Die Traumreiter - Lateesha Halmen - E-Book

Die Traumreiter E-Book

Lateesha Halmen

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Beschreibung

Die drei Geschwister Charlie, Momo und Pan haben ein behütetes Leben, bis sie eines Tages ihre Mutter verlieren. Mysteriöse Geschichten und unruhige Träume lassen Geheimnisse vermuten, die es aufzudecken gilt. Getrieben von der Sehnsucht nach ihrer Mutter, begeben sich unsere mutigen Traumreiter auf eine Reise durch das gefährliche Land der Nacht. Sie begegnen der dunklen Nachtigall, widerstehen dem Morgenlicht und stellen sich finsteren Kreaturen, um ihre Mutter aus den Fängen schauriger Monster und deren Meister zu befreien. Ein zeitloser Roman über Verlust und Fantasie und Zusammenhalt.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für meine drei wundervollen Traumreiter:

Charlie

Momo

&

Pan

Auf dass ihr euch in euren Träumen immer wieder findet.

Und für

Marcel

einen Papa, der ihnen immer dabei helfen wird

INHALT

Alles Grau

Violas Geschichte

Der Raritätenladen

Das Monster unter meinem Bett

Nimmerland

Dramama

Gute Nacht, kleiner Abendstern

Willkommen im Land der Nacht

Sternenkinder

Leben und Tod

Morgenröte

Das verlorene Kind

Ein Stern wird geboren

Der Wald hat Augen

Wach auf!

Im Vogelkäfig

Ein tragischer Verlust

Der Morgen, der so viel verändert hatte

Sie kommen!

Oculus

Der Fall und das Wasser

Der Fossegrim

Die Zeit rennt

Kleines Nachtgespenst

Eine Seefahrt die ist lustig

Der Gipfel

Sturzflug

Im Dunkeln

In der weißen Stadt

Eine Spur

Die Botschaft

Unter Feinden

F+F

Geburt des Bösen

Von Liebe und Eifersucht

Wolkenbruch

Auf in die Schlacht

Der Lichthüter

Geburt des Guten

Schwarze Schwingen

Ritt auf der Morgenröte

Das Spaghettimonster

Erinnerungen

Das Leben ist ein Traum

Kapitel 1

Alles Grau

6 Monate, 4 Tage und 2 Stunden war es jetzt her. Dieser Morgen, der so viel verändert hatte. Der Augenblick, der so unwirklich schien. Schier unmöglich.

Selbst die leuchtend weißen Kirschblüten, die an jenem Tag am Fenster vorbei schwebten, schienen es nicht glauben zu wollen. Wie in Zeitlupe zogen sie an der Scheibe vorbei, als würden sie, bevor sie wie frisch gefallener Schnee den Boden bedecken sollten, erst sicher gehen wollen, dass das alles nur ein böser Traum war. Doch diese eine Blüte, die sich wie eine strahlende Fee in die Ecke des Fensterrahmens setzte, konnte alles hören und hatte es ihren Brüdern und Schwestern erzählt, sobald der eisige Morgenwind sie schließlich fortgerissen und zu ihnen getragen hatte.

Sie erzählte ihnen, dass etwas Furchtbares geschehen war. Dass in diesem Haus am Ende der Straße, das einst vor Freude, Wärme und Liebe Funken sprühte, das Licht erloschen war. Dass man nun trauerte.

Und die Kirschblüten dort draußen auf dem gepflasterten Hinterhof trauerten mit. Schon bald leuchteten sie nicht mehr. Sie legten ihr fröhliches, helles Festtagsgewand ab und trugen fortan ein tristes Trauerkleid, damit die Welt sehen konnte, dass dort oben hinter dem dunklen Fenster drei kleine Seelen um ihre Mutter weinten.

Heute erstrahlte der Hinterhof wieder in seinen gewohnten Farben. Die grünen Grashalme, die sich zwischen grauen und roten Backsteinen und Betonrissen ihren Lebensraum zurückerobert hatten, tanzten mit den leuchtend braunen, orangenen und gelben Blättern des rabenschwarzen Kirschbaumes um die Wette. Alles schien bunt, fröhlich und unbeschwert.

Bis auf das Mädchen am Fenster dort oben, das dieses herbstliche Szenario beobachtete.

Ihre warmen, grünen und blauen Augen, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren, blickten starr hinaus auf das bunte Treiben. Der Kopf, bedeckt von seidig-glattem, haselnussbraunem Haar, ließ die Scheibe rundum beschlagen, an der er lehnte. Die fehlende Socke an ihrem rechten Fuß erinnerte an unbekümmertere Zeiten. Wie oft hatten ihre Eltern darüber gelacht, dass ihrer Tochter auf unerklärliche Weise immer eine Socke abhanden kam. Nicht einmal sie selbst konnte sich das erklären.

Früher hatte sich Charlie zusammen mit ihrer Mutter Geschichten ausgedacht. Über die Wichtel, die in der Nacht die Blätter bemalten. Über Geister, die sie von den Bäumen rissen und tanzen ließen. Oder über die Nachtigall, die mit ihren Flügeln des Nachts den Himmel verdunkelte, um der Welt ihre wohlverdiente Ruhe zu schenken.

Seit ihre Mutter aber nicht mehr da war, sah die einst so verträumte Beobachterin nichts als lebloses Laub und eine düstere Wolkendecke. Die Welt hatte an Glanz verloren.

»Erzählst du mir eine Geschichte?«

In seinem blau gestreiften Schlafanzug und den ausgelatschten Dino Pantoffeln, die früher einmal Momo gehört hatten, kam Pan durch das Zimmer gestapft. Das engelblonde Haar zerzaust wie immer. Er versuchte sich zu Charlie auf das Fensterbrett zu setzen, doch mit seinen kurzen Beinchen war der 4-jährige noch zu klein, um sich alleine hochzuziehen. Seine große Schwester packte ihn unter den Armen und half ihm hinauf.

»Heute ist keine gute Zeit für Geschichten«, sagte sie tonlos. Pan schaute sie herausfordernd an. Seine kleine Hand lag auf ihren immer noch kindlichen Fingern.

»Das sagst du jedes Mal! Früher hast du mir tolle Geschichten erzählt, ganz oft. Mama sagt immer –«

»Mama sagt gar nichts mehr«, unterbrach ihn Charlie strenger als sie es wollte und sog die Luft, die hier im Zimmer immer etwas nach Keller und Pfefferminzbonbons roch, tief in ihre Lungen ein. »Hör zu«, fuhr sie mit sanfterer Stimme fort, »wie wäre es, wenn wir dich jetzt anziehen gehen und dann kannst du mir dabei helfen, draußen das Laub zusammen zu kehren?«

Pan stöhnte lautstark.

Mit einem letzten Blick aus dem Fenster und einem stummen Seufzer nahm Charlie ihren kleinen Bruder bei der Hand und lief mit ihm ins Kinderzimmer.

Als sie wenig später hinter dem wild umher hüpfenden Pan den Hinterhof betrat, war Momo schon draußen und saß stumm auf der alten Schaukel, die von einem starken Ast des Kirschbaumes getragen wurde. Sie war schon ein sonderbarer Anblick, mit dem viel zu großen, grünen Schal und ihren wilden, dunklen Locken, die daraus hervorlugten und ihre schwarzen Knopfaugen halb verbargen.

Früher hatten eben diese Augen vor Witz und Lebensfreude gestrahlt. Die kleinen Füße, die jetzt bewegungslos von der Schaukel hingen, konnten keine Sekunde stillstehen. Und der breite Mund mit den schmalen Lippen, der jetzt unter einer enormen Menge olivgrüner Wolle versteckt lag, hatte damals immer etwas zu erzählen, fand immer einen Grund zu lachen.

Das war so, als Mama noch da war. Doch mittlerweile sprach Momo kaum noch. Und überhaupt war sie nicht mehr dieselbe. Als hätte sie ein Stück von sich verloren.

Seit Monaten war das nun so. Seit 6 Monaten um genau zu sein. Seit 6 Monaten, 4 Tagen und ein paar Stunden.

»Jippie!«

Pan quiekte vergnügt, während er sich im feuchten Laub wälzte. Mit übervollen Händen warf er bergeweise davon in die Luft und drehte sich im herabfallenden Herbstregen aus verdorrten Blättern, Sand und Erde.

Charlie schleppte derweil Rechen, Eimer und Schaufel heran und begann damit, dieses bunte Durcheinander eimerweise in große Säcke zu stopfen.

Bald darauf waren alle drei Kinder vorbildlich in diese Arbeit vertieft und der Hof begann langsam an Farbe zu verlieren und in ordentlichem, sauberem Grau zu erstrahlen.

Nach einer guten Stunde war das Werk vollbracht. Charlie streckte sich, klopfte ihre Hände an den Oberschenkeln ab und wollte gerade das Ergebnis ihrer Arbeit begutachten, als – BUFF – eine gewaltige Ladung zusammengeknülltes Laub sie in den Rücken traf. Sie wirbelte herum und sah Pan mit breitem Grinsen und einer kleinen Rotznase hinter sich stehen, die Hände noch von sich gestreckt. Charlie hob mahnend den Finger, doch dann ertönte ein leises, ersticktes Kichern aus Momos Monsterschal. Schließlich herrschte kurze, erwartungsvolle Ruhe.

»Na warte!« Charlie griff tief in den neben ihr stehenden Sack und feuerte eine riesige Menge seines Inhalts genau in Momos entsetztes Gesicht. Und nun geschah, was geschehen musste: Eine erbarmungslose Schlacht begann.

Momo nutzte die eingetüteten Blätterberge als Schutzwall, was ihr einen enormen Vorteil verschaffte, während Pan vergnügt durch den Blätterregen tänzelte und das Chaos sichtlich genoss. In seiner freudigen Aufregung klebte ihm der Schweiß das struwelige Haar in die Stirn. Charlies Wangen glühten, während sie den Laubkanonen auszuweichen versuchte und für einen kurzen Moment schien im Hinterhof am Ende der Straße das Leben wieder seinen gewohnten Gang zu gehen.

»Verdammt nochmal!«

Ein lautes Scheppern drang aus dem geöffneten Küchenfenster, gefolgt von einem ohrenbetäubenden:

»Momooo!«

Wie vom Blitz getroffen, tauchte der kleine Lockenkopf hinter dem mit Laub bedeckten Rücken seiner Schwester ab.

Eine Tür knallte. Schwere, schleppende Schritte waren aus dem Treppenhaus zu hören. Einen Moment später stand Papa in der Haustür. Rote Flecken auf seiner ausgewaschenen Jeans leuchteten mit dem Purpur seines von einem kräftigen, dunklen Schnauzer gezierten Gesichts um die Wette.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass du das Geschirr abspülen sollst? Wofür braucht ein Mensch zwanzig Schüsseln am Tag?«

Seine donnernde, tiefe Stimme konnte sehr einschüchternd sein. »Die Küche ist ein Minenfeld. Viola kommt heute und ich kann nicht mal einen Tee kochen, ohne dass mir eure verdammte Tomatensauce um die Ohren fliegt!«

Charlie spürte Momos Finger, die sich von hinten fest in ihren Arm gruben.

»Ab nach oben mit dir, Fräulein und bring das in Ordnung! Und was ist das hier überhaupt für ein Durcheinander?«

Er wandte sich an Charlie und deutete auf die leeren, umherfliegenden Säcke und das Laub, das nun nicht mehr nur den Boden bedeckte, sondern auch die Köpfe der drei verschwitzten Kinder vor ihm.

»Du solltest die Blätter wegschaffen, nicht darin baden!

Du bist kein Baby mehr, Charlie. Von einer 10-jährigen sollte man doch ein bisschen Selbständigkeit erwarten dürfen.«

Charlie ließ den Kopf hängen. Sie war sauer auf sich selbst.

»Na los!«, flüsterte sie Momo zu, die noch immer hinter ihr stand und keinen Mucks machte.

Sofort flitzte der Lockenkopf aus seiner Deckung heraus, an Papa vorbei und die Treppe hinauf. Pan, der während der Ansprache scheinbar unbekümmert mit einem Stöckchen Blätter aufgepiekst hatte, hüpfte vergnügt hinter Momo her, gefolgt von seinem immer noch rotgesichtigen Papa.

Nun stand Charlie alleine im Hof. Sie seufzte. Wenigstens konnte sie sich auf Tante Viola freuen.

Kapitel 2

Violas Geschichten

Tante Viola war Papas Schwester. Sie hatte schon vor Jahren beschlossen, dass es keinen Sinn mache, »immer an demselben Ort zu leben und die gleichen Leute zu sehen« Das sei nichts für sie. Deshalb reiste sie ständig in der Welt herum und niemand wusste jemals ganz genau, in welchem Land sie sich gerade aufhielt. Doch sie rief einmal die Woche an und erzählte von neuen, exotischen Gerichten, die sie gegessen, seltenen Tieren, die sie gesehen und spannenden Menschen, die sie getroffen hatte. Und ab und zu überkam sie das Heimweh und dann stand sie plötzlich vor der Tür und duftete nach aromatischen Kräutern und Salzwasser. Letztes Mal kam sie in luftige Gewänder gehüllt und trug einen bunten Turban auf dem Kopf.

Mama hatte dieses schillernde Geschöpf geliebt. Die beiden waren sich sehr ähnlich gewesen und manchmal hatte Charlie das Gefühl gehabt, Mama wäre ab und an auch gerne mit Tante Viola davongeflogen.

Vor einigen Tagen jedenfalls kam dann der Anruf, in dem sie verkündete, das Wetter in Ulladulla sei so trocken und heiß, dass sie eine kühle Abwechslung gut gebrauchen könne.

Es klingelte an der Tür.

Pan war eben noch damit beschäftigt, das Loch in seiner Socke mit Murmeln zu füllen und humpelte nun eilig in den Flur und wartete ungeduldig auf das Gesicht, das kurz darauf hinter dem Buntglasfenster der Eingangstür auftauchte.

Momo, die es nach einer geschlagenen Stunde fast geschafft hatte, endlich die erste Schüssel abzuwaschen, warf sie wieder zurück ins Spülwasser und linste aus der Küche.

»Kinder!«

Eine Stimme wie eine warme Brise an kalten Tagen drang durch das Treppenhaus nach oben, dicht gefolgt von Tante Viola, in einem Mantel aus bunten Flicken und einem knallroten Hut auf dem blonden, ewig langen Haar.

»Kinder, ihr habt nicht zufällig meinen Schirm vorbei fliegen sehen? Der fiese Nordwind hat ihn mir aus der Hand gerissen. Hat schon immer ein Auge darauf geworfen, der alte Griesgram.«

Bestens gelaunt wirbelte sie zur Tür herein, gab Papa ein Küsschen auf die Wange und wandte sich an Pan und Momo.

»Sagt mal, als ich das letzte Mal da war, wart ihr noch zu dritt. Erzählt mir bitte nicht, eure Schwester wurde auch vom Wind davongetragen!«

Pan gluckste und Momo versteckte ihr Grinsen hinter dem Türrahmen.

Wie auf Ansage kam in diesem Moment Charlie die Treppe heraufgestampft. Mit vor Anstrengung hochrotem Kopf und einem bunt gepunkteten Regenschirm in der Hand. In ihrem Haar hing immer noch ein verdorrtes Blatt.

»Du gutes Kind!«, rief Tante Viola entzückt. Charlie lächelte erschöpft.

»Ich hab ihn im Hof gefunden. Er hing am Kirschbaum«, sagte sie mit fragendem Blick.

Ihre Tante klatschte in die Hände.

»Na, dann. Eine Runde heiße Schokolade für die Bezwingerin des Windes und ihre Gefolgsleute!«

Charlie seufzte. Papa verdrehte die Augen.

»Nun erzählt schon!« Tante Viola saß blendend gelaunt am Küchentisch und rührte mit gespitzten Fingern in ihrer Tasse. »Ich möchte hören, was ihr seit meinem letzten Besuch erlebt habt? Muss ich euch denn alles aus der Nase ziehen? Habt ihr im Schuppen wieder ein Indianerlager errichtet? Habt ihr gelernt, wie man den Regen in Diamanten verwandelt? Oder seid ihr vielleicht endlich den Geheimnissen der Fossegrims auf der Spur?

Mein Schamane sagte mir, ich solle meinen Geist für neue Abenteuer offen halten. Habt ihr eines für mich?«

Ihr Blick machte die Runde und blieb bei Charlie hängen.

»Ich habe in der Schule die beste Note auf meinen Aufsatz bekommen«, murmelte sie etwas zurückhaltend.

»Ha!« Tante Viola klatschte wieder in die Hände (Das tat sie in der Tat sehr oft). »Natürlich hast du das! Du bist ja auch unsere talentierteste Geschichtenerzählerin. Zu welchem fantastischen Thema hast du denn deine kreativen Ergüsse zum Besten geben dürfen?«

»Schimmel und Sporen«, klärte Charlie ihre Tante auf.

Diese räusperte sich kurz und sagte dann mit einem dezenten Schulterzucken:

»Ich wette, die Welt des Schimmels klang nie zuvor so inspirierend und fesselnd.«

Pan wackelte auf seinem Stuhl herum.

»Ich kann jetzt Dinos malen!« Er zog tief aus seinem Hosenbund ein ziemlich zerknittertes Blatt, knallte es auf den Tisch und warf dabei fast den Kakao um.

Momo rümpfte die Nase.

Ein großer, unförmiger Kreis mit vier Strichen für die Beine und einem weiteren Kringel für den Kopf waren darauf zu erkennen. Drum herum zierten zahlreiche Flecken nicht zu bestimmender Herkunft das Gemälde.

Tante Viola strich vorsichtig das Papier glatt.

»Ein Meisterwerk!«

Pan hätte nicht stolzer sein können.

»Hat Mama letzte Nacht auch gesagt!«

»So?« Tante Viola beugte sich mit verschwörerischer Miene über den Tisch. »Richte ihr liebe Grüße aus, Herzchen.« Sie zwinkerte.

Momos Gesicht aber versteinerte. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, ehe sie aufstand und schnellen Schrittes die Küche verließ.

»Verdammt, Viola!« Papa stellte seine Tasse etwas zu forsch auf den Tisch zurück, sodass er sich die frische Hose bespritzte.

»Hör auf zu fluchen, Frederik!«, gab Tante Viola in ruhigem Ton zurück.

Nun stand auch Charlie auf und ging.

»Alles in Ordnung?«

Charlie fand Momo im Wunderland.

So hatte Charlie diesen Raum genannt, als sie noch ganz klein gewesen war. Eigentlich war es nur ein Arbeitszimmer. Nicht sehr groß. An den Wänden standen ein alter Aktenschrank, ein Bügelbrett und ein hölzerner Schreibtisch. Den Schreibtischstuhl hatte Papa bereits weggeworfen. Außerdem wurde hier alles abgestellt, was in der übrigen Wohnung keinen Platz fand. In der einen Ecke stand der Staubsauger, in einer anderen ein kaputtes, altes Grammophon. Auf einem alten Regal türmten sich Kisten, voll mit Papieren, altem Spielzeug und allerlei Krimskrams. Was das Wunderland allerdings besonders machte, waren das gemütliche alte Sofa am Fenster, dessen rote Farbe schon an allen Ecken und Enden ausgeblichen war und die kunstvollen Malereien an den Wänden. Mama hatte sie vor langer Zeit angefertigt. Überall waren traumhafte Dinge zu sehen.

Schwebende Blumen, kristallene Vögel, ein Eichhörnchen mit Zylinder, die Silhouetten tanzender Kinder und überall atemberaubende Natur in den schönsten und schillerndsten Farben.

In der Mitte der tiefblauen Decke war ein gigantischer, goldener Mond mit freundlichem Gesicht zu sehen.

Hier, inmitten wundersamer Geschöpfe, hatten sich früher die drei Kinder zusammen mit Mama auf das urige Sofa gekuschelt und stundenlang Geschichten gelesen.

Auf eben diesem Sofa saß Momo nun. Die Arme um die Beine geschlungen und das Gesicht zwischen den Knien verborgen.

»Was hast du denn?«, fragte Charlie mitleidsvoll, obwohl sie es sich schon denken konnte.

Momo schwieg.

»Tante Viola hat dich bestimmt nicht verletzen wollen. Sie ist nur –« Charlie suchte nach einem passenden Wort, doch ihr fiel keines ein.

Sie setzte sich neben Momo und starrte an die Decke.

»Weißt du noch, was Mama uns immer gesagt hat? Wenn alles andere im Dunkeln liegt –«

»Scheint der Mond am hellsten«, ergänzte Momos erstickte Stimme leise.

Charlie legte den Arm um ihre Schwester und fuhr fort:

»Ich habe das nie ganz verstanden, weißt du. Aber trotzdem hat es mich immer irgendwie getröstet.«

Ein schnelles Trampeln auf dem Flur verriet Pan, der seinen Schwestern nacheilte.

»Kommt schon, ihr Dussel! Tante Viola macht Seifenblasen IN der Wohnung!« Das kleine Energiebündel hüpfte vergnügt auf und ab.

Charlie stand auf und zog ihre widerwillige Schwester gemächlich hinter sich her.

»Na, dann lass uns mal sehen, was schneller platzt«, flüsterte sie noch Momo zu ehe sie das Wunderland verließen, »die Seifenblasen, oder Papas Kragen.«

Den übrigen Tag verbrachte die ganze Familie mit dem, was man eben so tut, wenn eine Tante wie Tante Viola zu Besuch war. Sie bauten Höhlen aus Decken, Kisten und Tischen, bemalten die Fenster bunt mit Fingerfarben und sprangen von Bett zu Bett, während sie sich die Kissen um die Ohren schlugen. Naja, zumindest Viola und Pan taten das. Momo ließ sich erst bei dem “Wer-springt-am-weitesten-Spiel” mitreißen. Charlie und Papa jedoch beobachteten nur, seufzten ab und an, oder verdrehten die Augen, wenn mal wieder jemand auf dem Po gelandet war. Dass Charlie mit dem Fuß im Takt mitwippte, als Tante Viola ihre alten Platten laut aufdrehte, bemerkte keiner.

Beim Abendessen verkündete Papa, er würde am Abend ausgehen. Die Kinder sollten nicht auf ihn warten. Tante Viola sei ja da und er wäre spätestens morgen früh wieder zuhause. Pan protestierte heftig, doch der Rest der Runde nahm die Ankündigung wortlos entgegen.

Als Papa wenig später das Haus verließ, trug er noch immer die fleckige Hose und ein Hemd, das sicher irgendwann einmal nicht zu eng gewesen war.

Später am Abend, als alle Kinder in ihren Betten lagen, setzte sich Tante Viola an Momos Seite. In ihren Händen hielt sie ein kleines, schwarzes, in Leder gebundenes Buch. “Legenden der Welten” stand in goldenen Lettern auf dem Umschlag.

»Oh ja! Eine Geschichte.« Pan stieg eilig aus seinem Bett und kletterte zu Momo unter die Decke. Charlie vergrub sich tief in ihr Kissen und gab sich uninteressiert. Tante Viola strich Momo sanft übers Haar.

»Eure Mutter hat mir dieses Buch vor vielen Jahren gegeben. Ich bin mir sicher, ihr werdet die Geschichten darin genauso wundervoll finden, wie ich es tue.«

Momos Augen wurden groß und ihr Kopf glitt langsam unter der Decke hervor, wie eine Schildkröte aus ihrem Panzer.

Pans nackte Füße zappelten vorfreudig, sodass das gesamte Bett wackelte.

Charlie schloss kommentarlos die Augen, drehte jedoch den Kopf ein wenig, um besser hören zu können.

Tante Viola blätterte eine Weile in dem Buch, bis sie die Seite gefunden hatte, die sie suchte und begann zu lesen:

VON LICHT UND DUNKELHEIT

»Seit Anbeginn der Zeit herrschen zwei gütige Mächte über unsere Welt. Solis und Lunor So wunderschön wie Gold und Silber. Gerecht teilten sich diese einst die Aufgabe zum Schutz ihres Reiches auf. Da sie nicht zusammen über die ganze, weite Welt wachen konnten, wollten sie getrennt durch die Lande streifen und ihre Herrlichkeit mit der Welt teilen, damit zu keiner Zeit die Dunkelheit den Menschen etwas anhaben konnte.

Des einen Wacht nannte man Tag, des anderen Nacht. Der eine schenkte Mut und Zuversicht, denn sein Licht leuchtete stark und warm. Der andere brachte Ruhe und Frieden, denn sein Leuchten war zart und kühl. Viele tausend Jahre lebte so ihr gesamtes Volk in Sicherheit, Frieden und Harmonie.

Die Menschen jedoch, die anfangs ihre Beschützer verehrten, wurden mit der Zeit eigensinnig und gedachten nicht mehr ihrer großen Könige und deren Schutz. Sie wurden des Lichts überdrüssig und erbauten massive Häuser mit Fenstern, die sie des Nachts verdunkelten. Den König der Nacht, dessen Licht in größerem Maße unerwünscht geworden war, erzürnte diese Undankbarkeit sehr. In seiner Wut wandte er der Welt den Rücken zu und warf sich vor des Tages Licht, um so die Menschen zu strafen und in tiefe Dunkelheit zu hüllen. Kälte, Verzweiflung und Schatten bedeckten nun die einst so hell erleuchteten Lande.

Aus dieser Dunkelheit erwuchsen Kreaturen, die sich von den düsteren Gedanken der Menschen nährten. Besonders die unendlich fantasiereichen Träume der Kinder, die nun von Angst erfüllt waren, schufen immer neue Schatten und Monster.

Ihr Anführer war Tenebris, Herr der Finsternis. Nun herrschte er mit eiskalter Faust über das Königreich, verbreitete Hass und Schrecken.

Bis einmal eine Nachtigall, vor Trauer und Sehnsucht um eine verlorene Welt, ein Klagelied anstimmte. Ihr Gesang war von herzzerreißender Melancholie und so wunderschön anzuhören, dass sich der Nachtkönig unendlich in dieses Geschöpf verliebte.

Diese reine Liebe besänftigte sein Herz. Schlechtes Gewissen überkam ihn und er gab Solis wieder frei.

Geblendet vom Licht, flohen die Schatten und Monster in Löcher und Ecken, die von Lunors Strahlen nicht berührt wurden.

Tenebris ergab sich und grollte den Königen, vor allem aber seinem Widersacher Lunor.

Die Menschen fanden wieder Frieden.

Die Nachtigall indes breitete vor Freude und Erleichterung ihre gewaltigen Schwingen aus und verdunkelte damit den Himmel erneut. Diesmal jedoch war es eine tröstende Dunkelheit. Wie eine schützende Hand auf einem müden Haupt. Und Lunor strahlte durch diese Dunkelheit wie ein Leuchtturm auf hoher See, sodass sein Volk nun des Nachts seine Fenster nicht mehr verdunkeln wollte und das Licht des Königs als wohltuend empfand.

Tenebris derweil gab sich so schnell nicht geschlagen. Um weiterhin seine Schattendiener wachsen zu lassen, schleicht er sich nun des Nachts von Haus zu Haus. Dort, so sagt man, streut er den schlafenden Kindern Sand in die Augen, um ihren friedlichen Schlummer zu stören und ihnen Albträume zu bescheren. So versucht er seine Macht wieder zu stärken und eines Tages das Königreich zurückzuerobern.

So wird es sich erzählt, seit tausenden Jahren.«

»Und wird Tenebris das Königreich zurückbekommen?«

Charlie saß nun ganz gespannt in ihrem Bett, die Decke um sich geschlungen. Momos Augen leuchteten. Pan schnarchte leise vor sich hin. Er war schon längst eingeschlafen.

»Euer Bruder ist vielleicht gerade dabei, das herauszufinden«, sagte Tante Viola verschwörerisch und schloss das Buch. »Eure Mutter hat auch mir viele Geschichten erzählt. Diese eine blieb mir immer besonders im Gedächtnis. Manchmal träume ich davon.«

Sie strich Momo eine Locke aus dem Gesicht.

»Ihr müsst sie sehr vermissen. Doch nichts was uns verlässt, ist je gänzlich verschwunden.«

Momo gähnte.

»Schlaft jetzt, meine Süßen. Und erlebt eure eigene Geschichte.« Sie gab den beiden Mädchen noch einen Kuss auf die Stirn, streichelte sanft Pans wildes Haar und verließ das Zimmer, wobei sie die Tür einen Spalt breit offen ließ.

Charlie, erschöpft von diesem langen Tag, schlief bald ein. Nur Momo lag noch lange wach und dachte über die Geschichte nach. Über den Nachtkönig, die Nachtigall und über den bösen Tenebris. Eine Gänsehaut überkam sie bei dem Gedanken an ihn.

Sie zog die Decke ins Gesicht und starrte an die gegenüberliegende Wand. Das schwache Licht der Straßenlaterne draußen auf dem Weg fiel durch die Fensterläden und warf gestreifte Schatten an die Tapete.

Doch war da nicht noch etwas anderes?

Momo kniff die Augen zusammen und strich sich die Locken aus dem Gesicht. Sie meinte, eine Bewegung an der Wand gesehen zu haben.

Leise kramte sie im Nachttisch nach der kleinen Taschenlampe, die sie einmal von Papa bekommen hatte.

Ganz langsam leuchtete sie das ganze Zimmer ab, doch nichts Merkwürdiges war zu sehen. Sie steckte die Lampe unter ihr Kissen, kuschelte sich an ihren Bruder und schlief ein.

Charlie war es, die als Erste aufwachte. Es war noch dunkel. Der Wecker auf ihrem Nachttisch verriet ihr, dass es gerade erst zwölf Uhr war. Gähnend fragte sie sich, was sie geweckt hatte.

Pan lag auf der Bettdecke und atmete schwer. Immer wieder gab er unverständliche Laute von sich. Er schien im Schlaf zu reden. Das tat er oft in letzter Zeit.

Charlie stand auf. Ihre nackten Füße fröstelten auf dem kalten Boden. Als sie vor Momos Bett stand, war ihr kleiner Bruder wieder ganz still. Ihre Schwester lag mit offenem Mund, leise schnarchend neben ihm.

»Warum?«, drang Papas donnernde Stimme durch den Türschlitz. Er war also schon nach Hause gekommen.

Charlie wandte sich um. Sie lief zur Tür, starrte durch den schmalen Spalt in den Flur und spitzte die Ohren.

»Du musst dich zusammenreißen, Frederik. Tu’ es für die Kinder. Sie brauchen dich doch!«, hörte sie Tante Viola ihren Vater besänftigen. Dann senkten die beiden ihre Stimmen und Charlie schlich auf Zehenspitzen in den Flur, um besser hören zu können.

»Es ging ihr doch gut bei mir. Wir warn glücklich. Ich schaff das nich ohne sie.« Papa klang erschöpft und irgendwie heiser. Immer wieder redete seine Schwester beruhigend auf ihn ein.

»Es war nur eine Frage der Zeit. Keiner hätte das verhindern können, das weißt du. Sie wollte nicht gehen.

Sie hat gekämpft! Bis zum bitteren Ende hat sie gekämpft.«

Charlie stand jetzt direkt vor der Küchentür. Wie versteinert belauschte sie das Gespräch, angestrengt kein Wort zu verpassen.

»Sie hat verspoch’n, dass wir alles gemeinsam durchsteh’n. Sie hat’s verspoch’n! Die Kinder brauchen doch ihre Mutter. Die Kinder –«

»Brauchen jetzt ihren Vater!«, beendete Tante Viola den Satz. »Und Sicherheit. Lass nicht zu, dass sie auch deine Trauer tragen müssen. Die Kleinen haben selbst genug zu verarbeiten.«

Charlie hörte Glas klirren.

»Na, hoffentlich is sie jetzt an 'nem besseren Ort. Bei ihrem geliieeebten Mond und schwwwwiwrt da rum und ist viiel zu beschäftigt, um mal an uns zu denkn.«

»Du hattest genug!«, unterbrach Tante Viola sein Gestammel. Das Kratzen eines Stuhls auf dem glatten Küchenboden schreckte Charlie auf. Sie wollte gerade zurück ins Bett huschen, als Papa vor ihr im Türrahmen stand.

Er sah furchtbar mitgenommen aus. Seine Augen waren rot und verquollen. Seine Hose fleckiger denn je.

Charlie traute sich nicht etwas zu sagen. Papa starrte sie eine Weile nur an. Starrte in ihre treuen, großen Augen, die denen ihrer Mutter so ähnlich waren. Dann lief er wortlos an ihr vorbei und verschwand in seinem Zimmer.

Tante Viola trat an die Tür, ging in die Knie und schaute zu Charlie auf.

»Es war eine lange Nacht für deinen Vater. Na los, Herzchen, ich bringe dich ins Bett.«

Charlie konnte die restliche Nacht kaum ein Auge zutun.

Zu tief hatte sich das Bild ihres hilflos wirkenden Vaters in ihren Kopf gebohrt. Gesprächsfetzen erklangen wie Echos in ihren Ohren. Immer wieder erwachte sie aus ihrem unruhigen Schlummer, weshalb sie am Morgen eine der Ersten am Frühstückstisch war.

Nur Tante Viola war schon sehr viel früher auf den Beinen gewesen. Auf dem Tisch standen Berge von geschnittenem Obst, von dem Charlie die Hälfte noch nie gesehen hatte, gebratener Speck, noch warmer Toast, frisch gepresster Orangensaft, dampfender Tee, der nach Lakritze roch und und und. Es stand dort sogar ein kleines Häuschen aus duftenden Waffeln.

Charlie hatte aber keinen großen Appetit. Sie nahm sich eine Scheibe Toast und kaute emotionslos darauf herum.

»Du musst essen, Herzchen!«, sagte Tante Viola mit besorgter Miene. »Ich nehme euch heute mit in die Stadt.

Ihr müsst raus aus diesem Haus. Mal was anderes sehen.

Das wird uns allen gut tun.«

»Wo ist Papa?«, war Charlies Antwort. Normalerweise war er der Erste, der auf den Beinen war.

»Dein Vater fühlt sich nicht wohl. Er bleibt heute ein wenig im Bett. »Hör zu«, fuhr sie etwas leiser fort, »wenn du über das, was du gestern gehört hast, gerne reden möchtest, bin ich für dich da.« Charlie starrte auf ihren Toast. Gerade als sie den Mund öffnete, schlurfte Pan in die Küche, gefolgt von einer gähnenden Momo, die aussah, als hätte sie von allen am wenigsten Schlaf gehabt.

»Gut geschlafen?«, fragte Viola und beäugte die beiden mit einem Anflug von Mitleid im Gesicht.

»Nein!« Momo legte unsanft ihren Kopf auf dem Tisch ab, wobei ihr strubbeliges Haar teilweise in der Butter landete. Selbst Pan wirkte heute für seine Verhältnisse ziemlich mies gelaunt.

Es war ein wortkarges Frühstück. Keiner am Tisch ließ sich von dem guten Essen oder der strahlenden Herbstsonne vor dem Fenster aufheitern. Und als Tante Viola in die Hände klatschend verkündete:

»Hopp, hopp! Umziehen, Mäntel an! Wir gehen jetzt an die Luft!«, bekam sie von allen nur Gähnen und Schnaufen zur Antwort. Doch es nützte nichts. Ihr unbändiger Frohsinn schien sich durch nichts aufhalten zu lassen und so fanden sich alle Kinder am Mittag in den engen Gassen der Altstadt wieder.

Kapitel 3

Der Raritätenladen

Tante Viola scheuchte die drei Kinder von einem Laden in den nächsten und hatte offenbar großen Spaß daran.

Sie mussten schon dutzende Geschäfte abgeklappert haben, als sie, voll bepackt mit frischem Brot, Obst und Gemüse, etlichen warmen Mützen und Schals für die Kinder und einem Schwung neuer Hosen für Papa, endlich eine Pause einlegten.

Tante Viola und Charlie ließen sich im kleinen Stadtpark auf einer Bank nieder. Vor ihnen lag ein großer Teich und Pan jagte begeistert die laut schnatternden Enten vom Ufer ins Wasser.

Momo setzte sich etwas abseits auf einen großen Stein und schaute in den wolkenlosen Himmel. Sie beobachtete die Vögel, die wie ein Mückenschwarm in waghalsigen Manövern mal eng beieinander flogen und sich dann wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Einer der Vögel schien nicht dazu zu passen. Er schien den Anschluss verloren zu haben, löste sich aus der gefiederten Formation und segelte langsam in einer Spirale nach unten, um sich in den Ästen eines Baumes niederzulassen, der seine Arme direkt über die staunende Momo streckte.

Es war ein großer Rabe mit einem kräftigen, schwarz schimmernden Schnabel. Das eine Auge tiefschwarz, das andere milchig blau. Momo starrte ihn an. Oder starrte er sie an? Das Tier legte den Kopf schief und plusterte sein Gefieder auf. Momo schnalzte mit der Zunge. Der Rabe hackte mit seinem starken Schnabel auf den Ast ein, auf dem er saß.

»Huuuuuuiiiii!«

Als Pan laut stampfend und mit den Armen rudernd angerannt kam, flatterte der Vogel hektisch wieder davon.

Momo schnaubte.

»Meine Täubchen!«, rief Viola nach einer Weile. Sie stand auf, streifte sich den bunt gemusterten Rock glatt und richtete sich die Feder auf ihrem riesigen, gepunkteten Hut. »Würde es euch etwas ausmachen, noch einen kleinen Umweg zu machen, bevor wir nach Hause laufen?«

Eine halbe Stunde später standen die Vier vor einem kleinen, unscheinbaren Schaufenster. "Amalie’s Raritäten” verkündete ein Schriftzug über der Tür.

»Nur mal eine alte Freundin begrüßen«, sagte ihre Tante beiläufig, während sie, gefolgt von den Kindern und einem leisen Klingeln der Ladentür, eintraten.

Von einem Geschäft hatte dieser Raum wenig. Er sah eher aus wie eine viel zu volle Abstellkammer und es roch stark nach Keller und Räucherstäbchen. Etliche alte Regale, Kommoden, Schränke und Tische standen kreuz und quer und waren überladen mit Klamotten, Haushaltswaren aus dem letzten Jahrhundert und Döschen, Fläschchen und Handtaschen in allen Formen und Farben. Durch das angelaufene, verdreckte Schaufenster fiel nur spärliches Licht.

»Viola, Darling!«

Eine schwer mit buntem Schmuck behängte Frau in einem geblümten Wickelkleid kam hinter dem Verkaufstresen hervor geeilt.

»Amalie, meine Gute. Wie wunderbar dich zu sehen!«

Tante Viola stellte Charlie, Momo und Pan vor und meinte, sie sollten sich doch ruhig ein wenig umsehen.

Sie würde gerne ein paar Worte mit ihrer alten Freundin wechseln.

Das ließen sich die Drei nicht zweimal sagen. Erleichtert, nicht mehr durch die halbe Stadt gescheucht zu werden, fingen sie gemächlich an, sich in den staubigen Regalen ein wenig genauer umzusehen. Auf den zweiten Blick war die Ware gar nicht so uninteressant, wie sie zunächst vermutet hätten.

Zwischen einer Menge skurriler Hüte, Teeserviesen und Schreibtischlampen waren ein paar Schätze versteckt, die es lohnten sie genauer anzusehen. Pan fand einen Stapel alter Western Comics und begann auf dem Boden sitzend die vergilbten Seiten durchzublättern.

Charlie ließ ihre Finger vorsichtig über eine Sammlung antiker Bilderrahmen gleiten und fand einen besonders schönen. Golden war er, mit einer gewundenen Blätterranke verziert.

Momo währenddessen war bis an das hinterste Ende des Ladens gelaufen. Ein ausgestopfter Bär hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, als sie plötzlich etwas hörte. Es klang wie eine klimpernde Melodie, als würden viele kleine Glöckchen erklingen. Sie drehte sich um und suchte die Regale nach dem Ursprung ab. Die Musik schien aus einem alten Küchenbuffet zu kommen. Momo öffnete die Flügeltüren und entdeckte dahinter eine kleine Spieluhr. Sie war nicht sehr groß und passte gerade so in ihre Hand. Dunkelblau mit silbernen Rändern und einem kleinen perlmuttfarbenen Mond darauf. Der Mond hatte einen kleinen Sprung und die Schraube zum Aufziehen fehlte, was die Spieluhr aber nicht weniger schön machte. Jedoch, wie konnte sie dennoch ihre Musik spielen?

Die Melodie kannte Momo nicht und doch kam sie ihr seltsam vertraut vor. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen das Buffet und lauschte. Und schließlich, inspiriert durch diesen wunderbaren Klang, verfiel Momo in einen kleinen Tagtraum:

Sie flog durch die Lüfte wie ein Vogel. Nein, sie war ein Vogel! Unter ihr weite Länder mit funkelnden Seen in bunten Farben. Weit in der Ferne ragten die hohen Türme eines gewaltigen Schlosses in den Himmel. Davor erstrahlte eine Stadt mit weißen Dächern und Straßen.

Momo flog zielstrebig darauf zu. Der Wind pfiff in ihren Ohren. Die Strahlen der untergehenden Sonne blendeten sie und eine Stimme schien zu rufen:

»Komm zu mir!«

»Gefällt sie dir?«

Momo öffnete die Augen.

»Sie ist wunderschön, nicht wahr? Doch leider ist sie nur noch als Briefbeschwerer zu gebrauchen. Schwer zu verkaufen. Hach, ich hätte zu gerne gewusst, welches Lied das hübsche Ding spielt.«

Die behängte Frau in dem Blümchenkleid stand dicht vor Momo und schaute ihr mit starrem Blick in das gerötete Gesicht. Von ihr ging ein noch intensiverer Geruch nach Räucherstäbchen aus, als von dem Laden selbst.

Momo senkte den Blick und schaute auf die kleine Spieluhr in ihrer Hand.

»Wenn du möchtest, kannst du sie behalten. Du hast sicher eine bessere Verwendung dafür als ich.«

»Danke!«, flüsterte Momo und drückte das Geschenk an sich wie einen Schatz.

»Momo?« Tante Viola kam mit Pan an der Hand hinter einem Regal hervor gehuscht. »Ach, da ist sie ja. Bist du so weit, Herzchen?«

Momo ließ die Spieluhr wortlos in ihre Manteltasche gleiten und folgte ihrer Tante.

Nach einer herzlichen Verabschiedung von ihrer Freundin, führte Viola die Kinder wieder nach draußen.

Pan schmollte. Er hatte in Amalies Laden ebenfalls den riesigen, ausgestopften Bären entdeckt. Doch seine Tante war der Meinung, es wäre keine gute Idee, das arme Tier mitzunehmen.

Als die Vier an diesem Tag mit müden Füßen zuhause ankamen, dämmerte es bereits. Papa stand in der Küche und kochte das Abendessen. Er sah noch ein wenig blass um die Nase aus.

Momo huschte schnell in ihr Zimmer und legte ihren neuen Schatz behutsam unter ihr Kopfkissen.

Tante Viola steckte Pan, der auf dem Heimweg in jede Pfütze gesprungen und mit Matschsprizern übersäht war, in die Wanne.

Charlie ging Papa pflichtbewusst in der Küche zur Hand.

»Und mhm, habt ihr einen schönen Tag gehabt?«, fragte Papa zögerlich, während er einen Schwung Nudeln ins kochende Wasser warf.

»Mh«, bejahte Charlie tonlos. Sie schnitt die Tomaten in kleine Stücke.

»Sicher hat euch eure Tante durch die halbe Stadt gejagt.

Ich kenne niemanden, der so schnell unterwegs ist wie sie.

Außer vielleicht –« er stockte. »Hör mal«, begann er erneut und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Wegen letzter Nacht. Ich wollte, ähm.. ich wollte dich nicht wecken.«

Charlie seufzte und wandte sich wieder den Tomaten zu.

»Was gibt's zum Abendessen?« Pan hüpfte mit nackten Füßen und nassen Haaren in die Küche und schnupperte.

»Bäh, schon wieder Tomatensauce!«

Seit Papa allein für die Kinder sorgen musste, gab es mindestens zwei Mal in der Woche Nudeln mit Tomatensauce. Das war früher Momos und Charlies Leibgericht gewesen. Doch sie wussten nicht, ob das der Grund war, oder ob Papa einfach nichts anderes mehr einfiel.

Beim Abendessen erzählte Pan unentwegt von dem Besuch im “Rattiätenladen” dem tollen, toten Bären und zählte etliche Namen auf, die er den verschiedenen Stadttauben gegeben hatte, die er auf dem Weg gesehen hatte.

Momo schwieg mal wieder über ihrem Teller Nudeln, den sie kaum anrührte. Charlie bemühte sich, einen zufriedenen Gesichtsausdruck zu machen, während sie die Spaghetti hinunterwürgte.

Als der Tisch abgeräumt war, verkündete Tante Viola, sie würden heute mal länger wach bleiben und zusammen einen schönen Film schauen. Für Knabberzeug sei gesorgt.

»Schließlich kann ich euch Süßen nicht oft besuchen. Da dürfen wir die Regeln mal ein bisschen auf den Kopf stellen!«

Bis auf Momo waren alle zufrieden mit der Idee. Sie jedoch hatte sich darauf gefreut, ihrer neuen Spieluhr beim Einschlafen zu lauschen. So musste sie sich noch eine Weile gedulden.