Mit den Jahren - Janna Steenfatt - E-Book

Mit den Jahren E-Book

Janna Steenfatt

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Beschreibung

Ein mitreißender wie nachdenklich stimmender Roman über die Fragen, die Mit den Jahren immer drängender werden

Jettes Großmutter hat mal gesagt, es gebe »zwei Sorten von Menschen auf der Welt: die, die zu zweit sind, und die, die allein sind«. Im Roman prallen sie aufeinander: Jette hat sich mit Anfang 40 in ihrem kinderlosen Singleleben eingerichtet und hält sich mit prekären Jobs über Wasser. Eva und Lukas hingegen sind seit zwanzig Jahren ein Paar, sie haben zwei kleine Kinder, eine Eigentumswohnung, und Berufe, die sie ausfüllen.

Als Jette auf das Leben der beiden stößt, beginnt sie ihre eigenen Entscheidungen in Frage zu stellen. Aber auch Lukas und Eva zweifeln Mit den Jahren zunehmend am eigenen Lebensentwurf – ob ein anderer besser passt, wird sich herausstellen.

»Aus kleinen Momentaufnahmen setzt Janna Steenfatt drei ganze Leben zusammen und hält uns einen Spiegel vor. Was wir in diesem Roman erkennen, ist uns vertraut: die Sehnsucht, alles möge sich ändern. Oder doch so bleiben.« Mareike Fallwickl

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Seitenzahl: 417

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Die Entstehung dieses Werks wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen ermöglicht.

Originalausgabe

© 2024 NAGEL UND KIMCHE in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Dominic Wilhelm

Coverabbildung von Xenia Hausner Tender Trap, 2018, Lukas Feichtner Gallery Vienna

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783312013135

www.nagel-kimche.ch

1.

Der Löwe sah ihm direkt in die Augen. Irgendetwas stimmte noch nicht. Lukas trat ein paar Schritte von der Leinwand zurück, bis zum Tisch mit den Farbtuben und Pinseln. Er hatte gelesen, dass Löwen nur in den ersten Monaten ihres Lebens blaue Augen hatten, später wurden sie dann bernsteingelb. Die Augen seines Löwen waren trotzdem blau. Lukas spürte, wie die Konzentration, die schon vor Stunden nachgelassen hatte, ihn ganz verließ. Er öffnete ein Fenster, um den Terpentingeruch hinaus- und ein wenig kalte Luft hereinzulassen.

Die Tür wurde aufgerissen, und Henner stand da, in eine Wolke aus Gras gehüllt, die Hände in den Taschen seiner Anzughose, aus der das Hemd heraushing, über dem er eine Jacke aus rosa Ballonseide trug. Alles an Henner war ironisch. Seine Kleidung, seine Haltung, die politische wie die körperliche. Lass mal sehen, sagte er und machte eine ruckartige Kopfbewegung Richtung Leinwand. Ist noch nicht fertig, sagte Lukas und ging einen Schritt auf ihn zu, aber Henner war schon mitten im Raum, stand vor dem Bild, schwankte von einem Bein aufs andere, wie er es oft tat, wenn er nachdachte oder bekifft war. Lukas hatte Angst vor seinem Urteil, auch wenn er das niemals zugegeben hätte. Er schätzte Henner auf eine sehr spezielle Art. Lukas war sich sicher, dass er ihn mitten in der Nacht anrufen könnte und sagen, hey, pass auf, ich stecke in Schwierigkeiten. Ich habe hier eine Leiche, frag nicht, es ist kompliziert, du musst mir helfen, sie wegzuschaffen. Bring bitte eine Hacke und einen Spaten mit und triff mich in einer halben Stunde da und dort. Und Henner würde auftauchen, fluchend und eine halbe Stunde zu spät, aber er würde keine Fragen stellen, so einer war Henner, und solche Freunde waren sie, da war Lukas sich sicher. Hmmm, machte Henner und legte den Kopf schief. Was?, fragte Lukas. Der erinnert mich an irgendwen, sagte Henner. Ist das dein Alter? – Nee, das bin ich in dreißig Jahren, sagte Lukas. Er hatte Eva versprochen, heute früher nach Hause zu kommen. An zu vielen Abenden schaffte er es nicht, rechtzeitig zum Abendessen da zu sein. Er bemühte sich, aber es kam immer etwas dazwischen. Oder es lief einfach gerade zu gut, und er konnte nicht aufhören, ein Zustand, der so selten wie kostbar war und in den Eva sich nicht hineinversetzen konnte. Sie arbeitete nur länger, wenn etwas dringend war, und die Augen eines müden Löwen noch einmal neu zu malen, war für Eva nichts, das nicht warten konnte. Ein nicht abgeholtes Kind war etwas, das nicht warten konnte. Eine kranke Kollegin, für die eine Vertretung organisiert werden musste. Eine Anfrage von der Schulbehörde.

Auch Henners Arbeiten waren ironisch, bunt und flüchtig, seine Graffitis und Mangas und Sexpuppeninstallationen. Seine Selbstversuche, die andere Performance nannten, er jedoch nicht, was ihm eine Aura von Bescheidenheit verlieh. Jemand hatte Henner einmal einen Möchtegern-Meese genannt. Kenn ich nicht, hatte Henner entgegnet und später am Tresen damit angegeben, er sei mit Jonathan Meese verglichen worden. Letztes Jahr hatte Henner sich auf dem Jahrtausendfeld nackt an ein Gerüst gekettet und Menschen dazu aufgefordert, die Narbe zu berühren, die sich über seinen Bauch zog und von einer schiefgelaufenen Gallenstein-OP herrührte, und die Menschen waren gekommen und hatten seine Narbe berührt. Er hatte es in verschiedene überregionale Zeitungen geschafft. Henners damalige Freundin, Nicole oder Nadine, die zufällig neben Lukas gestanden und Henner zugesehen hatte, am Tag dieser Aktion, hatte mit verträumtem Blick gesagt, er sehe aus wie Jesus.

Lukas machte sich nichts aus diesen Dingen. Er wollte einfach nur malen, und manchmal beschlich ihn das Gefühl, dass andere das als einfallslos empfanden. Ein Kritiker hatte seine Bilder einmal als depressiv bezeichnet, was Lukas ärgerte, weil es so einfallslos war. Und weil es stimmte. Warum er nicht mal etwas Schönes male, hatte seine Mutter gefragt, als er sie zum ersten Mal durch sein damals gerade frisch bezogenes Atelier geführt hatte. Woraufhin er ihr einen Blumenstrauß malte, in bunten Pastellfarben, den sie sich in vollkommener, mütterlicher Ironiefreiheit über den Esstisch hängte. Er ärgerte sich heute noch, wenn er das Bild sah, das noch immer dort hing, er hatte es als Witz gemeint, hatte für Mama von Lukas daruntergeschrieben, in Druckbuchstaben, wie er es als Kind getan hatte, obwohl er damals bereits über dreißig gewesen war.

Gibt es schon einen Titel?, fragte Henner, und Lukas war froh über diese konkrete Frage, die er beantworten konnte. Vater isst eine Orange. Der Löwe trug einen dunklen Anzug und eine rote Krawatte und saß aufrecht am Tisch, mit den Pranken über einem Teller etwas haltend, das aussah wie ein Stück totes Fleisch, aus dem der Saft troff und von dem sich in einer durchgehenden Spirale eine Orangenschale löste. Das mit den Augen ließ Lukas keine Ruhe. Er würde noch einmal in Leos dickes Tierbuch gucken, vielleicht durfte er es sich eine Weile ausleihen. Leo gab es nicht gern her, er blätterte beinahe jeden Tag darin, am liebsten zusammen mit Lukas vor dem Schlafengehen. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb neun. Kommst du noch in den Dorfkrug?, fragte Henner, der schon in der Tür stand. Mal sehen, sagte Lukas. Cool, sagte Henner und tippte mit zwei Fingern an den imaginären Schirm seiner imaginären Mütze, bis denne.

Lukas wusch die Pinsel im Waschbecken aus, schälte sich aus seinem Blaumann und hängte ihn über die Lehne des einzigen Stuhls im Raum. Er überlegte, Eva anzurufen, und ließ es sein.

Während seines Studiums hatte Lukas fast ausschließlich Menschen gemalt, die sich wie Tiere benahmen. Heute war es andersherum. Eva hatte einmal, vor ein paar Jahren, einen Satz über ihn gesagt, der ihn auf eigenartige Weise getroffen hatte. Nicht verletzt, nur getroffen. Sie hatte ihn dahingesagt, während eines Abendessens bei Bekannten, die später Freunde geworden waren. Ein Abend im Spätsommer, auf der Wiese im Hof hinter einem Altbau in der Südvorstadt hatten sie gegrillt und an einer langen Tafel gesessen, und Eva hatte ein paar Leuten erzählt, was Lukas machte. Er hörte ihr gern zu, wenn sie über ihn sprach. Wenn sie neuen Bekannten erklärte, wer er war und was er tat, sie konnte das besser als er selbst. Was keine Kunst war, da er es gar nicht konnte. Er fühlte sich unwohl, wenn er über seine Arbeit sprechen sollte. Eva war betrunken gewesen, was selten vorkam. Sie saß ihm schräg gegenüber, diesen Glanz in den Augen, den er von früher kannte, und er fand sie wahnsinnig schön, an diesem Abend, in diesem speziellen späten Licht. Lukas male immer Tiere, weil er Angst vor Menschen habe, sagte Eva. Die anderen hatten gelacht, und Eva hatte ihn angesehen, ihr Rotweinglas in einem tiefen Zug geleert und es eine Spur zu heftig auf den Tisch geknallt. Am nächsten Tag war er allein zu den Schwiegereltern gefahren, um die Kinder abzuholen, weil Eva nicht in der Lage war, das Bett zu verlassen.

Der Dorfkrug lag auf seinem Nachhauseweg, Lukas musste daran vorbei, wenn er nicht den Umweg am Kanal entlang nehmen wollte. Der Laden hieß nicht wirklich so, aber niemand, der regelmäßig herkam, benutzte den offiziellen Namen. Es gab kein Schild und keine Karte, nur eine Tafel, auf der mit Kreide die Getränke angeschrieben standen. Raik stand hinter dem Tresen und stellte wortlos ein Glas Bier vor Lukas ab. Über den Tischen an den beiden Längsseiten des Raumes hingen Henners Bilder. Panoramen mit mangaartigen Comics, poppig und bunt, gelegentlich obszön. Hier und da Wörter dazwischengepinselt, in schwarzer Schrift mit Hashtags davor, #istdaskunst, #kanndasweg, #fickteuchalle. Zum Glück erwartete Henner nicht, dass Lukas eine Meinung dazu hatte. Sie zu äußern wäre ohnehin schwierig geworden, da Raik seine Mahler-Sinfonien in Hörsturzlautstärke aus den Boxen dröhnen ließ. Lukas tippte mit zwei Fingern an seine Lippen, und Raik verstand. Es war praktisch, dass man hier einzelne Zigaretten kaufen konnte, da Lukas eigentlich nicht rauchte. Er hatte damit aufgehört, als Eva das erste Mal schwanger gewesen war, aus Solidarität, weil sie es auch musste, und sie hatte danach nicht wieder angefangen.

Die Wärme des Raumes lullte ihn angenehm ein, aber sie half nicht gegen die Müdigkeit, die ihn jäh überfiel. Der vertraute Geruch nach verstopftem Abfluss waberte herüber. Raik polierte Gläser mit einem karierten Grubentuch, die Augen geschlossen. Es interessierte ihn nicht, ob seinen Gästen die Musik gefiel. Wenn er Mahler hören wollte, lief eben Mahler, später würde vielleicht Iron Maiden laufen und noch später, in den ganz frühen Morgenstunden, eventuell Bonnie Tyler, Raik war unberechenbar. Hinter ihm hing eine Pinnwand, übersät mit den Deckeln der Stammgäste. Lukas ließ normalerweise nicht anschreiben, obwohl er es gekonnt hätte. Wer anschreiben ließ, dachte er, hatte die Kontrolle verloren.

2.

Jette schloss die Ladentür von innen ab. Sie fühlte sich ein wenig unwohl, so spät am Abend, in dieser Jahreszeit, in der man nur sein eigenes Spiegelbild im Schaufenster sah. Hinter dem womöglich jemand stand und sie beobachtete, so, wie sie es manchmal tat, wenn sie an ihren freien Abenden ziellos durch das Viertel lief. Sie gab einen gehäuften Löffel des weißen Pulvers aus dem Plastikbehälter in den Einsatz der Siebträgermaschine und ließ heißes Wasser durchlaufen, zog die Schublade unter der Maschine hervor und leerte den Kaffeesatz in einen alten Farbeimer. Die Chefin würde ihn mitnehmen, als Dünger für ihren Garten, wenn der Eimer voll war, was ein paar Wochen dauerte, aber öfter ließ sie sich ohnehin nicht blicken. Jette zählte das Geld, stellte erleichtert fest, dass alles stimmte, fuhr den Computer herunter, nahm sich ihren Lohn in bar heraus und schob die Metallkassette mit den Einnahmen des Tages ins Regal im Hinterzimmer zwischen zwei Kisten mit VHS-Kassetten, wo kein Einbrecher sie finden würde. Angeblich kam es etwa einmal im Jahr vor, dass jemand eine VHS auslieh. Jette schob sich das letzte, etwas angetrocknete Stück Kuchen in den Mund. Sortierte die DVDs zurück in den Schrank, den Chip mit der Nummer in die jeweils dazugehörige Hülle im Regal. Räumte wie immer die Filme nach vorn, die ihr gefielen. Stand eine Weile davor und überlegte, welche sie heute mit nach Hause nehmen sollte, um sie auf ihrem Laptop zu gucken, wenn sie nicht schlafen konnte. Das Regal löste auch nach ein paar Monaten noch eine wohlige Reizüberflutung in ihr aus. Es war alphabetisch nach Regisseuren sortiert und beinhaltete fast alles, was die Filmgeschichte hervorgebracht hatte. Jette hatte sich vorgenommen, mindestens so lange hier zu arbeiten, bis sie das Regal von A bis Z durchgeguckt hatte; bisher war sie nicht über die Coen-Brüder hinausgekommen.

Es wunderte sie, dass der Laden sich hielt. Er war der Letzte seiner Art in dieser Stadt, vermutlich eine der allerletzten Videotheken überhaupt, und Jette verkaufte mehr veganen Kuchen und Coffee to go, als sie DVDs verlieh. Die Leute, die wirklich noch der Filme wegen kamen, waren echte Nerds, die am Tresen herumhingen und mit ihr diskutieren wollten, welcher Godard oder Fassbinder der beste sei. Wenn keine Kunden im Laden waren, also die allermeiste Zeit, schrieb Jette Texte für die Internetseite und pflegte Neuheiten in die Datenbank ein. Von allen Jobs, die sie gehabt hatte, war dieser der angenehmste, was die Arbeitszeiten und den Aufwand, vor allem aber die Abwesenheit von Kollegen betraf. Sie arbeiteten nie zu zweit, begegneten sich nur bei Schichtwechseln und Dienstbesprechungen, schrieben sich kurze Nachrichten auf Post-its, die am Tresen klebten.

Auf der Hauptstraße kam ihr die Flaschensammlerin entgegen. In ihrem gewohnt krummen, geschäftigen Gang zerrte sie ihren kleinen Bollerwagen hinter sich her. Sie nickte Jette im Vorbeigehen zu, und Jette grüßte zurück, ein wenig stolz, erkannt zu werden als eine der Gestalten der Nacht.

Auf einem ihrer ziellosen abendlichen Gänge durch das Viertel hatte sie diese Bar gefunden, die offenbar keinen Namen trug. Sie wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass sie nach wenigen Wochen in Leipzig bereits eine Stammkneipe hatte, aber es beruhigte sie, einen Ort zu kennen, an dem sie wenigstens in etwa wusste, was sie erwartete. Der Laden war angenehm unprätentiös, nicht zu hip, ein bisschen ranzig, aber nicht zu sehr – wie die besseren Läden auf St. Pauli, die in den Seitenstraßen, die von den Touristen verschont blieben. Es gab keine große Getränkeauswahl, und die Leute sahen normal aus, ein paar jüngere, ein paar ältere und ein paar mittleren Alters; Jette war sich nicht sicher, ob sie selbst womöglich bereits mittleren Alters war und ab wann das eigentlich anfing. Die Hauptsache war, dass sie hier allein am Tresen sitzen konnte, ohne automatisch angesprochen zu werden; es war nicht leicht, so einen Ort zu finden, offenbar war sie, was das betraf, noch jung genug. Erst hier in dieser neuen Stadt, wo sie niemanden kannte, hatte sie begonnen, allein in die Kneipe zu gehen und sich an den Tresen zu setzen. Es fühlte sich an wie eine kleine Kapitulation. So jemand war sie jetzt.

Sie bestellte ein Hausbier. Am Tisch im Fenster, direkt hinter der Eingangstür, saß eine Gruppe aufgeregter Zwanzigjähriger. Einer von ihnen kam zum Tresen geschlurft und orderte eine Runde Pfeffi. Er trug eine aufgekrempelte Wollmütze, einen schwarzen Rollkragenpullover, ein feingliedriges Goldkettchen und einen schmalen Oberlippenbart. Mit Hipstern war es wie mit Nazis, dachte Jette, offiziell gab es sie gar nicht, jedenfalls gab niemand zu, einer zu sein. Der Junge lächelte ihr kurz höflich zu, schob die Hände in die Hosentaschen und sah nervös auf seine klobigen weißen Turnschuhe hinab. Nachdem er ein Tablett mit kreisförmig angeordneten Gläsern entgegengenommen hatte, drehte er sich plötzlich zu Jette um und sagte mit einer sanften, durch die laute Musik kaum verständlichen Stimme: Entschuldigung, Ihr Mantel ist runtergefallen. Jette starrte ihn an. Es machte sie fassungslos, dass es Menschen gab, die ungefähr im Jahr 2000 geboren worden sein mussten, die schon sprachen und Schnaps tranken und Jette, die für sie vermutlich nichts als eine dicke, alte Frau war, siezten. Mit etwas Fantasie und einer tragischeren Biographie hätte sie seine Mutter sein können. Sie sah ihm nach, wie er mit flüssigen Bewegungen das Tablett zum Tisch balancierte, und rutschte etwas zu schwungvoll vom Barhocker hinab, um ihren Mantel aufzuheben. Als sie sich danach bückte, fiel ihr etwas auf, das in der Ecke lag, ein durchsichtiges Tütchen, prall gefüllt mit Gras. Sie schätzte den Wert des Inhalts auf gut 100 Euro. Wer auch immer das verloren hatte, würde sich sicher sehr ärgern. Dabei war es nicht schwer, an ein neues zu kommen, dazu musste man hier nur aufs Klo und im Vorbeigehen einem der Typen, die jeden Abend an dem großen Tisch ganz hinten in der Ecke saßen, einen Moment länger in die Augen sehen. Sie schob das Tütchen in ihre Manteltasche.

Vom anderen Ende des Raumes kam ein Mann auf sie zu. Er hatte im Laufe der letzten halben Stunde bereits ein paarmal zu Jette herübergesehen; jetzt setzte er sich ungefragt auf den leeren Barhocker neben ihr. Sie spürte, wie er innerlich Anlauf nahm, trank einen Schluck Bier und tat, was sie in solchen Situationen immer tat: Sie drehte sich auf theatralische Art zu ihm um, erst den Kopf nach links geworfen, dann die Augen hinterher, dieser Aufschlag von unten, wie eine Diva aus einem Schwarz-Weiß-Film der Dreißigerjahre. Sah ihm in die Augen und wartete, dass er sein Sprüchlein aufsagte. Er schien keiner von der ganz blöden Sorte zu sein, einigermaßen sympathisch und nicht einmal unattraktiv. Würde sie auf Männer stehen, dachte Jette, wäre sie eventuell geschmeichelt. Tschuldigung, sagte er, griff über sie hinweg nach einer halb vollen Bierflasche, die dort schon gestanden hatte, als Jette sich hingesetzt hatte, das war meins und trank einen Schluck. Schmeckt das noch?, fragte Jette. Das hat noch nie geschmeckt, sagte er und sog die Wangen ein, wie um nicht über seinen eigenen Witz zu lachen. Er fing an, das Etikett von der Flasche zu pulen. Jette dachte, über was für ein Maß an Vertrauen beziehungsweise Gutgläubigkeit beziehungsweise Privilegien man verfügen musste, um an einem Ort wie diesem sein Getränk unbeaufsichtigt stehen zu lassen. Ihr fiel auf, dass sein blauer Regenmantel das Hamburger Wappen auf dem Ärmel trug.

Da komm ich her, sagte sie und deutete mit dem Finger darauf.

Ach, sagte er. Dascha ’n Ding. Ich auch.

Und was machst du in Leipzig?, fragte Jette.

Ich hab hier studiert, sagte er.

Was hast du denn studiert?

Malerei. Jette meinte einen leisen Stolz in seiner Stimme zu hören, der sie ein wenig abstieß. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun, durchblicken zu lassen, dass sie es interessant fand, alle fanden Künstler interessant.

Und du?, fragte er. Was machst du hier?

Ich arbeite im HAL 9000, sagte Jette und machte eine Kopfbewegung in Richtung des Ladens. Es hatte etwas Befreiendes, das so sagen zu können. Ohne es kleinzureden, zu entschuldigen, das Wort jobben zu verwenden anstelle von arbeiten, um klarzustellen, dass es nur ein Nebenjob war. Sie musste nicht dazu sagen, was für ein Laden HAL 9000 war, sie hatte festgestellt, dass die meisten Leute hier im Viertel die Videothek kannten. Sie war nach dem bösen Computer aus dem Film 2001 – Odyssee im Weltraum benannt, und es störte Jette nicht, wenn jemand den Laden nicht kannte; wer allerdings fragte, was HAL 9000 bedeutete, den konnte sie als Gesprächspartner unmöglich ernst nehmen. Der Typ nickte. Sie wartete darauf, dass er fragte, welches Studium sie abgebrochen hatte oder was sie eigentlich machte, aber er fragte nicht.

Als ihr damals den Laden aufgemacht habt, habe ich mir vorgenommen, das ganze Filmregal durchzugucken, sagte der Mann, dessen Namen Jette noch immer nicht kannte, sie überlegte, ihn danach zu fragen, und ließ es sein. Ich habe es bisher nicht geschafft. Aber das läuft ja nicht weg.

Jette dachte, dass es in Wirklichkeit durchaus weglief, mit Riesenschritten sogar, aber das sagte sie nicht. Die Leute freuten sich, dass es noch vereinzelte Videotheken gab, aber wenn man sie fragte, wann sie das letzte Mal einen Film ausgeliehen hatten, stellte man fest, dass sie seit Jahren nicht mehr da gewesen waren. Und du malst also, sagte sie und trank den Rest ihres Bieres in einem Zug aus. Was malst du denn so?

Tiere, sagte jemand, der plötzlich hinter ihnen stand. Lukas malt Tiere, weil er sich vor Menschen fürchtet, behauptet jedenfalls seine Frau, sagte der dicke Mann mit den blonden Locken und dem roten Gesicht, der immer hier war.

So viele Informationen in einem Satz, sagte Jette.

Schönen Dank, Henner, sagte der, der also Lukas hieß. Jette lächelte in sich hinein. Sie überlegte, ob sie ihm sagen sollte, dass er den falschen Baum anbellte, aber sie ließ es sein. Es war ihm inzwischen gelungen, das Etikett der Bierflasche vollständig zu entfernen.

Wie heißt du eigentlich, brüllte Henner. In diesem Moment brach die Musik abrupt ab, und Jette rief ihren Namen viel zu laut in die plötzliche Stille hinein. Sie hatte das Gefühl, dass alle Leute im Raum sich zu ihr umdrehten, aber dann erklangen die ersten Takte von Total Eclipse of the Heart, und Henner riss theatralisch die Arme in die Luft und lief laut und erstaunlich textsicher mitsingend davon. Jette griff in ihre Manteltasche und zog das Tütchen heraus. Übrigens, sagte sie und legte es vor Lukas ab, ich glaube, du hast deine Drogen verloren.

3.

Da war ein Geräusch. Eva schreckte hoch, etwas hatte ihren Schlaf gestört; aber es war alles still. Sie öffnete die Augen. Der Mond malte den Schatten des Herrnhuter Sterns an die Schlafzimmerwand. Es war Ende Februar, man hätte ihn längst abnehmen können. Auf der Straße ratterte ein Auto über das Kopfsteinpflaster und schob die Silhouette des Fensterrahmens über die Wand. Eva musste sich nicht nach links drehen oder im Dunkeln neben sich greifen, um zu wissen, dass Lukas nicht da war. Es wäre praktisch, wenn er genau jetzt käme, dachte sie, wo sie ohnehin wach war. Dann würde er sie wenigstens später nicht wecken. Sie hatte sich abgewöhnt, auf ihn zu warten. Es war ihr unbegreiflich, wie ein Mensch mit so wenig Schlaf auskam. Sie stand auf, zog ihre Wolljacke über, ging in die Küche, nahm ein sauberes Glas aus der Spülmaschine und füllte es mit Leitungswasser. Manchmal gab es nachts diesen Moment, in dem weit und breit kein einziges Geräusch zu hören war und man das Gefühl hatte, sich in einem schallgedämpften Raum zu befinden. Eva mochte die Stille und sie mochte die Dunkelheit. Als sei sie der einzige Mensch auf der Welt, und alles, was da war, existierte in diesem Moment nur, weil es von ihr gesehen wurde. Sie öffnete die Balkontür, nur kurz die kalte Februarluft einatmen und einmal den Mond ansehen. Wenn man genau hinsah, konnte man die dunklen Krater darauf erkennen. Ein absurdes Fernweh überfiel sie. Sie musste daran denken, dass Lukas einmal erzählt hatte, dass in seinem Englischbuch aus der fünften Klasse stand, dass man im Jahr 2000 Ferien auf dem Mond würde machen können. Eva hatte in der fünften Klasse keinen Englischunterricht gehabt. Sie dachte an Sigmund Jähn, der am Tag ihrer Geburt in ein Raumschiff gestiegen und ins All geflogen war. Einen Tag später, am Sonntag, erschien eine Sonderausgabe des Neuen Deutschland mit der Schlagzeile »Der erste Deutsche im All – ein Bürger der DDR«. Ihr Vater hatte die Ausgabe bis heute aufbewahrt. Er hatte ihr damals ein Mobile mit Planeten aus Pappe gebastelt, eine Kosmonautenfigur mit dem Gesicht Sigmund Jähns in der Mitte, weil im Kopf ihres Vaters immer schon alles mit allem zusammenhing.

Sie fror, schloss die Balkontür, blieb im Flur kurz stehen und vergewisserte sich, dass hinter den angelehnten Türen der Kinderzimmer alles ruhig war. Seit Ada in die Schule ging, hatte sie ihr eigenes Zimmer und musste es nicht mehr mit Leo teilen. Es war Lukas’ Idee gewesen, der es nicht anders kannte und für selbstverständlich hielt, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer bekam. Eva, die eigentlich dagegen war, hatte ihr Arbeitszimmer aufgegeben und den Schreibtisch ins Schlafzimmer gestellt. Sie hätte gern gewartet, bis Ada in die Pubertät kam, ein Zeitpunkt, der ihr angemessen erschien, aber Lukas hatte eine Idee in den störrischen kleinen Adakopf gepflanzt, die dafür sorgte, dass sie triumphierend das schmale Zimmer bezogen und mit feierlichem Nachdruck die Tür hinter sich geschlossen hatte.

In Evas Kindheit war nicht genug Platz für ein eigenes Zimmer gewesen. Mit ihrem Bruder hatte sie sich ein Kinderzimmer mit Doppelstockbett geteilt, in dem Eva als die Ältere das Recht beanspruchte, oben zu schlafen. Juri hatte sich oft einen Spaß daraus gemacht, ihr durch die Sprossen hindurch an die Füße zu greifen, wenn sie die Leiter hochgestiegen war. Manchmal hatte Eva reflexhaft nach ihm getreten und ihn am Kopf getroffen, was ihr einen Nachmittag Stubenarrest einbrachte, von der Mutter verhängt, und Juri einen Arschvoll, vom Vater zum Ausgleich ausgeführt. Ihr Vater hatte diese sachliche, performative Art, Juri den Hintern zu versohlen, zehn Schläge, innerlich abgezählt, Eva zählte mit. Juris Gebrüll stand in keinem Verhältnis zu den schwachen Klapsen, die der Vater verteilte. Sie schlug er nicht, er überließ es der Mutter, sich Strafen auszudenken, die meistens mit Verboten von Dingen, die Eva Freude machten, zu tun hatten, oder mit der Aufforderung, ihr Zimmer nicht zu verlassen, bis die Mutter es erlaubte. Es kam vor, dass die Mutter sie vergaß. Juri vergaß sie nie, aber er machte es einem auch unmöglich. Eva hörte seine kleinen, harten Schritte auf dem Teppich, hörte den Vater zischen: Renn nicht so!, während sie auf dem Bett lag und an die Decke starrte, bis der Geruch von Abendessen sich in der Wohnung ausbreitete. Die plötzliche Stille, die auf das Klappern und Rufen folgte, deutete daraufhin, dass sie nun beieinandersaßen, die Mutter, der Vater und Juri, am Abendbrottisch. Dass es Graupensuppe gab. Eva stellte sich vor, wie Juri das Brot in kleine Stücke riss und in die Suppe tunkte. Ganz gleich, wie sehr ihr Magen gluckerte, sie blieb auf dem Bett liegen, unter dem Kosmonautenmobile, für das sie eigentlich schon zu groß war. Sie hatte von Kosmonautinnen gelesen, zu diesem Zeitpunkt waren vier Frauen im All gewesen: zwei russische und zwei amerikanische. Eva hatte den Vater gefragt, ob sie auch Kosmonautin werden könne, und er hatte gesagt, sie könne alles werden, was sie wolle. Die Mutter hatte den Kopf geschüttelt. Ihr Vater war es meistens auch, der schließlich an die Tür klopfte und fragte, ob Eva nicht etwas essen wolle. Wenn sie dann in die Küche trottete und sich an den Tisch setzte, warf ihr die Mutter einen stummen Blick zu, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und tat Eva wortlos von der noch lauwarmen Suppe auf, bevor sie sich wieder dem Abwasch zuwandte.

Eva zog die Wolljacke aus, kroch zurück unter die Bettdecke und löschte das Licht. Sie griff nach Lukas’ Kopfkissen und roch daran. Sie kannte diese Phase, wenn er an einem neuen Bild arbeitete und es noch nicht zu fassen bekam. Sie wusste, wie dünnhäutig er sein konnte, wie es ihm auf den Körper schlug. Sie hätte ihm gern gesagt, dass es ihm mit Sicherheit gelingen würde, weil es ihm immer gelungen war. Es würde nichts helfen. Er stand vor jeder leeren Leinwand wie vor seiner ersten. Sie wusste, es würden schon bald wieder andere Zeiten kommen, es war ein immer gleicher Reigen: die Schwierigkeiten des Anfangs, gefolgt von Wochen der Versunkenheit, des erleichterten Vorankommens, dann noch einmal eine kurze Phase des Zweifelns kurz vor Fertigstellung des Bildes, vielleicht eine radikale Änderung, gefolgt von einer sehr kurzen Phase des Größenwahns, und dann die Erlösung, der feierliche Moment, wenn er das Werk für fertig erklärte. Früher hatte er sie an diesem Punkt stolz in sein Atelier geführt, ihr seine Arbeit präsentiert, aufgeregt wie ein Kind. Sie hatte seine Erwartung gespürt, seine ängstlichen Blicke, die ihr Gesicht nach einer Regung absuchten. Es machte Eva nervös. Die Bilder gefielen ihr, aber sie war nicht gut darin, ihre Wahrnehmung in Worte zu fassen. Lukas schien sich daran nicht zu stören, ihre Meinung war ihm immer wichtig gewesen. Eva konnte sich nicht erinnern, wann das aufgehört hatte und warum. Seit die Kinder da waren, gab es all diese anderen wichtigen Dinge in ihrem Leben, und sosehr sie seine Arbeit immer noch bewunderte, erwartete sie dennoch, dass Lukas darüber nicht vergaß, auf dem Nachhauseweg Brot zu kaufen oder Leo rechtzeitig zur Morgenrunde in der Kita abzuliefern.

Sie hatte ihn immer um die Sichtbarkeit seiner Arbeit beneidet. Ihre eigene Arbeit war unsichtbar. Früher hatten sie mehr darüber gesprochen. Eva hatte Anekdoten erzählt, von den Schülern, dem Kollegium. Aber es hatte sich abgenutzt. Sie mochte nicht mehr reden, wenn sie nach Hause kam, sie sprach den ganzen Tag, mit lauter Stimme. Lukas war den ganzen Tag allein im Atelier, und wenn er nach Hause kam, sprudelte es aus ihm heraus. Nicht von der Arbeit. Lukas sprach nie von seiner Arbeit. Er erzählte von Podcasts, die er währenddessen gehört hatte. Von kuriosen Aktionen, die mit seinem Freund Henner zu tun hatten, den Eva nicht mochte; sie konnte nicht genau sagen, was es war, aber etwas an Henners Art war ihr zuwider. Seit einiger Zeit erwähnte Lukas es nicht mehr sofort, wenn er ein neues Werk vollendet hatte. Sie hatte sein altes Studio gemocht, das der ersten Jahre, das sich in einem leer stehenden Bürogebäude befunden hatte, das inzwischen abgerissen war. Sie mochte den Geruch nach Lösungsmitteln, die Farbe in Lukas’ Haaren, seine alten Jeans und verwaschenen T-Shirts. Überall lag Holz herum, ständig baute er etwas, auch zu Hause, für die Kinder, Hochbetten, Regale, eine Garderobe, er war geschickt mit den Händen, in jeder Hinsicht.

Eva drückte ihr Gesicht in Lukas’ Kissen, führte die rechte Hand zwischen ihre Beine, schob ihren Mittelfinger auf und ab und versuchte, an gar nichts zu denken. Sie war ungeduldig mit ihrem Körper. Sie wollte es hinter sich bringen, richtige Lust hatte sie nicht, aber sie brauchte einen Korrekturorgasmus, sie wusste, sie würde danach entspannter einschlafen können. Sie stellte sich vor, wie Lukas reagieren würde, wenn er in diesem Moment nach Hause käme. Vor einer Weile hatte sie ihn unter der Dusche erwischt. Sie war ins Badezimmer gegangen, um den Föhn zu holen, während er in der Dusche stand, und er hatte sie nicht hereinkommen gehört. Sie hatte einen Augenblick dagestanden und überlegt, was sie tun sollte, und als er sie bemerkte und erschrak, hatte sie das Badezimmer schweigend verlassen und sich die Haare im Schlafzimmer geföhnt. Hinterher hatte sie bereut, nicht einfach zu ihm in die Dusche gestiegen zu sein, aber sie war bereits spät dran gewesen. Es war putzig, wie Lukas sich schämte, als er aus dem Badezimmer kam, und Eva hatte einen plötzlichen heftigen Anfall von Liebe empfunden. Sie hatte ihn gefragt, ob er dabei an sie gedacht habe, er hatte es verneint, und sie hatte später auf dem Fahrrad darüber nachgedacht, ob sie das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen sollte. Und, vor allem, woran er stattdessen gedacht hatte. Sie hätte ihn fragen können, aber vermutlich hätte er nur gesagt, er habe an gar nichts gedacht. Das sagte er oft, wenn sie ihn fragte, weil er komisch vor sich hin gestarrt oder, ohne es selbst zu bemerken, leise vor sich hin gemurmelt hatte. Eva fand, dass es Unsinn war, es war unmöglich, an gar nichts zu denken. Sie jedenfalls konnte das nicht, irgendein Gedanke war da immer in ihrem Kopf, der gedacht werden wollte, und sie wünschte sich insgeheim, sie wäre in der Lage dazu: einfach mal nichts zu denken. Sie beschleunigte die Bewegung ihrer Hand und hoffte, dass Lukas im nächsten Moment zur Tür hereinkäme, sie stellte sich vor, wie er sich, noch im Mantel, zu ihr auf das Bett werfen würde, seine kalten Finger auf ihrem warmen Körper, und sie war fast am Ziel, als sie ein lang gezogenes Mama! hörte. Sie stand auf und zog sich die Wolljacke über, um nach Leo zu sehen, der sicher wieder schlecht geträumt hatte.

4.

Die Frauen in Jettes Familie hatten stets dazu geneigt, sich kleinerzumachen. So, wie Oma Lene eigentlich Marlene hieß, deren Schwester Hilde eigentlich Mathilde und Jettes Mutter Tine eigentlich Christine, hieß Jette eigentlich Henriette. Es war ihre Mutter, die sie von Anfang an Jette gerufen hatte, sodass Jette sich fragte, warum sie ihr nicht gleich diesen Namen gegeben hatte. In ihrer Jugend hatte sie versucht, den Spitznamen Henry durchzusetzen. Einige Freundinnen hatten ihr den Gefallen getan, sie wenigstens Henny zu rufen; das aus ihrer Perspektive allzu männlich klingende Henry war ihnen nicht über die Lippen gekommen, und wie hätte Jette ihnen erklären sollen, warum ihr der Name gefiel. Sie wusste es selbst nicht. Wusste nur, dass Henriette zu brav klang. Dass sie keine Lust mehr hatte, von jedem neuen Lehrer gefragt zu werden, ob sie die Geschichte der Zitronen-Jette kannte. Und dass etwas in ihr es als erstrebenswert empfand, einen Namen zu tragen, der nicht einmal männlich, sondern angenehm geschlechtslos klang. Dabei hatte sie gar nichts dagegen, ein Mädchen zu sein, sie wollte nur nicht wie eines behandelt werden.

Jette griff in die Schale mit Erdnüssen, die auf dem Tresen stand, obwohl sie wusste, wie viel Fett und Kalorien 100 Gramm davon hatten. Sie dachte diese Information immer noch bei allem, was sie zu sich nahm, automatisch mit. Es hatte sich so sehr eingeprägt, dass sie manchmal vergaß, dass sie nicht mehr fett war. Sie hatte in den letzten Jahren dreißig Kilo abgenommen, und ihr Kopf kam nicht hinterher, in ihrer Vorstellung von sich selbst war sie immer noch zu dick. Auch objektiv betrachtet war sie durchaus noch immer übergewichtig; schlank war jedenfalls etwas anderes, wie ihre Mutter gesagt hatte, als ihr Freund Jürgen auf Oma Lenes Beerdigung anerkennend bemerkt hatte, wie schlank Jette geworden sei.

Die Namen waren nicht das Einzige, was reduziert wurde in Jettes Familie. Auch die Körper wurden ständig optimiert, indem sie kleiner gemacht wurden. Es war, wie Jette früh gelernt hatte, offenbar erstrebenswert, möglichst wenig Raum einzunehmen, und obgleich Tine selbst nie wirklich dick war, konnte Jette sich an keine Zeit erinnern, in der ihre Mutter nicht auf Diät gewesen war. Der Körper war etwas, das kontrolliert werden musste. Das, im Gegensatz zum Willen, kontrolliert werden konnte. Jedes Mal, wenn Jette auf einen Kindergeburtstag eingeladen war, hielt ihre Mutter vorher eine Ansprache. Ermahnte sie, während sie ihr die Schleifen ins Haar band, die Jette ebenso hasste wie den gebügelten weißen Kragen, den ihre Mutter ihr anlegte, die Kleider, aus denen Jette zu schnell herauswuchs, die zu eng wurden, bevor sie zu kurz hätten werden können, und die Strumpfhosen, die im Schritt zwickten und sich unter ihren Bauch rollten. Dass sie sich ja nicht wieder überfressen solle, dass sie sich dieses eine Mal doch bitte wie ein normaler Mensch benehmen und am allerbesten nichts, aber wenn es denn unbedingt sein musste, nur ganz wenig Süßes zu sich nehmen solle. Tine zog die Schleifen in Jettes Haar so fest, dass es ziepte. Ein Stück Kuchen reiche, und wenn man ihr ein zweites anbot, könne sie getrost Nein sagen, das müsse sie überhaupt endlich einmal lernen. Das Einzige, was Jette an ihrem Outfit mochte, waren die Lackschuhe, die hatte sie sich lange gewünscht. Das Geräusch, das die Sohlen auf dem Asphalt machten, gefiel ihr. Dieses helle, entschlossene Klackklackklack. Es klang so professionell, dachte Jette, so erwachsen, eine Vorahnung der Person, die sie später einmal sein würde. Und wehe, sie würde hinterher wieder kotzen, dann wäre aber etwas los. Ihre Mutter gehörte zu denen, die oft nicht gleich wieder gingen, sondern auf einen Kaffee und einen Schwatz mit der Gastgebermutter blieben, die dafür eigentlich keine Zeit hatte. Tine sah sich ungeniert um in der fremden Wohnung, lief durch die Räume, stellte Fragen, mit einer unbefangenen Neugierde, die Jette fremd war und für die sie sich schämte. Sie wünschte sich, dass ihre Mutter ginge. Dass sie es eilig hätte, wie die anderen Mütter, die froh zu sein schienen, ihre Kinder abzugeben. Jette hatte das Gefühl, nicht sie selbst sein zu können, solange ihre Mutter da war und sie über ihre Kaffeetasse hinweg beobachtete. Es war ein Test, Jette wusste das. Sie würde sich beherrschen und nicht direkt zum Tisch mit den Süßigkeiten gehen, höchstens einmal scheinbar unbeteiligt den Blick darüber schweifen lassen. Sie würde auf die Frage, was sie trinken wolle – Cola, Fanta, Sprite oder Apfelschorle –, solange ihre Mutter im Raum war, Apfelschorle sagen und Tines wohlwollendes Lächeln aus den Augenwinkeln registrieren.

Der Wirt stellte ihr kommentarlos ein Hausbier hin, und etwas daran rührte sie und erfüllte sie gleichzeitig mit Unbehagen. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob es gut oder schlecht war, dass sie hier längst nicht mehr gefragt wurde, was sie trinken wolle. Die Eingangstür flog auf, Jette sah unwillkürlich hinüber. Draußen war es inzwischen dunkel, und die Fensterscheiben spiegelten schemenhaft die Gestalten und Lichter im Raum, ließen nicht erkennen, wer vor dem Laden stand, vielleicht wartete und schließlich hereinkam in einer Gruppe offensichtlich angetrunkener, gut gelaunter Leute, unter ihnen Henner, der hier zum Inventar gehörte wie seine Bilder. Ein Triptychon in grellen Farben, das die gesamte Wand einnahm. Eine chaotische Collage aus Hieroglyphen, Zeitungsartikeln, Heiligenbildern, Comicfiguren und zwei leeren Stühlen in der Mitte. #theartistisnotpresent stand auf einem kleinen Schild, was offenbar der Titel war und seit wenigen Sekunden nicht mehr der Wahrheit entsprach.

Henners Blick schweifte den Tresen entlang. Als er bei Jette ankam, flackerte ein zögerliches Erkennen in seinen Augen auf, als erinnere er sich daran, sie schon einmal gesehen zu haben, aber nicht, wo und wann. Jette suchte seine Entourage nach einem weiteren bekannten Gesicht ab und spürte einen dezenten Anflug von Enttäuschung, dass dieser Lukas von neulich nicht dabei war.

So, wie die Dinge, die in den Körper hineinkamen, hatte ihre Mutter in Jettes Kindheit auch die kontrolliert, die ihn wieder verließen. Jette gewöhnte sich nur langsam an die Veränderungen, die ihren Körper plötzlich überkamen. Vergaß manchmal noch, den Deoroller zu benutzen, den ihre Mutter ihr gekauft hatte, die Marke, für die Steffi Graf Werbung machte, die Jette nicht ausstehen konnte. Tine machte den Geruchstest. Sie schlich sich heran, zerrte an Jettes Ärmel, riss ihren Arm hoch und bohrte ihre Nase in Jettes Achsel. Tine selbst roch grundsätzlich tadellos. Sie besaß eine Reihe teurer Kosmetikprodukte, Cremes und Shampoos, die ihr vorbehalten waren, da sie für Jettes Körper und Jettes Haare zu schade waren. Letztere, in der frühen Kindheit noch weißblond und glatt, schossen in der Pubertät wie Stroh aus Jettes Kopf. Jette hätte gern glattes Haar gehabt, wie ihre beste Freundin Annalena es hatte, als Kind und auch später, Annalenas Haare veränderten sich nicht, sie wurden nur länger und dann wieder kürzer, und irgendwann viel später ganz kurz, aber das war Annalenas eigene Entscheidung gewesen, in die ihr niemand hineinredete. Nicht einmal ihre Mutter. Jette dachte, dass es großartig sein musste, eine Mutter zu haben, wie Annalena sie hatte, die einem in nichts hineinredete. Jettes Mutter redete ihr in so gut wie alles hinein. Ich interessiere mich eben für dich, sagte Tine. Ich interessiere mich für meine Tochter, ist das etwa verboten, und Jette antwortete nicht, weil es nicht als Frage gemeint war, und lernte stattdessen, ihr Tagebuch besser zu verstecken.

Die Kunst ist tot, es lebe die Kunst hatte jemand auf die Kacheln an der Wand der Toilettenkabine geschrieben. Jette spürte ein leichtes Ziehen dort, wo sie ihre Eierstöcke vermutete. Sie war spät dran, was kein Grund zur Sorge war; einer der zahlreichen Vorteile daran, dass sie nicht mit Männern schlief.

Jette war elf Jahre alt gewesen, als sie zum ersten Mal ihre Tage bekam. Ihre Regel, wie ihre Mutter sagte. Ermahnungen wurden ausgesprochen, eine Woche lang nicht herumzutoben auf dem Schulhof. Der einzige Vorteil war, dass Jette fortan einmal im Monat vom Schwimmunterricht befreit war. Sie hasste den Schwimmunterricht, das Bismarckbad, das einige Jahre darauf zu ihrer späten Genugtuung abgerissen werden würde, mit seinen engen Gemeinschaftsumkleiden und dem langen Weg, der von diesen über die Galerie in die kleinere Halle mit der Rutsche führte, in der der Unterricht stattfand. Die Rutsche durfte erst am Ende der Stunde benutzt werden, zur Belohnung, wenn die vorgeschriebenen Bahnen und Tauchgänge absolviert waren. Da Jette diese nie in der vorgegebenen Zeit schaffte, kam sie nicht oft zum Rutschen. Sie war keine gute Schwimmerin. Was erstaunlich war, denn, wie ein Junge aus ihrer Klasse einmal für alle in der Halle gut hörbar gerufen hatte, nachdem er Jette ins Wasser geschubst hatte und vom Lehrer ermahnt worden war, es sein zu lassen: Fett schwimmt oben. Daraufhin fing Jette an, die Entschuldigungen ihrer Mutter zu fälschen, sodass sie bis auf Socken und Schuhe vollständig bekleidet auf der harten gefliesten Bank am Beckenrand sitzen und ein Buch lesen durfte. Zusammen mit Hülya, die nie am Schwimmunterricht teilnehmen musste, weil sie dafür ihr Kopftuch hätte abnehmen müssen und ihre Eltern dies nicht erlaubten. Jette hatte die Ausrede, ihre Tage zu haben, jedoch irgendwann so oft verwendet, dass selbst Herr Behrends, der Schwimmlehrer, der Jette in seiner knappen Badehose und mit der stark behaarten Brust an David Hasselhoff auf dem Cover der Looking for Freedom-Kassette erinnerte, die ihr Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, darauf kam, dass es unglaubwürdig war, dass sie jede zweite Woche ihre Tage hatte. Herr Behrends scheute sich nicht, sie darauf anzusprechen, und Jette erfand mit hochrotem Kopf etwas von Dauerblutungen. Sie hatte davon gehört, dass es so etwas gab, vielleicht nicht typisch für ihr Alter, aber das konnte Herr Behrends nun wirklich nicht wissen, dachte Jette. Herr Behrends hatte jedoch zwei Töchter, wie er mit einem stolzen, väterlichen Augenzwinkern erwähnte, um Jette klarzumachen, dass er sich auskannte, dass er Verständnis hatte. Jette schämte sich bei der Vorstellung, dass ihr Schwimmlehrer am Abendbrottisch seine Töchter, beide schon fast groß und sicher cool mit dem Thema, fragte, ob es sein könne. In diesem Alter. Ob das normal war. Ich habe da eine Simulantin in der Klasse, würde er sagen.

Als Jette von der Toilette zurückkam, stand Lukas an ihrem Platz und unterhielt sich mit dem Wirt. Er sah müde aus und gut, dachte Jette. Sie registrierte, wie ihr das Blut in den Kopf rauschte, und wunderte sich. Dann zog sie ihren Pullover glatt, wischte sich die feuchten Hände an den Oberschenkeln trocken und ging langsam zurück zur Bar. Du schon wieder, sagte Lukas grinsend und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Jette kletterte zurück auf den Barhocker, neben dem Lukas stand, ein wenig zu nah, aber er wich ihr nicht aus. Er überragte sie nach wie vor um fast einen ganzen Kopf, obwohl sie erhöht saß und er stehen geblieben war.

Manchmal, wenn Jette Fotos betrachtete, auf denen sie neben anderen Menschen stand, wunderte sie sich, wie klein sie war. Sie fühlte sich nicht klein. Sie fühlte sich auch eigentlich nicht dick, höchstens insgesamt ein wenig zu viel. Obwohl das Kleinsein und das Dicksein einander theoretisch ausglichen, dachte Jette. Unterm Strich hatte sie die gleiche Menge Körper wie andere Menschen, nur auf niedrigerem Raum verteilt.

Der Wirt stellte zwei Gläser Schnaps vor ihnen auf dem Tresen ab. Von dem da, sagte er und deutete mit dem Kopf ans andere Ende der Bar, wo Henner sein Glas hob und ihnen zuprostete. Das Ding ist, sagte Lukas, hob sein Glas ebenfalls, hielt es einen Moment gegen das Licht und drehte es langsam hin und her, wie um den Inhalt zu prüfen, dass ich, wenn ich Schnaps trinke, mit hoher Wahrscheinlichkeit ungute Entscheidungen treffe.

Na dann prost, sagte Jette und hielt ihm ihr Glas hin. Lukas nickte seufzend und stieß sein Glas gegen ihres. Jette kippte den Schnaps auf ex herunter. Pfefferminzgeschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Du hast mir nicht in die Augen gesehen, sagte Lukas mit gespielter Strenge und sog die Wangen leicht ein, und Jette sagte Sieben weitere Jahre. Er lachte und sagte: Besser schlechter Sex als gar keiner. Jette spülte mit einem Schluck Bier nach und erwiderte: Das ist so ein Satz, den grundsätzlich nur Männer sagen. Lukas knallte sein leeres Glas auf den Tresen und rückte noch ein Stückchen näher heran. Er roch nach Seife und ein wenig nach Weichspüler, ein Geruch, der eine schwachsinnige Sehnsucht nach einem geregelten Leben in Jette auslöste. Einem normalen Leben, falls es das überhaupt gab. Einem, wie Lukas es vielleicht hatte. Ein Gefühl flog sie an und verschwand wieder, die diffuse Ahnung einer ganz neuen Möglichkeit. Sie machte dem Wirt ein Zeichen, wackelte mit ihrem leeren Glas in der Luft, und er verstand und brachte ihr ein frisches Bier. Sie verspürte ein jähes Bedürfnis nach Leichtsinnigkeit. Sie merkte, dass Lukas ansetzte, etwas zu sagen, dass es in ihm arbeitete, und sie drehte sich zu ihm herum, drückte den Rücken durch, nur einen winzigen Gedanken an ihren Körper verschwendend, der sich immer noch in Schichten präsentierte, wenn sie saß, auf diesem Barhocker, in dieser unvorteilhaften Haltung. Sie registrierte zu ihrem Erstaunen, wie etwas in ihr auf Lukas antwortete. Vielleicht war es nur der Norden, die leichte Färbung in seiner Stimme, die ein vages Heimweh in ihr auslöste. Jette sah auf seine Hand, die das Bierglas hielt. Sie fuhr langsam mit ihrem Zeigefinger über die Farbspritzer an seinem Handrücken, spürte den Resten nach. Seine Haut war erstaunlich weich, sie hatte sie rau und rissig erwartet. Er ließ sie gewähren, entzog sich nicht, aber machte auch nicht mit. Nahm mit der anderen Hand, der linken, an der er seinen Ehering trug, das Bierglas und führte es vorsichtig zum Mund. Hielt still, wie man stillhielt, wenn eine fremde Katze sich auf einem niedergelassen hatte und man sie nicht durch eine unachtsame Bewegung verscheuchen wollte.

Meine Tochter ist also lesbisch, hatte Tine eines Tages beim Mittagessen gesagt, während sie mit einem kleinen scharfen Messer die Schale von den Pellkartoffeln zog. Als wäre es ein Fakt. Eine Feststellung, die keinen Widerspruch duldete. Jette war zwölf Jahre alt, und ihr war nicht ganz klar, woraus ihre Mutter es geschlossen hatte, aber das Jodie-Foster-Kuschelkissen, das sie sich von ihrem Taschengeld gekauft hatte, war vermutlich ein deutlicher Hinweis gewesen. Auch auf den Postern an ihren Wänden waren ausschließlich ältere Frauen zu sehen, Winona Ryder, Alicia Silverstone und Patti Smith. Man hätte es ahnen können. Jette hatte es bis zu diesem Zeitpunkt nicht geahnt. Auf den Rand des Winona-Posters hatte sie mit rotem Edding Herzen gezeichnet, gedankenlos, weil ihr der Stift zufällig in die Hände fiel, als sie auf dem Bett ihre Hausaufgaben machte, die Maxi CD mit What’s Up von den 4 Non Blondes in der Stereoanlage wie immer auf Repeat. Jette hatte darüber nachgedacht, wie viele Lesben sie in ihrem Leben kennengelernt hatte, und kam auf zwei, woraus sie schloss, dass es nur sehr, sehr wenige von ihnen gab und dass sie demzufolge wahrscheinlich für immer allein bliebe. Das war, was das Thema betraf, fürs Erste ihre einzige Sorge.

Lukas stellte sein Bier ab und ging an Jette vorbei, ließ seine Hand dabei für eine Sekunde auf ihrem Rücken ruhen, zwischen den Schulterblättern, oberhalb des Punktes, wo die Träger ihres BHs aufeinandertrafen, eine flüchtige Berührung an der unverfänglichsten Stelle. Als er die Hand fortgenommen hatte und es wieder kühler wurde dort, wo sie eben noch gelegen hatte, drehte er sich um und sagte mit ernstem Gesicht: Ich küss dich nachher noch. – So, so, sagte Jette belustigt, und weil er bereits weitergelaufen war, rief sie ihm nach: Das hättest du wohl gern. – Ja, sagte Lukas und drehte sich zu ihr um, das hätte ich gern. Dann verschwand er Richtung Toiletten. Sie konnte nicht sagen, ob er versuchte, witzig zu sein, oder ob es ernst gemeint war, und für einen winzigen Augenblick war ihr, als könne sie in die Zukunft sehen, eine Zukunft, in der es immer genau so sein würde. Sie trank ihr Bier aus, zog ihren Mantel an und zahlte.

Es war kurz nach Mitternacht, als sie allein vor dem Laden stand und einen Moment in die dunkle Straße sah. Sie zählte innerlich bis zehn. Dann drehte sie sich um. Durch das große Fenster sah sie Lukas, der an der Bar stand und sich nicht nach ihr umsah. Weil er nicht damit gerechnet hatte, dass sie noch da wäre, wenn er von der Toilette zurückkäme, dachte Jette. Weil er gesagt hatte, was er gesagt hatte, um sie loszuwerden. Oder aber, weil er wusste, dass sie auf ihn warten würde. Weil er nicht nachsehen musste, sich Zeit lassen konnte, in Ruhe zahlen, die Runde machen, um sich zu verabschieden. Seinen Freund Henner umarmen, sich von ihm etwas ins Ohr flüstern lassen, das vielleicht mit Jette zu tun hatte, vielleicht auch nicht.

Die Nacht war mild, und in den Straßen roch es nach Frühling. Sie liefen schweigend nebeneinanderher und überquerten das Gelände der alten Fabrik bis zu einem Backsteingebäude an der Rückseite. Lukas schloss eine Tür auf, die in ein dunkles Treppenhaus führte. Die Wände strahlten eine muffige Feuchtigkeit ab. Er benutzte die Taschenlampenapp seines Handys, als sie die Treppen hinaufstiegen, ohne Erklärung, warum das Licht nicht funktionierte oder es hier keines gab. Jette überfiel ein kurzes Bewusstsein dafür, dass sie im Begriff war, einem fremden Mann in einen geschlossenen Raum zu folgen. Es war ein neuer Gedanke, einer, der ihr bei Frauen nie gekommen war, und sie fühlte eine diffuse Wut auf die Verhältnisse. Sie spürte den Schnaps in ihrem Verdauungstrakt rumoren und versuchte, sich sicherheitshalber den Weg einzuprägen.

Im Atelier sah Jette sich um, während Lukas in Bewegung geriet, Kisten beiseiteschob, das Sofa hastig von Büchern und Zetteln befreite, hektisch einen Pizzakarton zusammenfaltete und neben einen Emaille-Eimer unter das Waschbecken legte. Er öffnete den Kühlschrank, hockte einen Moment ratlos in der offenen Tür, sein Pullover rutsche ein paar Zentimeter hoch und gab einen, wie Jette wohlwollend feststellte, haarlosen Rücken frei; sie betrachtete den Ansatz seines Hinterns, den Bund seiner Unterhose, die kleinen Vertiefungen links und rechts über dem Steiß. Er sagte entschuldigend, dass kein Bier mehr da sei, was Jette erleichterte. Der Pizzakarton entfaltete sich in Zeitlupe mit sanftem Knacken, schaukelte wie von Geisterhand leicht auf den dunklen, farbbesprenkelten Fliesen hin und her. Kaffee?, fragte Lukas, Jette nickte, Kaffee war gut, Kaffee war vernünftig. Sie lief langsam durch den Raum, betrachtete den Tisch mit den akkurat geordneten silbernen Farbtuben, den farbverkrusteten Gurkengläsern und Bierkrügen voller Pinsel, nach Größe und Dicke sortiert. Die Bilder, die an der Wand lehnten, einige davon in Luftpolsterfolie verpackt, vielleicht bereits verkauft und kurz davor, abgeholt zu werden, von einem Sammler, jemandem, der sich einen echten Lukas Rademacher an die Wand hängen würde. Jette dachte, dass Künstler ein völlig anderes Verhältnis zu ihren Werken haben mussten als Schriftsteller, deren Texte beliebig und aufwandslos zu vervielfältigen waren und deren Inhalt in den meisten Fällen nicht abhängig war von der äußeren Form. All die Tage oder Wochen, die ein Künstler mit einem Bild verbrachte, und dann war es fertig und er gab es weg. Trennte sich davon, verkaufte es, für ein paar Tausend Euro oder mehr, Jette hatte keine Vorstellung davon, was ein Bild von Lukas kostete. Das dann für alle Zeiten im Konferenzraum einer Sparkassenfiliale an der Wand hing oder im Wohnzimmer eines mittleren Managers, der damit vor seinen Gästen angeben konnte und es ansonsten nicht mehr wahrnahm, weil man nicht wahrnimmt, was einen täglich umgibt.