Rückkehr nach Missing - Abraham Verghese - E-Book
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Rückkehr nach Missing E-Book

Abraham Verghese

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Beschreibung

Ein meisterhaftes Epos über Familie, Intimität und die wundersame Schönheit, die darin liegt, andere zu heilen. Äthiopien in den sechziger Jahren: Marion und Shiva Stone, eineiige Zwillingsbrüder, wachsen als Waisenkinder in einem Missionshospital in Addis Abeba auf, der Kaiserstadt Haile Selassies. Ihre Mutter, eine schöne indische Nonne, starb bei ihrer Geburt, ihr Vater, ein britischer Chirurg, verschwand spurlos. Marion und Shiva sind unzertrennlich, und sie verbindet die Faszination für die Medizin, doch als sie zu jungen Männern heranwachsen, treibt die Liebe – ihre Leidenschaft für dieselbe Frau – einen Keil zwischen die beiden. Marion muss aus seinem von politischen Unruhen geschüttelten Heimatland fliehen, kommt nach Amerika und geht in seiner Arbeit in einem New Yorker Krankenhaus auf. Doch dann holt ihn die Vergangenheit ein, und er muss sein Leben ausgerechnet in die Hände der beiden Männer legen, denen er am wenigsten vertraut: seinem Vater, der ihn im Stich gelassen, und seinem Bruder, der ihn betrogen hat. Rückkehr nach Missing erzählt die unvergessliche Geschichte einer großen Liebe: zu den Menschen und zur Medizin. Eine packende Familiensaga über Afrika und Amerika, Ärzte und Patienten, Exil und Heimat.

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Seitenzahl: 1113

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Abraham Verghese

Rückkehr nach Missing

Roman

Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 7. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4000.

© 2009, der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: HildenDesign, München

Umschlagfoto: Arcangel Images

Composing: Studio Jan de Boer, Amsterdam

eISBN 978-3-458-77837-0

www.insel-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Die Ankunft

Teil 1

Kapitel 1: Der typhoide Zustand

Kapitel 2: Der fehlende Finger

Kapitel 3: Das Tor der Tränen

Kapitel 4: Die 5-F-Regel

Kapitel 5: Letzte Momente

Kapitel 6: Mein Abessinien

Kapitel 7: Fetor terribilis

Kapitel 8: Die Leute von Missing

Kapitel 9: Die ärztliche Verpflichtung

Kapitel 10: Shiva tanzt

Teil 2

Kapitel 11: Die Sprache der Liebe und die Sprache der Medizin

Kapitel 12: Die Grabstelle

Kapitel 13: In Jesu Armen

Kapitel 14: Kunde vom Erlöser

Kapitel 15: Die Schlange

Kapitel 16: Braut für ein Jahr

Teil 3

Kapitel 17: Tizita

Kapitel 18: Die Sünden des Vaters

Kapitel 19: Die einen Hunde und die anderen

Kapitel 20: Blinde Kuh

Kapitel 21: Kleine Kümmernisse

Kapitel 22: Die Schule des Leidens

Kapitel 23: Die Palastrevolte

Kapitel 24: Aus Liebe zu den Sterbenden

Kapitel 25: Zorn als Form der Liebe

Kapitel 26: Das Gesicht des Leidens

Kapitel 27: Der Ruf der Medizin

Kapitel 28: Der gute Arzt

Kapitel 29: Abu Kasems Pantoffeln

Kapitel 30: Wort für Wort

Kapitel 31: Das Reich des Fleisches

Kapitel 32: Eine Zeit zu säen

Kapitel 33: Eine Form von Wahnsinn

Kapitel 34: Eine Zeit zu ernten

Kapitel 35: Fieberkunde

Kapitel 36: Vorzeichen

Kapitel 37: Exodus

Teil 4

Kapitel 38: Willkommen in New York

Kapitel 39: Das Allheilmittel

Kapitel 40: Salz und Pfeffer

Kapitel 41: Immer ein Knoten nach dem anderen

Kapitel 42: Blutlinien

Kapitel 43: Große Runde

Kapitel 44: Fange am Anfang an

Kapitel 45: Eine Frage der Zeit

Kapitel 46: Zimmer mit Aussicht

Kapitel 47: Der Brief

Kapitel 48: Fünf Finger

Kapitel 49: Die Queen

Kapitel 50: Den Muskel durchtrennen

Kapitel 51: Eine teuflische Wahl

Kapitel 52: Zwei unpaarige Organe

Kapitel 53: Die Ankunft der heiligen Theresa

Kapitel 54: Heimatliche Wärme

Kapitel 55: Ein ganzes Leben

Danksagung

Bibliographie

Zu dieser Ausgabe

Leseprobe: Die Träumenden von Madras

Für George und Mariam Verghese Scribere iussit amor

Und weil ich dies Leben so liebe, so weiß ich, daß ich den Tod gleich lieben werde. Das Kind schreit auf, nimmt die Mutter es von der rechten Brust, und findet augenblicks Trost an der linken.

Rabindranath Tagore, aus dem Gitanjali

Prolog

Die Ankunft

Nach acht im Dunkel des Schoßes unserer Mutter verbrachten Monaten kamen mein Bruder Shiva und ich am späten Nachmittag des dreißigsten September im Jahr der Gnade, 1954, auf die Welt. Wir taten unsere ersten Atemzüge auf einer Höhe von dreitausend Metern in der dünnen Luft von Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien.

Das Wunder unserer Geburt ereignete sich im Operationssaal 3 des Missing Hospital, in demselben Raum, in dem unsere Mutter, Schwester Mary Joseph Praise, den Großteil ihrer Stunden verbrachte, bei einer Arbeit, in der sie Erfüllung fand.

Als bei unserer Mutter, einer Nonne des Bischöflichen Karmeliterordens von Madras, an jenem Septembermorgen überraschend die Wehen einsetzten, hatte der schwere Regen aufgehört. Das Prasseln auf die verrosteten Blechdächer des Krankenhauses brach so abrupt ab, wie ein Plappermaul mitten im Satz verstummt. Über Nacht erblühten in der plötzlichen Stille die Meskel-Blumen und vergoldeten die Hügel von Addis Abeba. Auf den Wiesen triumphierte das Riedgras über den Morast, und jetzt erstreckte sich ein leuchtender Teppich bis zum gepflasterten Eingang des Missing und versprach etwas, das wichtiger war als Kricket, Krocket oder Federball.

Das Missing Hospital stand auf einer grünen Anhöhe, eine unübersichtliche Ansammlung von weiß getünchten ein- und zweigeschossigen Gebäuden, die aussahen, als seien sie bei denselben geologischen Verwerfungen an die Erdoberfläche geschoben worden, die auch das Plateau des Entoto hervorgebracht hatten. Muldenartige Blumenbeete, die von dem aus den Dachrinnen überlaufenden Wasser lebten, umzogen die geduckten Gebäude wie ein Burggraben. Die Rosen der Oberin Hirst okkupierten die Mauern, ihre dunkelroten Blüten rahmten alle Fenster und kletterten bis ans Dach. So fruchtbar war der lehmige Boden, daß die Oberin ‒ die kluge und besonnene Leiterin des Krankenhauses ‒ uns mahnte, nicht barfuß darauf zu laufen, falls wir nicht wollten, daß uns neue Zehen sprossen.

Fünf Wege verliefen, von schulterhohen Büschen flankiert, vom Hauptgebäude des Krankenhauses wie die Speichen eines Rads zu fünf strohgedeckten Bungalows, die über und über von Dickicht, Hecken, wildem Eukalyptus und roten Zierbananen umstanden waren. Nach dem Willen der Oberin sollte das Krankenhaus aussehen wie ein Arboretum oder wie ein Teil von Kensington Gardens (wo sie, bevor sie nach Afrika kam, als junge Nonne spazierengegangen war) oder wie der Garten Eden vor dem Sündenfall.

Das Missing hieß eigentlich Mission Hospital, ein Wort, das die äthiopische Zunge mit einem Zischen aussprach, wodurch es wie Missing klang. Ein Angestellter im Gesundheitsministerium, frisch von der Highschool, hatte auf dem Formular zur amtlichen Zulassung »The Missing Hospital« getippt, in, was ihn betraf, phonetisch korrekter Schreibung. Ein Reporter des Ethiopian Herald hatte diesen Rechtschreibfehler dann in die Welt getragen. Als sich die Oberin Hirst an den Angestellten im Ministerium wandte, um den Fehler korrigieren zu lassen, zog der sein maschinengeschriebenes Originaldokument hervor. »Sehen Sie selbst, Madam. Quod erat demonstrandum. Es heißt Missing«, sagte er, so als habe er bewiesen, daß der Satz des Pythagoras stimmt, daß die Sonne den Mittelpunkt des Sonnensystems bildet, daß die Erde rund ist und daß das Missing genau dort ist, wo man es sich denkt. Also blieb es bei Missing.

Kein Schrei und kein Stöhnen drang aus Schwester Mary Joseph Praises Mund, als die Krämpfe der Wehen einsetzten. Gleich hinter der Schwingtür, in dem an den Operationssaal 3 angrenzenden Raum aber, rief der große Dampfkochtopf (gespendet von der Lutherischen Kirche in Zürich) fauchend nach meiner Mutter; sein heißer Dampf sterilisierte die chirurgischen Instrumente und die Tücher, mit denen man sich später an ihr zu schaffen machen würde. In einem Winkel dieses Sterilisationsraums, gleich neben dem Ungeheuer aus rostfreiem Stahl, hatte meine Mutter in den sieben Jahren, die sie vor unserer unschӧnen Ankunft im Missing gearbeitet hatte, ein Eckchen für sich selbst eingerichtet. Dort stand ihr Schreibpult an der Wand, bestehend aus Tisch und Klappstuhl, die fest miteinander verbunden waren, geborgen aus einer nicht mehr bestehenden Missionsschule und mit seinen Furchen und Kerben vom Frust diverser Schüler gezeichnet. Ihre weiße Strickjacke, die sie sich, wie man mir erzählt hat, in den Pausen zwischen Operationen oft über die Schulter warf, hing über der Stuhllehne.

An die Gipswand über ihrem Tisch hatte meine Mutter ein Kalenderfoto von Berninis berühmter Skulptur der Theresa von Ávila geheftet. Die heilige Theresa lagert erschlafft, so als sei sie ohnmächtig, die Lippen vor Verzückung geӧffnet, die Augen blicklos, die Lider halb geschlossen. Von beiden Seiten blickt aus Nischen in der Kirchenwand ein voyeuristischer Chor auf sie hinab. Mit feinem Lächeln und einem Kӧrper, der muskulӧser ist, als es seinem jugendlichen Gesicht angemessen erscheint, steht ein männlicher Engel über der heiligen, sinnlichen Schwester. Mit den Fingerspitzen seiner Linken hebt er den Saum des Tuches, das ihren Busen bedeckt. In seiner Rechten hält er einen Pfeil, so zärtlich, wie ein Violinist seinen Bogen hält.

Warum dieses Bild? Warum die heilige Theresa, Mutter?

Als kleiner Junge von vier Jahren habe ich mich in diesen fensterlosen Raum gestohlen und das Bild betrachtet. Mit Mut allein ließ sich die schwere Tür nicht überwinden, doch das Gefühl, daß sie dort war, mein unbedingter Wille, die Nonne kennenzulernen, die meine Mutter war, verlieh mir Kraft. Ich saß neben dem Dampfkochtopf, der rumpelte und wie ein Drache fauchte, so als habe mein hämmerndes Herz das Ungetüm zum Leben erweckt. Am Schreibtisch meiner Mutter senkte sich nach und nach Frieden über mich, das Gefühl, mit ihr eins zu sein.

Später erfuhr ich, daß es niemand gewagt hatte, ihre über der Stuhllehne hängende Strickjacke zu entfernen. Sie war ein heiliger Gegenstand. Für einen Vierjährigen aber ist alles heilig und gewöhnlich. Ich hängte mir das nach Cuticura duftende Kleidungsstück über die Schultern. Fuhr mit der Fingerspitze über den Rand des eingetrockneten Tintenfasses, verfolgte den Weg, den ihre Finger genommen hatten. Wenn ich zu dem Kalenderdruck hinaufsah, wie sie es in dem fensterlosen Raum wohl auch oft getan hatte, zog mich das Bild in seinen Bann. (Jahre später erfuhr ich, daß Theresas wiederkehrende Vision vom Erscheinen eines Engels »Herzdurchbohrung« genannt wird, laut Lexikon die »Entzündung« der Seele durch die Liebe zu Gott, wobei das Herz von heiliger Liebe »durchbohrt« wird; die Metaphern ihres Glaubens waren auch die Metaphern der Medizin.) Mit vier brauchte ich ein Wort wie »Herzdurchbohrung« nicht, um das Bild zu verehren. Ohne Fotos von ihr, an die ich mich halten konnte, sah ich in der Frau auf dem Bild zwangsläufig meine Mutter, die von dem speerschwingenden jugendlichen Engel bedroht und im nächsten Augenblick wohl geraubt wurde. »Wann kommst du, Mama?« fragte ich, und mein dünnes Stimmchen hallte von den kalten Kacheln wider. Wann kommst du?

Ich flüsterte meine Antwort: »Bei Gott!« Ich mußte mich damit begnügen, mit den Worten von Dr. Ghosh, der mich, als ich mich das erste Mal in den Raum verirrt hatte, gesucht, über meine Schulter hinweg das Bild der heiligen Theresa angestarrt, mich auf seinen starken Armen hochgehoben und mit dieser Stimme, die es ganz und gar mit dem Dampfkochtopf aufnehmen konnte, gesagt hatte: »Sie kommt, bei Gott!«

Sechsundvierzig und vier Jahre sind seit meiner Geburt vergangen, und wie durch ein Wunder habe ich Gelegenheit, in dieses Zimmer zurückzukehren. Inzwischen bin ich zu groß für den Stuhl, und die Strickjacke liegt auf meiner Schulter wie der Spitzenkragen eines Priesters. Aber Stuhl, Strickjacke und Kalenderbild der Verzückung sind noch da. Ich, Marion Stone, habe mich verändert, sonst aber ist alles gleich geblieben. Ich befinde mich in diesem unveränderten Raum und blättere gleichsam in der Zeit und in der Erinnerung. Der nicht verblassende Druck der Bernini-Statue der heiligen Theresa (inzwischen gerahmt und unter Glas, damit bewahrt bleibt, was meine Mutter mit einer Reißzwecke angeheftet hat) verlangt das von mir. Ich bin gezwungen, die Ereignisse meines Lebens zu ordnen, zu sagen, hier hat es angefangen, und dann ist aus diesem Grund jenes geschehen, und so sind das Ende und der Anfang miteinander verbunden, und darum bin ich hier.

Wir kommen ungefragt in dieses Leben, und wenn wir Glück haben, finden wir eine Bestimmung jenseits von Hunger, Elend und frühem Tod, die, das wollen wir nicht vergessen, den meisten beschieden sind. Ich bin aufgewachsen und habe meine Bestimmung gefunden, und die bestand darin, Arzt zu werden. Es ging mir nicht darum, die Welt zu retten, sondern selbst gesund zu werden. Nur wenige Ärzte werden es eingestehen, und gewiß nicht die jungen, doch unterbewußt, beim Eintritt in diesen Berufsstand, müssen wir glauben, daß der Dienst an anderen unsere eigenen Verletzungen heilt. Und das kann er auch. Aber er kann sie auch vertiefen.

Ich wählte als Spezialfach die Chirurgie, der Oberin wegen, die während meiner Kindheit und meiner Teenagerzeit ständig um mich war. »Was ist das Schwerste, das du irgend tun kannst?« sagte sie, als ich am dunkelsten Tag der ersten Hälfte meines Lebens ratsuchend zu ihr ging.

Ich wand mich. Wie leicht die Oberin die Kluft zwischen Ehrgeiz und Eigennutz erspürte! »Warum muß ich das Schwerste tun?«

»Weil du, Marion, ein Werkzeug Gottes bist. Laß das Instrument nicht in seinem Kasten ruhen. Spiel! Laß keinen Teil deines Instruments unerforscht. Gib dich nicht mit Three Blind Mice‹ zufrieden, wenn du das Gloria spielen kannst.«

Wie unfair von der Oberin, ausgerechnet an diesen erhabenen Choral zu erinnern, bei dem ich immer das Gefühl hatte, ich stünde mit allen Sterblichen da und schaute in stummer Verwunderung zum Himmel hinauf. Ihr war klar, wie ungeformt mein Charakter noch war.

»Aber, Schwester Oberin, ich kann nicht mal davon träumen, Bach zu spielen, das Gloria...«, sagte ich leise. Ich hatte noch nie ein Saiten- oder ein Blasinstrument gespielt. Ich konnte nicht mal Noten lesen.

»Nein, Marion«, sagte sie mit sanftem Blick und streckte die Arme nach mir aus; rauh lagen ihre verkrümmten Hände auf meinem Gesicht. »Nein, nicht Bachs Gloria. Deines! Du hast ein eigenes Gloria in dir. Die größte Sünde ist, nicht danach zu suchen, zu mißachten, was Gott in dir angelegt hat.«

Ich war von meinem Temperament her besser geeignet für eine kognitive Disziplin, für ein introspektives Arbeitsfeld ‒ für die innere Medizin oder vielleicht die Psychiatrie. Beim Anblick des Operationssaals brach mir der Schweiß aus. Bei der Vorstellung, ein Skalpell in der Hand zu halten, drehte sich mir der Magen um. (Das geht mir heute noch so.) Die Chirurgie war das Schwerste, was ich mir vorstellen konnte.

Und so wurde ich Chirurg.

Dreißig Jahre später gelte ich nicht als flink, wagemutig oder als technisches Genie. Solide, arbeitsam, das kommt hin; wenn gesagt wird, ich wähle den Operationsstil und die Methode, die auf den Patienten und auf die jeweilige Situation abgestimmt sind, dann halte ich das für ein großes Lob. Es ermutigt mich, wenn Arztkollegen zu mir kommen, wenn sie sich selber unters Messer legen müssen, weil sie wissen, daß Marion Stone nach dem Eingriff genauso für sie da ist wie vorher und währenddessen. Sie wissen, daß Chirurgensprüche à la »Bei Zweifel lieber rausschneiden«, oder »Warum warten, wenn du operieren kannst« für mich nichts anderes sind als ein zuverlässiger Indikator für die oberflächlichsten Geister auf unserem Gebiet. Mein Vater, vor dessen Können als Chirurg ich den tiefsten Respekt habe, sagt: »Die Operation mit dem besten Ergebnis ist diejenige, von der du nach reiflicher Überlegung Abstand nimmst.« Zu wissen, wann ich lieber aufs Operieren verzichte, zu wissen, wenn ich überfordert bin, zu wissen, wann ich mir von einem Chirurgen vom Kaliber meines Vaters helfen lassen muß – von diesem Talent, dieser »Brillanz« künden keine Posaunen.

Einmal, als ein Patient in großer Gefahr war, bat ich meinen Vater inständig, er solle die OP übernehmen. Schweigend stand er an dem Krankenbett, die Finger noch auf dem Puls des Patienten, obwohl er den Herzschlag bereits geprüft hatte, so als brauche er den Kontakt mit der Haut, mit dem schwachen Signal der Pulsader, um die Antwort zu finden. Sein scharf geschnittenes Gesicht drückte vollkommene Konzentration aus. Man sieht förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn drehen, dachte ich mir, in seinen Augen schienen Tränen zu schimmern. Mit größter Sorgfalt wägte er eine Option gegen die andere ab. Schließlich schüttelte er den Kopf und drehte sich weg.

Ich folgte ihm. »Doktor Stone«, sagte ich und sprach ihn mit seinem Titel an, obwohl ich lieber Vater! geschrien hätte: »Eine Operation ist seine einzige Chance«, sagte ich. In meinem Innern wußte ich, daß diese Chance unendlich klein war und daß schon beim ersten Hauch des Narkosemittels alles aus sein konnte. Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. Er sprach mit freundlicher Stimme, wie zu einem jüngeren Kollegen und nicht zu seinem Sohn. »Marion, denk an das elfte Gebot«, sagte er. »Du sollst einen Patienten an seinem Sterbetag nicht operieren.«

An diese Worte denke ich in Vollmondnächten in Addis Abeba, wenn die Messer blitzen und Steine und Kugeln fliegen, und wenn ich das Gefühl habe, in einem Schlachthaus zu stehen und nicht im Operationssaal 3, wenn meine Haut mit dem Gewebe und dem Blut fremder Menschen bespritzt ist. Ich gedenke ihrer. Aber nicht immer kennt man die Antwort schon, bevor man operiert. Das Operieren geschieht im Jetzt. Später befindet die Rückschau, ein wohlfeiles Werkzeug in der Hand der Witzbolde und Weisen, in der Hand derer, die zur M&M ‒ so heißt bei uns die Farce der Morbiditäts- und Mortalitätskonferenz ‒ laden, über Richtig und Falsch der getroffenen Entscheidungen. Im Leben ist es genauso. Man lebt es vorwärts, versteht es aber erst rückwärts. Erst wenn man anhält und nach hinten geht, sieht man den überrollten Leichnam.

Heute, in meinem fünfzigsten Jahr, erfüllt mich der Anblick eines freigelegten Unterbauchs oder Brustkorbs mit Ehrfurcht. Ich bin beschämt von uns Menschen, die wir es fertigbringen, einander zu verletzen und zu verstümmeln, den Körper zu schänden. Allerdings gibt mir das die Möglichkeit, einen Blick auf die Lunge und das dahinter hervorlugende Herz zu tun, auf Leber und Milz, die einander unter der Kuppel des Zwerchfells konsultieren ‒ derlei kabbalistische Harmonie macht mich sprachlos. Meine Finger »fahren« den Darm entlang, suchen nach Löchern, gerissen von einer Klinge oder einer Kugel, Windung um Windung, sieben Meter von Anfang bis Ende, zusammengedrängt auf engstem Raum. Der Darm, der auf diese Weise in der afrikanischen Nacht an meinen Fingern vorübergezogen ist, würde inzwischen bis ans Kap der guten Hoffnung reichen, und noch immer bin ich zum Kopf der Schlange nicht vorgedrungen. Doch bekomme ich die ganz gewöhnlichen Wunder unter der Haut, unter den Rippen und Muskeln zu sehen, Anblicke, die ihrem Besitzer verborgen bleiben. Gibt es ein größeres Privileg auf Erden?

In solchen Momenten vergesse ich nicht, meinem Zwillingsbruder Shiva ‒ Doktor Shiva Praise Stone ‒ zu danken, nach ihm Ausschau zu halten, sein Spiegelbild in der Glasscheibe zu suchen, das die beiden Operationssäle trennt, ihm dankbar zuzunicken, weil ich dank ihm heute bin, was ich bin: ein Chirurg.

Shiva zufolge geht es im Leben letztendlich darum, Löcher zu stopfen. Shiva sprach nicht in Bildern. Löcher stopfen war genau das, was er tat. Und trotzdem ist es eine passende Metapher für unseren Beruf. Doch es gibt noch andere Löcher, Wunden nämlich, die Familien trennen. Manchmal entsteht so eine Wunde im Augenblick der Geburt, manchmal erst später. Wir alle flicken zusammen, was zerbrochen ist. Das ist eine Lebensaufgabe. Vieles lassen wir der nächsten Generation unfertig zurück.

Als ein Mensch, der in Afrika geboren wurde, in Amerika im Exil gelebt hat und schließlich nach Afrika zurückgekehrt ist, bin ich der lebende Beweis dafür, daß Geographie Schicksal ist. Das Schicksal hat mich genau zu den Koordinaten meiner Geburt zurückgeführt, in denselben Operationssaal, in dem ich geboren wurde. Meine in Handschuhen steckenden Hände bewegen sich durch denselben Raum über dem Tisch im Operationssaal 3, den früher die Hände meiner Mutter und meines Vater eingenommen haben.

Manchmal schreien nachts die Grillen Saa-Sie, Saa-Sie, übertönen zu Tausenden das Bellen und Ächzen der Hyänen in den Bergen. Mit einem Mal verstummt die Natur. Es ist, als sei der Anwesenheitsappell vorbei und als sei es jetzt Zeit, in der Dunkelheit einen Partner zu finden und sich zurückzuziehen. In dem Vakuum der Stille, das darauf folgt, höre ich das hohe Sirren der Sterne und gerate in Überschwang, bin dankbar für meinen unbedeutenden Platz in der Galaxie. In solchen Momenten spüre ich, was ich Shiva schuldig bin.

Als Zwillingsbrüder haben wir bis in unsere frühe Jugend im selben Bett geschlafen, Kopf an Kopf, Beine und Leiber nach außen abgeknickt. Diese Nähe liegt hinter uns, aber ich sehne mich immer noch danach, sehne mich nach seinem Kopf dicht neben meinem. Wenn ich beim Anbruch eines geschenkten neuen Tages erwache, ist mein erster Gedanke, ihn zu wecken und zu sagen: »Ich schulde dir Dank für den Anblick des Morgens.«

Das bin ich Shiva am meisten schuldig: diese Geschichte zu erzählen. Meine Mutter, Schwester Mary Joseph Praise, hat sie für sich behalten, und mein Vater, der furchtlose Thomas Stone, ist vor ihr weggelaufen. Ich mußte sie Stück für Stück zusammensetzen. Nur das Erzählen kann den Riß heilen, der meinen Bruder und mich getrennt hat. Ja, ich habe unendliches Vertrauen in das chirurgische Handwerk, aber kein Chirurg kann die Wunde heilen, die zwei Brüder trennt. Wo Seide und Stahl scheitern, muß die Erzählung glücken. Um am Anfang anzufangen . . .

Teil I

... denn das Geheimnis bei der Versorgung des Patienten ist die Sorge um den Patienten.

Francis W. Peabody, 21. Oktober 1925

Kapitel I

Der typhoide Zustand

Schwester Mary Joseph Praise war aus Indien ans Missing Hospital gekommen, sieben Jahre vor unserer Geburt. Sie und Schwester Anjali waren die ersten Novizinnen des Karmelitinnenordens in Madras, die zusätzlich die anstrengende Ausbildung zur diplomierten Krankenschwester am Staatlichen Allgemeinen Krankenhaus in Madras durchliefen. Am Tag der Diplomverleihung erhielten meine Mutter und Anjali ihre Anstecknadeln als Krankenschwestern und legten am selben Abend ihr letztes Armuts-, Keuschheits- und Gehorsamsgelübde ab. Statt »Lernschwester« (im Krankenhaus) und »Novizin« (im Konvent) zu sagen, konnte man beide an beiden Orten nun mit »Schwester« ansprechen. Ihre betagte und fromme Äbtissin, Shessy Geevarughese, liebevoll »heilige Amma« genannt, hatte den beiden jungen Nonnen und Krankenschwestern sofort ihren Segen erteilt und ihnen ein überraschendes Einsatzgebiet zugewiesen: Afrika.

Am festgesetzten Tag ihrer Abreise fuhren alle Novizinnen aus dem Kloster in einer Karawane aus Fahrradrikschas zum Hafen, um die beiden Schwestern zu verabschieden. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Novizinnen am Kai aufgereiht stehen, aufgeregt und bewegt plappern und erschauern, ihre weißen Habits flattern in der Brise, während die Möwen ihnen um die mit Sandalen beschuhten Füße hüpfen.

Ich habe mich oft gefragt, was meiner Mutter durch den Kopf gegangen sein mag, als sie und Schwester Anjali, beide gerade mal neunzehn, ihre letzten Schritte auf indischem Boden taten und an Bord der Calangute gingen. Unterdrückte Schluchzer und »Gott sei mit euch« werden ihr die Gangway hinauf gefolgt sein. Ob sie Angst hatte? Nachträgliche Zweifel? Schon einmal, bei ihrem Eintritt ins Kloster, hatte sie sich für immer von ihrer in Kochi lebenden leiblichen Familie losgerissen und war nach Madras gegangen, eine volle Tagesreise mit dem Zug von zu Hause entfernt. Für ihre Eltern war das soviel wie eine halbe Weltumrundung, denn sie sahen ihre Tochter niemals wieder. Und nun, nach drei Jahren in Madras, riß sie sich von ihrer Glaubensfamilie los, dieses Mal, um einen Ozean zu überqueren. Und wieder gab es kein Zurück.

Ein paar Jahre bevor ich mich an die Niederschrift dieses Buchs machte, reiste ich nach Madras, um Nachforschungen über die Geschichte meiner Mutter anzustellen. In den archivierten Dokumenten der Karmelitinnen fand ich über sie nichts, aber ich las in den Tagebüchern der heiligen Amma, in denen die Äbtissin die Tage des Abschieds verzeichnet. Als die Calangute die Leinen losmachte, hob die heilige Amma die Hand wie ein Verkehrspolizist und sprach »mit der Stimme, mit der ich sonst predige ‒ angeblich straft sie mein Alter Lügen« die Worte: »Geh aus deinem Vaterland um meinetwillen«, denn das 1. Buch Mose war ihr Lieblingsbuch. Die heilige Amma hatte sich diesen Auftrag gründlich überlegt: Wohl wahr, Indien litt unermeßliche Not. Aber daran würde sich nie etwas ändern, und es war keine Entschuldigung; die beiden jungen Nonnen, ihre klügsten und besten, sollten die Fackel weitertragen: Inderinnen, die Christi Liebe ins dunkelste Afrika trugen ‒ das war ihr großes Ziel. In ihren Aufzeichnungen schilderte sie ihre Überlegungen: Es ging um die Einsicht, zu der auch die englischen Missionare bei ihrem Eintreffen in Indien gelangten, daß es keinen besseren Weg gab, Christi Liebe weiterzutragen, als durch heiße Umschläge und Packungen, durch Einreibungen und Wundverbände, durch Sauberkeit und Wohlbefinden. Welcher Dienst konnte besser sein als der Dienst des Heilens? Ihre beiden jungen Nonnen überquerten den Ozean, und damit nahm die Mission der Unbeschuhten Karmelitinnen von Madras in Afrika ihren Anfang.

Als die gute Äbtissin die beiden an der Schiffsreling winkenden Gestalten zu weißen Pünktchen schrumpfen sah, regte sich in ihr doch eine gewisse Bangigkeit. Was, wenn sie die beiden Schwestern, die ihr großartiges Vorhaben in blindem Gehorsam ausführten, zu einem schrecklichen Schicksal verdammt hatte? »Die englischen Missionare hatten das allmächtige Empire hinter sich ... aber meine Mädchen?« Die Äbtissin notierte, daß das schrille Gezänk der Möwen und die von den Vögeln verstreuten Exkremente die grandiose Verabschiedung trübten, die sie sich ausgemalt hatte. Der überwältigende Gestank von verdorbenem Fisch und verfaultem Holz und die Schauermänner mit den freien Oberkörpern, aus deren von Betelnuß flekkigen Mündern beim Anblick ihrer beiden Jungfrauen lüstern der Speichel lief, hatten sie abgelenkt.

»Vater, wir übergeben unsere Schwestern deiner Sorge um ihre Sicherheit«, sagte die heilige Amma und lud es ihm auf die Schultern. Sie hörte auf zu winken, und ihre Hände fanden Obdach in ihren Ärmeln. »Wir bitten dich um Gnade und um deinen Schutz, wenn wir die Unbeschuhten Karmelitinnen in die Welt entsenden . . .«

Das war im Jahr 1947, als die Briten schließlich aus Indien abzogen; die Quit-India-Bewegung hatte das Unmögliche bewirkt. Langsam ließ die heilige Amma die Luft aus ihrer Lunge strömen. Es war eine neue Welt, und mutiges Handeln war gefordert, jedenfalls glaubte sie das.

Das schwimmende schwarzrote Elend, das sich Schiff nannte, dampfte über den Indischen Ozean seinem Bestimmungsort Aden entgegen. In ihrem Frachtraum beförderte die Calangute unzählige Kisten mit gesponnener Baumwolle, Reis, Seide, Safes der Firma Godrej, Aktenschränken der Firma Tata sowie einunddreißig »Bullets«, Motorräder des Herstellers Royal Enfield, deren Motoren mit Öltuch umwickelt waren. Die Beförderung von Passagieren war nicht vorgesehen, doch der griechische Kapitän nahm »zahlende Gäste« mit an Bord. Das Mitfahren auf Frachtschiffen wurde von vielen praktiziert, die an der Passage sparen wollten, und das machte sich der Kapitän zunutze und sparte an der Besatzung. Auf dieser Überfahrt beförderte er also zwei Nonnen aus Madras, drei Juden aus Kochi, eine Familie aus Gujarati, drei verdächtig aussehende Malaien und ein paar Europäer, darunter zwei französische Matrosen, die in Aden wieder auf ihr Schiff wollten.

Die Calangute hatte ein großflächiges Deck ‒ mehr Land, als man auf See je erwartet hätte. An einem Ende hockte wie eine Mücke auf dem Hinterteil eines Elefanten der dreistöckige Aufbau, in dem Crew und Passagiere untergebracht waren und dessen oberste Etage die Brücke bildete.

Meine Mutter, Schwester Mary Joseph Praise, war eine Malayali aus Kochi im Bundesstaat Kerala. Die Religion der Malayali-Christen ließ sich auf den Apostel Thomas zurückführen, der, aus Damaskus kommend, im Jahre 52 n. Chr. in Indien eintraf. Der »ungläubige« Thomas errichtete seine ersten Kirchen in Kerala eine gute Weile vor der Ankunft des Apostels Paulus in Rom. Meine gottesfürchtige Mutter ging regelmäßig zur Kirche, an der Highschool geriet sie unter den Einfluß einer charismatischen Karmeliternonne, die sich für die Armen einsetzte. Die Heimatstadt meiner Mutter, am Arabischen Meer gelegen, erstreckt sich über fünf Inseln, die wie Diamanten auf einem Ring angeordnet sind. Jahrhundertelang kamen Gewürzhändler nach Kochi, um hier Kardamom und Gewürznelken zu kaufen, darunter 1498 auch ein gewisser Vasco da Gama. Die Portugiesen machten sich mit einem kolonialen Stützpunkt in Goa breit und bekehrten die hinduistische Bevölkerung mit brutalen Methoden zu Katholiken. Dann kamen katholische Priester und Nonnen nach Kerala, so als sei ihnen unbekannt, daß der Apostel Thomas die unverfälschte Lehre Christi schon tausend Jahre vor ihnen nach Kerala getragen hatte. Zum Verdruß ihrer Eltern wurde meine Mutter Nonne bei den Karmelitinnen, gab die alte syrisch-christliche Tradition des Apostels Thomas auf und schloß sich der (nach Ansicht der Eltern) dahergelaufenen Sekte von Papstanbetern an. Sie hätten nicht enttäuschter gewesen sein können, wäre ihre Tochter Muslimin oder Hindu geworden. Zum Glück wußten ihre Eltern nicht, daß sie außerdem Krankenschwester war, denn für sie hätte das bedeutet, daß sie sich die Hände beschmutzte wie eine Unberührbare.

Meine Mutter ist an der Küste des Ozeans aufgewachsen, in Sichtweite der berühmten Chinesischen Fischernetze, die von langen Bambusstangen herabhängen wie riesige Spinnweben. Das Meer war der sprichwörtliche Brotkorb ihres Volkes, lieferte ihnen Garnelen und Fisch. Jetzt aber, auf dem Deck der Calangute, ohne die ihr Sichtfeld umrahmende Küste von Kochi, erkannte sie den Brotkorb nicht wieder. Ob der Ozean in seiner Mitte schon immer so gewesen war, fragte sie sich: rauchend, bösartig und ruhelos. Er setzte der Calangute zu, ließ sie aufsteigen, ächzen und knarren, wollte nichts anderes als sie vollends verschlingen.

Sie und Schwester Anjali schlossen sich in ihrer Kabine ein, verriegelten die Tür zum Schutz vor Männern und Meer. Anjalis Stoßgebete verblüfften meine Mutter. Die rituelle Lektüre des Lukasevangeliums war Schwester Anjalis Idee; sie sagte, es verliehe der Seele Flügel und diszipliniere den Leib. Die beiden Nonnen unterwarfen jeden Buchstaben, jedes Wort, jede Zeile und jeden Satz der Trias aus dilatatio, elevatio und excessus – Kontemplation, Erhebung und Ekstase. Richard von Sankt Viktors alte Klosterpraxis erwies sich als nützlich bei einer Ozeanüberquerung, deren Ende nicht abzusehen war. Am zweiten Abend, nach zehn Stunden solcherart gründlicher und meditativer Lesung merkte Schwester Mary Joseph Praise plötzlich, wie ihr die Schrift und die Seite vor den Augen verschwammen; die Grenze zwischen Gott und ihr löste sich auf. Das hatte das Lesen bewirkt: Freudig ergab sich der Körper dem Heiligen, Ewigen und Unendlichen.

Bei der Vesper am sechsten Abend (denn sie waren entschlossen, die Routine des Klosterlebens unter keinen Umständen aufzugeben) beendeten sie eine Hymne, zwei Psalmen und ihre Antiphonen, dann die Doxologie, und sie sangen gerade das Magnificat, als ein durchdringendes, knackendes Geräusch sie in die Realität zurückholte. Sie schnappten sich Schwimmwesten und liefen hinaus. Draußen empfing sie der Anblick eines Decks, das sich verzogen und zu einer Pyramide aufgetürmt hatte, so daß es Schwester Mary Joseph Praise vorkam, als sei die Calangute aus verrotteter Pappe gebaut. Der Kapitän aber ließ seine Pfeife nicht ausgehen, und sein breites Grinsen schien zu sagen, daß seine Passagiere wohl überreagiert hatten.

In der neunten Nacht erkrankten vier der sechzehn Passagiere und ein Mann der Crew an einem Fieber, das sich in Form rosaroter Punkte zeigte, die am zweiten Fiebertag hervortraten und sich wie ein chinesisches Puzzle auf Brust und Unterbauch legten. Schwester Anjali litt schwer, ihre Haut brannte, wenn man sie berührte. Am zweiten Tag der Erkrankung delirierte sie bereits im Fieber.

Unter den Passagieren auf der Calangute befand sich auch ein junger Chirurg ‒ ein Engländer mit Habichtsaugen, der dem indischen Gesundheitswesen den Rücken gekehrt hatte und nach besseren Weidegründen suchte. Er war groß und kräftig und sah hungrig aus mit seinem durchfurchten Gesicht, ließ sich aber trotzdem nur selten im Speiseraum blicken. Schwester Mary Joseph Praise war am zweiten Tag der Überfahrt buchstäblich in ihn hineingerannt, als sie auf der Eisentreppe, die von ihrer Kajüte zum Gemeinschaftsraum hinaufführte, ausgeglitten war. Der hinter ihr die Treppe erklimmende Engländer fing sie so gut auf, wie er konnte, und bekam sie dabei am Steiß und an der linken Seite der Brust zu fassen. Er richtete sie auf, als sei sie ein kleines Kind. Als sie ihm stotternd dankte, wurde er rot; die unerwartete Intimität hatte ihn nervöser gemacht als sie. Mary spürte, daß sie blaue Flecke an den Stellen bekam, wo er sie gepackt hatte, doch die Beschwerden lösten auch etwas in ihr aus, das sie erträglich machte. Danach sah sie den Engländer tagelang nicht wieder.

Jetzt, als sie medizinische Hilfe suchte, faßte sich Schwester Mary Joseph Praise ein Herz und klopfte an seine Kajüte. Eine leise Stimme bat sie herein. Ein galliger Azetongeruch schlug ihr entgegen. »Ich bin’s«, rief sie, »Schwester Mary Joseph Praise.« Der Arzt lag auf der Seite in seiner Koje, seine Haut hatte dieselbe Farbe wie seine Khakishorts, die Augen hatte er fest geschlossen. »Doktor«, sagte sie zögerlich, »haben Sie auch Fieber?«

Als er sie ansehen wollte, rollten seine Augäpfel wie Murmeln auf einem geneigten Teller. Er drehte sich zur Seite und spie über einem sandgefüllten Eimer, verfehlte ihn, was aber keine Rolle spielte, da der Eimer ohnehin bis an den Rand gefüllt war. Schwester Mary Joseph Praise lief zu ihm und befühlte seine Stirn. Sie war kalt und klamm, kein bißchen fiebrig. Seine Wangen waren eingefallen, und sein Körper sah aus, als sei er geschrumpft, um in die winzige Kajüte zu passen. Die Seekrankheit war keinem der Passagiere erspart geblieben, den Engländer aber hatte es besonders schwer erwischt.

»Doktor, ich möchte mitteilen, daß fünf Patienten an Fieber erkrankt sind, begleitet von Hautausschlag, Frösteln und Schwitzen, verlangsamtem Puls und Appetitmangel. Alle sind stabil, bis auf Schwester Anjali. Doktor, ich mache mir große Sorgen um Anjali ...«

Sie fühlte sich besser, als sie es heraus hatte, obwohl der Engländer außer einem Stöhnen keine Reaktion erkennen ließ. Ihr Auge fiel auf ein Katgutband, das unweit seiner Hände um eine Bettstange gewunden war, versehen mit Dutzenden von Knoten, einer über dem anderen. Es waren so viele, daß das Band wie ein knorriger Fahnenmast abstand. So hatte er die Stunden gezählt oder seine Brechreizanfälle verzeichnet.

Mary spülte den Eimer aus und stellte ihn wieder in seine Reichweite. Wischte den Schmutz mit einem Handtuch vom Boden, spülte das Handtuch aus und hängte es zum Trocknen auf. Brachte ihm ein Glas Wasser an sein Lager. Zog sich zurück und fragte sich, wie viele Tage er schon nichts gegessen haben mochte.

Am Abend ging es ihm noch schlechter. Schwester Mary Joseph Praise brachte ihm Bettzeug, Handtücher und Brühe. Sie kniete nieder und wollte ihm etwas einflößen, aber der Essensgeruch löste bei ihm ein trockenes Würgen aus. Seine Augäpfel waren tief in ihre Höhlen gesunken. Seine verschrumpelte Zunge sah aus wie die eines Papageis. Mary wurde klar, daß der im Raum hängende beißende Geruch der des Hungers war. Als sie eine Hautfalte an der Rückseite seines Arms anhob und wieder losließ, blieb die Haut stehen wie ein Zelt, wie das aufgeworfene Schiffsdeck. Der Eimer war bis zur Hälfte mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Der Doktor brabbelte etwas von grünen Feldern und nahm ihre Anwesenheit gar nicht wahr. Konnte man von Seekrankheit sterben? fragte sie sich. Oder hatte er eine forme fruste desselben Fiebers, das Schwester Anjali befallen hatte? So vieles in der Medizin war ihr unbekannt. Mitten auf dem Ozean und von Kranken umgeben, lastete diese Unkenntnis schwer auf ihr.

Aufs Pflegen allerdings verstand sie sich. Und aufs Beten. Und so schälte sie ihn unter Beten aus seinem Hemd, das schon steif war von Galle und Spucke, und zog ihm die Shorts aus. Es machte sie verlegen, ihn so im Bett zu waschen, denn sie hatte noch nie einen Weißen ‒ und erst recht keinen Arzt ‒ gepflegt. Als sie ihn mit dem Waschlappen berührte, lief eine Welle von Gänsehaut über seinen Körper. Den Hautausschlag, den sie bei den im Fieber liegenden Passagieren und dem Kabinensteward gesehen hatte, hatte er aber nicht. Die sehnigen Muskeln seiner Arme liefen straff an seinen Schultern zusammen. Erst jetzt bemerkte sie, daß seine linke Brust schmaler war als die rechte; die Höhlung über seinem linken Schlüsselbein hätte eine halbe Tasse Wasser fassen können, die über dem rechten nur einen Teelöffel voll. Und direkt neben seiner linken Brustwarze sah sie eine tiefe, sich bis zur Achselhöhle erstreckende Senke. Die Haut über diesem Krater war runzlig und schimmerte seltsam. Als sie ihn dort berührte, stockte ihr der Atem, denn ihre Finger sackten ein, trafen auf keinen knochigen Widerstand. Ihm fehlten wohl tatsächlich zwei oder gar drei benachbarte Rippen. In dieser Senke schlug sein Herz fest gegen ihre Finger, getrennt nur durch eine dünne Schicht Haut. Als sie die Finger wieder fortzog, sah sie, wie sich das Pochen des Organs an der Haut abzeichnete.

Der feine, durchscheinende Haarflaum an seiner Brust und seinem Bauch sah aus, als sei er vom Hauptstrang der Haare an seiner Scham nach oben gewandert. Sachlich reinigte sie sein unbeschnittenes Glied, legte es auf die Seite und nahm sich den schrumpligen und hilflos wirkenden Hodensack darunter vor. Sie wusch ihm die Füße, und ihr kamen die Tränen, denn sie mußte unwillkürlich an ihren guten Herrn und an Seinen letzten Abend auf Erden mit Seinen Jüngern denken.

In den Schrankkoffern des Doktors fand sie chirurgische Fachbücher. Er hatte am Rand Namen und Daten notiert, und ihr ging erst später auf, daß das Patientennamen waren, indische und britische, Vermerke zu Krankheiten, die ihm zum ersten Mal bei einem Peabody oder einem Krishnan begegnet waren. Ein Kreuz neben dem Namen nahm sie als Zeichen dafür, daß der Patient gestorben war. Sie fand elf Notizbücher, gefüllt mit einer knappen Handschrift mit scharfen Längsstrichen, der Text nur wenig oberhalb der Linien tanzend und bis zum Seitenrand voll ausgeschrieben. Für einen so ruhig wirkenden Mann zeigte sich hier eine unerwartete Beredsamkeit.

Schließlich fand sie ein sauberes Unterhemd und eine Unterhose. Was besagte es, wenn ein Mann weniger Kleidung besaß als Bücher? Ihn erst auf die eine, dann auf die andere Seite drehend, wechselte sie das Laken, auf dem er lag, und kleidete ihn anschließend wieder an.

Sie wußte, daß er Thomas Stone hieß, denn dieser Name stand in dem chirurgischen Lehrbuch, das er auf den Nachttisch gelegt hatte. Über Fieber mit Hautausschlag fand sie darin kaum etwas und über Seekrankheit gar nichts.

Am Abend kämpfte sich Schwester Mary Joseph Praise über das schwankende Deck, eilte von einem Krankenbett zum nächsten. Der Hügel, wo das Deck sich emporgeschoben hatte, ähnelte einer in ein Tuch gehüllten Gestalt, und sie wandte die Augen ab. Einmal sah sie eine berghohe schwarze Welle, mehrere Stockwerke hoch, und die Calangute sank am Bug so tief nach unten, als fiele sie in ein Loch. Wasserwände, noch schrecklicher anzuhören als anzusehen, schlugen über dem Deck zusammen.

Mitten auf dem stürmischen Ozean, schon ganz benommen vom Schlafmangel und mit einer schlimmen medizinischen Krise konfrontiert, war ihre Welt simpel geworden: aufgeteilt in zwei Hälften, eine mit Fieber und Seekrankheit, eine ohne solche Leiden. Aber womöglich kam es auf die Einteilung gar nicht an, womöglich würden sie bald allesamt ertrinken.

Mary erwachte aus einem Schlummer, in den sie gefallen war. Neben ihr lag Anjali. Im nächsten Augenblick, so schien es, erwachte sie wieder, diesmal aber in der Kajüte des Engländers, wo sie, an seinem Bett kniend, eingeschlafen war, ihr Kopf auf seiner Brust hin- und herrollend, sein Arm auf ihrer Schulter ruhend. Bis sie das ganz erfaßt hatte, war sie schon wieder eingeschlafen und wachte bei Tagesanbruch in der Koje auf, am alleräußersten Rand, gegen Thomas Stone gedrückt. Sie lief zu Anjali zurück und fand sie in noch schlimmerem Zustand vor: Ihre Atmung war jetzt seufzend und schnell, ihre Haut mit großen verlaufenden lila Flecken bedeckt.

Die bangen Gesichter der schlaflosen Mannschaft und der Umstand, daß ein Matrose vor ihr auf die Knie gefallen und »Schwester, vergib mir meine Sünden!« hervorgestoßen hatte, verrieten ihr, daß das Schiff immer noch in Gefahr war. Die Crew ignorierte ihre Bitten um Hilfe.

Verzweifelt und frustriert holte sich Schwester Mary Joseph Praise eine Hängematte aus dem Gemeinschaftsraum, die sie in ihrem weggetretenen Zustand zwischen Wachen und Schlafen wie in einer Vision gesehen hatte. Sie hängte sie in der Kajüte des Engländers zwischen Luke und Bettpfosten auf.

Doktor Stone war enorm schwer, und nur dank der Fürsprache der heiligen Katharina gelang es ihr, ihn aus seiner Koje auf den Boden zu ziehen und anschließend, Arm um Bein um Arm um Bein, in die Hängematte zu bugsieren. Dank der Schwerkraft richtete sich die Hängematte trotz des schlingernden Schiffs in einer echten Horizontalen aus. Mary kniete neben dem kranken Doktor nieder und betete, schüttete Jesus ihr Herz aus und sang das in der Nacht, in der sich das Deck aufgewölbt hatte, unterbrochene Magnificat zu Ende.

Als erstes bekam Stones Hals Farbe, dann seine Wangen. Teelöffelweise flößte Mary ihm Wasser ein. Eine Stunde später behielt er Brühe bei sich. Seine Augen waren jetzt offen, das Licht kehrte in sie zurück, und die Augäpfel folgten jeder ihrer Bewegungen. Als sie den Löffel hob, schlossen sich kräftige Finger um ihr Handgelenk und führten das Essen zu seinem Mund. Sie erinnerte sich an die Zeile, die sie gerade eben gesungen hatte: »Die Hungrigen füllt er mit Gütern und läßt die Reichen leer ausgehen.«

Gott hatte ihre Gebete erhört.

Ein blasser und noch wackliger Thomas Stone ging mit Schwester Mary Joseph Praise dorthin, wo Schwester Anjali lag. Ihm stockte der Atem beim Anblick der Nonne, die mit weit aufgerissenen Augen, das Gesicht eingefallen und ängstlich, ihre Nase spitz wie eine Schreibfeder, die Nasenflügel bei jedem Atemzug flatternd, delirierte, scheinbar wach war und doch ihre Besucher nicht wahrnahm.

Er kniete sich über sie, doch Anjalis glasiger Blick ging durch ihn hindurch. Schwester Mary Joseph Praise sah zu, als er gekonnt Anjalis Augenlider herunterzog, um ihre Bindehaut zu untersuchen, und die Taschenlampe vor ihren Pupillen schwenkte. Seine Bewegungen waren sanft und fließend, als er Anjalis Kopf nach vorn beugte, um eine eventuelle Nakkensteife zu ermitteln, als er die Lymphknoten abtastete, ihre Glieder bewegte und ihr statt mit dem Reflexhammer mit dem gebogenen Finger auf die Kniescheibe klopfte. Die Unbeholfenheit, die Schwester Mary Joseph Praise an ihm gespürt hatte, als sie ihn als Passagier und danach als Patient erlebte, war verflogen.

Er streifte Anjali die Kleidung ab, ohne zu registrieren, daß Schwester Mary Joseph Praise ihm assistierte, und betrachtete sachlich und nüchtern Rücken, Schenkel und Gesäß der Patientin. Die langen, wie gemeißelten Finger, die auf Anjalis Bauch Galle und Leber abtasteten, waren wie geschaffen für diese Aufgabe ‒ Mary konnte sich nicht vorstellen, was sie je anderes tun sollten. Da er kein Stethoskop hatte, legte er das Ohr auf Schwester Anjalis Herz und ihren Bauch. Dann drehte er sie auf die Seite und preßte das Ohr an ihre Rippen, um die Lunge abzuhorchen. Er ging innerlich mit sich zurate und murmelte: »Rechts verminderte Atemgeräusche ... geschwollene Parotis ... Lymphknoten im Nacken geschwollen ‒ warum? Puls schwach und flattrig ...«

»Ihr Puls war langsam, als das Fieber anfing«, teilte Schwester Mary Joseph Praise mit.

»Das sagten Sie bereits«, erwiderte er scharf. »Wie langsam?« Er sah nicht einmal hoch.

»Fünfundvierzig bis fünfzig, Doktor.«

Sie hatte das Gefühl, er habe vergessen, daß er selbst krank war, sogar vergessen, daß er sich auf einem Schiff befand. Er war eins geworden mit Schwester Anjalis Körper, das war sein Feld, und das klopfte er nach dem inneren Feind ab. Sie hatte so viel Vertrauen zu ihm, daß ihre Angst um Anjali schwand. Euphorisch kniete sie an seiner Seite, so als sei sie erst in diesem Augenblick zur Krankenschwester gereift, weil ihr hier zum ersten Mal ein Arzt wie er begegnete. Sie biß sich auf die Zunge, so sehr wollte sie ihm alles das und noch mehr sagen.

»Wachkoma«, sagte er, und Schwester Mary Joseph Praise nahm an, er unterweise sie. »Sehen Sie, wie die Augen wandern, so als warte sie auf etwas? Ein bedenkliches Zeichen. Und schauen Sie, wie sie am Bettzeug herumzupft – das nennt man ›Karphologie‹, und die feinen Muskelzuckungen sind subsultus tendinum. Das ist der ›typhoide Zustande Den sieht man bei vielen Formen der Blutvergiftung im Spätstadium, nicht nur bei klarem Typhus ... Aber, wohlgemerkt« ‒ er sah sie mit einem feinen Lächeln an, das dem, was er danach sagte, widersprach ‒ »ich bin Chirurg, kein Internist. Was weiß ich schon von Medizin? Nur daß dies keine chirurgische Erkrankung ist.«

Seine Gegenwart hatte mehr als nur Schwester Mary Joseph Praise beruhigt; sie hatte auch das Meer besänftigt. Die Sonne, die sich verborgen gehalten hatte, stand plötzlich hinter dem Heck am Himmel. Daß sich die Crew vor Freude betrank, zeigte, wie ernst die Lage noch vor Stunden gewesen war.

Schwester Mary Joseph Praise mochte es zwar nicht glauben, aber Stone konnte wenig für Schwester Anjali tun; es gab auch nichts, womit er etwas hätte tun können. Im Erste-Hilfe-Kasten in der Kombüse lag eine vertrocknete Küchenschabe ‒ den Inhalt hatte jemand von der Mannschaft im letzten Hafen ins Pfandhaus gebracht. Der Arzneischrank, den der Kapitän in seiner Kajüte als Sitzgelegenheit benutzte, schien noch aus dem Mittelalter zu stammen. Eine Schere, ein Ausbeinmesser und eine primitive Zange waren die einzigen brauchbaren Gegenstände in dem verzierten Schränkchen. Was sollte ein Chirurg wie Stone mit Breiumschlägen anfangen oder mit kleinen Behältern, gefüllt mit Wermut, Thymian und Salbei? Über das Etikett von etwas, das sich oleum philosophorum nannte, lachte er (und hier hörte Schwester Mary Joseph Praise diesen fröhlichen Laut zum ersten Mal, auch wenn sein Widerhall etwas Schroffes barg). »Hören Sie sich das an«, sagte er und las: »›enthält alte Backsteine und Ziegelbruch gegen chronische Verstopfung‹!« Und mit diesen Worten warf er die Kiste über Bord, nachdem er zuvor lediglich die angelaufenen Instrumente und eine bernsteingelbe Flasche mit Laudanum Opiatum Paracelsi herausgenommen hatte. Ein Teelöffel dieses alten Heilmittels schien Schwester Anjalis entsetzliche Atemnot ein wenig zu lindern, »es hebt die Kopplung der Lunge mit dem Gehirn auf«, wie Thomas Stone Schwester Mary Joseph Praise erklärte.

Der Kapitän kam an, übernächtigt, hocherregt und Spucke und Branntwein sprühend beim Sprechen. »Wie können Sie es wagen, Schiffsausrüstung über Bord zu werfen?«

Stone sprang auf, und in dem Moment erinnerte er Schwester Mary Joseph Praise an einen Schuljungen, der auf eine Prügelei aus ist. Der Doktor fixierte den Kapitän mit einem Blick, bei dem der Mann schluckte und einen Schritt rückwärts tat. »Diese Kiste rauszuwerfen hat der Menschheit genützt und den Fischen geschadet. Noch ein Wort, und ich zeige Sie an, weil Sie Passagiere befördern, ohne medizinische Hilfsmittel an Bord zu haben.«

»Sie haben doch davon profitiert.«

»Und Sie haben bald eine Tote«, sagte Stone und wies auf Anjali.

Das Gesicht des Kapitäns verlor seine Panzerung: Augenbrauen, Lider, Nase und Lippen, alles floß in eins wie ein Wasserfall.

Thomas Stone übernahm jetzt das Kommando, richtete sein Lager an Anjalis Bett ein und machte sich daran, alle an Bord befindlichen Personen zu untersuchen, ob sie wollten oder nicht. Er separierte die mit Fieber von denen ohne. Er machte sich ausführliche Notizen, zeichnete eine Karte der Räumlichkeiten der Calangute und markierte alle Räume mit einem »X«, in denen Fieber aufgetreten war. Diese Kajüten mußten ausgeräuchert werden, darauf bestand er. Die Art und Weise, wie er die Gesunden der Crew und die Passagiere herumscheuchte, erzürnte den verdrossenen Kapitän, aber falls Thomas Stone das überhaupt bemerkte, ging er nicht darauf ein. In den folgenden vierundzwanzig Stunden tat er kein Auge zu, untersuchte Schwester Anjali in regelmäßigen Abständen immer wieder und sah auch nach den anderen Kranken: Er hielt Wache. Ein älteres Pärchen war ebenfalls schwerkrank. Schwester Mary Joseph Praise wich dem Doktor nicht von der Seite.

Zwei Wochen nachdem sie in Kochi abgelegt hatte, kroch die Calangute in den Hafen von Aden. Der griechische Kapitän hatte den Matrosen aus Madagaskar die portugiesische Flagge aufziehen lassen, unter der das Schiff registriert war, aber wegen des an Bord ausgebrochenen Fiebers wurde die Calangute in Quarantäne gestellt, portugiesische Flagge hin oder her. Das Schiff mußte fern des Ufers ankern und konnte wie ein vertriebener Aussätziger nur von fern auf die Stadt blicken. Stone schüchterte den schottischen Hafenmeister, der längsseits gekommen war, ordentlich ein. Wenn er ihm keinen Arztkoffer, keine Flaschen mit Ringer-Laktat-Lösung zur intravenösen Anwendung und kein Sulfa brachte, würde er, Thomas Stone, ihn für den Tod aller Bürger des Commonwealth an Bord verantwortlich machen. Schwester Mary Joseph Praise staunte über seine Direktheit, und doch sprach er auch in ihrem Namen. Es war, als hätte Stone Anjalis Platz als einziger Verbündeter und Freund bei dieser unter schlechten Vorzeichen stehenden Reise eingenommen.

Als die Medikamente kamen, ging Stone als erstes zu Schwester Anjali. Er mußte mit primitivster Desinfektion auskommen, als er mit einem Schnitt des Skalpells die Vena saphena magna an der Innenseite von Schwester Anjalis Knöchel freilegte. Er führte eine Nadel in das kollabierte Gefäß ein, das eigentlich dick wie ein Bleistift hätte sein sollen, und befestigte die Nadel mit Ligaturen; wie im Fluge setzen seine Hände einen Knoten über den anderen. Trotz intravenöser Gabe von Ringer-Laktat und Sulfa produzierte Anjali keinen Tropfen Urin und ließ kein Anzeichen einer Belebung erkennen. Am späteren Abend starb sie bei einem entsetzlichen letzten Krampfanfall, und mit ihr starben zwei andere Passagiere, ein alter Mann und eine alte Frau, alle drei innerhalb weniger Stunden. Für Schwester Mary Joseph Praise kamen diese Tode überraschend und unerwartet. Die Euphorie, die sie erlebt hatte, als Thomas Stone von seinem Krankenlager aufgestanden und zu Anjali gekommen war, hatte sie geblendet. Sie zitterte wie Espenlaub.

Im Zwielicht ließen Schwester Mary Joseph Praise und Thomas Stone die in Tücher gewickelten Leichen über die Reling gleiten. Von der abergläubischen Mannschaft bekamen sie keine Hilfe, die sah nicht einmal herüber.

Schwester Mary Joseph Praise war untröstlich, ihre tapfere Fassade zerbrach, als der Leichnam ihrer Freundin ins Wasser platschte. Stone stand neben ihr, seiner selbst nicht sicher. Sein Gesicht war rot vor Zorn und Scham, weil er Schwester Anjali nicht hatte retten können.

»Wie ich sie beneide«, sagte Schwester Mary Joseph Praise schließlich durch ihre Tränen hindurch; sie konnte vor Müdigkeit und Schlafentzug ihre Zunge nicht mehr im Zaum halten. »Sie ist bei unserem Herrn. Bestimmt hat sie es dort besser als hier.«

Stone verkniff sich das Lachen. Eine solche Aufwallung war für ihn nur Symptom eines bevorstehenden Deliriums. Er faßte Schwester Mary Joseph Praise am Arm und führte sie in seine Kajüte, legte sie in seine Koje und sagte ihr, sie solle schlafen – ärztliche Anweisung. Er setzte sich in die Hängematte, wartete ab, bis die eine verläßliche Wohltat des Lebens ‒ der Schlaf ‒ über sie kam, und lief dann hinaus, um wieder Mannschaft und Passagiere zu untersuchen. Dr. Thomas Stone, Chirurg, schlief nicht.

Als zwei Tage später keine neuen Fieberfälle aufgetreten waren, durften sie die Calangute verlassen. Thomas Stone suchte Schwester Mary Joseph Praise auf, bevor er von Bord ging. Er fand sie mit roten Augen in der Kajüte sitzend, die sie mit Schwester Anjali geteilt hatte. Ihr Gesicht und der Rosenkranz, den sie umklammerte, waren naß. Erschrocken registrierte er, was ihm bisher entgangen war: ihre außerordentliche Schönheit, ihre Augen, groß und seelenvoll und mit mehr Ausdruck, als Augen von Rechts wegen haben sollten. Hitze stieg ihm ins Gesicht, und seine Zunge wollte sich nicht von seinem Gaumen lösen. Er senkte den Blick auf den Boden, sah auf ihre Reisetasche. Als er schließlich sprach, brachte er nur das Wort »Typhus« heraus. Er hatte in seinen Büchern nachgeschlagen und intensiv darüber nachgedacht. Als er ihre Irritation sah, sagte er: »Ohne Zweifel, es war Typhus.« Er hatte erwartet, daß es ihr nach dem Wort, nach der Diagnose besserginge, doch statt dessen füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. »Höchstwahrscheinlich Typhus ‒ ein Serumtest hätte es natürlich bestätigen können«, stammelte er.

Er trat von einem Bein aufs andere, legte die Hände zusammen, löste sie wieder. »Ich weiß nicht, wohin Sie unterwegs sind, Schwester, aber ich fahre nach Addis Abeba . . . das ist in Äthiopien«, sagte er, leise vor sich hin murmelnd. »In ein Krankenhaus ... das Ihre Dienste schätzen würde, wenn Sie mitkommen wollten.« Er sah sie an und errötete wieder, denn in Wahrheit wußte er nichts über das Krankenhaus, an das er ging, oder ob es sie wirklich gebrauchen konnte. Außerdem kam es ihm so vor, als ob diese dunklen, feuchten Augen seine Gedanken lesen kӧnnten.

Es waren jedoch ihre eigenen Gedanken, die Schwester Mary Joseph Praise schweigen ließen. Sie dachte daran zurück, wie sie für ihn und für Anjali gebetet hatte; Gott hatte nur eins ihrer Gebete erhört. Stone hatte, auferstanden wie Lazarus, seine ganze Kraft darauf verwendet, das Fieber zu ergründen. Er war in die Räume der Schiffsbesatzung hineingeplatzt, hatte sich über den Kapitän hinweggesetzt, hatte gefordert und gedroht. Hatte das Falsche getan, wie Schwester Mary Joseph Praise es sah, aber im Dienste des Richtigen. Seine starke Leidenschaft war eine Offenbarung für sie gewesen. An dem Lehrkrankenhaus in Madras, in dem sie ihre Ausbildung zur Krankenschwester absolviert hatte, waren die staatlichen Ärzte (die meisten waren damals Engländer) gleichmütig und fern von den Patienten herumgeschwebt, während die staatlichen Assistenzärzte und die College-Ärzte (allesamt Inder) hinter ihnen herwatschelten wie junge Enten. Manchesmal kam es ihr so vor, als seien sie so auf Krankheiten fixiert, daß die Patienten und ihre Leiden für ihre Arbeit nebensächlich waren. Und Thomas Stone war anders.

Sie spürte, daß seine Aufforderung, ihn nach Äthiopien zu begleiten, nicht geplant gewesen war. Die Worte waren ihm herausgerutscht, bevor er sie zurückhalten konnte. Was sollte sie tun? Die heilige Amma hatte eine belgische Nonne ausfindig gemacht, die aus ihrem Orden ausgetreten war und einen prekären Stützpunkt im Jemen geschaffen hatte, einen Stützpunkt, der wegen des schlechten Gesundheitszustands der Frau in seiner Existenz gefährdet war. Die heilige Amma hatte geplant, daß Schwester Anjali und Schwester Mary Joseph Praise dort anfingen, hoch oben auf dem afrikanischen Kontinent, und von der belgischen Nonne soviel wie möglich über die Arbeit in feindlichem Klima lernten. Vom Jemen aus sollten sich die beiden Schwestern, nach brieflicher Rücksprache mit Amma, weiter nach Süden begeben, nicht in den Kongo (der von den Franzosen und den Belgiern abgedeckt war), nicht nach Kenia, Tansania, Uganda oder Nigeria (die Anglikaner hatten schon ihre Finger auf den dortigen Seelen und duldeten keine Konkurrenz), sondern vielleicht nach Ghana oder nach Kamerun. Was, fragte sich Schwester Mary Joseph Praise, würde die heilige Amma zu Äthiopien sagen?

Die Vision der heiligen Amma nahm sich jetzt aus wie ein Hirngespinst, wie ein Evangelismus aus zweiter Hand, so kenntnisarm, daß es Schwester Mary Joseph Praise peinlich war, die Sache Thomas Stone gegenüber zur Sprache zu bringen. Statt dessen sagte sie bedrückt und mit brüchiger Stimme: »Ich habe Anweisung, nach Aden zu gehen, Doktor. Aber ich danke Ihnen. Danke für alles, was Sie für Schwester Anjali getan haben.« Er wehrte ab, er habe doch nichts getan.

»Sie haben mehr getan, als ein Mensch je könnte«, sagte sie und ergriff seine Hand mit beiden Händen. Sah ihm in die Augen. »Gott sei mit Ihnen und segne Sie.«

Er spürte den Rosenkranz, der noch immer um ihre Finger geschlungen war, die Weichheit ihrer Haut und die Nässe ihrer Tränen. Er rief sich ihre Hände auf seinem Körper ins Gedächtnis, als sie ihn gewaschen, angezogen, sogar seinen Kopf gehalten hatte, als er sich übergab. Er hatte eine Erinnerung daran, wie sie sang und für seine Genesung betete, ihr Gesicht dem Himmel zugewandt. Die Hitze stieg ihm in den Hals, und er wußte, seine Gesichtsfarbe verriet ihn ein drittes Mal. In ihren Augen las er Schmerz, ein Schrei kam von ihren Lippen, und erst da nahm er wahr, daß er ihre Hände quetschte und ihr den Rosenkranz gegen die Knöchel preßte. Er ließ sofort los. Seine Lippen teilten sich, doch er sagte nichts. Unvermittelt ging er davon.

Schwester Mary Joseph Praise konnte sich nicht bewegen. Ihre Hände waren rot und begannen zu pochen. Der Schmerz war wie ein Geschenk, ein Segen, so deutlich spürbar, daß er ihr in die Oberarme und die Brust stieg. Unerträglich war das Gefühl, daß ihr etwas Wesentliches aus der Brust gerissen worden war, als er fortging. Sie hatte sich an ihm festhalten, hatte ihm zurufen wollen, er solle nicht gehen. Sie hatte geglaubt, im Dienste des Herrn sei ihr Leben vollständig. Doch es gab, das erkannte sie jetzt, eine unausgefüllte Stelle darin, von deren Existenz sie bisher nichts geahnt hatte.

In dem Moment, als sie von Bord der Calangute ging und den Fuß auf jemenitischen Boden setzte, wünschte sich Schwester Mary Joseph Praise, sie hätte das Schiff nie verlassen. Lächerlich, daß sie die vielen zwangsweise in Quarantäne zugebrachten Tage danach geschmachtet hatte, an Land zu kommen. Aden, Aden, Aden ‒ vor dieser Reise wußte sie nichts darüber, und auch jetzt war es noch nicht mehr als ein exotischer Name. Den Aussagen der Matrosen auf der Calangute hatte sie entnommen, daß man fast nirgendwo auf der Welt hingehen konnte, ohne in Aden einen Zwischenstopp einzulegen. Die strategisch günstige Lage des Hafens hatte sich die britische Armee zunutze gemacht. Jetzt war er wegen seiner Zollfreiheit ein Ort, an dem man einkaufen und sich sein nächstes Schiff suchen konnte. Aden war das Tor nach Afrika, und für Afrika war es das Tor nach Europa. Für Schwester Mary Joseph Praise sah es aus wie das Tor zur Hölle.

Die große Stadt war tot und zugleich ständig in Bewegung wie ein auf einem verfaulenden Körper wimmelnder Madenteppich. Schwester Mary Joseph Praise floh die Hauptstraße und die erstickende Hitze und suchte den Schatten enger Gassen. Die Gebäude sahen aus wie aus Vulkanfelsen gehauen. Schubkarren, unglaublich hoch mit Bananen, Ziegelsteinen, Melonen und einmal sogar mit zwei Leprakranken beladen, die nur noch Beinstümpfe hatten, schlängelten sich durch den Fußgängerverkehr. Eine große, kräftige Frau, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Tscharschaf gehüllt und verschleiert, trug eine mit glimmender Holzkohle gefüllte Pfanne auf dem Kopf. Niemand nahm Notiz von diesem seltsamen Bild, die Menschen sparten sich ihr Starren für die in ihrer Mitte gehende Nonne mit der braunen Haut auf. Mit ihrem unbedeckten Gesicht kam sie sich nackt vor.

Nach einer Stunde, in der sich ihre Haut anfühlte wie im Ofen aufgehender Teig und in der sie mal hierhin, mal dorthin geschickt wurde, kam Schwester Mary Joseph Praise vor einer winzigen Tür am Ende eines schlitzartig schmalen Durchgangs an. Auf dem Stein markierte eine blasse Linie, daß hier ein Schild vor kurzem entfernt worden war. Schwester Mary Joseph Praise sprach ein stilles Gebet, holte tief Luft und klopfte. Ein Mann schrie etwas mit heiserer Stimme, und Schwester Mary Joseph Praise interpretierte das Geräusch als Aufforderung einzutreten.

Neben einer glänzenden Waage saß ein Araber, der kein Hemd anhatte, auf der Erde. Rings um den Mann türmten sich dicke Ballen gebündelter Blätter bis zum Hausdach.

Der Treibhausgestank nahm ihr den Atem. Er war neu für sie, dieser Kathgeruch, der etwa von gemähtem Heu an sich hatte, aber vermischt mit etwas Würzigerem.

Der Bart des Arabers war so rot von Henna, daß sie erst dachte, ihm sei Blut hineingeflossen. Seine Augen waren ummalt wie bei einer Frau und erinnerten sie an Darstellungen Salahuddins, der die Kreuzzügler daran gehindert hatte, das Heilige Land einzunehmen. Sein Blick nahm das junge, in dem weißen Nonnenschleier gefangene Gesicht auf, danach fielen die unter schweren Lidern liegenden Augen auf den Arztkoffer in ihrer Hand. Mit einem durch seinen Kӧrper gehenden Ruck stieß er durch goldgeränderte Zähne ein vulgäres Lachen aus, das sofort verstummte, als er merkte, daß die Nonne dem Zusammenbruch nahe war. Er ließ sie sich setzen, schickte nach Wasser und Tee. Später teilte er ihr in einer Mischung aus Zeichensprache und verstümmeltem Englisch mit, daß die belgische Nonne, die hier gelebt hatte, urplötzlich gestorben war. Als er ihr das sagte, begann Schwester Mary Joseph Praise abermals zu zittern, sie hatte eine dunkle Vorahnung, als höre sie in diesem Treibhaus das Laub unter den Schritten des Todes rascheln. Sie hatte ein Foto von Schwester Beatrice in ihrer Bibel stecken, und deren Gesicht verwandelte sich vor ihrem geistigen Auge erst in eine Totenmaske und danach in das Antlitz Anjalis. Schwester Mary Joseph Praise zwang sich, den Blick des Mannes zu erwidern und sich seinen Worten zu stellen: Woran? Wer fragt in Aden nach dem Woran? Den einen Tag geht es dir gut, deine Schulden sind bezahlt, deine Frauen sind glücklich, gelobt sei Allah, und den nächsten befällt dich ein Fieber, und wenn dir dabei in der Hitze die Haut aufplatzt, die der Hitze doch so viele Jahre lang standgehalten hat, stirbst du. Woran? Woran spielt keine Rolle. An schlechter Haut! An der Pest! Am Pech, wenn man so will. Sogar am Glück.

Das Haus gehörte ihm. Wenn er sprach, sah sie die grünen Kathblätter in seinem Mund. Ihr alter Gott habe die Nonne nicht retten können, sagte er und sah, mit dem Finger zeigend, zur Decke, so als sitze Er dort noch. Unwillkürlich folgte Schwester Mary Joseph Praise seinem Blick, bevor sie sich fing. Inzwischen fielen seine trüben Augen wieder auf ihr Gesicht und ihre Lippen und ihre Brust.

Ich weiß diese Dinge über die Reise meiner Mutter nur deshalb, weil es von ihren Lippen ins Ohr anderer und dann in mein Ohr gelangt ist. Doch in Aden endete ihre Geschichte. In diesem Treibhaus brach sie abrupt ab.