Die Übersetzerin - John Crowley - E-Book

Die Übersetzerin E-Book

John Crowley

5,0

Beschreibung

Eine zeitlose Geschichte von Liebe, Vertrauen, Poesie und Politik Während der Kuba-Krise begegnen sich eine amerikanische Übersetzerin und ein mysteriöser russischer Dichter im Exil. Ihre Beziheung und ihr Versuch, gemeinsam seine Gedichte zu übersetzen, sind der Hintergrund eines wunderbar melancholischen Romans, der sich auf mehreren Zeitebenen entfaltet und zugleich Spionagethriller, Liebesgeschichte und Meditation über die Macht der Worte ist. "Großartig ernsthaft – es geht um nichts weniger als die Seelen von Nationen und die transformative Macht von Sprache." NEW YORK TIMES BOOK REVIEW

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Deutsch von André Taggeselle

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »The Translator«

bei William Morrow, ein Imprint von HarperCollins Publishers, New York

© 2002 John Crowley

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Golkonda Verlag GmbH, München ∙ Berlin

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber:

»Dirge without Music« by Edna St.Vincent Millay, from Collected Poems, published by HarperCollins, © 1928,1955 by Edna St.Vincent Millay and Norma Millay Ellis

Excerpt from »Howl« from Collected Poems by Allen Ginsberg, © 1955 by Allen Ginsberg

»Bourgeois Blues«, Words and Music by Huddie Ledbetter, edited with new additional material by Alan Lomax, TRO- © 1959 (renewed) by Folkway Music Publishers, New York

»We shall overcome«, Musial and Lyrical adaption by Zilphia Horton, Frank Hamilton, Guy Carawan and Pete Seeger. Inspired by African American Gospel Singing, members of the Food and Tabacco Workers Union, Charleston, SC and the southern Civil Rights Movement. TRO-© 1960 (Renewed) and 1963 (renewed) Ludlow Music, Inc., New York

Lektorat: Sara Riffel

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: © Julia Jonas, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von iStock

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-946503-08-8 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-946503-09-5 (E-Book)

www.golkonda-verlag.de

Für Tom Disch, der weiß, warum

»Poesie ist Macht«,

sagte M[andelstam] einst zu Achmatowa in Woronesch,

und sie neigte das Haupt auf dem schlanken Hals.

Nadeschda Mandelstam,

Das Jahrhundert der Wölfe

I

1.

Zum ersten Mal hörte Christa Malone den Namen Innokenti Issajewitsch Falin aus dem Mund des US-Präsidenten John F. Kennedy.

Es war Februar 1961, und Christa wartete im Empfangssaal des Weißen Hauses in einer Schlange mit zwanzig weiteren Highschool-Absolventinnen und -Absolventen, deren Gedichte für eine landesweite Anthologie junger Lyrik namens Geflügelte Lieder ausgewählt worden waren. Bis auf vier waren sie alle Mädchen, eine Schar unbeholfen kluger Jungvögel in Hosenanzügen und Kleidern, mit Hüten und weißen Handschuhen. Ein Empfangsgehilfe ließ sie mit höflichem Ernst in einer Reihe Aufstellung beziehen und erklärte ihnen, wie sie zu antworten und wie sie abzutreten hatten. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und sah zur Tür am Ende des Saals – und Kit Malone spürte den schnellen Schlag ihrer Herzen. Die Anthologie stand unter der Schirmherrschaft einer bedeutenden Stiftung.

Er befand sich auf dem Weg zu einem großen Staatsempfang– Kit erinnerte sich später nicht mehr daran, was es war, doch als die Doppeltür am Ende des Saals aufschwang, trug er Abendgarderobe. Seine Frau begleitete ihn, in einem Kleid, dessen Stoff fast überirdisch schimmerte, wie eine Kardinalsrobe auf einem Gemälde von El Greco. Der Empfangsgehilfe führte das Präsidentenpaar an der Reihe junger Dichterinnen und Dichter vorbei, der Präsident schüttelte ihnen nacheinander die Hand, und die First Lady tat dasselbe. An jeden von ihnen richtete er ein, zwei Fragen. Bei einem hochgewachsenen Mädchen aus Quincy hielt er sich länger auf.

Desgleichen bei Kit: ein unbefangener Scherz in seinem komischen Dialekt, wobei er sie unter seinem Blick hin und her zu wenden schien wie ein Juwel oder ein seltenes Kleinod. Ein Lächeln, als sie ihm ihren Heimatstaat nannte.

»Soweit ich weiß, habt ihr einen neuen Dichter dort«, sagte er. »Ja. Unseren neuen Dichter aus Russland. Falin. Schon von ihm gehört?«

Das hatte sie nicht, und so sagte sie nichts, lächelte nur – ihr schmales Lächeln hervorgelockt durch sein breites.

»Falin, ja«, sagte er. »Ist ins Exil geschickt worden. Von Russland aus. Und kam hierher.«

Jackie fasste ihn am Arm, lächelte Kit an und geleitete ihn zur nächsten Dichterin.

Danach folgten Fotos und eine kurze Rede des Präsidenten über die Bedeutung der Dichtkunst: für die Nation, für die Seele. Er bezeichnete Poeten als die verkannten Gesetzgeber der Welt und erinnerte sie daran, wie er Robert Frost eingeladen hatte, bei seiner Amtseinführung zu sprechen. Das Land gehörte uns, bevor wir dem Land gehörten. Seine hellen Augen streiften wieder Kit, durchdringend oder voller Erkenntnis.

In dieser Nacht im Hotel, umgeben vom fremden Lichtschein der Stadt und ihren Geräuschen, mit dem Mädchen aus Quincy unruhig im Nebenbett, träumte Kit von einem Tiger: Sie streifte mit ihm durch die Korridore eines Palasts ohne Eigenschaften (war es seiner?), bewunderte die kraftvollen Muskeln, die sich unter seinem herrlichen Fell wölbten, wie es die Art der Tiger ist, und sprach mit ihm über dies und das: Sie lauschte mehr, als dass sie selber sprach, voll Ehrfurcht, wachsam, aber ohne Angst.

In jenem Monat schrieb sie ein Gedicht, »Was der Tiger mir erzählte« – das letzte für eine lange Zeit. Viele Jahre später fragte sie sich, ob der Präsident mit dieser lächelnden Gier bei ihr stehen geblieben war, weil er den Hauch einer sexuellen Aura gewittert hatte. Seine Sinne waren womöglich außergewöhnlich scharf und hatten etwas erfasst, das sie damals selbst noch nicht gewusst hatte: dass sie schwanger war.

Im Januar desselben Jahres, auf dem Weg in die USA, hatte Innokenti Issajewitsch Falin eine zusammenhängende Reihe von Gedichten begonnen, mit Jahreszahlen als Titeln. Das erste schrieb er mit seinem neuen deutschen Füllfederhalter auf das Briefpapier eines Berliner Hotels und überarbeitete es auf dem Flug nach New York. Das Original – später mit allen anderen verloren gegangen – ist ein Sonett, vierzehn Zeilen in Falins eigentümlichem Reimschema. Die reimlose Rohübersetzung, die Kit Malone später mit Falin erarbeitete, sah so aus:

1961

Kipp dies Jahr am Angelpunkt seiner letzten Serife

Dreh es Grad um Grad von senkrecht zu aufrecht

Wie einen Fahnenmast, ohne Fahne aufgepflanzt

Wie eine Kulisse auf der Bühne eines leeren Theaters

Auf der bald Weltgeschichte aufgeführt wird.

Nun lass es weiter fallen, stoß es vollends um

Wie die Statue eines entthronten Machthabers, gekippt

Rücklings, der behandschuhte Finger, der vorwärts wies

Getrieben in die Erde, stattdessen aufs Ende zeigend.

Siehst du, was du geschaffen hast?

Eine Seltenheit im Lauf der Jahrhunderte,

Ein Jahr, das zu kippen, aber nicht umzukehren ist

Und das nach all der Mühe letztlich unverändert bleibt.

Dem ist nicht so. Wir werden, wie stets, nicht dieselben sein.

2.

Immer wieder ist es überraschend und ein Wunder, wenn unser Flugzeug durch die Wolkendecke bricht und, als schüttelte es ein Kleid aus zerfetzter Seide ab, nackt in den nackten blauen Himmel steigt und ins Sonnenlicht. Wir auf der Erde meinen, dass es blaue und graue Himmel gibt, aber in Wahrheit ist der Himmel immer klar.

Dann die Umkehrung, ebenso. Christa Malones Flugzeug sank aus dem klaren Wüstenhimmel hinab und brach, wieder in klamme Watte gepackt, durch die Decke ins Haus. Leichter Regen fiel: stählernes Meer, farblos aufgetürmte Stadt, Luft aus Tränen. Sich erinnernd, wie es auf der Erde ist. Auden hatte einmal gesagt, es schockiere ihn, dass Reisende im Flugzeug, die wie Götter auf Wolken und Erde hinabsahen, dem oft gar keine Beachtung schenkten: die Jalousien runterließen, einen Thriller lasen.

»Ich bin nicht sicher, ob es heute noch so ist«, sagte Christas Sitznachbar zu einem Mann auf der anderen Gangseite. »Das war vor ’89. Aeroflot. Man hat sein Leben riskiert. Äußerst schäbig. Und ärmlich. Diese Stewardessen, die wie Aufseherinnen in einem Gefangenenlager daherkamen. Ungefähr fünfzig von uns in einem riesigen Jet, von Moskau nach Wladiwostok. Sie ließen uns durch die hintere Luke hinein, und diese Matrone läuft vor uns her und weist uns unsere Plätze zu, angefangen in der hintersten Reihe, bis alle drinnen sind. Keine Platzwechsel. Zwei Drittel des Flugzeugs leer!«

»Das ist jetzt anders«, entgegnete sein Zuhörer. »In den Republiken gibt es nicht mal reservierte Plätze. Jeder hetzt über die Rollbahn zum Flieger und kämpft drum, an Bord zu kommen. Den Letzten beißen die Hunde.«

»Demokratie«, sagte der andere, und beide lachten.

Die Stewardess bat leise auf Russisch, dann auf Englisch und Französisch, man möge sich auf die Landung vorbereiten.

In ihrer Kindheit, und noch lange danach, hatte sich Kit Malone Russland immer dunkel vorgestellt. Es war dunkel zu jener Zeit. Ein dunkler Kontinent, aus dem keine Nachrichten nach außen drangen. Ein finsterer Stern, der sein eigenes Licht absorbierte. Wenn sie daran dachte, sah sie lange Straßen, die ins Hinterland führten, eine kalte, nichtssagende Steppe ohne Farbe oder Geräusche, die Menschen zusammengedrängt und ebenso schweigsam, abgewandt von ihr.

Mehr hatte sie nicht, nur diese Metapher ihrer eigenen Unwissenheit. Weil sie nicht an das glauben wollte oder konnte, was man ihr damals von Russland zeigte. Nicht an das Russland, über das die Nonnen ihr in der Schule berichteten, dass dort Priester ermordet, Kirchen geplündert und Ordensschwestern von stiefeltragenden Kommissaren verprügelt wurden. Sie zweifelte daran, nicht weil sie wusste, dass es erlogen war, sondern weil die Nonnen darauf bestanden. Sie bestanden so sehr darauf, dass Kit ihnen allein deshalb nicht mehr glauben mochte. Sie mussten sich über Russland und den Kommunismus irren, denn so schlimm konnte es gar nicht sein. Wer verprügelte denn Nonnen aus reiner Boshaftigkeit? Wer hätte daran ein Interesse? Kit sah, jenseits von Politik und Religion, eine Erwachsenenwelt, in der diese kindlich übertriebenen Gegensätze aufgegeben und als falsch entlarvt wurden – so wie ihre Eltern irgendwann zugegeben hatten, dass es keinen Weihnachtsmann gab.

Letztlich auch keinen Gott, auf dessen Seite man sich schlagen konnte. Und doch existierte das finstere Land weiter, breitete sich im Stillen unter dem dunklen Himmel aus, streckte sich über die Jahre, in denen sie erwachsen wurde. Nie hatte sie sich vorgestellt, dorthin zu reisen, wie sie es bei vielen anderen Orten getan hatte.

Christa schaute durch die Wolke, die hinter dem Fenster aufriss. Die graue Stadt, die sich beim Einschwenken des Flugzeugs unter ihr drehte wie das volle Tablett eines Kellners, hieß nun wieder St. Petersburg. Die handgeschriebene Einladung Gavriil Viktorowitsch Semjonows befand sich auf ihrem Schoß in der Tasche, die sie etwas zu fest umklammerte: Landungen mochte sie nicht, wohingegen sie das Abheben liebte. Eine Feier zu Ehren des 75. Geburtstages von Innokenti Issajewitsch Falin, seines Lebens und seiner Dichtkunst. Juni 1993, St. Petersburg, Russland. Hatte es ihn gefreut, seine Stadt wieder beim wahren Namen nennen zu können, als habe sich darüber ein Nebel gelichtet?

Als Semjonow zum ersten Mal an sie geschrieben hatte, vor zwanzig Jahren, war es noch Leningrad gewesen. Dieselbe winzige, feine Handschrift, erlernt in einem Gefangenenlager, wie es schien, geeignet, Gedichte auf Zigarettenpapier zu schreiben. Die Orthografie so verschroben wie die von Falin, sodass sie einen Moment lang den Brief gar nicht hatte öffnen können, sondern nur ihren Namen auf dem Kuvert angestarrt und das kraftvolle Schlagen ihres Herzens gespürt hatte.

Aber er stammte nicht von Falin; er kam von diesem Mann, G. V. Semjonow, der sie auf behutsamste Weise nach dem fragte, was anscheinend kein anderer Russe zu fragen wagte: nach der Wahrheit, danach, was passiert war, und nach den letzten Gedichten von I. I. Falin.

Semjonow hatte ihr diesen Brief anlässlich der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbands geschrieben – eines Buchs, das nicht deshalb bemerkenswert war, weil es ihre eigenen schwachen Verse enthielt (sie würde später stärkere schreiben), sondern wegen der fünfzehn Gedichte Falins, die darin abgedruckt waren. »Übersetzungen ohne Original« hatte sie sie genannt: Gedichte, die weder seine noch ihre waren, oder sowohl seine als auch ihre. Gedichte, geschrieben in einer Sprache, die sie nicht lesen konnte, am Leben erhalten in einer Sprache, die er nicht schreiben konnte.

Russland hatte tief in der Starre der Breschnew-Jahre gesteckt, nichts gelangte unautorisiert hinein oder heraus. Wie dieser Semjonow an ihr Buch gekommen war, wusste sie nicht, geschweige denn, wie sein Brief sie erreicht hatte. Sie hatte geantwortet, so gut sie konnte, und danach nichts mehr gehört. Ob ihr Brief an seinen Bestimmungsort gelangte, konnte sie nicht in Erfahrung bringen; auch nicht, ob es eine Antwort gegeben hatte. Doch seit damals hatte sie nie aufgehört, dem Absender des Briefes zu erklären, was passiert war, nie aufgehört, sich gegen seinen unausgesprochenen Vorwurf zu verteidigen: dass sie ihren Dichter hatte sterben lassen und seine Gedichte zu ihren gemacht hatte.

Nun hatte er ihr endlich wieder geschrieben, in einer neuen Welt. Er hatte sie vorgeladen, eingeladen traf es eher, im gütigsten, schmeichelhaftesten Ton. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass es sich um eine Vorladung handelte. Um etwas, das sie nicht ablehnen konnte.

Der Flughafen war ein Irrenhaus, die Männer und Frauen in Uniform schienen dazu da, alles noch schlimmer zu machen, sie standen im Weg herum und beschworen Zorn und Frustration herauf. Die klinisch unterkühlte Ruhe der großen europäischen und amerikanischen Flughäfen war Russland fremd. Hier ging es zu wie in einem Wohnzimmer, hoffnungslos überfüllt, selbst der schwache heimelige Geruch nach Insektenspray passte dazu. Christa wartete, bis ihre Reisetaschen zwischen den edlen Lederkoffern ihrer Mitreisenden auftauchten, dann reihte sie sich in die Schlange für die Zollabfertigung ein.

»Passport please.«

Der grün uniformierte Beamte mit den roten Schulterstreifen sah einmal, zweimal, dreimal von ihrem Passbild auf und ließ geräuschvoll den Atem entweichen, entweder gelangweilt oder erschöpft. Sie gab ihm ihr Visum. Die Einladung zur Konferenz lag griffbereit in ihrer Tasche, sie hatte sogar ein paar Sätze vorbereitet. Daraufhin wurde sie durchgewunken, und als sie ihre Taschen vor dem Zollbeamten absetzte, winkte der sie ebenfalls müde weiter. Sie strebte in die überfüllte Halle, in der alle sich umarmten und küssten, Alte, Kinder, Anzugträger. Dort stand ein großer und sehr alter dünner Mann, der ein Schildchen hielt, ein abgerissenes Stück Karton mit ihrem Namen in dieser verschrobenen Orthografie, mit leichtem Zittern hochgehalten. Sein Gesicht sah unendlich traurig aus, und doch war sein Lächeln freundlich, als erwartete er, sie in ein Jenseits zu geleiten, das besser war, als sie es verdiente, aber auch nicht ganz das, was sie sich ersehnte. Er wandte ihr den Blick zu und schien sie gleich zu erkennen.

»Guten Morgen«, sagte er erst auf Englisch, dann auf Russisch. »Ich bin Gavriil Viktorowitsch Semjonow. Willkommen in meinem Land.«

Schon war sie unsicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Sie antwortete mit einer russischen Begrüßung, und er sprach auf Russisch weiter, halb abgewandt und auf Orte am Ende der Halle weisend.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Es ist dreißig Jahre her, dass ich Russisch gesprochen habe. Könnten wir uns auf Englisch einigen, zumindest für den Anfang?«

»Selbstverständlich«, sagte er mit vollendeter Höflichkeit. »Englisch ich spreche nicht sehr fließend. Ich spreche Russisch, Estnisch, Polnisch, Französisch fließend. Englisch jedoch nicht, bedauerlicherweise.«

»Nicht?«, fragte Christa. »Aber Sie sprechen es besser, als ich jemals irgendeine Sprache außer meiner eigenen gesprochen habe. Sie wissen schon, Amerikaner …«

»Ja«, erwiderte er. »Ich weiß.«

Er bestand darauf, eine ihrer Taschen zu tragen, und sie gab ihm die leichteste von allen. Er führte sie Korridore hinunter und Rolltreppen hinauf, bis sie in einem riesigen Parkhaus standen, in dem Dutzende von hässlichen schwarzen Wagen mit laufenden Motoren warteten. Semjonow brauchte eine Weile, bis er das Fahrzeug fand, das er suchte. Er winkte es heran. Es war ein ZIL Sedan, zumindest diesen Namen konnte Christa lesen. Die Scheiben waren getönt, und die Rückbank war riesig. Innen roch es nach Rauch und Schweiß.

»Wasili Wassiljewitsch ist Fahrer für Regierungsbeamten«, erklärte ihr Gavriil. »Früher er wartete Stunden auf seinen Funktionär, bis die Versammlungen zu Ende waren, et cetera. Heute, Regel ist: Anstatt zu warten, kann er das Auto benutzen und andere herumfahren. Uns zum Beispiel.« Er lächelte wie angesichts einer witzigen Situation, was ja auch stimmte: das furchterregende Auto, der stiernackige Fahrer, der harmlose Nebenverdienst.

Als Gavriil Viktorowitsch sein Gespräch mit dem Fahrer beendet hatte und der Wagen sich in den Verkehr einreihte, der vom Flughafen fortkroch, wandte er sich ihr zu. Einen Moment lang betrachtete er sie mit seiner liebevoll schuldbewussten Miene, die vielleicht nichts von dem bedeutete, was sie zu bedeuten schien, sondern einfach nur das Gesicht eines alten Russen war.

»Also«, sagte er. »Wir lernen uns kennen.«

»Nur damit Sie es wissen«, erwiderte sie, »ich hatte damals, vor langer Zeit, diesen ersten Brief von Ihnen beantwortet. Wirklich.«

Er bedachte sie mit einem wunderbar umständlichen Achselzucken, das verzieh, Unwissenheit vorspielte, die Frage verwarf, das Schicksal heraufbeschwor, alles zugleich.

»Ich wollte Ihnen erzählen«, fuhr sie fort. »Was ich wusste. Viel war es nicht.«

»Bei uns war überhaupt nichts bekannt darüber, was aus ihm geworden war in den Vereinigten Staaten«, sagte Gavriil Viktorowitsch. »Es war unsere Phase des Umschwungs, nach Fall von Chruschtschow, nach Krise von Kuba. Wir zogen uns zurück in unsere Burg, oder wir wurden wieder eingesperrt, egal wie man sagen will. Äußerst gefährlich war es wieder, mit Ausländern zu sprechen, oder über Ausländer, oder über Vergangenheit, oder über die Toten. Dichter, die damals über die Toten schrieben, haben sich verabschiedet von ihnen, sich abgewandt, um zu schauen in die Zukunft, wissen Sie?« Er lächelte. »Die Toten hatten gerade erst wieder begonnen, mit uns zu sprechen, nachdem wir eine lange Zeit nicht hatten zugehört.«

»Aber jetzt wieder«, sagte sie.

»Ja. Jetzt wir hören wieder. Manche von uns.«

Wasili fuhr sie durch eine Gegend voller gleichförmiger Betonbauten, Appartements und Bürogebäude – ein schlechtes Konzept, das offenbar vor Kurzem aufgegeben worden war; untätige Kräne und Stapel von Baumaterialien, die aussahen, als hätten sie bereits lange Zeit unangetastet herumgestanden. Sie musste an die Wohnung ihres Vaters denken. Ach, hör schon auf, hatte er gesagt, wann immer sie anfing, alte Zeitschriftenstapel abzutragen oder die Fenster zu putzen.

»Wir haben Programm«, sagte Wasili. »Zuerst Wiederherstellung seiner Staatsangehörigkeit, die man ihm genommen hat. Aufstellung eines Denkmals, aber wo? Wir wissen nicht, wo er geboren ist; er lebte an vielen Orten. Und viele Orte jetzt weg: Häuser, Schulen, die er hat besucht, Arbeitsstätten. Weg. Als ob Zeit gefressen hat diese Spuren von ihm.«

Er verschränkte seine langen Finger mit den vergilbten Nägeln im Schoß. »Am liebsten, vor allem, wir möchten ihn nach Hause bringen. Aber er wurde nicht gefunden.«

»Nein. Nein, wurde er nicht.« Sie hatte begriffen, dass man ihn nicht finden würde, als sein großes blassgrünes Cabrio aus dem Fluss gezogen worden war, leer, das Wasser aus allen Öffnungen schwappend. In den Nachrichten hatten sie es wieder und wieder gezeigt. Selbst da hatte sie nicht zugeben mögen, dass er tot war. Sie hatte es nicht gewusst, nicht sicher. Sie hatte geglaubt, es dauerte einige Zeit, Jahre vielleicht, bis die Gewissheit einsetzte, dass ein Vermisster tot war. Diese Zeitspanne war selbstverständlich lange vorüber, Jahrzehnte, um genau zu sein. Und doch konnte sie immer noch nicht zugeben: Ich weiß, dass er tot ist.

»Hotel«, sagte Gavriil Viktorowitsch. Er klang erleichtert. »Pribaltijskaja. Keineswegs grandios, aber nicht weit von mir, und ich werde Ihr Reiseführer sein. Sie werden Blick auf Wasser haben«, sagte er.

Das Hotel war gewaltig, aus Glas und Beton. Auf den verregneten Golf blickte es hinaus, oder finster hinab.

»Sie werden ausruhen wollen«, sagte er. »Vielleicht kommen Sie danach zu meiner Wohnung, und wir können gehen zum Essen.«

»Einverstanden. Was immer Sie wollen.«

»Viele Menschen möchten Sie treffen«, erklärte Gavriil Viktorowitsch. »Ich habe ein paar eingeladen, mit uns essen zu gehen. Ich hoffe, Sie haben dagegen nichts.«

»Nein. Natürlich nicht, nein.«

Die Frau hinter dem Schalter sprach zu Kit und, als sie kein Anzeichen von Verständnis sah, zu Gavriil Viktorowitsch in einem Tonfall, der launisch und gebieterisch klang. Er wandte sich an Kit.

»Ihr Zimmer ist, wie aussieht, nicht fertig«, sagte er. »Eine Stunde. Vielleicht möchten Sie Tee.«

»Ich habe ihn an der Universität kennengelernt«, erzählte sie; der Tee stand in einem Glas vor ihr. Sie hatte Tee nicht mehr aus einem Glas getrunken seit damals, seit jenem Herbst. »Er unterrichtete dort. Lyrik. Es war das Jahr nach seiner Ankunft, und ich war neunzehn.«

»Und Sie waren eine Dichterin damals?«

»Na ja, ich hatte einen Preis gewonnen. Es hieß, dass ich eine, nun ja. Eine Neigung besäße.«

»Und Sie studierten dort mit ihm.«

»Mein Studium sollte im Herbst 1961 losgehen«, sagte sie. »Aber ich konnte nicht, es war etwas passiert, das … nun ja, das ist unwichtig. Jedenfalls konnte ich in dem Jahr nicht zur Schule gehen. Damals wechselte Falin an die Universität in meinem Bundesstaat. Ich hatte über ihn gelesen, in Look und in Life.« Sie sah, wie Gavriil Viktorowitsch seine beeindruckenden Augenbrauen hob, und fuhr fort. »Die Zeitschriften. Wir waren fasziniert von Leuten, die … Sie wissen schon, rübergekommen waren: Nurejew, der seinen Leibwächtern in Paris weggelaufen war, davon wussten wir alle. Und die Menschen, die versuchten, über die Berliner Mauer zu klettern. Und Falin, der Dichter, der seine Gedichte zurücklassen musste. Von seiner Ankunft bekam ich nichts mit, aber ich wusste, dass er an meiner Uni unterrichtete, als ich im zweiten Semester anfing zu studieren.«

»Sie wollten ihn treffen?«

»Nein«, sagte sie. »Nein. Ich hatte das Dichten mehr oder weniger aufgegeben.«

»Ach ja? Und aus welchem Grund?« Er nahm ihr Glas und schenkte nach.

»Das hat mich Falin auch einmal gefragt«, sagte sie. Und da begriff sie, dass es nicht einfach werden würde, hier zu sein, auch nicht, diese Geschichte zu Ende zu erzählen. Denn die Strecke, die sie räumlich zurückgelegt hatte, würde sie auch in der Zeit zurückreisen müssen – besser: in der Dimension, die nichts von beidem war –, in der sie sich getrennt hatten. »Ich erklärte ihm, dass ich nichts zu sagen hätte. Und er erwiderte, genau darum gehe es in der Dichtkunst. Nichts zu sagen. Das Nichts, welches sich nicht in Worte fassen lässt.«

»Später aber Sie haben wieder geschrieben«, sagte Gavriil Viktorowitsch. Er wartete, leicht vorgebeugt, entweder um ihr zu zeigen, dass sie seine ganze Aufmerksamkeit besaß, oder weil sein Gehör nicht mehr so gut funktionierte.

»Ja«, sagte sie. »Später schrieb ich wieder. Danach.«

Er wartete immer noch.

»Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte sie. »Deshalb bin ich hier. Um Ihnen alles zu erzählen. Alles, was ich weiß.«

3.

Es war eine Universität, riesig selbst für die Verhältnisse von 1961: eine Stadt auf einer Anhöhe, die durch irgendwelche geologischen Mechanismen aus der umliegenden Prärie nach oben gedrückt worden war. Auf geschenktem Staatsland erbaut, standen die ursprünglichen Gruppen roter Backsteingebäude im gotischen Baukastenstil noch immer unter ausladenden Ulmen und Ahornbäumen. Jedoch waren sie zu Kits Studienzeit bereits von Beton-Schlafsälen und nichtssagenden Türmen eingeschlossen, die sogar den Schritt über den von Weiden gesäumten Fluss gewagt hatten, dessen indianischer Name von den ersten Gelehrten ausgegraben worden war und im Lied der Universität feierlich Erwähnung fand.

Kits Eltern fuhren sie im Kombi hin, den Kofferraum gefüllt mit ihren Büchern und einem Satz Samsonite-Koffern, die von den vielen Umzügen der Familie bereits ganz ramponiert aussahen. Die Reiseschreibmaschine ihres Bruders befand sich ebenfalls hinten im Wagen, eine Dauerleihgabe, die in ihren Besitz übergegangen war, seit er sich freiwillig zur Armee gemeldet hatte. Er hatte keine Verwendung dafür. Und ebenso wenig für die schwarze Lederjacke mit dem himmelblauen Seidenfutter und den Reißverschlüssen an Ärmeln und Brust, die er nur ein paar Mal beim Motorradfahren getragen hatte. Kit hatte sie angenommen, oder besser: ihm weggenommen, nachdem er sich im November entschieden hatte, seinen Dienst zu verlängern. Die Jacke war ihre Geisel, eine Opfergabe, oder bloß ein alter Schuh, auf dem ein einsamer Hund herumkaute, solange sein Herrchen fort war. Sie trug die Jacke, die ihr viel zu groß war und derentwegen sich ihre Mutter schämte, weil sie sie barbarisch fand. An den viel zu weiten Schultern zupfend, war sie fast in Tränen ausgebrochen, als Kit darauf bestanden hatte, sie auch zum heutigen Anlass zu tragen, zur Ankunft hier an ihrer neuen Schule, nicht als Scherz oder besondere Geste, sondern einfach als Mantel, um sie zu wärmen.

»Hier ist es. Turm 3«, sagte ihr Vater, die Karte des Campusgeländes über dem Lenkrad ausgebreitet. Es handelte sich um das mittlere einer Reihe fast identischer Gebäude, die an drei ägyptische Pyramiden erinnerten. Ein riesig’ Trümmerbild von Stein steht in der Wüste, rumpflos Bein an Bein. Kit hasste und fürchtete es vom ersten Augenblick an. Erst als sie den Kombi geparkt, ihre Sachen zum Fahrstuhl geschleppt und die Tür ihres Zimmers aufgestoßen hatten, wurde ihr klar, dass es von außen zwar einen hässlichen Anblick bot, der Ausblick von innen jedoch herrlich war. Der letzte Wachturm mit Blick nach Westen über flaches braunes Land in Richtung Abendsonne, die Biegung des schmalen Flusses pfirsichfarben wie der Sonnenuntergang. All das war in seiner Melancholie ebenso furchteinflößend, jagte ihr aber keine Angst ein.

»Nun«, wiederholte ihr Vater.

»Dein Reich, schätze ich.« Ihre Mutter spähte in die Schränke. Kit hatte sich Sorgen über eine mögliche Mitbewohnerin gemacht, eine gruselige Doppelgängerin vielleicht oder eine kalte, herrische Person. Im Our Lady hatte sie eine Menge Zimmergenossinnen gehabt, fremde Seelen, die ihrer doch zu nahe gewesen waren.

Sie gingen wieder nach draußen, ohne die Sachen auszupacken (ihre Mutter hatte die clever eingebauten Schubfächer aus hellem Holz einräumen und Bilder aufhängen wollen, doch Kit hatte sie nicht gelassen), und fuhren bis zum Einbruch der Dunkelheit auf dem Campus umher. (Ihr Vater las aus dem Campus-Führer vor: »Der alte, von Eichen umstandene Wunschbrunnen hat traditionsgemäß schon vielen Frischverliebten als Ort für den Heiratsantrag gedient. Na, das wird im Juni aber einen ganz schönen Andrang geben.« Kit sah den finsteren Blick ihrer Mutter, die ihm die Hand aufs Bein legte, um ihn zum Schweigen zu bringen.) Danach fuhren sie hinunter ins Städtchen zu dem einzigen alteingesessenen Hotel und aßen zu Abend. Einen Cocktail? Ma warf Dad einen erlaubnisheischenden Blick zu und bestellte: »Ich hätte gern einen Grasshopper.«

Dad bestellte einen Martini. Als das Getränk kam, schob er es zu Kit rüber.

»Wieder auf Kurs«, sagte er zu ihr, und in ihrem Hals bildete sich ein dicker, harter Klumpen, den nur ein Schluck von dem grässlichen, farblosen Zeug lösen konnte.

In der Nacht erwachte sie in ihrem schmalen, neuen Bett wie von einem Flüstern im Ohr. Als sie sich aufsetzte, sah sie, dass draußen Schnee fiel, schnell und dicht.

Die Einschreibung für die Zweitsemester-Kurse war für den folgenden Tag in der großen, im romanischen Stil gebauten Sporthalle angesetzt. Die Studenten strömten durch den noch ungeräumten Schnee auf das frei stehende Gebäude zu und hinterließen eine Spur aus Matsch. Die Stiefel, die man hier brauchte, erkannte Kit, waren Halbstiefel mit Pelzfutter, weiß wie von Eisbären oder grau wie von Kätzchen. In ihren Capezios hatte sie schon nach wenigen Schritten eisig klamme Füße.

Banner in den Universitätsfarben hingen drinnen von den Deckenbalken. Die hohen, vergitterten Fenster warfen Säulen aus Licht durch die staubige Luft. Sägespäne, jetzt ebenfalls nass, bedeckten die schmutzigen Stellen und die Markierungen der Laufbahn. Reihen langer Klapptische waren aufgestellt worden, Schilder darüber verkündeten die jeweiligen Kurse, für die man sich einschreiben konnte.

Ein Basar, dachte Kit. Das Murmeln der Gespräche und der Geschäftigkeit schwebte zu den alten Deckenbalken empor, zwischen denen zwitschernd die Spatzen umherschossen. Als Studienanfängerin musste sie sich zunächst für ihren Ausweis fotografieren lassen. Schilder und Monitore führten sie zu einem mit Seilen abgesperrten Bereich, wo eine Porträt-Kamera samt Beleuchtungsstativ aufgebaut war.

»Karte?«

Welche Karte? Der Aufseher oder Assistent fischte sie geschickt aus Kits Stapel. Damals gewöhnten wir uns alle an die rechteckigen Karten mit der fehlenden Ecke und den Reihen aus exakt eingestanzten rechtwinkligen Löchern. Man durfte sie nicht falten, rollen oder sonst wie verschandeln. Es lagen ein Kamm und ein Spiegel für sie bereit. Kit stand einen Moment da, außerstande, sich zu bewegen, ohne nachvollziehbaren Grund in Erinnerung verfallen (die schwere Kamera, der gehetzte Aufseher). Our Lady. Das gesamte kommende Jahr hindurch würde sie in ihrem Blick auf dem Ausweisfoto sehen, was sie im Moment der Aufnahme gesehen zu haben glaubte. Gejagt: oder nicht gejagt, sondern gefangen.

Sie verließ den abgeteilten Bereich, nun mit der Berechtigung in der Tasche, den summenden Suk zu erkunden. Sie dachte darüber nach, die Kursliste, die sie mit ihrem Studienberater erarbeitet hatte, wegzuschmeißen und sich stattdessen einfach für Einführung in die Musiktheorie oder Altaistik-Uralistik einzuschreiben. Sie ging jedoch brav weiter und stellte sich bei den vernünftigen Tischen an, beim Englisch-Schreibkurs und dem Französischkurs für Fortgeschrittene, dessen Aufnahmetest sie bestanden hatte, bei dem Kurs in Psychologie (ihr Wahlpflichtfach im Bereich Wissenschaften), Weltgeschichte I (von der Steinzeit bis zum Mittelalter) und Herausragende Werke der westlichen Literaturgeschichte I (Homer bis Cervantes). Gegenüber dem Tisch für den Schreibkurs drängte sich eine Schlange, die zu einem Menschenauflauf zu werden drohte, auf einen erschöpften jungen Mann zu: Anscheinend handelte es sich um die Interessenten für Vergleichende Literaturwissenschaften 401, Lyrik lesen und schreiben. Die unruhigen Studierenden mit ihren Dufflecoats, Leinentaschen und den weißen Atemwolken vor den Gesichtern aufgrund des unbeheizten Gebäudes erinnerten Kit an Leute in Russland, die sich für knappe Waren anstellten, für Klopapier oder gesalzenen Fisch.

Vergeblich, wie der Doktorand ihnen zu erklären versuchte. Der Lyrik-Kurs war voll belegt.

Kit arbeitete ihre Liste ab, an jedem Tisch bekam sie eine Lochkarte, die sie am ersten Unterrichtstag abgeben musste. Dann wurden sie und andere im dichten Gedränge (ihre Stirn wurde feucht, und ihr Herz schlug immer schneller) in einen Durchgang geschoben, in dem die Kassierer der Uni-Verwaltung auf sie warteten. Als Kit an die Reihe kam und ihre Lochkarten ausbreitete, erhielt sie die Rechnung. Bei sieben Dollar je belegter Stunde machte das zusammen einundneunzig Dollar, plus zehn Dollar Laborkosten für den Psychologie-Kurs, in dem sie was genau tun würde? Kit schob die Hand in ihre überfüllten Taschen, um das Geld herauszuholen. Ihr Vater war mit ihr zur Bank gegangen und hatte ein Konto eröffnet, aber da die Einlösung seines Schecks Tage dauern würde, hatte er ihr außerdem einen Umschlag mit Bargeld gegeben. Damit würde sie ihr Schulgeld bezahlen.

Doch er war nicht da. Auch nicht in ihrer braunen Handtasche. Das zusammengefaltete Scheckbuch aus Plastik war da, aber nicht der dicke schwere Umschlag. Sie ließ Kaskaden von Schulmaterial und Handzetteln auf das Pult des Kassierers niedergehen – Lehrpläne, Leselisten – und durchsuchte noch einmal ihre Taschen.

Oh Gott, nein.

Das Schlimmste an diesem Jahr war, dass sich alle bösen Überraschungen oder Schreckensnachrichten zu summieren und dann wie ein Strom greller, bitterkalter Panik gleichzeitig über sie hereinzubrechen schienen: gefangen. »Okay«, sagte sie. »Okay.« Neben den geduldig gefalteten Händen des Kassierers lagen Scheckhefte diverser hiesiger Banken, die man benutzen konnte, wenn man das eigene vergessen hatte. Kit zog ihr Scheckbuch hervor wie eine Notlüge in letzter Sekunde, schlug es auf, falzte es und schrieb in das erste weiße Rechteck die Nummer 0001. »Okay«, sagte sie noch einmal und riss die Seite heraus.

Der Umschlag mit dem Geld war in ihrem Zimmer, er musste dort sein: Sie konnte ihn sehen, wie er zwischen dem Bettzeug lag oder auf dem Boden. Sie versuchte, im Voraus die Erleichterung und den Ärger zu spüren, die über sie kämen, sobald sie ihn fände.

Danach gleich runter zur Bank und alles einzahlen.

Aber in ihrem Zimmer fand sie den Umschlag ebenfalls nicht. Sie hatte ihn irgendwo zwischen ihrem Zimmer und dem Tisch des Kassierers verloren. In der Zeitspanne zwischen Morgen und Mittag. Unterwegs.

Sie saß auf dem schmalen Bett. Im Our Lady war es verboten gewesen, tagsüber das Bett zu benutzen. Wenn man es erlaubt hätte, wäre die Hälfte der Mädchen den ganzen Tag über liegen geblieben.

Geh noch einmal alle Wege ab, hörte sie die Stimme ihres Vaters. Sie zwang sich in eine aufrechte Position und ging los, den Flur entlang, die Treppe hinunter, raus zu den unzähligen Studenten, die ihr Geld nicht verloren hatten.

Der Basar in der Sporthalle war vorüber. Zapfenstreich. Männer in Overalls schoben mit absurd großen Besen Mengen von Altpapier zu wachsenden Haufen zusammen. Kit dachte an Märchen – an unmögliche Aufgaben und magische Geschöpfe, die einem ihre Hilfe anboten. Die Stimmen der Putzleute hallten durch den Raum wie ferne Gesänge, außer ihnen befand sich fast niemand mehr in dem Gebäude; weit weg stand jemand, bekleidet mit einem Mantel, und schaute in ein Buch. Aber die Tische standen noch in einer Reihe, und die Schilder hingen darüber. Kit beschloss, sich überall noch einmal anzustellen. Französisch, Sport, Psychologie. An jedem Tisch blieb sie stehen und durchsuchte den liegen gebliebenen Müll. Der Englisch-Schreibkurs. Im Grunde war es dämlich und aussichtslos. Verlorenes Geld bekam man nicht wieder: Selbst sie wusste das. Aber es war so viel gewesen! Mehr, als sie je auf einmal in der Hand gehalten hatte. Wieso bereitete ihr das Hoffnung? Ein solches Desaster war einfach zu selten, zu unwahrscheinlich: nach allem, was ihr bereits zugestoßen war. Statistisch gesehen war es einfach zu schlimm.

Den Blick auf den Boden geheftet, ging sie weiter und bemerkte erst im letzten Moment, dass sie direkt auf den Mann zugelaufen war, der am Fenster stand und las: Sie sah Gummischuhe mit offenen Schnallen. Dann einen Mantel mit Pepitamuster und hochgestelltem Kragen. Dichtes schwarzes Haar, das vom Kopf abstand, aber fein genug war, dass es in den unsichtbaren Schwingungen der Luft zu wogen schien wie Seegras.

Das lange, v-förmige Gesicht, zugleich hager und sanft, gequält und heiter. Es gibt nur wenige Fotos von ihm, aus seiner Jugend kein einziges. Das am häufigsten verwendete war bei seiner Ankunft in Berlin aufgenommen worden: streng wie bei einem Verhör. Es ließ ihn misstrauisch, müde und möglicherweise verletzt erscheinen. Trotzdem lächelte er darauf: Dieses Lächeln sah Kit.

Sie nickte und erwiderte es. In seiner Nähe hing noch das Banner des Seminars Lyrik lesen und schreiben, als wartete er auf verspätete Teilnehmer.

»Sind Sie«, begann sie und verwarf auf der Stelle alle Möglichkeiten, diesen Satz zu Ende zu führen – der berühmte Dichter, der sowjetische Poet, Mr. Falin, Professor Falin, Genosse Falin, der Typ, der … nun ja. »Ist das Ihr Kurs?«

Er sah auf das Banner und nickte.

»Klingt interessant«, sagte sie. »Wie – ich meine, wer darf daran teilnehmen?«

»Jeder, dessen Begeisterung für Poesie groß genug ist.« Ein Wort, an das sie sich aus seinem Mund immer erinnern sollte, war Poesie. In seiner Aussprache schienen die Vokale über die Klippen der Konsonanten zu fließen, zu strömen, und am Ende in jenem klingenden »i« auszulaufen, wie es nur Slawen fertigbrachten.

»Wie viel ist groß genug?«

Er lachte, als hätte sie wider Erwarten seinen Scherz verstanden. »Es ist nur ein kleiner Kurs«, sagte er. »Das ist der Grund.«

Sie senkte kurz den Blick, als schämte sie sich. Die Spitze seines schwarzen Gummischuhs wies auf ein papiernes Rechteck, halb von Sägemehl bedeckt. Es schien nach ihr zu rufen: Ja, ja, hier bin ich, und sie bückte sich und hob es auf. Immer noch voll, immer noch schwer.

»Oh mein Gott.«

Er sah zu, wie sie die Geldscheine herausnahm. »Sie haben Glück«, befand er lächelnd.

»Das ist meiner«, sagte sie. »Ich habe ihn verloren.«

»Ach ja? Es wäre mehr Glück gewesen, wenn es nicht Ihrer wäre. Richtig?«

Sie lachte erleichtert, malte sich aus, wie viele Stiefel auf den Umschlag getreten waren, während sich die Schlange langsam, Schritt für Schritt, weiterbewegt hatte.

»Ich möchte gern Ihren Kurs belegen«, sagte sie unvermittelt.

Er sah von ihr zu dem Geld, als handle es sich um einen Bestechungsversuch. »Und in welchem Semester sind Sie?«

»Studienanfängerin.«

»Ah ja.« Seine Augen schienen keinen anderen Zweck zu haben, als den, Geständnisse zu machen: Sie sondierten, erfassten, jagten nicht. Sie waren Portale. »Ist anspruchsvoll.«

»Ich habe Französische Lyrik 330 belegt«, erklärte sie. Was machte sie denn da? »Eines meiner Gedichte wurde veröffentlicht. Ich kann es Ihnen zeigen.«

»Nicht nötig, nicht nötig«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

»Ich meine es ernst«, bekräftigte sie, doch er hatte die Hände bereits in den Manteltaschen versenkt und ging davon. Dann hielt er an und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Was für ein Gedicht?«

Sie musste sich kurz klar werden, was er meinte. »Also, es ist bloß in einer Schüleranthologie erschienen.«

»Und?«

»Es hieß ›Mai‹«

Er sagte nichts, betrachtete sie nur, und sie begriff, dass er darauf wartete, dass sie es vortrug. Sie kam sich wie Alice im Angesicht der Raupe vor. »Ich bin nicht sicher, ob ich es einfach … aufsagen kann.« Das Gedicht war unauffindbar, wie so vieles von der anderen Seite, von vorher.

»Ah«, sagte er, weder Vorwurf noch Ablehnung – diese Gefühle stammten von ihr. Er winkte noch einmal zum Abschied und ging.

Aber wieso war er überhaupt dort gewesen, in der leeren Sporthalle? Anfangs hatte sie ihn nicht gesehen, da war sie sicher. Was hatte er dort gewollt, in der Nähe ihres Geldes, wie ein Wächter, der darauf wartete, dass sie es wiederfand?

»Er war ein seltsamer und wunderbarer Mann«, sagte Gavriil Viktorowitsch. »Er hatte Fähigkeit, aufzutauchen, wenn man es am wenigsten erwartete, neben einem, hinter einem. In der Schule, wenn wir uns für die Auswahl beim Sport aufstellten, oder für eine Prüfung, war ich sicher, er würde zu spät kommen und einen Tadel erhalten. Und dann, wenn sein Name aufgerufen wurde, stand er da, genau im richtigen Moment, wachsam, gefasst. Wo war er plötzlich hergekommen?«

Er blickte sich hastig um, wie um die Verwirrung zu verdeutlichen, die er verspürt hatte, und hob kapitulierend die Hände. »Wer weiß? Ich habe ihn einmal gefragt, wie er zu dieser Fähigkeit kam, aufzutauchen und zu verschwinden, und er sagte, es sei leicht, ich könnte es auch: Ich müsste bloß üben, unsichtbar zu sein wie er.«

»Unsichtbar?«

»Nun, Sie müssen verstehen, in der damaligen Zeit wollten wir alle unsichtbar sein. Es war überhaupt das Wichtigste, dass man unbemerkt blieb. Oder wenn bemerkt, dann als Standard-Musterbürger. Unsere Tarnung funktionierte selbstverständlich nicht immer. Aber Falin? Von allen verstellte er sich am wenigsten. Den Kopf immer hoch erhoben, der Gesichtsausdruck so … so provozierend, offen und ehrlich. Und dennoch sagte er zu mir: Sei unsichtbar. Ihm gelang es, wenn er wollte. Ich glaube, es lag daran, dass er keine Furcht kannte.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Wer von der Furcht anderer lebt, kann sie spüren wie ein Raubtier seine Beute, wissen Sie; weil er keine hatte, übersahen sie ihn, als wäre er ein Baum oder ein Telefonmast, nicht von Interesse, nicht vorhanden … Nur eine Furcht hatte er, denke ich: dass sie ihn berührten, ihn beschmutzten – dass sie es irgendwie schaffen würden, ihn zu einem von ihnen zu machen.«

Falls dem so war, dachte Kit, hatte es eine Zeit gegeben, in der es Falin nicht länger gelungen war, unbemerkt zu bleiben: Vielleicht hatte er den Glauben daran verloren, dass er es konnte. In jener Zeit war sie bei ihm gewesen. Und er hatte sich nicht versteckt, er war nicht fortgerannt, sondern ins Licht getreten.

»Was war das für ein Gedicht, nach dem er Sie gefragt hat?«, erkundigte sich Gavriil Viktorowitsch sanft.

»Ich hätte mich daran erinnert, wenn ich nur eine Minute nachgedacht hätte.«

»Natürlich.«

»Es handelte von meinem Bruder«, erklärte Kit. »Wie er von der Armee heimkehrte.«

4.

Da die Familie in Kits Kindheit häufig umzog, wuchsen sie und ihr Bruder Ben in größerer Nähe zueinander auf, als es unter Geschwistern sonst üblich war. Die Mädchen, die Kit an den neuen Schulen kennenlernte, sprachen von ihren älteren Brüdern stets im Ton innigster Verachtung und Abscheu, übertroffen nur durch das, was sie von ihren jüngeren Brüdern hielten. Es war eine jener kleinen Schluchten zwischen ihr und ihnen, die sich normalerweise gleich nach den ersten paar einfachen Fragen zu öffnen begannen (Wie heißt du? Ist das dein Rad?) und sich danach stetig vergrößerten.

Dem Beruf ihres Vaters war es geschuldet, dass Kits Familie von Ort zu Ort zog, von der Meeresküste in die Wüste, von sonnenheißen Städten aus modernen quadratischen Gebäuden in alte Gemeinden mit Herrenhäusern und gemauerten Kirchen. Ben konnte sich an eine Zeit vor den Umzügen erinnern, an mehrere aufeinanderfolgende ruhige Jahre in einer Universitätsstadt im Osten – Sommer, Herbst, Weihnachten, und dann und wann nahm ihn der Duft von Brombeeren gefangen oder das Knarren von Holzdielen auf einer Veranda, und er erzählte, wie dies die Erinnerung an jenen Ort wachrief, der noch zur Gänze in ihm ruhte. Für Kit waren die Orte, an denen sie gewohnt hatten, lebendig, aber sie entsann sich ihrer wie an Szenen aus einem Roman: Jeder für sich klar hervortretend, gehörten sie zu ihr und waren doch nicht sie selbst.

Was genau ihr Vater tat, wusste sie nicht. Er scherzte darüber, wehrte Fragen ab. Wenn Kit oder Ben nachhakten, wurde er sehr ernst und gab Erklärungen, die nichts wirklich erklärten. Sein Beruf sei es, Orte miteinander zu verbinden, sagte er, indem er ihre großen Computer per Telefonkabel verknüpfte, sodass sie einander anrufen und sich verständigen konnten. Ein Netzwerk, nannte er das, ein Netzwerk elektronischer Gehirne. Er sprach über Computer, als handelte es sich um ein Spiel, das er nur zum Spaß spielte; er sammelte Cartoons aus Look und der Saturday Evening Post, die Räume voll großer quadratischer Apparate zeigten, mit Lichtern und Schaltern gespickt. Männer in weißen Kitteln blickten ratlos auf die seltsamen kleinen Nachrichten, die aus den Schlitzen der Apparate kamen. Er sagt, dass er erst antworten wird, wenn wir ihm eine Ziege opfern.

Für wen arbeitete er dann also? Die Kinder, die sie kennenlernten, wollten das wissen. Ihre Väter arbeiteten für Studebaker oder Sunbeam oder Bendix, oder sie waren Polizisten oder Friseure, verkauften Autos oder Häuser. Ach, sagte er dann, ich arbeite für viele Leute. Bald wird es eine Menge Computer geben, es werden jeden Tag mehr. Und wie viele hatte er bislang miteinander verbunden? Na ja, bislang – und dabei hob er feierlich die Hand, Daumen und Zeigefinger zum Kreis geschlossen, der besagte: null.

Nach acht Monaten oder einem Jahr packten sie für gewöhnlich ihre Sachen und verkauften das Haus, das sie gerade erst erstanden hatten (aus irgendeinem Grund kauften sie es stets, wobei sie entweder Gewinn machten oder Geld verloren, immer dasselbe Geld, wieder und wieder), und in ihrem großen Kombi machten sie sich auf den Weg. Fuhren oder glitten dahin: Kit war es, als glitten sie über die Wahrheiten hinweg, die ihr Vater kannte oder verheimlichte, über das Netzwerk, das unter ihrem flüchtigen, beschaulichen Leben ruhte wie verzweigte Wasserlilien und Wurzeln tief unten in einem gefrorenen Teich.

Das große Haus in einer alten Innenstadt, eine Stadt des Mittleren Westens; Tapete mit Bambusmuster, dunkel polierte Holzvertäfelung. Sie zehn, ihr Bruder zwölf. Zuerst mussten ihre Hausgötter hineingebracht werden, die Dinge, die als letzte in den Kombi gepackt worden waren, um als erste wieder ausgepackt zu werden: Die Kaffeemaschine und ihr treuer Kamerad, der Toaster; die Truhe von der Mutter ihrer Mutter, voller Familienfotos in zerbröselnden Alben, Gesichter, deren Namen ihrer Mutter mehr und mehr entfielen. Vaters Schuhbeutel mit Extrataschen für seine Budapester, Derbys, Golfschuhe in Weiß und Braun, jedes Paar mit dazugehörigem Schuhspanner, und der Wäscheklammerbeutel aus Chenille ohne Wäscheklammern, in dem Kits augenloses, abgegriffenes Plüschlamm reiste, das Lamm, das sie seit ihrer Geburt besaß und nie hergeben würde, egal, wie sehr man sie deshalb verspottete; schließlich die Enzyklopädie. Sechsundzwanzig braune Bände, die darauf warteten, ausgepackt und in der richtigen Reihenfolge in dem dazugehörigen braunen Schuber aufgestellt zu werden: Das konnten Kit und Ben alleine tun.

Vielleicht begann es damit, dass Ben ihr die Worte oder Buchstaben auf dem Rücken jedes Bands zeigte und sie ihr laut vorlas, ehe sie selbst lesen konnte: Annu bis Baltic; Baltim bis Brail; Brain bis Castin; Castir bis Cole. Schau, sagte er, das hier geht von Annu bis Baltic; und sie glaubte, das seien Orte, zu denen man reisen konnte, und dass die schweren Bücher diese Reisen ausführlich beschrieben, die Länder und Menschen, Freuden und Schrecken.

Die hundert eisernen Kriegerkönige von Baltim hatten eine Armee, die auf eisernen Elefanten ritt; einer der Könige besaß eine Tochter, eine Prinzessin mit sechs Fingern an jeder Hand und einer weißen Katze mit sechs Zehen; sie hatte einen Garten, und in diesem Garten war ein See, unendlich tief. Sie unternahmen Reisen von den Tiefebenen Annus bis zu den Bergen von Zygo – und weil dazwischen die Unendlichkeit lag, kamen sie niemals an. Außerdem, riefen sie in dem Versuch, einander zu übertreffen. Außerdem können die Bäume singen und warnen dich vor den Tigern; außerdem ist das Wasser warm, sodass das Eisschiff schmilzt. Er dachte sich Gefahren aus und traf Vorsichtsmaßnahmen; sie ließ sich in letzter Sekunde Fluchtwege einfallen.

Ihre Eltern schienen dieses Spiel kaum zu bemerken, so glaubte sie zumindest. Sie war überrascht, als sie Jahre später herausfand, dass ihre Mutter viele der Geschichten behalten hatte, die sie niedergeschrieben hatten, viele der Zeichnungen und Basteleien, der Karten und Chronologien. Das meiste stammte von Ben, vielleicht bewahrte sie es deshalb auf. Als Kit die Sachen aus dem Schuhkarton nahm, wurde ihr seltsam schwindlig: Sie erkannte die Sachen und erinnerte sich, und im selben Moment schrumpfte all das zusammen. Was ihr einst so gewaltig und lebendig erschienen war, wurde plötzlich winzig klein, und nicht nur von der Größe her. Er hatte es auf billigem Papier und Pappkarton angefertigt, mit Buntstiften; er war noch ein Kind gewesen. Es war, wie den Körper eines Vogels hochzunehmen, überrascht darüber, dass er fast nichts wiegt.

Unter sich nannten Ben und sie ihre Eltern beim Vornamen, George und Marion, nicht Mom und Dad: unwiderstehlich, dass ihre Eltern dieselben Namen trugen wie die beiden Gespenster, die Cosmo Topper im Fernsehen ärgerten. George! Marion!, rief der adrette kleine Engländer verwirrt oder verzweifelt seinen spitzbübischen toten Freunden zu, wenn diese wieder ihre Späße trieben; und die Malones lachten und tauschten Blicke. Ihr George und ihre Marion waren diesen Gespenstern sehr ähnlich: unantastbar, wie es schien, heiter und unwirklich.

Im Sommer vor Kits erstem Highschool-Jahr zogen sie in eine Neubausiedlung am Ufer des Wabash River. Hinter ihrem Terrassenhaus gab es einen jungen Wald und eine Böschung, die steil zum Ufer des schmalen braunen Flusses hin abfiel. Die Bäume lehnten sich weit über das Wasser und hoben ihre schleimigen, knotigen Zehen daraus empor, und das Unterholz stand dicht.

»Ungeziefer«, sagte Ben, als sie hinunterkletterten. »Nichts als Ungeziefer und noch mehr Ungeziefer.«

»Ungeziefer sagt man nicht«, entgegnete Kit, die ihm mit der Sammelausrüstung folgte, den Gläsern, dem mit Tetrachlormethan getränkten Tuch, und dem Notizbuch unter dem Arm. »Das ist das Erste, was sie gesagt haben. Ungeziefer bedeutet gar nichts.«

Er setzte dieses gleichmütige Lächeln auf, das besagte, dass er keinen Grund sah zu antworten und dennoch im Recht war. Das Netz hatte er, und er fegte damit das Ungeziefer – Goldaugenbremsen, Moskitos – von seinem Kopf.

Kit war für das kommende Jahr in einer katholischen Schule eingeschrieben worden, St. Hedwigs, und hatte bei der Anmeldung die Aufgabe bekommen, im Laufe des Sommers eine Insektensammlung anzulegen, mindestens fünfzig verschiedene Arten, die fixiert, beschriftet und zum Biologieunterricht am ersten Schultag mitgebracht werden sollten, zu dem es nur noch wenige Wochen waren.

Es verhielt sich nicht so, dass sie Insekten nicht mochte. Nur wich sie ihnen aus: duckte sich unter dem Anflug jagender Wespen, hielt sich von Junikäfern fern, ebenso von den Königslibellen. Zum Fluss hinunterzusteigen, weil sie dort zu finden waren, Blätter beiseitezubiegen, Steine aus schlammigen Betten zu heben und umzudrehen, um sie aufzuspüren und Dinge mit ihnen anzustellen – dies weckte einen tief empfundenen Widerwillen in ihr, über den Ben sich lustig machte. Mädchenhaften Widerwillen, lautete seine unterschwellige Botschaft, und so schien es zu sein, denn es glich dem Gefühl, das ihr eigenes Mädchensein just zu diesem Zeitpunkt in ihr zu erzeugen begann, ohne dass sie sich davor wegducken konnte. Ihre ganz eigene, fremdartige Lebendigkeit, die schneckengleich in ihr anschwoll.

Die Tage hatte sie dahinziehen lassen und ihre kleinen Bücher gelesen, die angefüllt waren mit der Musik der Erde und auch, natürlich, mit dem Fluss, dem murmelnden Dahinjagen von Fliegen an Sommerabenden, was etwas gänzlich anderes war, bis der August kam und ihre wenigen Exemplare (ein paar Junikäfer, die sie schon tot gefunden hatte, und eine riesige mondsteinfarbene Lunamotte, über die sie ein Gedicht verfasste) aufgrund von unsachgemäßer Fixierung bereits verrottet waren; und Ben sie schließlich morgens und abends mit an den Fluss nahm.

»Hör dir das an«, sagte er und stand reglos im Grün.

Der Lärm war wahrhaft ohrenbetäubend, ein endlos sich stimmendes Orchester, hier die Streicher, dort die Bläser.

»Feine Jagd wird das«, befand er und rieb sich die Hände. Zunächst folgte sie ihm bloß; er war furchtlos und von der Aufgabe bald fasziniert, in der Stadt der Blätter spürte er unglaubliche Wesen auf, die er vielleicht jederzeit hätte entdecken können, es aber nie getan hatte, eine Raubfliege, eine Nordamerikanische Grabwespe (schwer und träge wie ein Kampfhubschrauber) oder eine Gewächshausschrecke mit glänzenden rostroten Höckern. Er lernte, sich einer Hornisse oder Wespe zu nähern, als wolle er sie zähmen, und das Netz sanft über sie zu legen wie ein Henker die Kapuze; er forderte Kit auf, es ebenfalls zu versuchen.

»Er wird mich angreifen, ich weiß es.«

»Wird er nicht. Er hat keinen Schimmer, dass du existierst.«

»Ich hab ihn, ich hab ihn.«

»Vorsichtig. Pass auf, dass du den Flügel nicht beschädigst. Tu ihm nicht weh.«

»Tu ihm nicht weh? Wir wollen ihn umbringen.«

»Schüttele mal ein bisschen. So, er ist drin. Jetzt den Deckel drauf.«

In ihrem Glas hatte sie ein durchaus prächtiges Exemplar gefangen, einen Käfer mit Clownsfarben, der tatsächlich (sie schlugen es nach, während sie die Colas tranken, die er in weiser Voraussicht eingepackt hatte) Harlekinbock genannt wurde. Na also.

Und so lernte sie, keine Angst vor der Welt zu haben, zumindest nicht vor dieser Seite von ihr: Sie wurde Jägerin, Entdeckerin und Namensgeberin, eine Systematikerin. Als der Sommer sich dem Ende zuneigte, marschierte sie durch das flache Uferwasser und den Röhricht auf der Jagd nach einem glanzvollen Etwas, dessen Flügelsummen sie gehört hatte, und grub in einer schwarzen Mulde, in die ein Tausendfüßler, genau genommen kein Insekt, geflüchtet war, einer, wie sie ihn noch nie gesehen hatte und daher haben wollte. Je mehr sie lernte, desto mehr verlangte es sie nach Wissen, und das Wissenwollen ersetzte die Angst. Davon würde ihr Gedicht »Das Terrassenhaus« handeln: Von einer Frau, die die Bezeichnungen der Blumen kennenlernt und dadurch (wie sie glaubt) der Natur näherkommt, was ihr sogar gelingt, wenn auch nur durch das, was die Natur von sich aus nicht besitzt, ihre Namen.

Am Tag vor dem Schulanfang lief sie zu ihrer Mutter (die gerade das Geschirr abwusch) und erzählte ihr, es sei diese seltsame Sache passiert, die ihr Angst machte: Ihr Bauch tue weh und ihre Unterhose sei voller Blut.

Das sei nichts, wovor sie Angst zu haben brauche, versicherte ihre Mutter ihr (Kit erinnerte sich, wie sie weiter die Teller mit dem Blumenmuster abwusch und aufrecht in das Gestell setzte, wie Soldaten oder Grabsteine, und dabei nicht im Geringsten verängstigt oder beunruhigt war). Sie begann zu erklären. Sieh mal, du hast da dieses Loch, nicht für Pipi, sondern das andere. Kit nickte und lauschte dem Rest dessen, was ihre Mutter ihr erzählte, nahm die Umarmung und das Schultertätscheln entgegen (Großes Mädchen, ein großes Mädchen ist meine Kleine jetzt) und ging zurück auf ihr Zimmer; und dort, als jagte sie einen gewitzten Tausendfüßler in seiner feuchten Mulde, entdeckte sie endlich, was sie vorher nicht gewusst hatte, nämlich, dass dort bei ihr ein Loch war: ungewiss, wie tief es reichte, ungewiss, wohin es führte.

Wie kann man die Wahrheit über jemanden erfahren, wenn die eigenen Erinnerungen gerade da aufhören, wo man selbst jemand wird? Ben war in ihren Augen schön und stark gewesen. Seine Schönheit und Stärke ein Pferd, das er ritt: Einst ein hübsches Pony, wuchs es zu einem stattlichen Hengst heran und war schließlich fort, trug ihn davon. So erinnerte sie sich, unschlüssig, ob es stimmte oder trog oder keins von beidem.

An einem Frühlingstag kommt er von der Highschool nach Hause, zieht am Spülbecken seine Uhr ab, um sich die Hände zu waschen; sein dichtes schwarzes Haar ist frisch geschnitten, ein Princeton-Schnitt, wie man es aus irgendeinem Grund bezeichnet, gerade lang genug, dass er sich einen Scheitel legen und es zur Seite streichen kann. Zugeknöpftes rosa Hemd von Gant, einer der Marken, denen er treu ist; im Ausschnitt blitzt der Rand eines weißen Unterhemds, die Ärmel sind elegant einmal umgeschlagen. Die Leute sagen: Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen, aber an gestern wird man sich nie so genau erinnern wie an jene Augenblicke, die nicht gestern sind, nicht irgendein Tag, sondern immer jetzt. Seine graue Bundfaltenhose, am Knöchel festgesteckt, unter der von Zeit zu Zeit ebenfalls ein Zentimeter Weiß zum Vorschein kommt, wie beim Nicken der Spottdrossel unter ihrem Federschwanz: die Socken, zwischen schwarzen Slippern und dem Hosenaufschlag aus Flanell. Sie entsann sich seiner Kleidung besser als ihrer eigenen. Ein dünner goldener Gürtel, seitlich geschlossen (zu der Zeit war das Mode).

Doch was sagt er? Zu sehen ist leichter, als zu hören. Vielleicht hat sie ihn wegen seiner Verabredungen an den Wochenenden aufgezogen. In dem Jahr hat sie das häufig getan, ihr Versuch, unter dem Deckmantel der Neckerei das Leben zu verstehen, das er unabhängig von ihr führte, seine Ansichten über Mädchen, Dates und Fummeln. Sie war wie eine Farbenblinde, die die Namen und den Sinn der Farben zu begreifen sucht; sie wusste, dass diese Rituale von entscheidender Bedeutung waren und dass sie selbst bald damit anfangen musste. Doch kam ihr noch nicht in den Sinn, dies mit den großen Gefühlen in Verbindung zu setzen, die sie empfand. Gefühlen, hervorgerufen von einem Sommergewitter, einer Violinsonate oder tausend anderen Dingen. Und sie bangte um ihn: fürchtete, ihn zu verlieren.

»Ist sie nicht größer als du?«

»Vielleicht ein kleines bisschen.«

»Ist doch lächerlich, ein Date mit einem Mädchen, das größer ist.«

»Es ist kein Date.«

»Sie wird Schuhe mit flachen Absätzen anziehen müssen, das steht so in den Zeitschriften.«

»Okay, wird sie vielleicht. Wir wollen aber zu einem Reitstall gehen. Da zieht sie sicher Stiefel an.«

»Und wie bringst du es fertig, mit einer auszugehen, die größer ist als du und auf den Namen Earp hört? Greta Earp?«

»Geraldine. Greta ist ihre Schwester.«

»Geraldine!« Ausbruch von Gelächter. »Mit einer Reitgerte peitscht sie ihre Stiefel, während sie auf dich runtersieht!«

»Sie wird mir Reiten beibringen.«

»Oh mein Gott! Dir Reiten beibringen! Oh nein!«

In der Schule beteiligte er sich an keiner Teamsportart, und vielleicht lag auch das an ihren häufigen Umzügen: Er war nie Teil der Bruderschaft, die durch das Zusammenfinden und Zusammenwachsen eines Teams über mehrere Sommer und Schuljahre hinweg entstand. Stattdessen wählte er Sportarten, die man allein ausüben konnte. Er lief, bevorzugte Langstrecken und Ausdauertraining; schwamm, rang zudem, immer stark und klug genug, um zu gewinnen, vielleicht aber zu großherzig und nicht wetteifernd genug, um es allzu oft zu schaffen.

Golfen. Im Sommer nach seinem Highschool-Abschluss wohnten sie in einem seltsamen hohen Haus am Rand eines Golfplatzes. Ein Haus wie eine Ferienhütte, vertäfelt mit lackiertem Sperrholz. In jenem Sommer stand er immer früh auf, nahm den fleckigen Stoffbeutel mit sechs oder acht Schlägern, den er auf einem Kirchenbasar erworben hatte, und trat hinaus auf den Platz, wo das Gras feucht war und die Luft still; spielte fünf oder sechs Löcher, bis die Anordnung des Platzes ihn in die Nähe seines eigenen Rasens zurückführte, und hörte auf.

Er nahm Kit mit, vorausgesetzt, sie war schnell genug und zog sich rasch an, wenn sie ihn aufstehen hörte. Sie lief mit ihm hinaus in die gesprenkelten Schatten und das Gezwitscher erwachender Vögel, entlang jener geheimnisvollen, getrimmten Bahnen, umgrenzt von beschaulichen Bäumen und unwegsamem Unterholz. Er ließ sie Schläge ausprobieren, er stellte sich hinter sie, um ihre Haltung und ihren Schwung zu korrigieren, schwenkte ihre Arme wie die einer Puppe. Hin und wieder sandte Kit dabei einen Ball mustergültig in den Himmel. Einmal sah sie ihn davonschweben (mit rätselhaft getragener Behäbigkeit und starkem Drall), genau zwischen einem aufsteigenden Goldzeisig und einem gaukelnden Monarchfalter hindurch, als spielten sie im Garten Eden.

Eden: Falin hatte einmal gesagt, wir seien so fasziniert davon, weil der Garten Eden unveränderlich sei und flüchtig zugleich. Es war auf dem Golfplatz, dass Ben ihr von seinem Vorhaben erzählte, in die Armee einzutreten.

»Mom und Dad kann ich es noch nicht sagen«, erklärte er. »Also übe ich bei dir.«

Sie saßen auf einer kleinen Bank zwischen zwei Bahnen. Später würde sie sich an die kleine Herme erinnern, die dort bei ihnen stand, gebürstetes Metall, ein schmutziges weißes Handtuch herumgeschlungen: die Ballwäscherin.

»Ich dachte, du wolltest aufs College. Aufs Thomas Aquinas.«

»Ich dachte, ich wollte. Aber: Das hier will ich wirklich.« Er grinste sie an. »Aber gut, siehst du. Genau das werden sie sagen.«

Er zwirbelte ein einfaches kleines Blümchen zwischen den Fingern. Sechs Monate zuvor war er auf einem riesigen schwarzen Motorrad heimgekommen und hatte seinen Eltern erklärt, es sei sein eigenes, gekauft von dem Geld, das er mit den Jobs verdient hatte, die er stets mühelos bekam. Es fiel ihm leichter, Rechenschaft über das abzulegen, was er getan hatte, als ihnen anzukündigen, was er vorhabe. Sie konnten von Glück reden, dass das meiste, was er getan hatte, so sinnvoll und vernünftig war, zumindest nicht gefährlich oder falsch.

»Soldat«, sagte Kit. »Mom und Dad werden dich umbringen.«

»Soldaten«, entgegnete er, »werden nicht von ihren Eltern umgebracht. So läuft das normalerweise nicht.«

»Oh Mann. Ben. Aber.«

Er fing an zu erklären, sich selbst ebenso wie ihnen und ihr. Dass er eine Verpflichtung seinem Land gegenüber habe, dass, wenn er es jetzt nicht täte, ihm das ewig im Nacken säße, bis er es hinter sich brächte. Aufs College zu gehen sei nicht billig, und wenn er es durch die Grundausbildung schaffe, habe er dadurch nicht nur eine Menge für einen späteren Abschluss getan – eine Fremdsprache gelernt, zum Beispiel –, sondern sei danach auch für die richtig guten Stipendien und Studiendarlehen zugelassen. Denn: das G.I.-Gesetz. Er sprach behutsam, errichtete ein kompaktes, wasserdichtes Gebäude um sich herum, setzte jeden einzelnen Stein mit Bedacht. Dad sei schließlich auch in der Armee gewesen, oder nicht? Es sei jetzt eine Zeit, in der jeder bereit sein sollte, sein Land zu verteidigen, jeder die drohende Gefahr erkennen müsste. Wenn man freiwillig einträte, dauerte der Militärdienst länger, ja, aber dafür bekäme man auch die besten Programme und Standorte zugeteilt.

Jeder Stein, den er setzte, trennte ihn etwas weiter von Kit ab.

Sie dachte so gut wie nie über die Zukunft nach, es erschien ihr dreist und riskant, genau die Art von Verhalten, für das die Götter einen bestraften. Ben hingegen: Er liebte es, Pläne zu schmieden, und glaubte daran. Also hatte er vermutlich recht, was die Armee betraf. Dass es eine gute Sache für ihn und am Ende von Vorteil sein würde. Aber warum sah er nicht, dass sie dabei allein zurückblieb, ohne eine Zukunft, die sie sich ausmalen konnte, ohne eine Möglichkeit, sich vorzubereiten?

»Du wirst ihnen fehlen. Du wirst Mom so fehlen.«

»Oh«, machte Ben. »Ich glaube, sie sind bereit dazu. Sie sagen sowieso, dass ich zu viel esse.«

»Tust du ja auch. Aber eigentlich lieben sie das. Sie lieben dich.«

»Na ja«, erwiderte er sanft. »Ich liebe sie auch.« Da schlug Kit sich die Hände vors Gesicht, damit er es nicht sah, presste sie auf ihre verräterischen Augen, aber es half nichts. Das eine, was sie nicht tun durfte: weinen. Das eine, was ihn befremden würde; und das zu wissen ließ die Tränen nur noch stärker fließen.

»Ah, und los geht’s«, sagte er. »Das gute alte Zauberglas.«

Es war so grausam, dass sie zu lachen anfing. Das Glas hatte zu dem Zauberkasten gehört, den er einst besessen hatte, ein herkömmliches Wasserglas, das durch irgendeinen Trick die Flüssigkeit darin ausschwitzte oder heraussickern ließ, sodass, wer immer es hielt, pitschnass wurde, beziehungsweise der Tisch oder das Knie, auf dem es abgestellt wurde. Sie lachte, und gleich darauf weinte sie wieder, und obwohl er es noch nie getan hatte, legte er ihr jetzt den Arm um die Schulter und wartete, schwieg so lange, bis sie sich wieder im Griff hatte und sie zusammen nach Hause gehen konnten.

In der folgenden Woche, nach einem Gespräch mit George und Marion und einem weiteren mit Pfarrer Conklin in der Little Flower Church, fuhr er auf seinem schwarzen Motorrad zum Rekrutierungsbüro am Courthouse Square und brachte hinter sich, was immer er dort tun musste (sie hätte ihn gern danach gefragt, ihm am liebsten jedes einzelne Detail entlockt, um es sich zu eigen zu machen, genau wie sie ihn über seine Verabredungen und Ausflüge hatte berichten lassen, doch als Zeichen ihrer Verzweiflung hatte sie es bleiben lassen).