Die Überflüssigkeit der Dinge - Janna Steenfatt - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Überflüssigkeit der Dinge E-Book

Janna Steenfatt

0,0
10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Ein berührender Coming-of-Age-Roman über Liebe, Sex und Schuld.« Olga Grjasnowa Ina hat sich eingerichtet in einer Welt, in der niemand etwas von ihr erwartet. Mit ihrem Mitbewohner Falk streift sie durch die Nächte auf St. Pauli und begnügt sich mit genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Als ihre Mutter bei einem Autounfall stirbt, wird Ina eingeholt von einer Kindheit im Theater und den Gedanken an einen Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ausgerechnet jetzt kehrt er zurück nach Hamburg und inszeniert Shakespeares Sommernachtstraum. Und Ina, die endlich so etwas wie einen Plan hat, nimmt einen Aushilfsjob in der Kantine des Theaters an. Doch bevor sie sich überlegen kann, ob sie sich dem Vater offenbart, trifft sie auf die Schauspielerin Paula. Ina, die ihr Herz bisher weder an Dinge noch an Menschen gehängt hat, lernt die Liebe kennen – und den Verrat an ihr. »Schlafwandler wissen: wenn sie die Augen öffnen, stürzen sie ab. Von einem solchen Augenöffnen erzählt Steenfatt mit schwindelerregender Sicherheit und einem spröden Witz.« Antje Rávik Strubel

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 312

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Janna Steenfatt

Die Überflüssigkeit der Dinge

Roman

Hoffmann und Campe

I

Es gab Zeiten, da hätte der Tod meiner Mutter in der Zeitung gestanden, aber diese Zeiten waren lange vorbei. Als sie starb, blieb ein Haus voller Dinge.

1.

Auf der Uferpromenade spielte ein Leierkastenmann La Paloma. Die Sonne schien, man würde später einmal sagen können, dies sei ein schöner Tag gewesen. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen in der offenen Kajütentür und pfiff gedankenverloren die Melodie mit. Auf dem Schild am Kopf der Seebrücke zeigte eine überdimensionale Uhr an, dass die nächste große Hafenrundfahrt um 16 Uhr stattfinden sollte. Was davor stattfinden würde, stand nicht auf dem Schild.

 

Meine Mutter hatte einmal gesagt, sie wolle anonym bestattet werden. Das war einige Jahre her, sie hatte mich angerufen und unvermittelt verkündet, falls sie in absehbarer Zeit sterben sollte, wünsche sie eine anonyme Bestattung. Ich wusste nicht, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Ich fragte sie, ob sie krank sei, aber zu ihrem Leidwesen erfreute sie sich bester Gesundheit. Grundsätzlich hätte ich dagegen nichts einzuwenden gehabt. Eine anonyme Beisetzung wäre günstiger gewesen, aber Falk hatte mir das ausgeredet. Die Seebestattung war seine Idee gewesen. Während ich nicht in der Lage war beziehungsweise es ablehnte, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, hatte er Informationsbroschüren herangetragen, aus denen er mir vorlas, um sein Anliegen mit Begriffen wie ressourcenschonend, preiswerter Verbrennungssarg und keine Liegegebühren zu untermauern.

 

Die Bestatterin lehnte rauchend am Brückengeländer und sah auf ihr Handy. Falk turnte über die mit einem dunkelgrünen Algenteppich bedeckten Steine am Ufer, um eine Möwe zu fotografieren, die im flachen Wasser unter dem Anleger auf eine tote Scholle einhackte. Der brackige Gestank des Hafenwassers vermischte sich mit dem Geruch von Bratfisch und frisch gebrühtem Kaffee, der von der Uferpromenade herüberwehte, auf der unbekümmerte Urlauber unter blendend weißen Sonnenschirmen vor Eisbechern, Marzipantorte und Draußennurkännchenkaffee an Bistrotischen saßen, die die Sonne reflektierten. Ein Containerschiff schob ein paar Wellen das Ufer hinauf. Die Möwe schreckte hoch und zog meckernd in Richtung See, dicht über Falk hinweg, der fluchend aufsprang, strauchelte und die Kamera am ausgestreckten Arm balancierte.

Bringt Glück, rief die Bestatterin lachend und eilte zu Falk, um ihm ein Taschentuch zu reichen und seine Kamera zu halten, während er sich den Möwendreck aus den Haaren wischte. Ich lief ein paar Schritte von der Seebrücke hinunter und die Promenade hinauf und studierte die Piktogramme auf einem orangefarbenen Kasten, der seiner Aufschrift nach Hundekotentsorgungsbeutel enthielt.

1. Ziehen Sie den Entsorgungsbeutel wie einen Handschuh über.

2. Ergreifen Sie das Exkrement.

3. Verknoten Sie den Beutel und entsorgen ihn im nächsten städtischen Abfallbehälter.

 

Ich ließ meinen Blick über den Touristenzug schweifen, der sich an den mit Windjacken und Fischerhemden behängten Drehständern vor den Boutiquen vorbei in Richtung Strand schob. Ich war nicht einmal sicher, ob ich ihn erkennen würde.

 

Als der Leierkastenmann So ein Tag, so wunderschön wie heute anstimmte, rollte die Bestatterin entschuldigend die Augen. Ich sah am Maritim Hotel hinauf, fing an, die Stockwerke zu zählen, kam irgendwo bei zwanzig von unten durcheinander und gab es auf.

Ich hatte mir den Tod immer als Möglichkeit vorgestellt. Eine Möglichkeit, die sich jedes Mal unwillkürlich aufdrängte, sobald ich auf einem hohen Gebäude oder einer Brücke stand. Ich hatte nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich hatte oft daran gedacht, aber so, wie man eben an etwas denkt, das möglich ist. Genauso wie ich auch, wenn ich im Museum allein vor einem wertvollen Kunstwerk stand, unwillkürlich daran denken musste, dass ich jetzt gerade die Möglichkeit hatte, dieses Kunstwerk zu zerstören, und niemand schnell genug zur Stelle wäre, um mich daran zu hindern. Saß ich als einziger Fahrgast im Bus oder in einem Taxi, dann fiel mir grundsätzlich ein, dass es möglich war, dass der Fahrer mich in eine verlassene Gegend fahren und ermorden würde. Ich hatte keine Angst, ich stellte mir diese Dinge nur vor, wie man sich eben Dinge vorstellt, die theoretisch passieren konnten.

Die Bestatterin sah nervös auf ihr Handy.

Wir könnten dann so langsam, sagte sie zögernd. Falk nickte.

Ich schüttelte den Kopf. Wir warten noch auf jemanden.

Ich sah die Promenade auf und ab und versuchte, zwischen all den Köpfen ein Gesicht ausfindig zu machen, von dem ich nicht wusste, wie es inzwischen aussah. Ein Gesicht, das ich aus dem Internet und aus Zeitungen kannte und von einer einzigen, kurzen Begegnung vor dreizehn Jahren.

 

Als Kind hatte ich angenommen, mein Vater sei entweder tot oder in Amerika oder beides. Amerika war das Weiteste, das ich mir vorstellen konnte. Außer tot. Tot war, dachte ich, noch weiter weg als Amerika. Bevor ich eine Vorstellung davon hatte, was der Tod bedeutete, hatte ich die Idee, dass man einfach immer älter wurde und immer größer, bis man, wenn man schließlich sehr, sehr alt war, ungefähr tausend Jahre alt, so groß war, dass man zu Fuß das Meer durchqueren konnte. Eines Tages würde ein tausendjähriger Vater aus Amerika vorbeispaziert kommen, dachte ich, mit ozeannassen Füßen, und dann konnte meine Mutter mal sehen. Im Grunde war mein Vater so etwas wie der Weihnachtsmann oder Gott, eben einer dieser Männer, von denen niemand, zumindest niemand Ernstzunehmendes, mit Sicherheit sagen konnte, ob es sie nun eigentlich gab oder nicht. Im Laufe der Zeit begann ich mich jedoch zu fragen, wo all die sehr, sehr alten Menschen abgeblieben waren, und ich verbannte die Idee von den tausendjährigen Riesen in die dunkle Abstellkammer meines Kopfes, in der schon der Irrglaube, dass Inseln schwimmen, dass Fischstäbchen die Spazierstöcke der Haifische sind und dass der uralte Billeteur des Schauspielhauses wirklich meine Nase gestohlen hatte, hausten und mit dem Weihnachtsmann, dem Nikolaus, dem Osterhasen und der Zahnfee eine WG der in schamhafter Erkenntnis verworfenen Theorien bildeten.

Etwa zur gleichen Zeit sah ich im Fernsehen eine Sendung für Kinder, in der das Leben eines berühmten Mannes nacherzählt wurde. Die Geschichte schloss mit den Worten: Und dann hörte sein Herz auf zu schlagen. Dieser Satz verfolgte mich für geraume Zeit. Plötzlich wurde mir klar, was es hieß zu sterben: Das Herz hörte zu schlagen auf, und dann war man tot. Es klang banal und wie etwas, das jedem Menschen jederzeit zustoßen konnte. Fortan presste ich, wenn ich auf dem Schoß meiner Mutter saß, ein Ohr an ihre Brust und ängstigte mich, wenn ich nichts hören konnte, weil der Busen im Weg war. Mutter fand das sehr komisch. Sie machte sich einen Spaß daraus, die Augen zu schließen und sich tot zu stellen, bis ich sie zwickte und bettelte, sie möge damit aufhören.

Später hatte der Tod mich immer wieder auf die eine oder andere Weise gestreift, ohne mehr zu hinterlassen, als ein kurzes schales Gefühl. Ich war in Städten aufgewachsen, wo das Leben gefährlich war. Ich hatte gesehen, wie jemand aus dem Fenster im zehnten Stock eines Hochhauses sprang, das auf meinem Schulweg lag, und einige Jahre später den mit einem weißen Laken abgedeckten Körper eines Selbstmörders, der sich in München, wo wir für ein paar Spielzeiten lebten, vor die U-Bahn geworfen hatte. Nur die Füße schauten heraus, die in hell- und dunkelbraunkarierten Pantoffeln steckten, die gleichen Pantoffeln, wie Falk sie heute trug. Am meisten wunderte ich mich darüber, dass man von einer U-Bahn überfahren werden konnte, ohne seine Pantoffeln zu verlieren.

In der Oberstufe, auf einer Fahrt an die Costa Brava, hatte ich einen leblosen Körper im Wasser treiben sehen, war hingeschwommen und hatte eine Weile das zitternde, blau angelaufene Gesicht eines Mannes ratlos in meinen Händen gehalten. Dann kamen ein paar andere Männer und trugen ihn davon, und ich sah vom Wasser aus zu, wie sie erfolglos versuchten, ihn wiederzubeleben. Ich wusste nichts über diesen Mann, der damals etwa so alt gewesen sein musste, wie ich es jetzt war.

Vor wenigen Jahren hatte ich mir die Hinrichtung Saddam Husseins auf YouTube angesehen und dabei gedacht, dass mich von allen meinen Toten dieser am meisten betraf, weil ich mich dazu entschieden hatte, mir das anzusehen, und das etwas war, das ich nicht würde rückgängig machen können. Ich war eine, die sich freiwillig jemandes Hinrichtung im Internet ansah.

 

Als das Schiff ablegte, sah ich ihn. Jedenfalls glaubte ich für einen kurzen Moment, ihn zu erkennen. Er saß auf einer Bank am Ufer. Mitten in dem Gewirr auf der Promenade, zwischen Ständen mit Bernstein und Modeschmuck, saß ein schwarz gekleideter Mann mit dunkler Sonnenbrille und grauem Bart und sah dem Schiff hinterher. Ich spürte ein anschwellendes Brennen unter der Kopfhaut, vergleichbar mit dem Gefühl, das einen überfällt, wenn man da hingreift, wo man sein Portemonnaie zu wissen glaubt, und feststellt, dass es sich dort nicht befindet. Die Schiffsschraube wühlte braunes Wasser auf, das bis an die Reling spritzte. Der Mann auf der Bank am Ufer sah in meine Richtung und bewegte sich nicht. Ich unterdrückte den Impuls, ihm zuzuwinken, und konzentrierte mich auf einen Kaugummi, der an der Reling klebte, eine akkurate Reihe milchzahnkleiner Abdrücke darin. Als ich wieder aufsah, war der Mann verschwunden.

Falk hatte die Idee gehabt, im Hamburger Abendblatt eine Traueranzeige zu schalten, und so hatte die Nachricht vom Tod der Schauspielerin Margarethe Mayer es doch noch in die Zeitung geschafft. Beisetzung im engsten Familienkreis. Ich hatte nicht gewusst, wen ich hätte anrufen sollen. Falk hatte Datum und Uhrzeit der Abfahrt des Schiffes sowie unsere Adresse angegeben. Ich hatte zuerst protestiert, dann überwog die Neugier. Ich stellte mir vor, dass irgendjemand auftauchen und irgendeine Information mitbringen würde, etwas, das ich bisher übersehen hatte. Es meldete sich niemand. Ich hatte die Anzeige ausgeschnitten und ohne Absender zu Händen Herrn Wolf Eschenbach an ein Theater in Zürich geschickt. Vielleicht hatte sie ihn dort nicht mehr erreicht. Die Spielzeit war vor ein paar Wochen zu Ende gegangen, die Mitarbeiter waren bereits in die Sommerpause entlassen. Bis auf ihn, der in der nächsten Spielzeit dort nicht mehr inszenieren würde. Er würde in der nächsten Spielzeit in Hamburg den Sommernachtstraum inszenieren, wie ich dem Internet entnommen hatte. Seitdem hatte ich einen Plan, von dem ich noch nicht wusste, wie ich ihn umsetzen würde, und dieser Plan verfolgte mich seit Wochen. Er war nicht sehr ausgereift, aber der Rest würde schon von selbst kommen. Die Premiere war im Dezember; rechnete man mit einer Probenzeit von sechs bis acht Wochen, würde er also spätestens im Oktober nach Hamburg kommen. Die entscheidende Frage war, ob Mutter davon gewusst hatte.

 

Unter Deck starrte ich eine Weile die Urne an, ein geschmackloses Gefäß mit Goldrand, das von Blumen umkränzt auf einem Tisch stand, über dem eine Tafel mit verblichener Coca-Cola-Werbung Matjes mit Hausfrauensoße anbot. Zu denken, dass sich in diesem Gefäß etwas befand, was neulich noch der Körper meiner Mutter gewesen war und jetzt in einen Topf passte, zumindest teilweise. Ich hatte einmal irgendwo gelesen, dass nicht die ganze Asche in die Urne gefüllt wurde, sondern lediglich ein symbolischer Teil. Was mit dem Rest geschah, war unklar. Die Bestatterin hatte uns einen Prospekt vorgelegt, im dem die Urnen durchnummeriert waren wie die Hamburger U-Bahn-Linien: U1, U2, U3, U4. Es gab sogenannte Künstler-Urnen, die besonders scheußlich aussahen, und Öko-Urnen aus Pappmaché, für die Falk sich begeistern konnte. Ich hatte mich für die günstigste entschieden. Ich sah keinen Sinn darin, Geld auszugeben für etwas, das auf dem Meeresboden versenkt werden sollte.

Das Schiff bewegte sich gemächlich aus der Lübecker Bucht und durch die Dreimeilenzone, die wir erst hinter uns lassen mussten, wie die Bestatterin erklärte, und die eigentlich eine Zwölfmeilenzone war, aber Dreimeilenzone hieß, weil drei Meilen ursprünglich die etwaige Reichweite eines Kanonenschusses symbolisierte und jeder Küstenstaat sein Hoheitsgebiet bis zu dem Punkt ausdehnen durfte, den er theoretisch gerade noch in der Lage war, vom Land aus zu verteidigen; eine Information die mich mehr amüsierte, als Falk mir zugestand, wie ich an seinem verwundeten Blick ablas. Wie absurd es war, hier so beieinanderzusitzen, dachte ich. Und wie Falk sofort reinpasste, sich fügte, in all das. Durch das Bullauge sah ich die Besatzung eines vorbeifahrenden Segelbootes mit dem Namen no risk, no fun arglos winken. Ich winkte zurück und kam mir albern dabei vor. Warum überkam einen auf Schiffen der Impuls, fremden Menschen zu winken?

 

Die plötzliche Stille, als der Motor ausging und das Schiff anhielt, war so groß und so unheimlich, dass mir erst in diesem Moment auffiel, wie laut es vorher gewesen war. Erst jetzt hörte ich die Musik, die aus schwachen Computerlautsprechern kam, die links und rechts von der Urne standen. My heart will go on, Hans Albers oder die Nationalhymne, alles wäre möglich gewesen. Über tausend Titel, hatte die Bestatterin gesagt, mit dem bescheidenen Stolz der technisch Versierten einer Generation, für die das noch nicht selbstverständlich war, ihre Lesebrille gezückt und sich gemeinsam mit Falk über ihren iPod gebeugt. Ich konnte nicht einmal sagen, welche Musik Mutter gefallen hätte, und es war nur eine Sache mehr, die ich nicht entscheiden wollte. Was interessierte es die Toten, welche Musik auf ihrer Beerdigung lief. Mir war es völlig gleich, welche Musik auf meiner Beerdigung laufen würde, das konnte wer auch immer dann entscheiden. Die Kinder, die ich nicht haben würde. Falk, möglicherweise. Falls es in absehbarer Zeit dazu kam.

 

Während der Beisetzung war es Falk, der in Tränen ausbrach, so heftig, dass die Bestatterin irritiert innehielt und ihn eine Weile ratlos ansah, bevor sie mit einem Blick, der teilnahmsvoll zwischen uns hin und her pendelte und etwas zu verstehen glaubte, das nicht zu verstehen war, weiter von schweren Zeiten und von Trost sprach. Nicht von Gott. Sie hatte sich vorher erkundigt, ob wir einen Pastor dabeihaben wollten, was ich dankend abgelehnt hatte.

Warum weinte Falk und ich nicht? Seine Eltern lebten noch, sie wohnten im Schwarzwald und waren seit vierzig Jahren verheiratet, miteinander sogar, schickten ihm Pullover und Socken zum Geburtstag und Herrenschokolade, die er nicht mochte, die ich dann aufaß. Ich hatte Falk bereits das eine oder andere Mal weinen sehen, aber nie auf diese Art, und ich wusste nicht, wofür ich mich mehr schämte: seine Reaktion oder meine. Ich kannte sein stummes, vorwurfsvolles Weinen, das immer einen Zweck verfolgte; er weinte, um etwas auszulösen in mir, er begriff nicht, dass er damit gewöhnlich das Gegenteil erreichte.

 

Das Schiff zog Kreise um die Stelle, an der die Urne verschwunden war. Sie würde auf den Grund sinken und sich dort langsam auflösen. Ich hatte mich vor der Möglichkeit gefürchtet, dass die Asche verstreut werden würde, davor, das sehen und riechen zu müssen und womöglich Gegenwind, man kannte das aus Filmen; aber die Bestatterin hatte erklärt, dass das in Deutschland nicht erlaubt sei.

Ich versuchte, mir vorzustellen, was Mutter sich vorgestellt hatte, ob es das hier war: Falk, der Rotz und Wasser heulte, und ich daneben, mit einem fremden, tauben Gefühl. Meine Mutter hatte das Unglück immer geliebt. Das Unglück an sich, nicht irgendein spezielles. Als ich noch sehr klein war, zu klein eigentlich, hatte sie mir zum Einschlafen immer wieder dieses Lied vorgesungen, das mir für alle Zeiten im Gedächtnis geblieben war: das Lied vom kleinen Matrosen, der die Welt umsegelte und ein armes Mädchen liebte, und dieses Mädchen musste sterben, und der Matrose war daran schuld. Ich hatte nie verstanden und verstand eigentlich noch heute nicht, warum das Mädchen hatte sterben müssen, aber ich ahnte, dass etwas Ungeheuerliches vorgefallen sein musste und dass den Matrosen eine schreckliche Schuld traf. Ich hatte Falk später einmal davon erzählt, und seine Theorie war, dass das Mädchen eine Hafenhure gewesen sei und sich vom Matrosen die Syphilis geholt habe, aber diese Interpretation gefiel mir nicht.

Als Kind hatte ich, trotz aller Vorzeichen, eine Art Ewigkeit an Mutter vermutet, und später, genau genommen noch bis vor wenigen Wochen, hatte ich geglaubt, sie hätte sich eingerichtet in ihrem gemäßigten Unglück. In der letzten Zeit – den letzten Jahren, eigentlich – war sie immer häufiger bereits tagsüber betrunken. Wenn sie mich anrief, einmal in der Woche, meistens am Freitagabend, sagte ich, ich sei gerade beschäftigt, auch wenn dies nicht der Fall war. Sie fragte nie nach, sondern sprach einfach weiter. Erzählte von Situationen, an die ich mich nicht erinnern konnte oder die ich anders in Erinnerung hatte, und irgendetwas hielt mich davon ab, das dann zu sagen. Sie redete, und ich lief durch die Wohnung, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und beschäftigte mich mit anderen Dingen, machte dabei ab und an ein Geräusch der Zustimmung oder Verwunderung, ich hatte das perfektioniert. Sie sprach unaufhörlich, als hätte sie Angst, ich könne verschwinden, sollte sie einmal eine Pause entstehen lassen. Ich hatte aufgehört, beleidigt zu sein, Dinge zu sagen wie: Mir geht es übrigens auch gut. Ich wusste nicht, wann es angefangen hatte, dass ich dieses Unbehagen spürte, sobald ich ihre Stimme hörte. Diesen Widerstand, der, wenn auch nicht ausschließlich, mit ihrer Art zu sprechen zusammenhing, der Notwendigkeit, bis in die letzte Reihe gehört zu werden. Ihre Stimme war alles, was ihr geblieben war, nachdem, wie sie selbst zu sagen pflegte, ihr Körper sie verlassen hatte; und ich war nicht sicher, ob es an meiner Wahrnehmung lag oder ob in dieser Aussage tatsächlich ein Vorwurf mitschwang. Ein unbegründeter, wie ich fand, denn sie hatte nach meiner Geburt noch zehn Jahre lang einigermaßen großartig ausgesehen.

Ich konnte mich nicht an unser letztes Gespräch erinnern. Ich erinnerte mich an unser letztes Treffen: Sie hatte einen Arzttermin in Hamburg, das war etwas länger her als ein Jahr. Wir trafen uns in der Innenstadt, tranken einen Kaffee im Hanseviertel, ich gab vor, nicht viel Zeit zu haben. Sie war unkonzentriert, flirtete mit den Bankern am Nebentisch, die ihre Mittagspause hier verbrachten, fragte: Und wie geht es Frank? Ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Auf dem Weg zum Bahnhof kamen wir am Schauspielhaus vorbei, und sie fing an, auf den derzeitigen Intendanten zu schimpfen, mit dem sie nicht wieder zusammenarbeiten wolle. Sie hatte seit zehn Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden, aber wenn sie von ihrer Zeit am Theater sprach, dann wie von etwas, das eigentlich nicht vorbei war. Sie arbeitete in den letzten Jahren von zu Hause aus, Telefonmarketing, wie sie sagte, sie sprach nicht gern davon. Ich hatte mir lange vorgestellt, dass sie gelangweilte Hausfrauen anrief und ihnen Zeitschriftenabonnements oder Topfsets aufschwatzte. Womit sie ihr Geld wirklich verdiente, hatte ich zufällig herausgefunden, als ich einmal zu Besuch war und am späten Abend an die Tür ihres Arbeitszimmers klopfte, die nur angelehnt war. Als ich eintrat, hörte ich Mutter ins Telefon stöhnen. Nicht laut oder übertrieben schauspielerisch, sondern gleichmäßig und konzentriert, sie tat nichts anderes dabei, saß aufrecht am Schreibtisch und hielt nicht einmal inne, als sie mich bemerkte. Sie machte einfach weiter und sah mich dabei an, mit einem Blick, den ich sehr gern vergessen würde. Ich stand eine Weile im Türrahmen, dann zog ich die Tür hinter mir zu, ging langsam die Treppe hinunter und legte mich auf das Sofa. Am Morgen fuhr sie mich zum Bahnhof und stieg nicht mit aus. Falk hatte ich nichts davon erzählt. Ich hatte sie nie wieder nach Geld gefragt.

 

Ich rannte durch den Innenraum des Schiffes, riss die Tür mit der Aufschrift WC auf und übergab mich in ein nach synthetischer Zitrone riechendes Klo. Die Maschinen dröhnten, das Schiff hatte wieder volle Fahrt aufgenommen. Der Noppenboden vibrierte beruhigend unter meinen Knien. Die Bestatterin musterte mich mit mäßig besorgtem Blick, half mir auf, legte eine Hand auf meine Schulter und ließ sie dort liegen. Ihre Bluse spannte über der Brust und gab ein winziges ellipsenförmiges Stück Haut frei. Eine Weile standen wir sehr nah beieinander im Türrahmen, ich konnte ihr Deodorant und ihren Raucheratem riechen. Dann schob sie mich in Richtung Bar, an der Falk stand und mit apathischem Blick einen Turm aus Würfelzucker baute.

Kann ich Ihnen was zu trinken anbieten?

Einen Schnaps, bitte, sagte ich matt und legte mein Gesicht auf dem Tresen ab. Falks Zuckerturm kippte um, und einen Moment sah er aus, als würde er darüber in Tränen ausbrechen. Die Bestatterin trat hinter die Bar, füllte ein Glas mit Wasser und stellte es vor mir ab. Auf dem blaugestreiften Papiertischläufer standen die Wörter Hawaii, Rio und Ahoi. Ich nahm das Glas und ging zurück hinaus aufs Deck, wo sich in der Ferne zu meiner Erleichterung bereits die Küste näherte, der Priwall, die Passat und auf der anderen Seite das Maritim Hotel in seiner ganzen Scheußlichkeit, das einen langen Schatten auf den Strand warf.

2.

Es gab zwei oder drei Dinge, die ich von meinem Vater wusste.

Der Rest bestand aus Mutmaßungen und Schlussfolgerungen, die ich den unbedachten Äußerungen und widersprüchlichen Erzählungen meiner Mutter entnahm. Die Vehemenz, mit der sie gleichzeitig oder sehr kurz nacheinander zwei völlig gegensätzliche Behauptungen zu verteidigen imstande war, faszinierte mich bis zuletzt. Der Alkohol verwischte die Erinnerungen, aber er war nicht allein schuld. Es hatte gedauert, bis mir das aufgefallen war.

Die Geschichte meiner Entstehung war ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile fehlte. Eine Liebesgeschichte, möglicherweise. Eine Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang, wobei mir nicht ganz klar war, worin die Tragik lag. Womöglich war er verheiratet gewesen oder war es noch immer. Eventuell hatte er noch eine zweite Familie oder, besser gesagt, eine erste, da wir, meine Mutter und ich, nicht zählten.

Vielleicht – und aus irgendeinem Grund, wahrscheinlich weil die Vorstellung zu ungeheuerlich schien, war mir diese Möglichkeit erst in den letzten Jahren in den Sinn gekommen – wusste er überhaupt nichts von meiner Existenz.

 

Mit Sicherheit war zu sagen, dass er Mitte der achtziger Jahre, genauer gesagt in der Spielzeit 86/87, am Hamburger Schauspielhaus Das Käthchen von Heilbronn inszeniert hatte. Mutter spielte das Käthchen, er hatte sie beim Intendantenvorspiel an der Schauspielschule entdeckt. Ein Dreivierteljahr später wurde ich geboren. Ein Unfall, der ihrer Karriere jedoch zunächst nichts anzuhaben schien. Sie hatte mir den Namen Katharina gegeben, nach dem Käthchen, irgendwann war Ina daraus geworden.

 

Ich hatte mir meine ganze Kindheit und Jugend über ausgemalt, wie ich eines Tages nach meinem Vater suchen würde. Es war nur eine Vorstellung, ein Film in meinem Kopf, dessen Drehbuch je nach Lebensphase und den Büchern, die mich zuletzt beeindruckt hatten, variierte. Die Idee, irgendwann einmal aufzustehen und etwas zu tun. Eine Art Vorfreude auf ein unkonkretes Später. Bis dahin wartete ich, ohne zu wissen worauf. Etwas hielt mich zurück. Etwas, das mit den Jahren stärker wurde und lähmender und sich auf alle Lebensbereiche ausdehnte. Ich verbrachte ganze Tage auf dem Bett oder am Fenster damit, mir auszumalen, wie mein Leben, sollte es eines Tages beginnen, aussehen würde. Das Warten hatte noch nicht diesen schalen Beigeschmack, und hätte mir damals jemand gesagt, dass sich in der folgenden Dekade nichts Wesentliches ereignen würde, vermutlich hätte es sich anders angefühlt. Es fühlte sich gut an. Damals war ich immer unglücklich verliebt in irgendwen, und wenn das Gefühl schwächer wurde, suchte ich mir jemand Neues, in den ich unglücklich verliebt sein konnte, und genoss den Schmerz, der mit leisem Ziehen das Brustbein hinaufkletterte und wieder verebbte, jedes Mal wenn ich an jemanden dachte. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, schob ich mir eine Aufbackpizza in den Ofen und setzte mich vor den Fernseher, sah Talkshows und schlecht synchronisierte Sitcoms und pseudodokumentarische Realityformate. Es hatte etwas zutiefst und auf verstörende Weise Befriedigendes, fremden Menschen beim Leben zuzusehen, Leben, die ich nicht hätte führen wollen und vor denen ich mich in jugendlicher Arroganz in Sicherheit wähnte.

Wahrscheinlich ging es dabei letztendlich nur um das Hinauszögern der Enttäuschung, die ich erwartete. Das Schweigen meiner Mutter, das beharrlich sein konnte und dramatisch aufgeladen, hatte mich immer ein unkonkretes Schlimmes vermuten lassen. Etwas musste vorgefallen sein, das so ungeheuerlich war, dass Mutter jede Aussage, zumindest im nüchternen Zustand, verweigerte. Diese Ungeheuerlichkeit war mir als kleines Kind nicht bewusst gewesen, nicht etwa weil Mutter sich mir gegenüber zurückgehalten hätte, sondern weil ich alles, was sie sagte, mit der unerschütterlichen Ernsthaftigkeit kleiner Kinder hinnahm. In der Welt, in der ich lebte, metzelten sich Menschen auf der Bühne gegenseitig ab, später tranken sie dann Wein in der Kantine, strichen mir lachend durch das Haar, beteuerten, dass es ihnen gut gehe, dass nichts davon in echt passiert sei. Wenn Mutter ins Telefon schrie, dass sie diesen oder jenen Scheißkerl zu erschießen beabsichtigte, war ich überzeugt, dass dieser oder jener Scheißkerl am nächsten Tag tot sei, am übernächsten jedoch wieder schnapstrinkenderweise in unserer Küche sitzen und sein Messer in den Tisch bohren würde. Erst in dem Alter, da sich langsam zumindest der Versuch, die Dinge zu begreifen, aus dem Dämmerzustand des Daseins schälte, hatte sie mir Angst gemacht, und ich hatte versucht, nicht an das, von dem so beharrlich geschwiegen wurde, zu denken.

 

In der Pubertät wiederum begann ich, einen leisen Gefallen daran zu finden, und ein wohliges Schauern mischte sich unter die Angst, vor dem, das da lauerte, der Geschichte, die nur umkreist wurde, in Andeutungen und unbedachten Äußerungen. In dieser Zeit fing es an, dass Mutter nach Hause kam und trank. Sie ging direkt in die Küche, warf ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzte sich an den Küchentisch, wie man sich an den Schreibtisch setzt, an die Stirnseite des Tisches, den Rücken zum Fenster, ein Glas und eine Flasche vor sich wie eine Aufgabe. Sie konzentrierte sich darauf, den Alkohol zu vernichten, als sei er schuld an allem, und wahrscheinlich war er das auch, aber das war letztendlich eine Huhn-Ei-Frage. Mutter trank, und ich sah ihr zu. Irgendwann hatte ich festgestellt, dass die interessanten Informationen durch den Alkohol kamen, und ich folgte Mutter in die Küche, setzte mich ihr gegenüber und beobachtete sie, wie man ein Labortier beobachtet. Und Mutter sprach. Wenn sie betrunken war, sprach sie von den Möglichkeiten, die man, sie, hatte oder gehabt hatte oder gehabt hätte oder eben leider nicht. Wenn sie stockte, schenkte ich ihr nach. Irgendwo hatte ich gelesen, dass man Alkoholiker konfrontieren sollte, sie zum Trinken zwingen und ihnen dabei zusehen, um sie zu beschämen und letztlich dadurch zum Aufhören zu bewegen. Aber die Wahrheit war, dass ich das damals nicht gedacht hatte, dass ich mir das viel später erst zurechtlegte, eigentlich erst in letzter Zeit, als ich mir einredete, etwas versucht zu haben, aus einem verspäteten Schuldgefühl heraus.

Diese Abende, die unweigerlich in Nächte übergingen, in denen ich mir angewöhnte, das Gas abzustellen und es erst am nächsten Vormittag, wenn sie jammernd in der Ecke lag, wieder anzustellen, waren wie ein ernstes Spiel zwischen uns. Niemand machte Licht, in den langen Minuten, in denen nicht gesprochen wurde, weil es jedes Wort abzuwägen galt, weil ich die Gedanken angeschlichen kommen sah, hinter der Sorgenstirn meiner Mutter, ihrem Schatten, der sich gegen den schwach ausgeleuchteten Fensterrahmen abzeichnete. Ich fuhr mit den Fingern die Macken im Holz des Tisches nach, obwohl ich mich nicht erinnerte, ob es den, der sie hinterlassen hatte, damals schon gab oder schon wieder nicht mehr gab oder ob das ein anderer Tisch gewesen war, an dem er gesessen hatte, in einer anderen Stadt. Ab und zu wanderte ein Schatten über die Decke, wenn auf der Straße ein Auto vorbeifuhr. Mutter konnte schweigsam sein, wenn man die falschen, die richtigen Fragen stellte, und ich sah ihr zu, wie sie Informationen ordnete hinter der Stirn, sie in Zweierreihe antreten ließ wie Kindergartenkinder. Ich hörte die Stille durch das Geräusch des Einschenkens, das Knallen ihres Glases auf die Tischplatte, von Runde zu Runde unkoordinierter, das Rauschen der Wasserleitungen in der Wand, das dumpfe Zucken, mit dem sich die Gastherme ein- und ausschaltete, Fernsehgeräusche aus den umliegenden Wohnungen, Schritte im Treppenhaus, die sich näherten und wieder verebbten, das Rasseln von Schlüsseln, Türen, die ins Schloss fielen. Ich wusste, dass ich sie nicht unterbrechen durfte, wenn ich an das Wesentliche heranwollte, wenngleich ich nicht genau wusste, worin es bestand, aber ich hoffte, das eines Nachts herauszufinden. Nach einer Weile waren wir so eingespielt, dass ich sofort in die Küche ging, wenn sie nach Hause kam, wortlos zwei Wassergläser aus dem Schrank über der Spüle nahm und randvoll mit Schnaps schenkte. Als ich mir zum ersten Mal selbst auch ein Glas einschenkte, sah sie mich halb belustigt, halb anerkennend an und fragte: Hast du morgen Schule?

Erst zur Dritten, sagte ich, was wahrscheinlich gelogen war, aber ich nahm es schon lange nicht mehr genau mit der Anwesenheit im Unterricht. Ich hatte die Unterschrift meiner Mutter perfektioniert, ihre geschwungene aggressive Schrift, wie ein Gymnasiallehrer sie von einer Schauspielerin wahrscheinlich nicht anders erwartete, zwei große M wie Margarethe und wie Mayer, dahinter jeweils eine Wellenlinie, die die Buchstaben nur andeutete. Meistens benutzte ich das Wort unpässlich, das mir passend schien, weil sie es einmal auf einer echten Entschuldigung verwendet hatte und es glaubhaft altmodisch klang, wie ich fand, und weil außerdem jede genaue Nachfrage eine Indiskretion bedeutete, die ein in die Jahre gekommener Sportlehrer sich pubertierenden Mädchen mit hysterischen Theatermüttern gegenüber nicht erlauben konnte. Ich hatte mir die maximale Anzahl an Fehlstunden ausgerechnet, die mich gerade noch bestehen lassen würden, baute einen Puffer von einigen Stunden für einen eventuellen echten Krankheitsfall ein und war in keinem Fach öfter anwesend als unbedingt nötig.

Wenn sie weinte, hatte ich gewonnen. Mutter weinte oft und grundlos, wie mir schien, und ich saß da, mehr fasziniert als betroffen, auch ein wenig stolz, auf die Macht, die ich über sie zu haben glaubte. In diesen Momenten hatte ich ihre ganze Aufmerksamkeit, also war ich grausam. Ich selbst weinte nie. Gelegentlich schrie ich, knallte Türen oder schloss mich im Badezimmer ein. Das einzige Mal, dass ich als Kind geweint habe, war, soweit ich mich erinnerte, als Mutter Romeo und Julia getötet hatte.

3.

Was zu tun war: den Telefonanschluss kündigen, Versicherungen und Mitgliedschaften, von denen ich nichts wusste, nichts wissen wollte; Falk regelte und erledigte, öffnete Briefe, telefonierte mit Ämtern, mit dem Notar, der Bank. Das Wort Nachlass schwebte eine Weile mit eigenartigem Klang im Raum, zog Kreise im Erdgeschoss, durch die Diele in die Küche und zurück ins Wohnzimmer, wo Falk auf und ab lief, energisch Kartons faltete, die Handflächen unter die Achseln schob, konzentriert Möbelstücke anstarrte und mir Sätze zurief wie: Das hier könnte was wert sein. Ich wartete darauf, dass sich etwas einstellte, ein Gefühl, das mir in einer Situation wie dieser angemessen erschienen wäre; es stellte sich nichts ein. Ich stand, unfähig, irgendetwas anzufangen, nutz- und ratlos vor Schränken und Regalen herum, mit einem Gefühl von Vergeblichkeit angesichts all der Dinge.

Das Klavier, auf dem ich nicht spielen gelernt hatte, blaue Notenhefte, Schumanns Kinderszenen und Bachs Inventionen, vergilbte Elfenbeintasten, auf denen meine Mutter gespielt hatte, in anderen Wohnungen in anderen Städten, in einem früheren Leben. Falk schrieb mit Filzstift Ina auf einen Karton, auf dem zwei Männchen mit Schiebermützen und Latzhosen abgebildet waren, Die Umzugsprofis, 6 × in Deutschland, riss Seiten aus Frauenzeitschriften und Werbeprospekten, wickelte Geschirr darin ein, weißes Porzellan mit Goldrand und verblichenem Rosenmuster. Hielt Dinge hoch, und ich schüttelte den Kopf oder nickte.

 

Ich war einige Jahre nicht in diesem Haus gewesen, vielleicht drei oder vier. War ich dann da, war sie ungeduldig, rastlos, tigerte durch die Räume, trug Dinge heran, die sie sich zugelegt hatte, zeigte sie her, brachte sie wieder fort. War oft schon betrunken, wenn ich kam, rauchte zu viel, hörte nicht zu. Wir fuhren mit dem Auto in die Kreisstadt, in das immer gleiche italienische Restaurant, wo man sie kannte, La Grotta: ein schummriger Keller mit klebrigen Plastiktischdecken, Stoffblumengestecken in geschmacklosen Vasen und Eros Ramazzotti aus scheppernden Deckenlautsprechern. Mutter regte sich auf, dass ich Pizza Margherita bestellte, sie selbst aß Salat und Frutti di Mare, schüttete karaffenweise Wein in sich hinein, flirtete mit dem Kellner, einem spindeldürren älteren Herrn namens Toni oder Luigi; dann kam der Koch nach vorn, ein Inder in speckiger Schürze, küsste meiner Mutter die Hand und nannte mich Señorita, es war grotesk, ich weiß nicht, was genau mich daran störte, alles störte mich. Später spazierten wir durch eine trostlose Innenstadt aus flachen Backsteinbauten, tranken Cocktails in leeren Bars, manchmal fing ich Streit an, provozierte sie, bis sie Flecken im Ausschnitt bekam. Zurück fuhr ich das Auto, weil sie betrunken war. Zu Hause trank sie weiter, drehte die Musik auf, bis ich mir ihren Arm über die Schulter hängte, sie die Treppe hoch und ins Schlafzimmer zerrte. Ich schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer oder schlief nicht, lag wach und wartete auf den Morgen, an dem ich, zerstritten oder nicht, abreiste. Sie fuhr mich zum Bahnhof, hielt es nicht aus, immer waren wir viel zu früh dort und sie fort, bevor der Zug kam.

 

In einer Schale auf dem Küchentisch ein Durcheinander aus Zetteln, ein Plastikchip für Einkaufswagen, Kugelschreiber mit Werbeaufdruck, eine Streichholzschachtel mit der Adresse eines Restaurants. Ich nahm ein Glas aus dem Schrank, ein Senfglas mit verwaschenem Schlumpfmotiv und feinen Spülmaschinenkratzern, das eine vage Erinnerung auslöste, fuhr mit dem Daumen über die raue Oberfläche, trank ein Glas Leitungswasser im Stehen am Fenster und sah in den Garten, in dem nichts mehr wuchs. Auf der Terrasse kämpften zwei Spatzen. Ich versuchte, mir meine Mutter vorzustellen, in diesem Haus, ich konnte sie mir nicht vorstellen, nicht bei den kleinsten, unscheinbarsten Handlungen und Gesten, es gelang mir einfach nicht, mir auszumalen wie sie Geschirr spülte, sich eine Scheibe Brot schmierte; in meiner Vorstellung saß sie, reglos und mit einer Tasse Tee, einer Flasche Likör am Tisch, in der von einer unsichtbaren Uhr zertickten Stille, den Rücken zum Fenster, und wenn wir telefonierten, hallte ihre Stimme, noch immer kräftig und überartikuliert, durch die Leere des Hauses. Ich hatte sie mir immer so vorgestellt, in den letzten Jahren, hier an diesem Küchentisch, ich wusste nicht warum.

Ich öffnete den Kühlschrank. Eine Flasche Weißwein, ranzige Butter, übelriechendes Hackfleisch in rotweißkariertem Metzgerpapier, Medikamente und Batterien. Das Eisfach war vereist, eine Packung Rahmspinat darin eingewachsen, abgelaufen im letzten Jahrtausend. In der Ecke hinter dem Kühlschrank stand ein Plastiknapf mit verschimmeltem Futterrest, als ich mit dem Fuß dagegenstieß, stiegen Fliegen auf. Ich hatte nichts gewusst von einer Katze. In der Speisekammer fand ich eine Palette Katzenfutter, schwankte einen Moment zwischen Huhn und Kalb, entschied mich für Letzteres, leerte eine halbe Dose auf eine Untertasse. Den Napf warf ich mitsamt seinem Inhalt in den Müll.

Ich habe Katzen nie leiden können, ihre arrogante, undankbare Art, ich wollte immer einen Hund haben oder wenigstens ein Meerschweinchen, aber Mutter war dagegen, und schließlich bekam ich Romeo und Julia, zwei Wellensittiche, mit denen es allerdings schon bald ein tragisches Ende nahm; ich hätte ihnen andere Namen geben sollen, hatte Mutter später einmal tatsächlich gesagt. Romeo war gelb, und Julia war blau, und eigentlich waren es zwei Julias, aber das interessierte mich damals noch nicht. Sie wohnten in einem geräumigen Käfig auf der Fensterbank in der Küche, und abends sagte ich ihnen Gute Nacht und hängte ein Tuch über den Käfig. Eines Abends stellte meine Mutter aus unbekannten Gründen – vielleicht hatte sie das Fenster öffnen wollen, um zu lüften oder um einem Liebhaber nachzuwinken – den Käfig auf die Nachtspeicherheizung und ließ ihn dort stehen, und am nächsten Morgen fand ich Romeo und Julia tot im Sand auf dem Käfigboden liegend.

 

Ich öffnete die Terrassentür. Draußen war es wärmer, als die Kühle im Haus vermuten ließ. Brüchige, moosbefleckte Steinplatten, ein rostiger Metalltisch darauf, ein Klappstuhl, auf dessen Sitzfläche verdunstetes Regenwasser einen Schmutzring hinterlassen hatte. Blaue Glaskugeln auf Holzstangen, die in den Beeten steckten oder dort, wo früher einmal Beete gewesen waren, vom Regen verwaschen, die Farbe abgeplatzt. Eine rostige Schaufel, ein einzelner schmutziger Handschuh, eine Gießkanne aus grünem Plastik. Wo der Garten aufhörte, fingen die Felder an, dazwischen eine Wand aus hohen dunklen Tannen. Ich lief ein paar Schritte durch den Garten. Durch das Fenster sah ich Falk im Wohnzimmer auf und ab gehen, sich an der Hüfte kratzen, durch das Haar streichen. Falk, der alles richtig machte, als hätte er nie etwas anderes getan, als ein Leben in Pappkartons verschwinden zu lassen, wohlüberlegt, ruhig und präzise. Ich setzte mich auf die Stufen, die von der Terrasse herab in den Garten führten, den Rücken zum Fenster. Ich suchte nach einem Bild in meinem Kopf: meine Mutter im Sommer, ihr abendlicher Gang durch den Garten, wie sie stehen bleibt, die Arme verschränkt, den Kopf schräg, ihr abwesender Blick, während hinter den Tannen langsam das Licht aus dem Tag trottet. Wie sie dann prüfend einen Zweig berührt, sich in die Beete bückt, während ich auf der Terrasse stehe, in der geöffneten Tür, ungeduldig, mit gepackten Taschen. Ich war nicht sicher, ob es eine solche Situation gegeben hatte, zu symbolisch erschien es mir, das Bild eines Abschieds, aber das hatte ich damals nicht gedacht, das dachte ich jetzt, und wahrscheinlich stimmte es nicht.

 

Dass sie imstande gewesen ist, sich mir zu nehmen. Man sagt sich das Leben nehmen, als würde man sich selbst um etwas bringen. Aber was nimmt man sich, wenn man sich das Leben nimmt? Die anderen sind es, denen man etwas nimmt. Die sogenannten Hinterbliebenen. Auch so ein Wort. Ich ging zurück ins Haus und lief unschlüssig durch die Räume. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Einen Abschiedsbrief, mit Bettlaken verhängte Möbel, etwas Eindeutiges. Es war zu ordentlich für jemanden, der nur kurz einkaufen fährt, es war nicht ordentlich genug für jemanden, der vorhatte, nie mehr zurückzukehren.