittag an den Knien nagte und zum Abend bis ans Kinn gestiegen war und wo die Feuchtigkeit einem pfeifenden Atem, Rheuma und Fieber brachte. Kein Jahr später kehrte er von seiner Stellung mit Frostschauern zurück, dass ihm die Zähne klapperten, seine Haut war heiß, sein Urin schwarz. Noch bevor sie Hilfe holen konnten, hob sich seine Brust nicht mehr. Als ihre Mutter ihm einen Spiegel an den Mund hielt, beschlug er nicht. Der Atem ihres Vaters war nur noch Luft.

Das war der traurigste Tag ihres Lebens. Wie konnte da die Hochzeit schlimmer sein?

Ein letztes Mal erhebt sie sich von dem Korbsitz. Der Stuhl ihres Vaters und sein Teakbett drinnen sind ihr wie Heiligenreliquien, sie bewahren sein Wesen. Könnte sie sie doch nur in ihr neues Zuhause mitnehmen.

Das Haus erwacht.

Sie wischt sich die Augen, reckt die Schultern, hebt das Kinn, hebt es zu dem, was immer der Tag ihr bringen mag, zur Grausamkeit des Abschieds von ihrem Zuhause, das schon nicht mehr ihr Zuhause ist. Chaos und Schmerz in Gottes Welt sind unergründliche Mysterien, doch die Bibel zeigt ihr, dass darunter eine Ordnung liegt. Wie ihr Vater sagen würde: »Glauben heißt wissen, dass das Muster da ist, auch wenn keines sichtbar ist.«

»Das wird schon, Appa«, sagt sie und stellt sich seinen Kummer vor. Wäre er noch am Leben, dann würde sie heute nicht heiraten.

Sie stellt sich seine Antwort vor. Die Sorgen des Vaters enden mit einem guten Ehemann. Ich bete, dass er einer ist. Eines aber weiß ich: Derselbe Gott, der hier über dich gewacht hat, wird auch dort bei dir sein, molay. Das verspricht er uns im Evangelium. »Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.«

2. Kapitel

Zu Lieben und zu Ehren

1900, Travancore, Südindien

Die Reise zur Kirche des Bräutigams dauert fast einen halben Tag. Der Bootsführer steuert sie durch ein Labyrinth ihr unvertrauter Kanäle, über denen feuerroter Hibiskus hängt, die Häuser so dicht am Ufer, dass sie die kauernde Frau berühren könnte, die dort Reis in einem flachen Korb mit leichten Stößen worfelt. Sie hört, wie ein Junge einem blinden Alten aus der Zeitung Manorama vorliest und dieser sich am Kopf kratzt, als schmerzten ihn die Nachrichten. Haus um Haus, ein jedes ein kleines Universum, manche mit Kindern ihres Alters, die ihnen nachschauen. »Wohin fährst du?«, fragt ein nacktbrüstiger Wichtigtuer durch schwarze Zähne und hält den schwarzen Zeigefinger – seine Zahnbürste –, mit Kohlepulver bedeckt, starr in der Luft. Der Bootsführer funkelt ihn böse an.

Auf die Kanäle folgt ein Teppich aus Lotus und Lilien, der so dick ist, dass sie darauf gehen könnte. Die Blüten sind geöffnet, als wünschten sie ihr Gutes. Auf einen Impuls hin pflückt sie eine, indem sie den tief unten festsitzenden Stiel packt. Mit einem Spritzer löst er sich, ein pinkfarbener Edelstein, ein Wunder, dass etwas so Schönes aus so trübem Wasser kommen kann. Ihr Onkel schaut eindringlich auf ihre Mutter, die nichts sagt, obwohl sie besorgt ist, dass ihre Tochter ihre weiße Bluse und das mundu oder kayani mit mattgoldenem Besatz beschmutzt. Ein fruchtiger Duft erfüllt das Boot. Sie zählt vierundzwanzig Blütenblätter. Durch den Lotusteppich hindurch gelangen sie auf einen See, so groß, dass das andere Ufer nicht mehr zu sehen ist, das Wasser ruhig und glatt. Sie fragt sich, ob so wohl der Ozean aussieht. Fast hat sie vergessen, dass sie bald heiratet. An einem betriebsamen Steg steigen sie in ein riesiges Kanu um, das ein schmaler, muskulöser Mann stakt, die Enden hochgebogen wie getrocknete Bohnenschoten. In der Mitte stehen zwei Dutzend Passagiere, Schirme gegen die Sonne gerichtet. Ihr wird bewusst, dass sie so weit wegfährt, dass ein Besuch zu Hause nicht leicht sein wird.

Der See verengt sich unmerklich zu einem breiten Fluss. Das Boot gerät in die Strömung und nimmt Fahrt auf. Endlich hält in der Ferne, auf einem Hügel, ein massives Steinkreuz Wache über eine kleine Kirche, seine Arme werfen ihren Schatten über den Fluss. Es ist eine der siebeneinhalb Kirchen, die der Apostel Thomas nach seiner Ankunft hier gegründet hat. Wie jedes Sonntagsschulkind kann sie ihre Namen herunterrasseln: Kodungallur, Paravur, Niranam, Palayoor, Nilackal, Kokkamangalam, Kollam und die winzige Halbkirche in Thiruvithamcode, aber dieser Anblick, ihr erster Blick darauf, raubt ihr den Atem.

Im Hof läuft der Heiratsvermittler aus Ranni hin und her. Feuchte Flecken auf den Achselhöhlen seiner juba verbinden sich auf seiner Brust. »Der Bräutigam müsste schon längst da sein«, sagt er. Die Haarsträhnen, die er quer über dem Schädel liegen hat, sind ihm übers Ohr gefallen wie die Federn eines Papageis. Er schluckt nervös, und in seinem Hals steigt ein Stein auf und nieder. Im Erdreich seines Dorfs wachsen bekanntermaßen der beste Reis und ebendiese Kröpfe.

Der Bräutigam hat lediglich seine Schwester mitgebracht, Thankamma. Diese stämmige, freundliche Frau nimmt die winzigen Hände ihrer künftigen Schwägerin in beide Hände und drückt sie liebevoll. »Er kommt gleich«, sagt sie. Der achen legt sich die zeremonielle Stola übers Gewand und zieht den bestickten Gürtel fest. Er streckt die Hand aus, Teller aufwärts gerichtet, womit er wortlos fragt: Na? Niemand antwortet.

Die Braut zittert, trotz der Schwüle. Sie ist es nicht gewohnt, chatta und mundu zu tragen. Von nun an kein langer Rock mehr, keine bunte Bluse. Sie wird wie ihre Mutter und ihre Tante nur noch diese Uniform der verheirateten Frauen in der Christenwelt von St. Thomas tragen, die einzige Farbe Weiß. Das mundu gleicht dem eines Mannes, ist aber aufwändiger gebunden, das lose Ende plissiert und dreimal gefaltet und dann hinten in eine Art Fächer gesteckt, um die Form des Gesäßes zu verhüllen. Verhüllung ist auch der Zweck der formlosen, kurzärmeligen Bluse mit V-Ausschnitt, der weißen chatta.

Aus den hohen Fenstern fällt Licht herein, wirft schräge Schatten. Das Räucherwerk kitzelt sie im Hals. Wie in ihrer Kirche gibt es auch hier keine Bänke, nur einen groben Coirteppich auf rotem Oxidboden, aber nur vorn. Ihr Onkel hustet. Das Geräusch hallt in dem leeren Raum.

Sie hatte gehofft, ihre Cousine ersten Grades – zugleich ihre beste Freundin – würde zur Hochzeit kommen. Die hatte im Jahr davor geheiratet, ebenfalls mit zwölf, einen zwölfjährigen Bräutigam aus einer guten Familie. Bei der Hochzeit hatte der junge Bräutigam völlig teilnahmslos gewirkt, sich mehr für den Inhalt seiner Nase interessiert als für die Zeremonie; der achen hatte die kurbana unterbrochen und ihn angezischt: »Hör auf zu bohren! Da gibt’s kein Gold!« Ihre Cousine hatte geschrieben, sie schlafe in ihrem neuen Zuhause bei den anderen Mädchen der Großfamilie, spiele mit ihnen und sei froh, mit ihrem lästigen Ehemann nichts zu tun zu haben. Ihre Mutter hatte, nachdem sie den Brief gelesen hatte, wissend gesagt: »Na, eines Tages wird sich das ändern.« Die Braut fragt sich, ob das inzwischen geschehen ist und was es bedeutet.

In die Luft kommt Bewegung. Ihre Mutter drückt sie nach vorn, tritt dann beiseite.

Neben ihr taucht der Bräutigam auf, und sogleich beginnt der achen mit dem Gottesdienst – hat er in seinem Stall eine Kuh, die bald kalbt? Sie blickt stur geradeaus.

In der verschmierten Brille des achen erblickt sie eine Spiegelung: eine große, vom Licht im Eingang konturierte Gestalt, neben ihr ein kleine – sie selbst.

Wie es wohl ist, vierzig Jahre alt zu sein? Er ist älter als ihre Mutter. Ihr kommt ein Gedanke: Wenn er verwitwet ist, warum heiratet er dann sie und nicht ihre Mutter? Doch sie kennt den Grund: Die Stellung einer Witwe ist nur wenig besser als die einer Aussätzigen.

Auf einmal stockt der Singsang des achen, weil ihr künftiger Ehemann sich zu ihr gewandt hat, um sie zu mustern, wobei er dem Priester – unwillentlich – den Rücken zudreht. Er schaut ihr ins Gesicht, schnauft dabei wie einer, der eine lange Strecke schnell gegangen ist. Sie wagt nicht aufzublicken, doch sie erhascht seinen erdigen Geruch. Sie kann ihr Zittern nicht beherrschen. Sie schließt die Augen.

»Aber das ist ja noch ein Kind!«, hört sie ihn rufen.

Als sie die Augen öffnet, sieht sie, wie ihr Großonkel eine Hand hebt, um den forteilenden Bräutigam aufzuhalten, doch sie wird ihm wie eine Ameise von einer Schlafmatte weggefegt.

Thankamma läuft dem fliehenden Bräutigam nach, ihr Bauchfettpolster schwingt trotz des Drucks ihrer Hände hin und her. Sie holt ihn bei einem Laststein ein – einer waagerechten Steinplatte auf Schulterhöhe, die auf zwei senkrechten, im Boden verankerten Steinsäulen ruht, ein Ort, wo Reisende eine Kopflast abstellen und verschnaufen können. Thankamma drückt ihrem Bruder mit beiden Händen gegen die massige Brust, versucht, ihn aufzuhalten, wobei sie vor ihm rückwärtsgeht. »Monay«, sagt sie, denn er ist viel jünger, eher wie ihr Sohn denn ihr Bruder. »Monay«, keucht sie. Was da geschieht, ist ernst, aber es ist auch komisch, wie ihr Bruder sie vor sich her schiebt, als wäre er ein Pflüger und sie der Pflug, sodass sie unwillkürlich lachen muss.

»Sieh mich an!«, befiehlt sie grinsend. Wie oft hat sie dieses bekümmerte Gesicht gesehen, sogar, als er noch ein kleines Kind war? Er war erst vier, als seine Mutter starb und Thankamma deren Rolle übernahm. Ihm vorzusingen und ihn zu halten half, die Runzeln auf seiner Stirn zu glätten. Viel später, als ihr ältester Bruder ihn um Haus und Besitz betrog, was doch ihm gehören sollte, trat nur Thankamma für ihn ein.

Er geht langsamer. Sie kennt ihn gut, diesen Schweiger. Würde Gott ihm auf wundersame Weise den Kiefer aufsperren, was würde er sagen? »Chechi, als ich neben diesem zitternden Straßenkind stand, dachte ich: ›Das soll ich heiraten?‹ Hast du gesehen, wie sein Kinn bebt? Ich habe schon ein Kind zu Hause, um das ich mich kümmern muss. Noch eins brauche ich nicht.«

»Monay, das verstehe ich«, sagt sie, als hätte er es ausgesprochen. »Ich weiß, wie das aussieht. Aber vergiss nicht, deine Mutter und deine Großmutter haben geheiratet, als sie erst neun waren. Ja, sie waren Kinder, und sie wurden als Kinder in einem anderen Haus aufgezogen, bis sie keine mehr waren. Führt das nicht zu den passendsten und besten Ehen? Doch vergiss das alles und denk einen Augenblick an dieses arme Mädchen. An ihrem Hochzeitstag vor dem Altar stehen gelassen? Ayo, welche Schande! Wer soll sie denn danach noch heiraten?«

Er geht weiter. »Sie ist ein gutes Mädchen«, sagt Thankamma. »So eine gute Familie! Dein kleiner JoJo braucht jemand, der sich um ihn kümmert. Sie wird ihm das sein, was ich für dich war, als du klein warst. Lass sie bei dir aufwachsen. Sie braucht Parambil genauso wie Parambil sie.«

Sie stolpert. Er hält sie, und sie lacht. »Sogar Elefanten haben Mühe, rückwärtszugehen!« Nur sie kann die schwache Asymmetrie auf seinem Gesicht als Lächeln deuten. »Das Mädchen habe ich dir ausgesucht, monay. Schreib das nicht zu sehr diesem Makler zu. Ich bin zu der Mutter hin, ich habe das Mädchen gesehen, wobei sie das gar nicht wusste. Habe ich nicht auch beim ersten Mal gut gewählt? Deine selige erste Frau, Gott schenke ihr Ruhe, gibt ihre Billigung. Also vertrau deiner chechi noch einmal.«

Der Heiratsvermittler bespricht sich mit dem achen, der murmelt: »Was soll das denn?«

Der Herr ist mein Fels, meine Festung und mein Erlöser. Ihr Vater hatte die junge Braut gelehrt, das zu sagen, wenn sie sich fürchtet. Mein Fels und meine Festung. Der Altar verströmt eine mysteriöse Energie, die sie nun einhüllt wie ein Chorhemd und ihr tiefen Frieden bringt. Diese Kirche ist von einem der zwölf geweiht; er hat auf dem Boden gestanden, wo sie jetzt steht, derjenige Apostel, der Christi Wunden berührt hat. Sie spürt ein Einvernehmen jenseits aller Vorstellung, eine Stimme, die ohne Laut und Regung spricht. Sie sagt: Ich bin stets bei dir.

Dann treten des Bräutigams nackte Füße wieder neben sie. Wie lieblich sind die Füße derer, die den Frieden verkündigen. Die hier aber sind scheußlich, schwielig und immun gegen Dornen, imstande, einen modrigen Stumpf umzutreten und geübt darin, Ritzen im Stamm einer Palme zu entdecken, um daran hochzuklettern. Seine Füße verlagern sich; sie wissen, sie werden taxiert. Sie kann nicht anders: Sie schaut zu ihm hinauf. Seine Nase ist scharf wie eine Axt, die Lippen voll, das Kinn gereckt. Die Haare pechschwarz, kein Grau darin, was sie überrascht. Er ist viel dunkler als sie, aber hübsch. Sie staunt über den intensiven Blick, mit dem er den Priester fixiert: Es ist der eines Mungos, der auf den Angriff der Schlange wartet, um ihm sogleich auszuweichen, herumzuschnellen und sie im Genick zu packen.

Der Gottesdienst ist offenbar schneller aus, als ihr bewusst war, denn schon hilft ihre Mutter dem Bräutigam dabei, ihren Kopf zu entblößen. Er tritt hinter sie. Er legt ihr die Hände auf die Schultern und bindet ihr das kleine goldene minnu um den Hals. Seine Finger auf ihrer Haut sind heiß wie Kohlen.

Der Bräutigam setzt sein grobes Zeichen ins Kirchenbuch, dann reicht er ihr den Federhalter weiter. Sie trägt ihren Namen sowie Tag, Monat und Jahr ein, 1900. Als sie aufblickt, verlässt er gerade die Kirche. Der Priester schaut ihm nach und sagt: »Was? Er hat den Reis auf dem Feuer stehen lassen?«

Ihr Mann ist nicht am Steg, wo ein Boot ungeduldig an seinem Liegeplatz wippt und zerrt.

»Seit dein Mann ein kleiner Junge war«, sagt ihre neue Schwägerin, »hat er sich lieber von seinen Füßen tragen lassen. Ich aber nicht! Warum gehen, wenn ich fahren kann?« Thankammas Lachen reizt alle, darin einzufallen. Nun aber müssen sich Mutter und Tochter dort am Ufer trennen. Sie klammern sich aneinander – wer weiß, wann sie sich wiedersehen? Sie hat nun einen neuen Hausnamen, ein neues, noch ungesehenes Zuhause, dem sie nun angehört. Das alte muss sie aufgeben.

Auch Thankammas Augen sind feucht. »Sorge dich nicht«, sagt sie zu der verzweifelten Mutter. »Ich nehme mich ihrer an, als wäre sie mein Eigen. Ich bleibe noch zwei, drei Wochen in Parambil. Bis dahin wird sie ihren Haushalt besser kennen als ihre Psalmen. Danke mir nicht. Meine Kinder sind alle erwachsen. Ich bleibe lange genug, dass mein Mann mich vermisst!«

Mit wackeligen Beinen löst sich die junge Braut von ihrer Mutter. Sie könnte zu Boden fallen, doch Thankamma schwingt sie wie ein Baby auf die Hüfte und steigt dann in das wartende Boot. Instinktiv schlingt sie die Beine um Thankammas kräftige Hüfte und presst ihre Wange an die fleischige Schulter. Von dort oben blickt sie zurück auf die verlorene Gestalt, die auf dem Steg winkt, so klein vor dem riesigen Steinkreuz hinter ihr.

Das Zuhause der jungen Braut und ihres verwitweten Bräutigams liegt in Travancore an der Südspitze Indiens, eingezwängt zwischen dem Arabischen Meer und den Westghats – dem langen Gebirgszug, der parallel zur Küste verläuft. Das Land ist geprägt vom Wasser, und seine Bewohner sind durch eine gemeinsame Sprache vereint: Malayalam. Wo das Meer auf weißen Strand trifft, schiebt es Finger ins Land, um sich mit den Flüssen zu vereinen, die sich die grün bedachten Hänge der Ghats hinabwinden. Es ist die Phantasiewelt eines Kindes aus Bächen und Kanälen, ein Gitterwerk aus Seen und Lagunen, ein Labyrinth aus Altwassern und flaschengrünen Lotusteichen: ein riesiger Kreislauf, denn wie ihr Vater immer sagte, alles Wasser ist verbunden. Es brachte ein Volk hervor – die Malayali –, so beweglich wie das flüssige Medium um sie herum, die Gesten fließend, ebenso die Haare, stets bereit, sich vor Lachen auszuschütten, wenn sie von diesen zu jenen Verwandten fahren, wie Blutkörperchen in einem Gefäßsystem pulsieren und schweifen, angetrieben vom großen schlagenden Herzen des Monsuns.

In diesem Land sind Kokos- und Palmyrapalmen so reichlich, dass ihre gerüschten Silhouetten des Nachts noch auf den Innenseiten geschlossener Lider schwingen und schimmern. Träume, die von Gutem künden, brauchen grüne Wedel und Wasser, fehlen sie, muss es ein Albtraum sein. Wenn Malayalis »Land« sagen, meinen sie damit auch Wasser, denn es ist ebenso sinnlos, die beiden zu trennen, wie die Nase vom Mund. Auf Skiffs, Kanus, Kähnen und Fähren fahren die Malayalis und ihre Waren durch ganz Travancore, Cochin und Malabar, und das so schnell, wie die im Binnenland es sich nicht vorstellen können. Mangels ordentlicher Straßen, regelmäßigen Busverkehrs und Brücken ist die Landstraße das Wasser.

Zu der Zeit unserer jungen Braut stehen die Königsfamilien von Travancore und Cochin, deren Dynastien bis ins Mittelalter reichen, als »Fürstenstaaten« unter britischer Herrschaft. Über fünfhundert Fürstenstaaten sind unter dem britischen Joch – die Hälfte der indischen Landmasse –, die meisten jedoch klein und unbedeutend. Die Maharadschas der größeren, der »Salutstaaten« – Hyderabad, Mysore und Travancore –, haben Anspruch auf einen Kanonensalut von neun bis einundzwanzig Schüssen, wobei deren Zahl in den Augen der Briten die Bedeutung des Maharadschas anzeigt (und häufig auch der Anzahl der Rolls-Royce in der fürstlichen Garage entspricht). Als Gegenleistung für Paläste, Automobile, Status und die Erlaubnis, halbautonom zu regieren, führen die Maharadschas ein Zehntel der Steuern, die sie von ihren Untertanen eintreiben, an die Briten ab.

Unsere Braut hat in ihrem Dorf im Fürstenstaat Travancore noch nie einen britischen Soldaten oder Beamten gesehen; in den »Präsidentschaften« Madras oder Bombay dagegen – Territorien, die von den Briten direkt verwaltet wurden und daher von ihnen wimmelten – ist das ganz anders. Dereinst werden sich die Malayalam sprechenden Regionen Travancore, Cochin und Malabar zu dem Staat Kerala vereinen, einem fischförmigen Küstenterritorium an der Spitze Indiens, dessen Kopf nach Ceylon (dem heutigen Sri Lanka) und der Schwanz nach Goa zeigt, die Augen dagegen sehnsüchtig über den Ozean nach Dubai, Abu Dhabi, Kuwait und Riad blicken.

Stößt man an einer beliebigen Stelle in Kerala einen Spaten in die Erde, quillt rostrotes Wasser auf wie Blut unterm Skalpell, ein reichhaltiges Lateritelixir, das jedes Lebewesen nährt. Die Behauptung, in dieser Erde wüchsen abgetriebene, aber lebensfähige Feten zu wilden Menschen heran, kann man getrost verwerfen, doch steht außer Frage, dass hier Gewürze in einer Fülle wie nirgendwo sonst auf der Welt gedeihen. Schon Jahrhunderte vor Christus fingen Seeleute die Südwestwinde in den Trapezsegeln ihrer Daus, um zu der »Gewürzküste« zu fahren und Pfeffer, Nelken und Zimt zu kaufen. Kehrten sich die Passatwinde um, fuhren sie zurück nach Palästina und verkauften die Gewürze für ein kleines Vermögen an Händler aus Genua und Venedig.

Die Gier nach Gewürzen fegte über Europa ebenso hinweg wie die Syphilis oder die Pest, und mittels derselben Träger: Matrosen und Schiffe. Diese Ansteckung jedoch war gesund: Gewürze verlängerten das Leben der Nahrung sowie derjenigen, die sie verzehrten. Es gab noch weitere Vorteile. In Birmingham fand ein Priester, der Zimt kaute, um seinen weinhaltigen Atem zu überdecken, dass er für die weiblichen Gemeindemitglieder unwiderstehlich war, und verfasste anonym die beliebte Flugschrift Newe Sauces Swete and Sharp: A Merrie Gallimaufry of Couplings Uncouthe and Pleasant for Man and his Wyf [Neue Soßen, süß und scharf: Ein fröhlich Gemisch von unfeinen und freudigen Paarungen für Mann und sin Fru]. Apotheker priesen die Wunderheilung von Wassersucht, Gicht und Hexenschuss durch Trunke mit Kurkuma, Kokum und Pfeffer. Ein Marseiller Arzt fand heraus, dass ein kleiner, schlaffer Penis, mit Ingwer eingerieben, beide Zustände in ihr Gegenteil verkehrte und der Partnerin »solche Freuden bereitet, dass sie sich weigert, ihn von sich zu lassen«. Eigenartigerweise ist es westlichen Köchen nie in den Sinn gekommen, Pfefferkörner, Fenchelsamen, Kardamom, Nelken und Zimt zu rösten und zu mahlen und diese Mischung sodann mit Senfsamen, Knoblauch, Zwiebeln und Öl zu einem masala zu verrühren, der Grundlage eines jeden Currygerichts.

Als Gewürze in Europa die Preise kostbarer Juwelen erzielten, hielten die arabischen Seeleute, die sie aus Indien holten, ihre Quelle natürlich über Jahrhunderte geheim. Um 1400 unternahmen die Portugiesen (und später die Holländer, die Franzosen und die Engländer) Expeditionen auf der Suche nach dem Land, wo diese unbezahlbaren Gewürze wuchsen; diese Suchenden waren wie geile Jugendliche, die eine lose Frau gewittert hatten. Wo war sie? Im Osten, immer irgendwo im Osten.

Doch Vasco da Gama fuhr von Portugal nicht nach Osten, sondern nach Westen. Er segelte die westafrikanische Küste entlang, umrundete Kap Hoorn und fuhr auf der anderen Seite wieder nordwärts. Irgendwo im Indischen Ozean nahm da Gama einen arabischen Lotsen gefangen und folterte ihn, bis der ihn an die Gewürzküste führte, dem heutigen Kerala, wo sie nahe der Stadt Calicut landeten; es war die längste Seereise, die jemals unternommen worden war.

Der Zamorin von Calicut war von da Gama und seinem Monarchen, der als Tribut Meereskorallen und Messing schickte, wenig beeindruckt, waren die Geschenke des Zamorin doch Rubine, Smaragde und Seide. Da Gamas erklärte Absicht, den Heiden die Liebe Christi zu bringen, fand er lächerlich. Wusste dieser Idiot denn nicht, dass schon vierhundert Jahre vor seiner Ankunft in Indien, sogar noch vor der des heiligen Petrus in Rom, ein anderer der zwölf Jünger – Thomas – nur ein kleines Stück weiter an der Küste auf einer arabischen Handelsdhau gelandet war?

Der Legende nach traf Thomas im Jahr 52 n. Chr. ein, nahe dem heutigen Cochin. Dort begegnete er einem Jungen, der vom Tempel zurückkehrte. »Erhört dein Gott deine Gebete?«, fragte er. Der Junge sagte, das tue sein Gott gewiss. Da warf Thomas Wasser in die Luft; die Tröpfchen blieben in der Luft schweben. »Kann dein Gott das auch?« Durch solche Demonstrationen, waren sie nun Zauberei oder Wunder, bekehrte er einige brahmanische Familien zum Christentum; später wurde er in Madras zu Tode gemartert. Jene ersten Konvertiten – die Thomaschristen – blieben ihrem Glauben treu und heirateten nicht außerhalb ihrer Gemeinde. Im Lauf der Zeit wuchsen sie an, stets verbunden durch ihre Bräuche und Kirchen.

Fast zweitausend Jahre später haben zwei Nachfahren jener ersten indischen Konvertiten, eine zwölfjährige Braut und ein Witwer mittleren Alters, geheiratet.

»Passiert ist passiert«, wird unsere junge Braut sagen, als sie Großmutter wird und ihre Enkelin – und Namensvetterin – sie um eine Geschichte über ihre Ahnen bittet. Das kleine Mädchen hat gerüchteweise gehört, dass ihre Abstammung randvoll mit Geheimnissen ist und dass unter ihren Vorfahren Sklavenhalter, Mörder und ein verstoßener Bischof waren. »Kind, die Vergangenheit ist vergangen, und außerdem ist sie jedes Mal, wenn ich mich ihrer erinnere, anders. Ich werde dir von der Zukunft erzählen, derjenigen, die du einmal haben wirst.« Doch das Kind beharrt darauf.

Wo sollte die Geschichte beginnen? Mit dem »ungläubigen« Thomas, der unbedingt Christi Wunden sehen wollte, bevor er es glaubte? Mit anderen Glaubensmärtyrern? Wonach das Kind schreit, ist die Geschichte ihrer Familie, des Hauses des Witwers, in das ihre Großmutter eingeheiratet hat, eines landumschlossenen Gebäudes in einem Land des Wassers, eines Hauses voller Mysterien. Doch solche Erinnerungen sind aus Spinnfäden gewoben; die Zeit frisst Löcher in den Stoff, die sie dann mit Mythen und Fabeln stopfen muss.

Einiger Dinge ist sich die Großmutter gewiss: Eine Geschichte, die sich dem Zuhörer einprägt, erzählt die Wahrheit über das Leben der Welt, weswegen sie zwangsläufig von Familien handelt, von ihren Siegen und Wunden und ihren Verschiedenen, auch von den Geistern, die geblieben sind; sie muss Unterweisungen enthalten, wie man in Gottes Reich lebt, wo die Freude einem nie Leid erspart. Eine gute Geschichte geht über das hinaus, was ein nachsichtiger Gott gern tut: Sie versöhnt Familien und entbindet sie von Geheimnissen, deren Bande stärker sind als Blut. Doch indem sie gewahrt wie auch enthüllt werden, können Geheimnisse eine Familie auseinanderreißen.

3. Kapitel

Unerwähntes

1900, Parambil

Die neue Braut träumt, sie plantsche mit ihren Cousinen in der Lagune, hangle sich auf das schmale Skiff, lasse es absichtlich kentern, klettere erneut darauf, ihr Gelächter schalle von den Ufern zurück.

Verwirrt erwacht sie.

Ein schnarchender Hügel neben ihr hebt und senkt sich. Thankamma. Ja. Ihre erste Nacht in Parambil. Der Name scharrt ihr befremdlich über die Zunge wie die Kante eines abgeschlagenen Zahns. Von nebenan, dem Zimmer ihres Mannes, hört sie nichts. Thankammas Körper verbirgt einen kleinen Jungen – sie sieht lediglich das schimmernde Haargewirr auf seinem Kopf und eine aufgedrehte Hand direkt dahinter.

Sie horcht. Etwas fehlt. Das Fehlen ist verstörend. Da kommt es ihr: Sie hört kein Wasser. Sie vermisst seine murmelnde, beruhigende Stimme, daher hat sie es im Traum selbst erzeugt.

Gestern hat das vallum, ein an den Seiten mit Planken bewehrter Einbaum, sie und Thankamma an einem kleinen Steg abgesetzt. Sie durchquerten ein langes Feld mit lauter turmhohen Kokospalmen voller Früchte. Vier Kühe grasten, jede an einem langen Strick. Sie liefen durch Reihen um Reihen Bananenstauden, deren schlaffe Blätter sich aneinanderschmiegten und rieben. Sie hingen voller Büschel roter Bananen. Die Luft war vom Parfum eines chempaka-Baums erfüllt. Drei abgetretene, glattgeschliffene Trittsteine führten durch einen flachen Bach, der sich weiter oben zu einem Teich verbreiterte, dessen Ufer mit Pandanussträuchern und kleinen, mit orangefarbenen Kokosnüssen beladenen chenthengu-Palmen überwuchert waren. Am Teichufer war ein Waschstein; Thankamma sagte, an der Stelle solle sie dann baden. Das Gurgeln des Bachs war vielversprechend. Als sie am Steg angelangt waren, hatte sie nach dem Haus Ausschau gehalten, doch es war nicht am Fluss, also musste es ja an dem Bach sein … doch sie sah nichts. »Dieses Land, über zweihundert Hektar«, sagte Thankamma stolz und zeigte nach links und rechts, »das alles ist Parambil. Das meiste ist wild, hügelig, nicht gerodet. Von dem grob gerodeten Abschnitt ist nur ein Teil kultiviert. Bevor dein Mann es gezähmt hat, war alles Dschungel, molay.«

Zweihundert Hektar. Was bis gestern ihr Zuhause gewesen war, lag gerade mal auf einem.

Sie waren weiter auf einem von Tapioka gesäumten Pfad gegangen. Endlich sah sie das Haus, hoch oben auf einer Anhöhe zeichnete es sich vor dem Licht ab. Sie starrte auf das, was für ihr restliches Leben ihr Zuhause sein würde. Der Dachfirst hing wie üblich in der Mitte durch, schwang sich zu den Enden hin auf; die tiefen, überhängenden Dachvorsprünge sperrten die Sonne aus und beschatteten die Veranda … sie aber konnte nur denken: Warum dort oben? Warum nicht am Bach? Oder am Fluss, der Besuch, Neuigkeiten und alle guten Dinge bringt?

Nun liegt sie auf dem Rücken und schaut sich im Zimmer um: die geölten, polierten Wände sind nicht aus wildem Jackwood, sondern aus Teak, und oben gibt es kruzifixförmige Öffnungen, durch welche die warme Luft entweichen kann. Auch die abgehängte Decke ist aus Teak, ein Puffer gegen die Hitze. Schmale Holzstäbe über den Fenstern lassen die Brise ungehindert durch, und natürlich führt eine geteilte Tür auf die Veranda; die obere Hälfte steht offen, um den Wind einzulassen, die untere ist geschlossen, um die Hühner wie auch die beinlosen Tiere draußen zu halten – im Grunde ist es wie das Haus, das sie zurückgelassen hat, nur größer. Jeder thachan oder Zimmermann befolgt dieselben alten Vastu-Regeln, von denen weder Hindu noch Christ abweichen. Für einen guten thachan ist das Haus der Bräutigam und das Land die Braut, und die beiden muss er ebenso sorgfältig passend machen wie der Astrologe seine Horoskope. Liegt eine Tragödie oder ein Spuk über einem Haus, dann werden die Leute sagen, das kommt davon, wenn das Gebäude unheilträchtig angelegt war. Daher fragt sie sich erneut: Warum hier, weg vom Wasser?

Blätterrascheln, ein Beben, das durch die Erde zu ihr dringt, lässt ihr Herz rasen. Etwas bei der Tür blockiert das Licht der Sterne. Will sich da ein Hausgeist bei ihr vorstellen? Als Nächstes scheint ein buschiger Strauch durch die obere Türhälfte ins Zimmer zu wachsen. Darum windet sich eine riesige Schlange. Sie kann sich weder regen noch schreien, obwohl sie weiß, dass gleich etwas Schreckliches mit ihr geschieht in diesem rätselhaften, landumschlossenen Haus … aber riecht denn der Tod nach Jasmin?

Ein Büschel ausgerissenen Jasmins schwebt über ihr, gehalten vom Rüssel eines Elefanten. Die Blüten schwingen über den Schlafenden, verharren dann über ihr. Sie spürt einen warmen, feuchten, alten Atem auf dem Gesicht. Feine Erdkrümchen fallen ihr auf den Hals.

Ihre Angst legt sich. Zögernd greift sie nach der Gabe. Verblüfft stellt sie fest, dass die Nasenlöcher ganz menschlich aussehen, umrahmt von blasserer, gesprenkelter Haut, zart wie eine Lippe und dennoch so flink und geschickt wie zwei Finger; er schnüffelt an ihrer Brust, kitzelt sie am Ellbogen, fährt dann zu ihrem Gesicht hinauf. Sie unterdrückt ein Kichern. Heiße Ausdünstungen stoßen wie Segnungen auf sie nieder. Der Duft ist wie aus dem Alten Testament. Geräuschlos zieht sich der Rüssel zurück.

Als sie sich umdreht, sieht sie, dass sie einen verblüfften Zeugen hat. Der zweijährige JoJo sitzt da und starrt mit weit aufgerissenen Augen über Thankammas Taille. Grinsend erhebt sie sich, winkt ihn zu sich und hebt ihn an die Hüfte, dann gehen sie nach draußen, der Erscheinung hinterher.

Wie in jedem Haus spürt sie überall in Parambil Geister. Einer läuft draußen auf dem muttam. In der Finsternis flackern unsichtbare Seelen, massenhaft wie Glühwürmchen.

Auf einer Lichtung, neben einer aufragenden Palme schwingt, über einem Stapel Kokoswedel schwebend, der Netzhautschimmer eines Auges wie eine Lampe im Wind. Als sie genauer hinsieht, erscheint der Berg einer Stirn, dann träge schlagende Ohren … eine Skulptur, aus dem schwarzen Stein der Nacht gehauen. Der Elefant ist kein Geist, er ist real.

JoJo schlingt geistesabwesend einen Arm um ihren Hals, seine Finger fassen das Ohrläppchen; behaglich sitzt er auf ihrer Hüfte, als hätte er nie eine andere gekannt. Sie will lachen; erst gestern hat sie sich an Thankamma geklammert. Still stehen sie da, zwei Halbwaisen. Die Geister erhalten ihre Befehle von dem Jasminspender und ziehen sich in die Schatten zurück, die dem Morgengrauen weichen.

In ihrem kurzen Leben hat sie gesehen, wie Tempelelefanten verehrt und mit Leckereien verwöhnt wurden; sie hat Arbeitselefanten gesehen, wie sie auf dem Weg in den Wald durch Dörfer trampelten. Der Elefant da aber, der die Sterne blockiert, ist doch gewiss der größte Elefant der Welt. Zuzusehen, wie er gemächlich kaut, wie der Rüssel anmutig tanzt, indem er Blätter in ein grinsendes Maul faltet, beruhigt sie.

Jenseits des Elefanten, gleich hinter dem Schlammwall, der um jede Kokospalme einen kleinen Damm bildet, damit Wasser und Dung nicht ablaufen, schläft ein Mann auf einem Seilbett.

Ellbogen und Knie ihres Ehemanns ragen über den durchhängenden Holzrahmen hinaus. In der Haltung seines kräftigen linken Arms, eingebogen, um ein Kissen für die Wange zu bilden, die Finger zu einem Punkt gefasst, sieht sie ein Echo ihres Jasmin tragenden Besuchers.

4. Kapitel

Initiation einer Hausherrin

1900, Parambil

Der gestampfte Lehmboden in der Küche ist kühl an ihren Füßen. Die Wände sind rauchgeschwärzt, sie bergen köstliche Düfte; sogleich fühlt sie sich in dieser schattigen Zuflucht zu Hause. Thankamma bläst, vorgebeugt, mit geblähten Backen durch ein dickes Metallrohr, um im aduppu die Glut vom Vorabend wieder anzufachen. Von den sechs Backsteinschlitzen in der erhöhten Feuerstelle stehen auf vieren Töpfe. Sie staunt, wie schnell sich Thankamma für eine dicke Frau bewegt, wie wirbelnde Hände trockene Kokosschalen unter die Pfanne mit den bratenden Zwiebeln stecken und damit die Glut niederdrücken, damit der Reis nun köcheln kann. Thankamma schenkt der Braut in Milch gebrühten und mit Palmzucker gesüßten Kaffee ein. »Ich hab puttu gemacht«, sagt sie und schiebt ihr einen schwammigen weißen Zylinder gekochtes Reismehl aus einer Holzform auf den Teller, ein Bananenblatt. Sie hat das gebratene Rindfleisch – erechi olarthiyathu –– und das scharfe Fischcurry – meen vevichathu – vom Vorabend aufgewärmt. »Ist der Fisch morgens nicht schmackhafter? Das ist das Schöne an diesem Tontopf! Halte ihn in Ehren, indem du ihn ausschließlich für meen vevichathu benutzt, ja? Mit jedem Jahr wird das Curry dann besser. Brennt das Haus und ich muss mich zwischen meinem Mann und meinem Tontopf entscheiden … na, da kann ich nur sagen, er hat ein gutes Leben gehabt. Die Currys, die ich dann in meinem Topf mache, werden mir die Witwenschaft erleichtern!«

Thankamma lacht laut auf. Die Braut sitzt wie benommen da, im Schneidersitz, und betrachtet ihr erstes Frühstück in Parambil: Es ist üppig und nahrhafter als alles, was sie und ihre Mutter in einer Woche zu essen hatten.

»Dein Mann hat wie immer im Stehen gegessen. Er ist schon auf dem Feld.«

Thankamma beharrt darauf, dass eine Braut sich immer nur verwöhnen lassen soll. Sie versucht es, doch es geht gegen ihre Natur. Sie betrachtet Thankammas Finger, versucht, sich die Zutaten zu merken, die sie in die Currys werfen, doch das fällt schwer, wenn nie weniger als zwei Gerichte gleichzeitig gemacht werden. Thankammas Hände haben gewiss ihr eigenes Gedächtnis, denkt sie, denn ihre Besitzerin beachtet sie bei ihrem Geplauder gar nicht. JoJo zerrt sie weg, stolz darauf, ihr Führer zu sein, zeigt ihr jedes Zimmer, vergisst, dass er das gerade zwei Stunden davor schon einmal gemacht hat. Das Haus ist L-förmig; ein Glied ist das ältere, ursprüngliche Haus, das gut vom Boden weg auf einem hohen Sockel steht, in der Mitte der Tresorraum oder ara, in dem der Reichtum der Familie – Geld, Schmuck und Reis – lagern. Unter dem ara liegt ein Keller, und flankiert ist er von einem ungenutzten Schlafzimmer und einer großen Vorratskammer, an die sich die Küche anschließt. Das alles ist durch eine schmale äußere Veranda verbunden. Das neuere Glied steht dem Boden näher und ist an drei Seiten von einer breiteren, einladenden Veranda umgeben. Es enthält ein wenig genutztes Wohnzimmer, zwei große Schlafzimmer – das ihres Mannes und das, in dem sie, JoJo und Thankamma schlafen – sowie ein weiteres, das als Abstellraum genutzt wird.

Altes und neues Glied umfassen einen rechteckigen muttam oder Innenhof mit gelben, goldenen und weißen Kieseln, die aus einem Flussbett stammen. Jeden Morgen fegt Sara, eine pulayi-Frau, den muttam mit einem Besen, entfernt totes Laub und richtet die Kiesel zu einem fächerartigen Muster aus. Auf dem muttam werden auch Matten ausgerollt, auf denen dann gekochter Reis getrocknet wird, Kleider an die Leine gehängt, und JoJo kickt seinen Ball umher.

Nach dem Mittagessen halten sie, JoJo und Thankamma ein langes Schläfchen. Ihr Mann tut das nie, sondern verbringt die meiste Zeit draußen bei der Arbeit auf dem Land. Wenn sie ihn kurz auf den Feldern sieht, ist er stets in Begleitung einiger pulayar, von denen er sich durch seine Größe abhebt und auch, weil seine Haut im Vergleich zu der ihren hell wirkt. Abends sitzen sie zu dritt in dem Laufgang vor der Küche, und Thankamma erzählt, die Beine hochgelegt, endlose Geschichten und verwöhnt sie und JoJo dabei mit Leckereien aus dem Keller. Erst spät erkennt sie, dass Thankammas Geschichten eine Form von Unterweisung sind. Nachts, wenn sie sich schlafen legt, versucht sie, sich daran zu erinnern, aber da packt auch das Heimweh ihr Inneres, und alle ihre Gedanken wenden sich nach Hause. Thankammas Zuneigung erinnert sie so sehr an ihre Mutter, dass es ihre Traurigkeit manchmal noch verstärkt. Erst als sie sicher ist, dass alle schlafen, erlaubt sie sich zu weinen.

An ihrem zweiten Morgen hören sie von fern das Gejodel der Fischhändlerin, und Thankamma bittet die Braut, sie herzurufen. Fünf Minuten später steht die Frau vor der Küche, sie verströmt den Duft des Flusses. Thankamma hilft ihr, den schweren Korb vom Kopf abzunehmen.

»Aah, das ist also die Braut!«, sagt die Fischhändlerin, wischt sich Schuppen von den Unterarmen und hockt sich hin. »Speziell für sie habe ich heute mathi mitgebracht.« Sie schlägt das Sackleinen vom Korb zurück, als enthüllte sie kostbare Juwelen.

Thankamma schnüffelt an einer Sardine, drückt sie und klatscht sie wieder auf ihre Artgenossen. »Speziell für die Braut, wie? Wenn das speziell sein soll, behalten Sie’s. Was ist denn unter dem Tuch da? Aah! Sieh mal an. Für wen ist denn dieser mathi? Gab’s da noch eine Hochzeit, von der ich nichts wusste? Der bleibt hier! Kein Wort!«

Am nächsten Tag sieht sie Shamuel pulayan über den muttam gehen, er ächzt unter einer Kopflast Kokosnüsse in einem großen Korb. Thankamma hat ihn ihr als den Vorarbeiter in Parambil und den ständigen Begleiter ihres Mannes gezeigt; Sara, die den muttam fegt, ist seine Frau. Shamuels Familie arbeitet schon seit Generationen für sie, hat Thankamma gesagt; wahrscheinlich waren seine Vorfahren in vergangenen Zeiten vertraglich an die Familie gebunden worden, bevor das verboten wurde. Die pulayar sind in Travancore die unterste Kaste; sie besitzen kaum je eigenes Land, sogar ihre Hütten gehören dem Besitzer. Allein schon ihr Anblick genügt, um einen Brahmanen zu verunreinigen, der daraufhin ein rituelles Bad nehmen muss.

Unter dem Gewicht des Korbs sind Shamuels Hals- und Armmuskeln straffe Seile auf seiner kleinen, kompakten Gestalt. Seine nackte Brust hebt sich, die Rippen scheinen mehr außerhalb des Körpers als drin zu sein; bis auf ein paar Stoppeln auf den Wangen und über der Lippe sowie einem gestutzten Haarschopf auf dem Kopf, der an den Seiten schon ergraut, ist sein Körper völlig unbehaart. Er wirkt so alt wie ihr Mann, wenngleich Thankamma sagte, er sei jünger.

Als Shamuel sie erblickt, wandelt sich sein Gesicht zu einem breiten Lächeln, die Wangenknochen schimmern wie poliert, tiefschwarze Hügel, und die weißen, ebenmäßigen Zähne betonen noch seine feinen Züge. Seine Begeisterung, die Braut begrüßen zu können, hat etwas Kindliches. »Aah!«, sagt er – aber davor muss noch etwas Praktisches geregelt werden: »Molay, könntest du wohl Thankamma chechi bitten, herauszukommen? Der Korb hier könnte für dich zu schwer sein.«

Nachdem Thankamma ihm geholfen hat, den Korb abzusetzen, nimmt er das aufgewickelte thorthu vom Kopf, schüttelt es aus und wischt sich damit das Gesicht ab, wobei weder sein Lächeln noch seine Augen die Braut verlassen. »Kommen noch mehr Körbe. Wir sind den ganzen Vormittag geklettert, der thamb’ran und ich.« Er zeigt, und sie sieht ihren Mann, wie er, die Arme verschränkt, rittlings auf einer krummen Palme an einer Stelle hockt, wo der Stamm nahezu horizontal liegt. Er lässt die Beine achtlos baumeln, wirkt in Gedanken versunken. Bei dem Anblick erschauert sie unwillkürlich, er weckt ihre Höhenangst. Sie kann sich nicht vorstellen, wie ein Landbesitzer so sein Leben riskiert, wo es für diese Arbeit doch pulayar gibt.

»Wie kommt’s, dass du den thamb’ran so kurz nach seiner Hochzeit da hinauflässt?«, fragt Thankamma, scheinbar unwirsch. »Sag die Wahrheit – wenn er klettert, hast du nur die halbe Arbeit.«

»Aah, halten Sie den mal auf. Er ist wie der kleine thamb’ran hier«, sagt er und stupst JoJo in den Bauch. »Glücklicher im Himmel als auf der Erde.« JoJo freut sich, dass er der kleine Herr genannt wird.

Shamuels nackte Brust ist mit Rinde gesprenkelt. Weiterhin die Frau des thamb’ran angrinsend, faltet er sein blaukariertes thorthu sorgfältig der Länge nach und legt es sich dann über die linke Schulter. Sie wendet sich schüchtern ab und senkt den Blick, wobei sie seinen verformten rechten großen Zeh bemerkt, der flach wie eine Münze und ohne Nagel ist.

Thankamma sagt: »Aah, Shamuel, schäl uns doch bitte drei Kokosnüsse. Danach spüle und komm was essen. Deine neue Herrin wird dir auftragen.«

Shamuel hat seinen eigenen Tonteller, er hängt an einem Haken unter dem überstehenden Dach hinten an der Küche, und dort wird er auch essen, auf der hinteren Treppe. Die pulayar betreten nie das Haus. Zu Hause kocht Sara für ihn, doch eine Mahlzeit im Haupthaus schont seinen Reisvorrat. Nachdem er seinen Teller ausgespült hat, füllt er ihn mit Wasser und trinkt es, dann hockt er sich auf die Stufen. Die Braut bringt ihm kanji – suppigen Reis in seinem Kochwasser – mit einem Stück Fisch und eingelegter Limone.

»Und? Gefällt’s dir hier?«, fragt er; eine dicke Kugel Reis wölbt seine Wange. Sie steht schüchtern vor ihm und nickt. Gedankenverloren malt sie mit dem Finger ein , den ersten Buchstaben in ãna, also Elefant, ein Zeichen, das, wie sie findet, irgendwie doch dem Tier ähnelt. »Als ich nach Parambil kam, war ich jünger als du. Halt ein kleiner Junge«, sagt er. »Bevor es überhaupt ein Haus gab. Ich hatte Angst, wir würden im Schlaf zertrampelt. Ein Haus schützt einen. Das Geheimnis ist das Dach, weißt du? Was glaubst du, warum wir es immer so bauen?«

Für sie ist es ein Dach wie jedes andere. Nur der vordere Giebel – das Gesicht des Hauses mit seinem Muster geschnitzter Öffnungen im Holz – ist bei jedem individuell. Überall sonst fächern die strohgedeckten Vorsprünge aus, als hätte das Dach vor, das Gebäude zu verschlingen. Shamuel zeigt. »Wenn die Sparren so vorstehen, hat ein Elefant keine glatte Fläche, an die er sich lehnen kann. Oder dagegen stoßen.« In seinem Stolz, ihr etwas beizubringen, ist er wie JoJo. Sie findet Gefallen an ihm.

»Der Elefant ist in der ersten Nacht gekommen, um mich zu begrüßen«, sagt sie mit kleiner Stimme.

»Ach ja? Damodaran!«, sagt Shamuel und schüttelt lachend den Kopf. »Der Bursche kommt und geht, wie’s ihm passt. Ich war schon am Einschlafen, als ich spürte, wie die Erde bebte. Ich wusste, dass er es war. Ich trat hinaus, und da saß Unni auf ihm und grummelte, weil Damo sich entschieden hatte, vom Holzlager herzukommen, wo’s doch schon dunkel war. Aah, aber sehr hat sich Unni nicht beschwert. Jedes Mal wenn Damo hier ist, kriegt Unni die Nächte frei, um bei seiner Frau zu sein. Und der thamb’ran schläft neben Damo. Sie unterhalten sich.«

Einen Elefanten zu halten ist teuer, hat sie gehört. Nicht nur muss Unni, offenbar der Mahut, bezahlt werden, auch die Kosten fürs Futter fallen an.

»Gehört Damodaran uns?«

»Uns? Gehört die Sonne uns?« Shamuel wartet wie ein Schulmeister, dass sie verneinend den Kopf schüttelt. »Aah, aah, genau wie die Sonne ist Damodaran sein eigener Herr. Ich ziehe Unni damit auf, dass der wahre Mahut Damo ist, auch wenn er Unni oben sitzen und so tun lässt, als würde er ihn lenken. Von Damo hat dir noch niemand erzählt? Aah, dann lass es dir von Shamuel erzählen. Lange bevor es dieses Haus gegeben hat, als thamb’ran und mein Vater im Freien schliefen, hörten sie schreckliche Schreie. Trompeten. Die Erde bebte! Das Geräusch berstender Bäume war wie Donner. Mein Vater dachte, die Welt geht unter. Im Morgengrauen fanden sie dann den jungen Damodaran, gleich da drüben, er lag auf der Seite, ein Auge kaputt, es blutete, und zwischen den Rippen ragte ein abgebrochener Stoßzahn raus. Der Elefantenbulle, der ihn angegriffen hatte, war wohl in der Musth. Der thamb’ran band einen Strick um den Stoßzahn, trat weit zurück und zog ihn raus. Hast du ihn schon gesehen? Er steht im Zimmer des thamb’ran. Damodaran brüllte vor Schmerzen. Blasen und Blut quollen aus der Wunde. Thamb’ran – so mutig ist er – kletterte auf Damos Seite und verstopfte das Loch mit Laub und Schlamm. Sachte träufelte er Damodaran Wasser ins Maul und saß bei ihm und sprach mit ihm den ganzen Tag und noch die ganze Nacht. Zu Damo hat er mehr gesagt als zu allen Menschen im ganzen Leben zusammengenommen, sagt jedenfalls mein Vater. Nach drei Tagen stand Damodaran auf. Eine Woche später ging er fort.

Ein paar Tage danach – der thamb’ran und mein Vater hatten einen großen Teakbaum gefällt und versuchten gerade, ihn in die Lichtung zu schaffen – trat Damodaran aus dem Wald und schob ihn für sie, einfach so. Elefanten arbeiten gern. Er wurde richtig gut mit Stämmen. Jetzt arbeitet er in den Teakwäldern bei den Holzfällern, aber nur, wenn er Lust dazu hat. Wenn er sich dazu entscheidet, kommt er. Er ist gekommen, um sich die neue Frau des thamb’ran anzusehen. Glaub ich jedenfalls.«

Unter Thankammas Anleitung gewöhnt sie sich allmählich in ihr neues Leben in Parambil ein. Mit jedem weiteren Tag verblasst das Haus, das sie verlassen hat, was ihre Sehnsucht noch vertieft. Sie will es nicht vergessen. Nach dem Frühstück sagt Thankamma: »Heute können wir, dachte ich, zusammen Jackfrucht-halwa machen. Weil JoJo und ich ganz verrückt danach sind!« JoJo klatscht in die Hände. »Molay, die Süße des Lebens steckt sicher nur in zwei Dingen: Liebe und Zucker. »Kriegst du vom ersten nicht genug, dann nimm dir mehr vom zweiten!« Thankamma hat schon Jackfruchtstücke gekocht und vermischt sie nun mit geschmolzenem Palmzucker. »Dazu ein Geheimnis: Wenn du die Jackfrucht stampfst, denke an etwas, was du von deinem Mann willst.« Thankamma kneift die Augen zusammen, grinst von der Anstrengung und zeigt die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. »Nun noch eine Prise Kardamom und Salz und einen Teelöffel Ghee. Fertig! Es muss jetzt noch mehr abkühlen. Probier mal. Ist das nicht herrlich?« Sie senkt die Stimme. »Ganz ehrlich, molay. Das ist der Schlüssel zu einer glücklichen Ehe. Wünsch dir was, und dann gibst du deinem Mann das halwa zu essen. Was du dir auch wünschst, es wird wahr!«

So stolz sie ist, in den Rhythmus des Haushalts zu finden, ein paar Gerichte unter Thankammas wachsamem Blick zu kochen, es wird von dem Wissen gedämpft, dass Thankamma bald gehen muss. Wenn sie überschwänglich ihr Hühnercurry lobt, glüht sie vor Stolz, im nächsten Moment jedoch klammert sie sich an Thankamma und vergräbt das Gesicht in der gut gepolsterten Schulter, um ihre Tränen zu verbergen. Bitte bleib! Geh nie weg! Doch sie liebt ihre Tante schon zu sehr, um es auszusprechen. Thankamma muss ihren eigenen Haushalt führen, ein Ehemann erwartet sie. Sie murmelt: »Deine Freundlichkeit werde ich nie vergessen. Wie kann ich dir jemals danken?«

»Aah, wenn du mal eine Schwiegertochter hast, behandle sie wie ein Juwel. So kannst du mir danken.«

Am Tag vor ihrer Abreise tritt Thankamma aus der Küche und späht zur Sonne hinauf, die direkt über ihr steht. »Molay, schneide doch ein Bananenblatt ab und mach deinem Mann sein Mittagessen. Gib ihm dein Bohnen-thoren zu kosten und auch die mathi, die wir gebraten haben. Gib ordentlich Reis dazu. Bestimmt ist er irgendwo mit Shamuel draußen, immerzu begutachtet er sein Land. Siehst du die hohe Kokospalme dort? Irgendwo da wird er sein.« Die Braut lädt gehorsam das Essen auf ein Bananenblatt, faltet es zusammen und bindet eine Schnur darum; sie nimmt ein kleines Messinggefäß mit jeera-Wasser – mit Kreuzkümmelsamen aufgekochtes Wasser – und zieht los. Thankammas bevorstehende Abreise bereitet ihr Kummer. Am Morgen hat sie entdeckt, dass es in Parambil weder Papier noch Federhalter gibt. Ihre Hoffnungen, sie könnte sich einige von Thankammas Rezepten notieren, sind zerschlagen. Und wenn sie sie nun vergisst?

Der Pfad ist von hohem Gras gesäumt, das ihr bis zur Schulter reicht. Thankamma hatte gesagt, früher sei es so überwuchert gewesen, dass weder Gott noch Licht es durchdrangen, und in dem Dickicht wimmle es von Skorpionen, Kobras, riesigen Ratten und bissigen Tausendfüßlern. »Welcher Hindu oder Christ wäre so verrückt, sich dort anzusiedeln?«, hatte Thankamma gesagt. »Dein Mann kam hierher, nachdem unser ältester Bruder ihn aus dem Familiensitz geschwindelt hat, indem er ihn auf ein Stück Papier ein Zeichen hat machen lassen.« Shamuels Vater, Yohannan pulayan, kam mit, da er es als seine Pflicht ansah, dem rechtmäßigen Erben zu dienen; später holte er dann seine Frau und seinen Sohn nach. Die beiden Männer bauten einen groben Schuppen. »Kannst du dir vorstellen, dass mein Bruder mit seinen pulayar unter einem Dach schlief? Mit ihnen aß? Sämtliche Kastengrenzen verschwinden, wenn du in die Hölle kommst, nicht? Nur die Heiligen hielten sie am Leben. In der ersten Woche trug ein Tiger ihre einzige Ziege davon. An den meisten Tagen litten sie Fieber. Dennoch gruben sie, entwässerten den Sumpf, rodeten ohne Pause. Molay, das erzähle ich dir nicht nur, weil ich stolz auf meinen kleinen Bruder bin, sondern auch, damit du weißt, dass er andere Gepflogenheiten hat als andere. Yohannan war wie ein Vater zu ihm. Und so wird auch Shamuel ein ganzes Leben lang für dich und deine Familie da sein.« Thankamma sagte, ihr Mann habe einen gelernten Hindu-thachan und einen Schmied hergelockt, indem er ihnen gerodete Flächen am Fluss anbot und dafür sorgte, dass die pulayar-Hütten flussab stehen würden, damit sie nicht über rituelle Verschmutzung zu klagen hätten. Der Töpfer, der Goldschmied und der Steinmetz kamen später. Als das Haus fertig gebaut war, gab ihr Mann etlichen Verwandten einen halben bis einen Hektar große Parzellen. Wenn sie dann ihr Land bestellt und die Ernte verkauft hätten, konnten diese Verwandten weiteres Land von ihm kaufen, wenn sie wollten. »Du verstehst, was ich dir damit sage, molay? Er hat ihnen das Land glattweg geschenkt! Sie können es ihren Kindern vererben. Er wollte, dass diese Gegend floriert. Aber er ist noch nicht fertig. Wer weiß, wenn ich das nächste Mal zu Besuch komme, gibt’s womöglich auch eine richtige Straße, Kaufläden, eine Schule …«

»Eine Kirche?«, warf sie ein, doch darauf gab Thankamma keine Antwort.

Ihr Mann blickt, als sie ihn findet, einen Baum hinauf, die bloße Brust mit Rinde gefleckt, an der Hüfte hängt ein bedrohliches vettukathi