Die Ukraine in Europa -  - E-Book

Die Ukraine in Europa E-Book

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Ukraine – ein Teil unserer europäischen Geschichte Eingeklemmt zwischen Habsburg und Russland blieb der Ukraine im Lauf der Geschichte meist das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt. In Deutschland spielten dabei spätestens seit Russlands Krym-Annexion von 2014 historische Mythen und abenteuerliche Geschichtsauslegungen eine zentrale Rolle. Welch komplexes Geflecht zwischen den Territorien besteht, erkennen Deutschland, der Westen und die NATO erst seit der Katastrophe des Ukraine-Krieges im Zuge der russischen Totalinvasion von 2022. Warum galt die Ukraine vielen so selbstverständlich als Teil der russischen Geschichte, während ihre Verflechtungen mit Polen, Belarus, der Habsburger Monarchie, aber auch Deutschland kaum gesehen wurden? - Das neue Buch von Franziska Davies, der Trägerin des Bayerischen Buchpreises 2022 - Mit Beiträgen internationaler Historiker:innen und Publizist:innen - Historisches Hintergrundwissen zur aktuellen politischen Lage - Der fundierte Blick auf die Ukraine jenseits von imperialen MythenWarum war das Land so lange ein blinder Fleck für Deutschland? Erst jetzt scheinen viele Deutsche die Ukraine neu zu entdecken und stellen erschrocken fest, wie wenig sie über das Land wissen. Franziska Davies liefert einen wichtigen Essayband, der Geschichte und Gegenwart dieser Beziehungen aufzeigt: Die Ukraine als Teil der Habsburger-Monarchie, imperialistische Denkmuster oder schlichte Ignoranz der Ukraine gegenüber, Nationalismus in Russland und in der Ukraine, die Geschichte der Krym, Putins imperiale Visionen, das Verhältnis der Ukraine zu Belarus, zu Polen oder auch die Situation der Frauen in und aus der Ukraine. Versammelt werden mit dem Thema engstens verbundene, hoch engagierte Historiker:innen und Publizist:innen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 600

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maksym Butkevych gewidmet. Menschenrechtsaktivist, Anti-Faschist, Kämpfer für eine freie und demokratische Ukraine, lebenslanger Pazifist, seit März 2022 Soldat der ukrainischen Armee, seit Juni 2022 Gefangener Russlands.

#FreeMaksymButkevych

Bildnachweis

S. 2 Familie Butkevych/Franziska Davies; S. 46 oben © Wikipedia / Volodimir Bondar; S. 46 unten © Wikipedia/Rasal Hague; S. 47 oben © DmytroVortman; S. 47 unten © Vjačeslav Saulko; S. 168–185 Fotos: Oleksandra Bienert; S. 213 Foto: Oksana Densyuk; S. 304 Foto: Roman Hryshchuk; S. 326–7 Karte: Peter Palm.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Birgit S. Knape, Mainz; Dirk Michel, Mannheim

Gestaltung und Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Einbandmotiv: shutterstock/trabantos

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4565-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-4588-2

eBook (epub): 978-3-8062-4589-9

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Herausgeberin

Impressum

Inhalt

Einleitung. Von Kolonialismus und Arroganz. Zur deutschen Debatte über die Ukraine und Russland

Franziska Davies

Vorwürfe und Vorbehalte. Ukrainische Wahrnehmungen Deutschlands

Jurko Prochasko

Die Vereinbarung von Perejaslav 1654. Wiedervereinigung zweier „Brudervölker“ oder Wurzel des Konflikts?

Julia Herzberg

Das Erbe imperialer Politik. Die verhängnisvollen Auswirkungen des deutschen Russlandkomplexes in Ostmitteleuropa

Martin Aust

Russischer und ukrainischer Nationalismus und die Ursprünge antiukrainischer Feindbilder im 19. Jahrhundert

Fabian Baumann

Die „ukrainische“ Habsburgermonarchie

Jana Osterkamp

Russifizierung, Verfolgung und Genozid. Ist die Ukraine eine ehemalige russische Kolonie?

Moritz Florin

Die Ukraine im Zeitalter der Massengewalt. Terror und ­Besatzungsherrschaft 1937–1947

Bert Hoppe

„I am not a victim. I am a survivor. I am a fighter.“ Stärke und Resilienz ukrainischer Frauen im derzeitigen Krieg

Oleksandra Bienert

Am Rande des Abgrunds. Der Holodomor 1932–33 und was wir noch nicht darüber wissen

Andrii Portnov

Polen und die Ukraine. Geschichte einer Versöhnung?

Kornelia Kończal

Zwischen der „Zeit der Nation“ und der „Zeit des Feminismus“. Die Ukraine und das prodemokratische Belarus im Kampf für Demokratie

Olga Shparaga

Neoimperiale Fantasien. Wie „Neu-Russland“ von der Utopie des 18. zur Dystopie im 21. Jahrhundert wurde

Boris Belge

Ukrainischer Jude. Eine Geschichte, die eigentlich nicht hätte passieren können

Vladyslava Moskalets

Radikaler ukrainischer Nationalismus. Geschichte und Gegenwart

John-Paul Himka

Tatarische Traumata, russische Mythen und die Ukraine. Zur Geschichte der Krym

Franziska Davies

Hoffnungen, Enttäuschungen und Radikalisierung. Russland, Putin und „der Westen“

Jens Siegert

Karte

Anmerkungen

Die Autorinnen und Autoren

EinleitungVon Kolonialismus und Arroganz. Zur deutschen Debatte über die Ukraine und Russland

Franziska Davies

„Egal, was wir tun, sie halten uns immer noch für Wilde aus dem Osten!“, schimpft meine Freundin Katja. Katja und ich sind beide in den 1980er-Jahren geboren, sie in der Stadt Nosivka, in der Zentralukraine, damals noch Teil der Sowjetunion, ich in Düsseldorf, in Westdeutschland. Kennengelernt haben wir uns in München, zu Beginn des Jahres 2014 kurz nach dem russischen Angriff auf die Krym. An unser erstes Gespräch erinnere ich mich gut, wir sprachen über die deutsche Wahrnehmung der Ukraine, und dieses Thema begleitet unsere Freundschaft bis zum heutigen Tag. Es ist der 12. Juni 2023, wir haben uns in München zum Mittagessen getroffen. Eine knappe Woche zuvor, in den Morgenstunden des 6. Juni, ist der Kachowka-Staudamm in der Region Cherson gesprengt worden. Die Region ist schon seit Monaten von Russland besetzt, es ist offenkundig, dass Russland für die Zerstörung verantwortlich ist. Und doch melden viele deutsche Medien, etwa Spiegel online oder die Tagesschau, in diesen Tagen, dass „Moskau und Kiew sich gegenseitig für die Zerstörung des Damms verantwortlich machen“.1 Katja fragt: „Was müssen wir eigentlich noch machen, damit die Deutschen sehen, dass Menschenleben bei uns etwas zählen, dass wir anders sind als Russland?“ Ich habe keine Antwort. Der Totalangriff auf ihr Heimatland liegt nun über ein Jahr zurück und noch immer, so scheint es, gibt es Schieflagen im Blick Deutschlands auf die Ukraine.

Dabei hat sich nach dem Beginn der russischen Totalinvasion am 24. Februar 2022 vieles in Deutschland verändert. Die Ukraine, wenige Flugstunden von Deutschland entfernt, ein Nachbarland der Europäischen Union, wird entdeckt. Ein echtes Interesse lässt sich nun bei sehr vielen beobachten. Die Solidarität mit der angegriffenen Nation ist groß. Menschen bieten ihre Wohnungen an, spenden, geben Sprachunterricht, wollen helfen. Und auch das Interesse an der Geschichte und Kultur der Ukraine ist immens gewachsen. Viele Deutsche entdecken die Ukraine – mit Neugier, mit Interesse, mit Mitgefühl, mit Bewunderung und mit Solidarität – und ja, einige auch mit Scham: Wie konnte ich dieses Land übersehen?

Was sagt es über Deutschland aus, dass dieses Land mit seinen über 40 Millionen Einwohner*innen, einer der größten Flächenstaaten Europas, mit seinen pulsierenden Städten, seinen vielfältigen Landschaften und Kulturen, jetzt erst entdeckt wird? In dem Moment, da die Menschen in der Ukraine für ihr Land kämpfen und sterben. Kämpfen und sterben in einem Krieg, den sie niemals gewollt haben, der ihnen von ihrem Nachbarn Russland aufgezwungen wurde und der inzwischen von Moskau genozidal geführt wird? Was sagt es über die deutsche Politik aus, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 eine „Zeitenwende“ im Angesicht des russischen Angriffs ausrief, aber nicht erwähnte, dass die Ukraine schon viel früher, nämlich im Jahr 2014, von Russland angegriffen wurde? Der russische Angriff figurierte im deutschen Diskurs aber bis zur Totalinvasion nicht als Krieg, die ukrainische Revolution der Würde des Winters 2013/14 nicht als Revolution im Namen Europas, sondern all das wurde subsumiert unter dem Begriff der „Ukraine-Krise“. Der ukrainische Intellektuelle und Schriftsteller Juri Andruchowytsch sprach über dieses Missverständnis in seiner Rede zur Eröffnung der Internationalen Buchmesse in Wien im November 2014:

„Wenn ich sage: ‚Bei uns herrscht Krieg‘, verbessern mich meine deutschen Freunde geduldig wie Erwachsene ein Kind: ‚Ihr durchlebt eine Krise.‘ Obwohl es in Wirklichkeit nicht unsere Krise ist, sondern die Krise Russlands, seiner halbirren imperialen Ambitionen, die sich zum Glück in unserer Welt nicht mehr vollständig verwirklichen lassen. Daher rührt ja auch seine Krise. Und wenn ich sage, dass der russische Präsident unser Feind ist, dann versichern sie noch geduldiger: ‚Sag das nicht, er ist Partner.‘“2

Mehr Verständnis für den Aggressor als für das Opfer, ja, noch nicht einmal die Bereitschaft, den Aggressor eindeutig zu identifizieren, das Nichtverstehen dessen, was auf dem Majdan 2013/14 passierte, was auf der Krym, was im Donbas passierte – diese Erfahrungen machten viele Ukrainer*innen in ihren Gesprächen mit Deutschen in den letzten Jahren.

Bis vor Kurzem war die Ukraine für die meisten Deutschen ein blinder Fleck. Die Nichtexistenz der Ukraine auf der mentalen Landkarte des Westens hat strukturelle Gründe, hat eine eigene Geschichte.3 Im 17. Jahrhundert, als auf dem Gebiet der heutigen Zentral- und Ostukraine das ukrainische Hetmanat existierte, war die Ukraine sehr wohl auf den realen Karten Europas und damit auch auf der mentalen Landkarte der Eliten verzeichnet. Das Hetmanat war zwar kein moderner ukrainischer Nationalstaat, aber es war ein selbstständiger Player des östlichen Europas, dessen Eliten sich sowohl vom moskowitischen Russland im Osten als auch von Polen-Litauen im Westen abgrenzten. Es ist kein Zufall, dass es oft die Nachkommen der kosakischen Eliten des Hetmanats waren, die im 19. Jahrhundert zu den Pionieren einer modernen ukrainischen Nationalbewegung wurden, und der Kosakenmythos bis heute in der Ukraine ein wichtiger Bezugspunkt für die nationale Identität geblieben ist. Ebenfalls im 17. Jahrhundert begann aber mit dem Vertrag von Perejaslav im Jahr 1654, die allmähliche Absorption der Ukraine in das Moskauer Zarentum, das sich unter der Herrschaft Peters I. (des sogenannten Großen, Herrscher von 1682–1725) zum Russländischen Imperium wandelte. Die zunächst versprochenen Autonomierechte wurden schrittweise eingeschränkt, bis Katharina II. (die sogenannte Große, Zarin von 1762 bis 1796) das Hetmanat schließlich ganz auflöste. In diesem Prozess wurden die ukrainisch-kosakischen Eliten allmählich russifiziert. In der heutigen Westukraine wiederum, ab dem 14. Jahrhundert unter Herrschaft des polnischen Königs, vollzog sich eine Polonisierung der Eliten, die auch nach den Teilungen Polen-Litauens im späten 18. Jahrhundert in der Habsburgemonarchie dominant blieben. Die ukrainische Sprache wurde zu einer Sprache des Bauerntums, die Ukraine verschwand als eigenständiger Akteur sowohl von den realen als auch den mentalen Landkarten Europas.

Die Präsenz von Imperien auf dem Gebiet der heutigen Ukraine setzte sich im 19. Jahrhundert fort, als in fast ganz Europa moderne Nationalbewegungen entstanden. In Deutschland fühlten sich manche Kommentator*innen bemüßigt, sogar noch nach der russischen Totalinvasion der Ukraine und der Offensichtlichkeit von Moskaus genozidalen Absichten, Urteile über den Grad der Nationswerdung der Ukraine abzugeben – ganz so, als würde dies die Vernichtungsabsicht Russlands relativieren können. Letztlich liefen solche Interventionen auf Genozid-Verharmlosung hinaus. So erklärte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas im Februar 2023, die Ukraine sei „die späteste aller europäischen Nationen“.4 Abgesehen davon, dass dies für die Bewertung des russischen Angriffskriegs irrelevant ist, so ist diese Behauptung auch schlicht falsch. Die ukrainische Nationswerdung folgte in vielerlei Hinsicht einem klassischen europäischen Muster: Überschaubare intellektuelle Schichten „entdeckten“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Geschichte, Sprache und Kultur „ihrer“ jeweiligen Nationen und erst allmählich fassten diese Ideen Fuß unter breiteren Bevölkerungsschichten und entwickelten ein politisches Mobilisierungspotenzial. Gerade im russländischen Zarenreich aber stieß die Idee, dass es eine von Russland abgegrenzte ukrainische Geschichte, Sprache und Kultur geben könnte, auf scharfe Ablehnung – und zwar sowohl unter Nationalisten unterschiedlicher Couleur als auch unter den Bürokraten des imperialen Staates. Liberale, Konservative und Beamte waren geeint in der Ablehnung der Idee einer ukrainischen Nation. Die Existenz der Ukraine als Angriff auf die eigene, russische Nation – dieses Denkmuster des 19. Jahrhunderts finden wir heute noch bei Putin und seiner Entourage. Unter ganz anderen Umständen entwickelte sich in der liberaleren Habsburgermonarchie eine ukrainische Nationalbewegung, wo die sogenannten „Ruthenen“ eine der offiziell anerkannten Nationalitäten des Vielvölkerreichs bildeten und viel größere Freiheiten genossen.

*

In den frühen 1920er-Jahren schrieb der jüdisch-österreichische Schriftsteller Joseph Roth über seine Reisen in die Ukraine:

[W]ährend ich mich anschicke, Ihnen über das Volk der Ukraine zu schreiben, habe ich den Klang seiner Lieder im Ohr und vor meinem Auge das Angesicht seiner Dörfer.“

Roth, der selbst in Brody, in der Nähe von Lviv in der heutigen Westukraine, geboren wurde, war mit der ukrainischen Kultur vertraut und erklärte seiner Leserschaft, dass es sich um eine Nation handele,

„die niemals dazu kommt, ihre eigenen Statistiken selbst anzulegen, sondern das Unglück hat, von Völkern, von denen sie regiert wird, gezählt, eingeteilt und überhaupt ‚behandelt‘ zu werden. In diesem Europa, in dem die möglichst große Selbstständigkeit der Nationen das oberste Prinzip der Friedensschlüsse, Gebietsteilungen und Staatengründungen war, hätte es den europäischen und amerikanischen Kennern der Geographie nicht passieren dürfen, daß ein großes Volk von 30 Millionen in mehrere nationale Minderheiten zerschlagen, in verschiedenen Staaten weiterlebe. […] Die Ukrainer, die in Rußland, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Rumänien vorhanden sind, verdienten gewiß einen eigenen Staat, wie jedes ihrer Wirtsvölker. Aber sie kommen in den Lehrbüchern, aus denen die Weltaufteiler ihre Kenntnisse beziehen, weniger ausführlich vor als in der Natur – und das ist ihr Verhängnis.5

Roth schrieb diese Zeilen in den 1920er-Jahren nachdem im Zuge des Ersten Weltkriegs sowohl das russländische Imperium als auch das Habsburgerreich zusammengebrochen waren und sich die politische Landkarte Europas fundamental geändert hatte. In Ostmitteleuropa waren mit Polen, den baltischen Staaten und der Tschechoslowakei eine Reihe unabhängiger Staaten entstanden, deren Territorien jahrhundertelang von Imperien beherrscht worden waren. Auch Ukrainer*innen hatten mehrfach versucht, einen eigenen Staat zu gründen, waren daran aber im Westen an der polnischen Armee, in der Zentral- und Ostukraine an der Roten Armee gescheitert. Anders als zum Beispiel Polen genoss die Ukraine bei ihren Bemühungen keine internationale Unterstützung von mächtigen Staaten wie den USA oder Frankreich. Hier spielte genau das eine Rolle, was Joseph Roth in seinem Text beschrieb: Die Ukraine war auf den mentalen Landkarten der Architekten der neuen Ordnung nicht vorhanden.

Trotzdem hatte sich zwischen 1917 und 1922 – dem Jahr der offiziellen Gründung der Sowjetunion – die Stärke des ukrainischen Nationalismus gezeigt. Das war der Grund, warum die Bolschewiki sich unter der Führung Lenins innerhalb der nominell als Föderation verfassten Sowjetunion zur Gründung einer Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik entschieden. Die nationalen Bewegungen – nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Regionen des ehemaligen Zarenreiches – waren zu stark, als dass man sie hätte ignorieren können. Die Definition von nationalen Grenzen, das Aufbauen nicht-russischer kommunistischer Kader, die Förderung nicht-russischer Sprachen, Kulturen und Bildungsinstitutionen in den 1920er-Jahren: All das hatte das Ziel, die Loyalität nicht-russischer Eliten gegenüber Moskau zu sichern.6 Aber diese relativ liberale Nationalitätenpolitik währte nicht lange, denn nachdem sich Josef Stalin Ende der 1920er-Jahren durchgesetzt hatte, existierte wieder eine eindeutige Hierarchie zwischen den sowjetischen Völkern mit Russland unangefochten an der Spitze. Zwar blieb die föderale Struktur erhalten, aber die russische Sprache und Kultur waren der Zugang zu Bildung und eröffneten Karrierewege. Trotz ihrer antikolonialen Rhetorik blieben unter sowjetischer Herrschaft die kolonialen Beziehungen zwischen Moskau und den unterschiedlichen Sowjetrepubliken erhalten. Vorstellungen russischer kultureller Überlegenheit prägten nicht nur die Beziehungen zur Ukraine, sondern auch zu den zentralasiatischen Republiken wie Kasachstan oder Kirgistan oder den Ländern des Kaukasus. Als die Sowjetunion im Jahr 1991 zusammenbrach, gab es auch in der russischen Gesellschaft diejenigen, die auf die Kosten des Imperiums verwiesen, vor allem für die russische Nation selbst.7 Gegenwärtig sehen wir, dass sich diejenigen durchgesetzt haben, die den Kern der russischen Identität weiterhin im Imperium sehen.

Im Zentrum der imperialen Obsession Russlands steht heute ohne Zweifel die Ukraine. Dies lässt sich teilweise mit den Logiken des politischen System Putins erklären, teilweise spielen dabei aber auch längere historische Traditionen des russischen Imperialismus eine Rolle, die wieder zum Mainstream in Russland geworden sind. Der russische Journalist Michail Zygar hat bereits vor mehreren Jahren gezeigt, dass das Ukraine-Trauma Wladimir Putins im Jahr 2004 begann, dem Jahr der „Orangen Revolution“ in Kyjiw.8 Nach gefälschten Präsidentschaftswahlen gingen Tausende Kyjiwer Bürger*innen im November auf den Unabhängigkeitsplatz, um gegen die Manipulationen zu protestieren. Während vieles für einen Sieg des proeuropäischen Politikers Viktor Juschtschenko sprach, erklärten die Behörden den prorussischenKandidaten Viktor Janukowytsch, der als Herausforderer zugleich der Wunschkandidat des Kremls als auch des amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma war, zum Sieger. Aber weder Opposition noch die Zivilgesellschaft akzeptierten den gestohlenen Wahlsieg. Während Putin darauf drang, die Proteste mit Gewalt niederzuschlagen, schreckte Kutschma davor zurück und stimmte schließlich einer Wiederholung der Wahlen zu. Zu Überraschung und Entsetzen des Kremls entschied Juschtschenko die Wahl für sich. Hier zeigte sich bereits zweierlei: zum einen die Ablehnung von demokratischen Entscheidungsprozessen, zum Zweiten aber auch die schlicht falsche Überzeugung, dass Gesellschaften keine Akteurinnen von politischen Veränderungen sein können. Die ukrainischen Bürger*innen bewiesen Moskau schon im Jahr 2004 das Gegenteil, woraus Putin und seine Unterstützer*innen den Schluss zogen, dass nur westliche ausländische Mächte hinter der Revolution stecken könnten.

Auf die „Orange Revolution“ folgte im Winter 2013/14 die „Revolution der Würde“, ein Schlüsselereignis der jüngeren ukrainischen Geschichte. Die in den deutschen Medien als „Ukraine-Krise“ bezeichneten Ereignisse waren in Wirklichkeit ein zivilgesellschaftlicher Aufstand gegen ein autoritäres und kleptokratisches Regime, den Russland ab Februar 2014 mit einem Krieg gegen die Ukraine beantwortete. Was die westlichen Medien oft als Konfrontation zwischen „Ost“ und „West“ erzählten, war tatsächlich zunächst eine Reaktion auf die innenpolitischen Entwicklungen in der Ukraine – wobei allerdings einerseits die Orientierung Richtung Europäische Union und andererseits eine Orientierung nach Russland zu Fragen der Innenpolitik wurden: Strebte die Ukraine das demokratische Modell des „Westens“ an oder eine autokratische Ordnung à la Putin, die noch dazu mit einem hohen Maß an Fremdbestimmung durch Moskau einhergehen würde?9 Zuvor hatten sich die Held*innen der „Orangen Revolution“ innerhalb weniger Jahre zerstritten, die Präsidentschaftswahl 2010 zwischen Julia Timoschenko und Wiktor Janukowytsch entschied Letzterer für sich. Damit hatte sich der Kreml-Kandidat diesmal – allerdings nach demokratischen Wahlen – durchgesetzt. Schon bald aber zeichnete sich ab, dass Janukowytsch, selbst nach den damaligen Maßstäben einer an Korruption gewöhnten Ukraine, sich und seine „Familie“ in einem ungeheuerlichen Maße selbst bereicherte. Hinzu kamen die autoritären Tendenzen, zum einen gegen seine Widersacherin Timoschenko, zum anderen gegen die Zivilgesellschaft sowie die freien Medien und das Parlament. Die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk beschrieb in einem Essay die Stimmung in der Ukraine, ganz besonders in jenem Milieu, das sich eine demokratische, moderne und proeuropäische Ukraine wünschte:

[Der] neue Alltag war brutal und zynisch. Das Verbrechertum hatte seinen Präsidenten bekommen und Legitimität erlangt, der russische Knastgesang wurde zur neuen ukrainischen Hymne. Der oberste Parasit ließ sich auf der vermoderten Staatsstruktur, die die Ukraine fast widerstandslos und ohne Modifikationen aus der Sowjetunion übernommen hatte, nieder und triumphierte. Sehr schnell versammelte er seinesgleichen um sich, schuf eine neue Hierarchie und begann alles Lebendige und Menschliche auszusaugen. Er war nicht die Ursache, sondern nur die Folge des Zerfalls der ukrainischen Gesellschaft, seine Apotheose. […] Die Ukraine als eigenständige politische Einheit produzierte nichts als Korruption, Lüge, vollkommenen/schrecklichen Kitsch, Angst und das Recht des Stärkeren. Der Sinn ihrer Existenz verlor sich immer mehr, mit jedem neuen politischen Gefangenen, mit jedem neuen Palast, der mit einer drei Meter hohen Stahlbetonmauer vor den untertänigen/obrigkeitshörigen Knechten geschützt wurde, mit jeder vor Lügen strotzenden Ausgabe der Abendnachrichten auf den staatlichen Fernsehsendern. Viele meiner Freunde sprachen von innerer Emigration. Viele von ihnen verloren ihre Arbeiten. Kluge Journalisten wurden entlassen, an ihrer Stelle systemhörige eingestellt. Die Reste der Freiheit verlagerte sich ins Internet, auf Facebook.10

Auf Facebook war es dann schließlich auch der ukrainische Journalist Mustafa Nayem, der am 21. November 2013 einen Post veröffentlichte: „Okay, jetzt ernsthaft. Wer ist heute bereit, bis Mitternacht auf den Majdan zu gehen? Likes zählen nicht. Nur Kommentare unter diesem Beitrag mit den Worten ‚Ich bin bereit‘. Sobald es mehr als tausend sind, organisieren wir es.“ Diesem Facebook-Eintrag eines der bekanntesten Investigativ-Journalisten der Ukraine vorangegangen war die Weigerung Janukowytschs, ein lang vorbereitetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Sein Rückzieher, den er aller Wahrscheinlichkeit nach auf Grund einer Mischung aus politischem Druck und Geldversprechen aus Moskau machte, war der Anlass, nicht aber die tiefere Ursache für die Massenproteste, die im Laufe der nächsten Monate eine ungeahnte Dynamik gewannen.

Besonderes junge Menschen hatten mit dem Assoziierungsabkommen die Hoffnung verbunden, dass die Ukraine sich trotz Janukowytsch modernisieren und nach Europa orientieren würde. Der gescheiterte Gipfel im litauischen Vilnius schien diese Hoffnung zunichtezumachen. So waren es dann zunächst vor allem Student*innen, die auf den Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw strömten, um gegen die Entscheidung zu protestieren. Zu Beginn hatten die Versammlungen auch den Charakter eines Volksfestes. Ende November aber kündigte sich bereits an, dass die ukrainische Hauptstadt dramatische Monate durchleben würde, als nämlich Präsident Janukowytsch seine berüchtigten Schlägertruppen, die tituschky, auf den Majdan schickte und diese die meist jungen Protestierenden brutal auseinandertrieben und misshandelten. Aber es trat das Gegenteil von dem ein, was Janukowytsch sich erhofft hatte: Mehr Menschen kamen auf den Majdan. Für viele war dabei die staatliche Gewalt die ausschlaggebende Motivation: Die Mehrheit der Menschen nannten ihre Empörung über die Gewalt als Grund, warum nun auch sie sich den Protesten anschlossen.11 In den kommenden Wochen entwickelte sich der „Euromajdan“ oder die „Revolution der Würde“ zu einer der größten zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen nach dem Zerfall des Sozialismus in Europa. Die zwei Namen, unter denen er in der Ukraine gefasst wird – „Revolution der Würde“ und „Euromajdan“ – bringen zum Ausdruck, worum es den meisten Protestierenden vor allem ging: um ein Leben in Würde, ein Leben ohne Korruption, politischen Autoritarismus, staatliche Lügen sowie Rechtlosigkeit. Und „Europa“ wurde zum Symbol für diese Sehnsucht. Sicherlich lag darin auch eine Idealisierung der Europäischen Union, aber es zeigte sich, wie viel Strahlkraft das europäische Projekt für viele Ukrainer*innen hatte.12

Im Laufe des Winters wurde die Konfrontation zwischen Janukowytschs Schlägertruppen und staatlichen Behörden gewalttätiger. Teilweise ging die Gewalt dabei auch von extremistischen und nationalistischen Gruppierungen aus, die Teil des Majdan geworden waren und die oft im Fokus der deutschen Berichterstattung standen. Deren Präsenz aber ändert nichts daran, dass der Majdan eine pluralistische Bewegung war, in welcher die politische Version einer europäischen und inklusiven Ukraine für viele Protestierenden leitend war. Dramatischer Höhepunkt des Majdan waren die Ereignisse zwischen dem 18. und dem 21. Februar. In diesem Zeitraum wurden 82 Menschen getötet, davon waren 71 Demonstrierende und 11 Sicherheitskräfte. Teilweise wurden die Menschen gezielt durch Scharfschützen ermordet.13 Janukowytsch, der noch auf einen mühsam ausgehandelten Kompromiss gesetzt hatte, verlor nun auch innerhalb der politischen Eliten seinen letzten Rückhalt und floh schließlich nach Russland.

Etwa zeitgleich begann Russland seine Invasion der Ukraine. Die inzwischen als russische Truppen anerkannten „grünen Männchen“ besetzten die Krym; Moskau ließ das Regionalparlament in Simferopol stürmen und beendete damit nicht nur die regionale Autonomie, die die Krym innerhalb der Ukraine seit den 1990er-Jahren genossen hatte, sondern auch die Demokratie. Gegner*innen der völkerrechtswidrigen Annexion wurden von Beginn an systematisch verfolgt und eingeschüchtert. In aller Eile hielten die russischen Besatzer ein pseudo-demokratisches „Referendum“ über die vermeintliche Sezession der Krym ab. Der sogenannte „Krieg in der Ostukraine“ war schon 2014 ein russischer Krieg gegen die Ukraine. Auch wenn es lokale Akteure gab, die den Aufstand gegen Kyjiw vorantrieben, so wäre es ohne die gezielte Unterstützung und die direkte Intervention Russlands nie zu einem Krieg mit über zehntausend Toten gekommen.14

Die Interpretation dieser dramatischen Ereignisse in Deutschland war ernüchternd. Spätestens im Zuge der Annexion der Krym traten prominente „Russland-Versteher“ bzw. „Putin-Versteher“ auf den Plan, die Russland allerdings nicht verstanden, sondern die Aggression Moskaus verteidigten, relativierten und rechtfertigten. Neben engen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, die Lobbyisten etwa im Deutsch-Russischen Forum zu verteidigen suchten, spielten dabei historische Argumente eine prominente Rolle, die in einer beunruhigenden Tradition des deutschen Kolonialismus gegenüber der Ukraine standen.

So erklärte der Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD), dass die Ukraine ein „künstlicher Staat“ sei, bei der sich die Historiker angeblich gar nicht sicher seien, „ob es überhaupt eine ukrainische Nation“ gäbe.15 Diese Aussage war so falsch wie irrelevant: Zum einen war es unter Historiker*innen keineswegs „umstritten“, ob es die Ukraine überhaupt gibt, zum anderen gibt es keinen Staat, der „natürlich“ ist. Für Schmidts zugleich ignorante und arrogante Behauptung spielte vermutlich eine Rolle, dass der Berliner Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski – selbst kein Ukraine-, sondern Russlandhistoriker – in einem fragwürdigen Text in der Zeit genau jenes behauptet hatte.16 Dabei ignorierte der Berliner Professor allerdings gänzlich den aktuellen Forschungsstand zur Geschichte der Ukraine und reproduzierte lediglich koloniale Klischees,17 zeigte also ein Verhalten, das die deutsche Debatte über die Ukraine fortan prägte: Man muss die Ukraine nicht kennen, um sich über sie zu äußern und greift dabei bereitwillig auf die Narrative des Kreml zurück.

Diese Bereitschaft, die Komplexität ukrainischer Geschichte, ja, die wissenschaftliche Ukraine-Forschung überhaupt zu ignorieren, um Russlands Krieg gegen die Ukraine zu erklären, speiste sich nicht zuletzt daraus, dass das Land in Deutschland ein blinder Fleck geblieben war, von dem allenfalls negative Stereotype kursierten: Korruption, Prostitution, Nationalismus, während bei Russland immer noch eine mystifizierende Romantik eine Rolle spielte und spielt und Moskau – anders als Kyjiw – als ebenbürtiger Partner anerkannt wurde. Stattdessen bedienten sich viele in Politik und Medien bequemer und einfacher Denkmodelle aus der Zeit des Kalten Kriegs und behaupteten, dass es sich hier um einen Konflikt zwischen „Ost“ und „West“ (wahlweise zwischen der NATO und Russland oder den USA und Russland) handele. Diese in den Medien weit verbreitete Deutung trug erheblich dazu bei, dass viele Menschen in Deutschland von der russischen Totalinvasion im Februar 2022 ehrlich überrascht waren. Die Feuilletondebatten und Berliner Schreibtischanalysen unterschieden sich dabei allerdings bezeichnenderweise erheblich von den Einschätzungen der allermeisten Korrespondent*innen vor Ort und anderer deutscher Journalist*innen mit regionalen Kenntnissen, die präzise analysierten, was sich gerade in der Ukraine und in Russland vollzog.18 Viele von ihnen waren aufgrund dessen massiven Anfeindungen wegen angeblich zu „einseitiger“ Berichterstattung ausgesetzt. Dafür spielte die traditionelle deutsche Russland-Fixierung eine große Rolle, die teilweise mit antiamerikanischen Verschwörungstheorien einherging, denen zufolge die USA bei jedem Ereignis die eigentlich treibende Kraft sind. Besonders bei einschlägigen linken Medien wie dem Freitag oder der Jungen Welt sprachen die Kommentator*innen den Menschen in der Ukraine jede agency ab und offenbarten dabei einen bemerkenswert imperialen Mindset im Gestus des Antiimperialismus.

Zugleich zeigte sich ein unreflektierter Glaube an „Grautöne“, eine unhinterfragte Überzeugung, dass es bei jedem Konflikt „zwei Seiten“ geben müsse. Was vielen als ein Ausweis von besonders kritischem Denken galt und zur Strategie der medialen Selbstvermarktung der sogenannten „Russland-Versteher“ wurde, war tatsächlich schlichte Denkfaulheit und führte im Falle des russischen Kriegs gegen die Ukraine, so der FAZ-Journalist Reinhard Veser treffend im Januar 2015, zu der Unfähigkeit (oder dem Unwillen) „Recht von Unrecht zu unterscheiden: Man forderte Verständnis für den Aggressor und beschuldigte das Opfer, den Krieg angezettelt zu haben.“19

So gerieten allzu schnell zwei Aspekte aus dem Blickfeld, ohne die Russlands Krieg gegen die Ukraine aber nicht zu verstehen ist: zum einen der Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik in Russland, zum anderen die Geschichte der ukrainisch-russischen Beziehungen und die imperialen Traditionen Russlands, die unter Putin erneut zum Prinzip der Außenpolitik erklärt wurden. Der Majdan von 2013/14 wiederholte das Ukraine-Trauma von Putin aus der Zeit der Orangen Revolution: In der Ukraine, wo die Menschen Ukrainisch und Russisch sprechen und es vielfältige familiäre und freundschaftliche Verbindungen nach Russland gab, stürzten die Menschen einen kleptokratischen und autoritären Herrscher. Damit spielte sich aus der Sicht Putins im Nachbarland genau das Szenario ab, das er für seine diktatorische und kleptokratische Herrschaft am meisten fürchtete. Die russischen „Antimajdan“-Inszenierungen folgten genau dieser Logik. Hinzu kam, dass Putins Beliebtheitswerte im Winter 2013/14 für seine Verhältnisse eher niedrig waren und er sich spätestens seit den Protesten im Zuge der Parlamentswahlen Ende 2011 radikalisiert hatte. Die von patriotischem Geheul begleitete Annexion der Krym (Krim nasch – „Die Krim gehört uns!“) sollte dem etwas entgegensetzen. Damit wiederholte Putin ein Muster vom Beginn seines Machtantritts: Als er 1999 als Ministerpräsident antrat, war der unscheinbare Geheimdienstmann und Bürokrat kaum bekannt. Unmittelbar nach seinem Antritt startete Moskau im Sommer 1999 den Zweiten Tschetschenienkrieg, der bereits genau jene Art der Kriegsführung aufwies, die sich später mit den russischen Angriffen in Syrien und der Ukraine wiederholte: Städte in Grund und Boden zu bombardieren und den Krieg erbarmungslos auch gegen die Zivilbevölkerung zu führen.20

Innenpolitisch aber profitierte Putin von dem Krieg, konnte er sich doch als starker Mann in Russland inszenieren. In der Folge schnellten seine Beliebtheitswerte in die Höhe und er entschied die von Manipulationen bestimmten Präsidentschaftswahlen offiziell für sich. Durch die Schaffung eines äußeren Feindbilds stabilisierte Putin seine Macht im Inneren. Auslöser für den Zweiten Tschetschenienkrieg waren die Terroranschläge auf Moskauer Hochhäuser, für die die Regierung tschetschenische Terroristen verantwortlich machte. Tatsächlich spricht sehr vieles für eine False-flag-Operation des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, den Putin bis kurz vor seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten geleitet hatte.21

Ebenfalls zentral war, dass die Ukraine ungeachtet ihrer Unabhängigkeitserklärung im August 1991 von den politischen Eliten Russlands als eigenständige Akteurin und selbstbestimmtes Land nie wirklich akzeptiert worden war. Auf die Loslösung von Moskau hatten auch sowjetkritische Autoren damals mit Entsetzen, gar mit Hass, reagiert. Insofern ist es eine Illusion zu glauben, dass wir es hier nur mit der Obsession eines Diktators zu tun haben. Zwar ist davon auszugehen, dass die Entscheidung zum Krieg im Jahr 2014 und zur Totalinvasion im Jahr 2022 von Putin gefällt wurde. Die letzten Jahre haben aber gezeigt, dass die staatliche antiukrainische Propaganda seither in der russischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Bestimmte historisch gewachsene Vorstellungen in Russland über die Ukraine, dass es sich um den „kleinen Bruder“ handele, der sich unterzuordnen habe, sind erfolgreich radikalisiert worden. Nicht nur Putin empfindet die Selbstbestimmung der Ukraine und ihre Befreiung aus der imperialen Umklammerung Russlands als Verrat. Schon 2014 erklärte Putin bei seiner Rede vor dem russischen Föderationsrat aus Anlass der „Aufnahme“ der Krym, dass Russen und Ukrainer „ein Volk“ seien, Kyjiw sei „die Mutter russischer Städte. Wir können nicht ohne einander leben.“22 Die ideologischen Kontinuitäten zum 19. Jahrhundert waren unübersehbar. Der russische Nationalist Michail Katkov hatte es 1863 nur wenig anders formuliert: Die Ukraine habe „nie eine eigene Geschichte“ gehabt, „nie einen eigenen Staat. Das ukrainische Volk ist ein rein russisches Volk, seit jeher ein russisches Volk, ein essentieller Teil des russischen Volks, ohne den das russische Volk nicht bleiben kann, was es ist.“23 Putin legte dann im Sommer 2021, wenige Monate vor dem Totalangriff auf die Ukraine, noch einmal mit einem pseudohistorischen Essay nach.24 Während Katkov 1863 die Polen für die „Intrige“ einer ukrainischen Nation verantwortlich gemacht hatte, waren es Putin zufolge ausländische westliche Mächte gewesen, die die vermeintlich „organische“ Einheit von Russen und Ukrainern zerstört hätten.

Was Putin in seinem Text formulierte – dass die Ukraine eigentlich schon immer Teil Russlands gewesen sei, die ihre Staatlichkeit nur einer fehlerhaften sowjetischen Nationalitätenpolitik in den 1920er-Jahren verdanke –, wurde zur ideologischen Grundlage von Russlands Krieg, den Putin und seine Unterstützer*innen seit Februar 2022 eskaliert haben. Zugleich radikalisierte Russland seine Besatzungspraxis – schließlich wurden bereits auf der Krym gezielt Gegner*innen der Annexion verfolgt und die sogenannten Volksrepubliken entwickelten sich zu Miniterrorstaaten unter der Kontrolle Moskaus. In Donezk wurde ein Konzentrationslager errichtet, in dem die Besatzer Menschen erniedrigten, folterten und zur Zwangsarbeit einsetzten.25 Mit der Totalinvasion aber systematisierte sich die Gewalt und erreichte ein neues Ausmaß.

Putin legitimierte den Angriff auf die Ukraine mit der Lüge eines „Genozids“, der in der Ukraine angeblich stattfinde. Nicht nur, dass dies eine perfide Täter-Opfer-Umkehrung war. Der russische Diktator instrumentalisierte zugleich das größte Trauma der Ukraine: Den Holodomor, die staatlich verursachte Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre in der Sowjetukraine, die bis zu vier Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Heute erinnert die Ukraine sich an die künstliche Hungersnot als Genozid, richtete sie sich doch nicht nur gegen die Bauernschaft, sondern auch gegen die Ukraine als Nation. Das wird in Russland bis heute abgestritten. Vielmehr, so Putin, finde ein Genozid der russischsprachigen Bevölkerung statt, verantwortet von dem nazistischen „Kiewer Regime“. Nötig seien eine „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine.26

Im April 2022 erschien in der staatlichen Nachrichtenagentur Russland RIA Novosti ein Text des Politikberaters Timofej Sergejcev mit dem Titel „Was Russland mit der Ukraine machen muss“, in dem dieser unmissverständlich ausformulierte, was sich hinter den Chiffren der „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ der Ukraine verbirgt: ihre Auslöschung als Staat und Nation.27 Ziel sei die „De-Ukrainisierung“ der Ukraine, nicht nur die Vernichtung des „Kiewer Regimes“ müsse bewerkstelligt werden, genauso müsse der Bevölkerung die ukrainische Kultur, Sprache und Geschichte ausgetrieben werden. Es ist bezeichnend, wo Sergejcev den Beginn der „Nazifizierung“ der Ukraine ansetzte, nämlich im Jahr 1989, gegen Ende der Sowjetunion, in der die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine immer wahrscheinlicher wurde, die schließlich zwei Jahre später offiziell Wirklichkeit wurde. Ebenso bezeichnend ist, dass Sergejcev sich überzeugt zeigte, dass die „De-Ukrainisierung“ gewissermaßen ein Langzeitprojekt sei, das auch nach der Beendigung des Kriegs noch weitergehen müsse, „noch mindestens 25 Jahre“.

Was dann unter russischer Besatzung geschah und geschieht folgt in einer erschreckenden Eindeutigkeit dem von Sergejcev formulierten Programm: die gezielte Zerstörung ukrainischer Kulturgüter und Museen, die gewaltsame Russifizierung des öffentlichen Raums und des Bildungswesens, die Verfolgung all derjenigen, die als Rückgrat der Nation gelten – und nicht zuletzt willkürlicher Terror gegen die Zivilbevölkerung: Mord, Verschleppung, Vergewaltigung und Folter kennzeichnen den russischen Besatzungsalltag. Belegt sind inzwischen auch die Massenverschleppungen ukrainischer Kinder nach Russland, um sie zu russifizieren.28 Allein dieser letzte Punkt erfüllt bereits den Völkermordtatbestand der UN-Genozid-Konvention von 1948.29

*

Das letzte Mal, dass die Ukraine ein genozidales Besatzungsregime erlebt hat, war während des deutschen Vernichtungkriegs gegen Polen und die Sowjetunion. Dennoch waren es gerade in Deutschland immer wieder Personen des öffentlichen Lebens, die die militärische Hilfe für die Ukraine 2022 infrage stellten, gar ihre Einstellung forderten. Dabei spielten mehrere Faktoren eine Rolle, die aber einen gemeinsamen Nenner hatten: eine enorme Selbstbezogenheit, die zu einer Empathielosigkeit gegenüber der Ukraine führte und mit der Unfähigkeit einherging, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die Geschichte und die Spezifik der deutschen Erinnerungskultur, besonders die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg prägen bis heute den deutschen Diskurs und die Einstellungen gegenüber den Menschen und Nationen im östlichen Europa.

Die Formel „Nie wieder Krieg“ hatte bereits die Debatte nach dem russischen Angriff im Februar 2014 geprägt. In einem im Dezember 2014 veröffentlichten Appell von 60 Persönlichkeiten aus Politik, Medien und dem Kulturbetrieb forderten die Unterzeichner unter der Überschrift „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ Politik und Gesellschaft auf, in einen „Dialog“ mit Russland zu treten.30 Der kurze Text enthält all jene Schieflagen, die teilweise die deutsche Debatte bis heute prägen: eine Russland-Fixierung zulasten Ostmitteleuropas, ganz besonders aber der Ukraine, eine ahistorische Romantisierung der Entspannungs- und Ostpolitik des Kalten Kriegs, eine unbewusste mentale Fortführung eines gemeinsamen russisch-deutschen Imperialismus sowie blinde Flecken im Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Der Appell von 2014 forderte die Bundesregierung auf, ihrer „Verantwortung für den Frieden in Europa“ gerecht zu werden – ohne zu erwähnen, dass es mit dem russischen Angriff zu Beginn des Jahres 2014 bereits einen Krieg in Europa gab. Zwar gaben die Unterzeichner*innen zu, dass es sich bei der Annexion der Krym um einen völkerrechtswidrigen Akt gehandelt habe, nur um diesen aber als Reaktion auf eine angebliche „Bedrohung“ zu rechtfertigen. Den hybriden Krieg Russlands im Donbas erwähnten sie nicht. Wie fest die Unterzeichner*innen dabei in den Traditionen eines gemeinsamen deutschrussischen Imperialismus standen, offenbarte die Bezugnahme auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert: „Seit dem Wiener Kongress 1814“ gehöre „Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas“, und „alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen“. Das ist in gleich doppelter Weise geschichtsklitternd: Beim Wiener Kongress von 1814/15 wurde die imperiale Ordnung in Ostmitteleuropa, die seit den Teilungen Polen-Litauens zwischen 1772 und 1795 bestanden hatte, nach den gescheiterten Feldzügen Napoleons erneut festgeschrieben. Es war die Begründung der „Heiligen Allianz“ der drei konservativen Großmächte Preußen, der Habsburgermonarchie und des russischen Zarenreichs, die auf einer imperialen Aufteilung Ostmitteleuropas beruhte. Seitdem waren diese Mächte durch eine „negative Polen-Politik“ (Klaus Zernack) auf problematische Weise miteinander verbunden, was Jahrzehnte später dazu führte, dass die deutschen Liberalen in der Versammlung in der Frankfurter Paulskirche die Solidarität mit Polen verweigerten – „im Zweifel für das Imperium“, in genau dieser Tradition stand der denkwürdige Appell von 2014.31

Noch erschreckender aber war die Bezugnahme auf den Zweiten Weltkrieg: Erstens unterschlug der Appell, dass der Krieg 1939 begonnen hatte, und zwar mit der erneuten Zerschlagung der Staaten Ostmitteleuropas in einer Allianz zwischen NS-Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion, was für die lokale Bevölkerung Terror und Gewalt bedeutet hatte. Zweitens setzten die Unterzeichner*innen die angegriffene Ukraine des Jahres 2014 mit dem Nazi-Deutschland der Jahre 1941 bis 1945 gleich, und sie setzten außerdem die Sowjetunion mit Russland gleich; dabei ignorierten sie, dass der Beginn des deutschen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion ab Juni 1941 zu einem Großteil auf dem Territorium der heutigen Ukraine und Belarus stattgefunden hatte. Zudem verkannten sie, dass es sehr wohl schon gelungen war, den Anspruch Moskaus als „Gestaltungsmacht“ erfolgreich zu begrenzen und zwar durch die zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Ostmitteleuropa und nicht zuletzt in Russland selbst, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion entscheidend beitrugen. Der Zusammenbruch des Staatssozialismus bedeutete für die Menschen in Ostmitteleuropa ein Ende der imperialen Umklammerung Moskaus: Es entstand eine neue europäische Friedensordnung, die auf souveränen Staaten und deren territorialer Integrität beruhte. Es war Putins Russland, das diese Friedensordnung zu zerstören suchte.

Stattdessen idealisierte der Appell die Entspannungs- und Ostpolitik der 1970er- und 1980er-Jahre und unterschlug auch hier einmal mehr die ostmitteleuropäische Perspektive. Schließlich hatte die von den Deutschen so geliebte „Stabilität“ auf der staatlichen Unterdrückung ganzer Gesellschaften beruht – übrigens keineswegs nur in Ostmitteleuropa. Spätestens in den 1980er-Jahren geriet die von Willy Brandt und Egon Bahr geprägte Ostpolitik, die in den 1970er-Jahren durchaus einige Erfolge vorzuweisen hatte, in Selbstwidersprüche. Ursprünglich waren die Verfechter der neuen Ostpolitik mit dem Programm angetreten, dass man den Status quo des Kalten Kriegs nur ändern könne, wenn man ihn erst einmal akzeptiere. Als dann aber 1980 mit der Solidarność im kommunistischen Polen die erste freie Gewerkschaft entstand und diese als breitere zivilgesellschaftliche Bewegung den Status quo infrage stellte, verweigerte Bahr der polnischen Protestbewegung die Solidarität: Frieden sei „noch wichtiger als Polen“ (einen Satz, den er zwar einem amerikanischen Bekannten in den Mund legte, mit dem Bahr aber seine eigene Position zu bekräftigen suchte).32

Mit ihrer unreflektierten Russland-Fixiertheit, dem Desinteresse an den Menschen in der Ukraine und ihrer Romantisierung der Ostpolitik standen die Unterzeichner*innen dieses denkwürdigen Appels nicht allein da. In einem ebenfalls im Dezember 2014 erschienenen Interview äußerte sich auch der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier zur „Ukraine-Krise“, in dem aber die Ukraine eben nur als Auslöser ihrer vermeintlichen „Krise“ vorkam und Steinmeier sonst vor allem darüber sprach, wie sehr er sich gute deutschrussische Beziehungen wünsche.33 Klar ist: Der deutsche „Russland-Komplex“ ist tief in der deutschen Gesellschaft verankert.34

Durch die vollumfängliche Invasion in der Ukraine zu Beginn des Jahres 2022 hat sich in dieser Hinsicht sicher viel geändert, aber überwunden ist der „Russland-Komplex“ noch lange nicht. Mit großer Irritation sind in der Ukraine und anderen Ländern Ostmitteleuropas die diversen offenen Briefe in Deutschland zur Kenntnis genommen worden, in denen die militärische Unterstützung der Ukraine infrage gestellt worden ist und stattdessen für „Verhandlungen“ plädiert wurde – ohne freilich je zu erklären, worüber die Ukraine verhandeln soll, wenn es Russland um ihre Vernichtung und Unterordnung geht.35 Auch hier offenbarte sich die enorme Selbstbezogenheit der deutschen Erinnerungskultur, in der ein genozidales Besatzungsregime, das Deutsche zwar in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg betrieben, aber nie selbst erlebt hatten, keine Rolle spielt. Polen und die Ukraine haben dagegen genozidale Besatzungsregime durch die Deutschen erlebt, die auf Grund ihres alltäglichen Terrors zu mehr Toten führten als die eigentlichen kriegerischen Auseinandersetzungen in den Ländern Osteuropas.36

Zugleich offenbarte sich aber weiterhin ein zutiefst koloniales Denkmuster, demzufolge nämlich „wir“ den Ukrainer*innen moralische Lektionen erteilen müssten, wie sie auf den Angriff auf ihren Staat, ihre Nation, ihre Identität zu reagieren hätten. Tatsache ist, dass das nicht unsere Entscheidung ist. Die einzige Entscheidung, die Deutschland zu treffen hat, ist die Beantwortung der Frage, ob wir den unbeugsamen Widerstand der Ukraine gegen Russland und die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und ihrer Selbstbestimmtheit unterstützen – oder ob wir das nicht tun.

Blickt man in die Geschichte – die grausame Bilanz deutscher Herrschaft in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg, die gescheiterte Russland-Politik Deutschlands in den letzten Jahrzehnten – so ist die Antwort eindeutig: Deutschland hat eine historische und eine politische Verantwortung gegenüber der Ukraine. Nicht zuletzt aber ist ein Sieg der Ukraine auch schlicht im Interesse Deutschlands. Der Angriff auf die Ukraine ist zugleich ein Angriff auf die europäische Friedensordnung, die darauf basiert, dass staatliche Grenzen niemals und unter keinen Umständen gewaltsam verschoben werden dürfen. Gelingt es Moskau, dieses Prinzip zu unterminieren, so steht diese Friedensordnung zur Disposition.

*

Dieser Band vereint die Beiträge von Wissenschaflter*innen, vor allem von Historikerinnen und Historikern aus der Ukraine, Belarus, Deutschland und Polen, die zeigen, dass viele der Stereotypen, die besonders seit 2013/14 die deutsche Debatte zu Ukraine und Russland prägten, auf einer Übernahme russischer imperialer Mythen beruhen. Freilich kann es nicht darum gehen, dieser imperialen Meistererzählung nun eine nationale Meistererzählung entgegenzustellen. Vielmehr machen die Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven die Komplexität ukrainischer Geschichte deutlich – ihre Brüche, ihre Ambivalenzen und selbstverständlich auch ihre dunklen Seiten. Allein, all das würde man auch finden, würde man eine Essay-Sammlung zur Geschichte Deutschlands, Frankreichs oder Großbritanniens machen. Ukrainische Geschichte ist Teil europäischer Geschichte und es ist Zeit, diese Geschichte nicht mehr durch eine imperiale Brille zu interpretieren. Dazu gehört auch, sich dem eigenen deutschen kolonialen Erbe in Ostmitteleuropa zu stellen und danach zu fragen, worauf eigentlich das fundamentale deutsche Missverstehen der Ukraine in den letzten Jahrzehnten beruht. Ein Essay von Jurko Prochasko, einer der bekanntesten Intellektuellen und Psychoanalytiker der Ukraine sowie einer ihrer besten Deutschland-Kenner, eröffnet deswegen dieses Buch mit seinen Überlegungen zu dieser Frage.

Vorwürfe und Vorbehalte. Ukrainische Wahrnehmungen Deutschlands

Jurko Prochasko

Bis vor Kurzem hätte man meinen können, der Kardinalfehler der meisten Deutschen in Bezug auf die Breitengrade östlich der EU-Ostgrenzen bestehe in zwei parallelen, unzertrennlich miteinander verbundenen und verflochtenen Tendenzen und Prozessen: einerseits die systematische und systemische Überschätzung, ja Idealisierung Russlands und andererseits die Unterschätzung, ja Entwertung anderer europäischer Länder im postsowjetischen Raum, insbesondere der Ukraine.

Es schien völlig hoffnungslos, gegen dieses Ungleichgewicht anzukämpfen, es infrage zu stellen. Zu groß waren die Unterschiede in Größe und Bedeutung, zu stark schienen die alten imperialen Reflexe. Die weitverbreitete Ignoranz gegenüber der Ukraine schien vollkommen folgerichtig und selbstverständlich.

Sosehr diese Ignoranz uns schmerzte, sosehr beruhte sie aber auch auf einem anderen Missverhältnis: Die Ukrainer wissen über Deutschland und interessieren sich für Deutschland unvergleichlich mehr, als es umgekehrt der Fall ist. Damit schien man sich in der Ukraine schon fast abzufinden – wie mit einer „natürlichen“ Tatsache, einem „naturgegebenen“ Verhältnis. Es ist eben so, dass unwichtigere und abhängigere Länder mehr Interesse und Leidenschaft für die wichtigeren und ausschlaggebenderen aufbringen als umgekehrt. Die Lösung schien demnach in einer langsamen Annäherung zu liegen, einer allmählichen deutschen Gewöhnung an die Faktizität der ukrainischen Existenz, in der allmählichen „Normalisierung“ der Ukraine in den Augen der Deutschen im Laufe der Zeit, auch am Fortschreiten der Selbstverständlichkeit der ukrainischen Zugehörigkeit zu Europa und ergo der Anerkennung der Ukraine durch die Deutschen als „eine unter uns“.

Erst der große Angriff und die flächendeckende Invasion Russlands im Februar 2022 brachten die deutsche Gesellschaft dazu, mit aller Brutalität und Tragik mit den eigenen strukturellen Fehlwahrnehmungen konfrontiert zu werden: Deutschland hat – auf unterschiedliche Art und Weise – sowohl Russland als auch die Ukraine viel zu lange verkannt und missverstanden. Aber nicht nur das. Deutschland versteht nicht nur Russland und die Ukraine nicht, Deutschland versteht sich selbst weitgehend nicht.

*

Die Liste ukrainischer Vorwürfe an „Deutschland“ und ukrainischer Vorbehalte gegenüber „den Deutschen“ ist ziemlich lang, unterschiedlich alt, recht imposant und durchaus vielfältig. Derart, dass es nicht möglich und auch nicht angebracht ist, sie hier in vollem Umfang und in ihrem historischen Ausmaß aufzurollen. Allein die Vorwürfe neueren Datums – allesamt bereits aus den Nullerjahren – sind nicht nur erheblich und mitunter sehr schwerwiegend, sondern sie scheinen sich innerhalb dieser Zeitspanne wie im Zeitraffer immer schneller und stärker zu häufen, um so immer gewichtiger zu werden. Ganz so, als wenn sich eine unsichtbare historische Logik nun offenbaren und unheimlich beschleunigen würde.

Da ist die Verhinderung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine durch Deutschland (zusammen mit Frankreich) unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Bukarest 2008, die für viele aus heutiger Sicht zur Katastrophe dieses Angriffs führte, aber von einigen schon damals prophezeit wurde.

Da ist das Unvermögen des gesamten Westens, Deutschland mit eingeschlossen, in den gegen Tschetschenien geführten Kriegen das wahre Wesen des russischen Regimes zu erkennen, in dem gegen Georgien entfesselten Krieg und der darauf folgenden Besatzung und Spaltung des Landes etwas mehr zu sehen als einen lokalen Konflikt im postsowjetischen Raum, nämlich eine verhängnisvolle Verletzung der gesamten Weltordnung und vor allem das Austesten einer Vorlage und Blaupause für spätere Aggressionen gegen andere Länder und Völker – in Syrien und der Ukraine. Die Vorbehalte gegenüber Deutschland waren besonders stark gegen seine unerschütterliche Bereitschaft gerichtet, mit Russland trotzdem ziemlich unbeeindruckt die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit immer weiter auszubauen.

Die ausgebliebene entschiedenere Reaktion auf die Krym-Annexion durch Russland und den Angriff auf die Ukraine 2014 und die damit in Verbindung gebrachten, nicht ernst zu nehmenden „Sanktiönchen“ (in diesem Zusammenhang ist das Bonmot der Ukrainer der „tiefen Besorgnis“ legendär geworden). Das galt hinsichtlich der Reaktionen auf den Abschuss des MH-17-Flugs über der Ukraine.

Die Aufnahme der Baupläne für die Nord-Stream-2-Pipeline direkt nach der Krym-Annexion und das weitere sture und selbstgefällige Festhalten daran wie überhaupt an der privilegierten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Russländischen Föderation. Noch im Dezember 2021, als die russischen Truppen schon längst an den Grenzen der Ukraine standen, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz ganz in der Tradition Gerhard Schröders, dass es sich bei der Pipeline um ein „privatwirtschaftliches Vorhaben“ handele – dabei hatte Moskau schon in den Jahren zuvor unmissverständlich klargemacht, dass Nord Stream 2 ein gegen die Ukraine gerichtetes Projekt war.

*

Natürlich gilt es, zwischen den ukrainischen Vorwürfen und Vorbehalten gegenüber dem heutigen Deutschland und dem historischen Deutschland, das heißt Deutschland zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte, zu unterscheiden. Denn es gibt auch reichlich Vorwürfe älteren Datums, oder zumindest nachträglich zu solchen erhobene – etwa die zynischen Ausnutzungsstrategien des Deutschen Reiches gegenüber der Ukraine gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als die Anerkennung und Unterstützung ukrainischer Staatlichkeit nur gewährt wurde, um sich im Gegenzug an den Getreidevorräten zu bedienen.

Des Weiteren die kolonialen, ausbeuterischen Absichten der „Lebensraum“-Ideologie im Zweiten Weltkrieg, bei dem den ukrainischen Gebieten eine Schlüsselrolle zufiel, mit der anschließenden NS-Besatzung mit ihren Gräueltaten, mit den Deportationen und der Versklavung von Zwangsarbeitern, dem rassistisch motivierten Umgang mit der ukrainischen Zivilbevölkerung als „Untermenschen“, den Kriegsverbrechen. Von dem gerade auf dem ukrainischen Territorium systematisch verübten Holocaust, auch dem durch die Kugeln, ganz zu schweigen.

Aber auch die bereitwillige, unmissverständlich von den eigenen mehr oder weniger verdrängten, mehr oder weniger unbewussten imperialen Haltungen bedingte Subsumierung der sowjetischen Völker, die gegen das Hitlerreich im Zweiten Weltkrieg kämpften, unter dem Gesamtbegriff der „Russen“. Diese Russifizierung der Sowjetunion hatte verheerende Folgen für die gesamte „Erinnerungspolitik“ der alten und neuen Bundesrepublik der Nachkriegsjahre, in der den „Russen“ die Rolle der eigentlichen Opfer des deutschen Nationalsozialismus zugeschrieben wurde. Den „Russen“ gegenüber habe man die gesamte historische Schuld zu tragen, sie seien die rechtmäßigen Besieger des deutschen Faschismus. In diesem Bild kamen die Ukrainer entweder gar nicht erst vor oder aber sie erschienen lediglich in der sehr fragwürdigen Gestalt von Kollaborateuren, willigen antisemitischen Handlangern und Helfershelfern der deutschen Nazis, also ausschließlich als Mittäter und Schuldträger, aber keineswegs als Opfer, Kämpfer gegen den Nationalsozialismus oder als Sieger darüber. Der deutsche Kolonialismus und die Schuld gegenüber anderen Völkern Polens und der Sowjetunion gingen dabei aber vollkommen unter, genauso wie der gemeinsame deutsch-russische Imperialismus auf Kosten all jener Länder, die zwischen Russland und Deutschland lagen.

Kein Wunder daher, dass dem gesamten Befreiungskampf der Ukrainer gegen die Sowjets, der gesamten Dissidentenbewegung der 1960er- bis 1980er-Jahre, den gesamten Versuchen, die Rechte der ukrainischen Sprache und den Status der ukrainischen Kultur in der Sowjetukraine zu stärken, von dem breiten Konsens in der Bundesrepublik ein äußerstes Misstrauen, ein Argwohn und oft genug offene Verurteilung entgegengebracht wurden.

Diese Haltung, gepaart und verstärkt durch die Dankbarkeit gegenüber Mikhail Gorbatschow für die Wiedervereinigung Deutschlands, resultierte auch in den Bemühungen des Altkanzlers Helmut Kohl, die Werchowna Rada der UdSSR am 1. August 1991 von der Unabhängigkeitserklärung abzubringen und sie zum Verbleib in der UdSSR zu überreden.

*

Genauso wichtig ist es, die „spezifisch deutschen“ Vorbehalte der Ukrainer und die „allgemeinen“ Vorbehalte gegenüber dem Westen auseinanderzuhalten. Das ist nicht immer einfach, meistens aber ziemlich deutlich und auf jeden Fall notwendig. Denn sowohl die besonderen Bedeutungen, die Deutschland historisch in Bezug auf die Ukraine hatte, als auch der Anspruch, über eine besonders exzellente politische und wissenschaftliche Expertise über Osteuropa im Allgemeinen, Russland und die Ukraine im Besonderen zu verfügen, aber auch die selbstständige und in vielem vom allgemein westlichen Kurs und Diskurs abweichende politische Position und seine politischen Entscheidungen in den letzten Dezennien und Jahren machen es unbedingt möglich und auch unbedingt notwendig, Deutschland als einen gesonderten und spezifischen Akteur zu behandeln.

*

Es gibt aber ein Kapitel in den deutsch-ukrainischen Beziehungen der letzten Jahre, das zwar eben nicht von spezifisch deutschen, sondern „allgemein westlichen“ Reaktionen auf die ukrainischen Ereignisse und Geschehnisse gekennzeichnet ist. Die Tatsache aber, dass auch Deutschland dabei eine besondere Rolle spielte, dass Deutschland sich überhaupt auch unter diesen Missverstehern befindet, löst bei den Ukrainern gerade deswegen ganz besonders großes Unbehagen aus und sorgt für eine ungläubige Verwirrung. Es handelt sich um die viel zu weit verbreitete Verkennung von zentralen Ereignissen der jüngeren ukrainischen Geschichte in Deutschland: die zentrale europäischen Bedeutung des Majdan-Geschehens 2013–14. Und um die viel zu bereitwillige, viel zu gläubige Neigung, lieber den putinschen propagandistischen Botschaften Glauben zu schenken in Bezug darauf, was wir Ukrainer die „Revolution der Würde“ nennen.

Das Schmerzvollste war: Deutschland hat unsere Revolutionen verkannt. Anstatt Anerkennung und Begeisterung sind uns Angst und Rüge entgegengeschlagen.

Aber der größte und gröbste Vorwurf der Ukrainer an die Deutschen ist eben dieser: Wieso habt ihr uns dermaßen verkannt? Oder noch schärfer und schmerzhafter: Wieso wollt ihr eigentlich von uns nichts wissen?

Natürlich kann man weder Liebe noch Interesse noch Engagement erzwingen, das war uns immer schon klar. Es ist verständlich, dass ein größeres und politisch einflussreicheres Land wie Russland mehr Interesse und Neugier weckt. Auch das war uns immer klar, deswegen kann es sich gar nicht nur um eine bloße Eifersucht handeln.

Nicht um den Grad der Kenntnis geht es, sondern um den Grad der Unkenntnis. Denn wir fühlten uns von den Deutschen nicht nur lange und systematisch unterschätzt, sondern geradezu verzerrt missverstanden und profund verkannt. Derartig, dass es ein System aufweist.

Man könnte meinen, Deutschland hätte als Erstes die Beschaffenheit von Putins Russland erkennen und davor zurückschrecken müssen – zurückschrecken nicht nur wegen des entsetzlichen politischen Regimes und der großflächig desolaten gesellschaftlicher Verfassung im Hier und Jetzt, nicht nur aufgrund der Monstrosität des menschenverachtenden Systems Putins und des weitverbreiteten Revanchismus und Ressentiments großer Teile der großrussischen Gesellschaft heute. Zurückschrecken nicht nur aufgrund der besonderen Bedeutung, die Deutschland der Kooperation mit Russland in den letzten Jahrzehnten beimaß und die nun zu der Einsicht hätte führen müssen, was aus dem Freund und Partner geworden war. Sondern auch aus einem sehr besonderen Grund zurückschrecken: Weil wer, wenn nicht gerade Deutschland, hätte aufgrund der eigenen Vergangenheit und deren angeblich musterhaften Bewältigung und Aufarbeitung besser die strukturellen Ähnlichkeiten erkennen und verurteilen müssen, die sich in so vielen Hinsichten zwischen dem faschistischen Deutschland und dem Reich von Putin auftaten?

In verschiedenen Abschnitten ihrer Geschichte sind sich beide Länder so erstaunlich ähnlich, vom verklemmten Imperialismus, Ressentiment und Revanchismus bis hin zum Größenwahn mit historisch begründeten Ansprüchen, einem besessenen Führer verfallen.

Nichts dergleichen aber geschah: Das Äußerste, was deutsche Politiker wagten, war, vorsichtige Bedenken wegen der Menschenrechtsverletzungen und der endgültigen Demontage der eigentlich nie erreichten Rechtsstaatlichkeit zu äußern. Was aber die immer aggressiver und expansionistischer werdende Außenpolitik angeht, die Art und Weise, wie Russland mit sehr deutlich imperialen Methoden und Mitteln seine angeblichen außenpolitischen „Interessen“, tatsächlich aber seine neoimperialen Ambitionen durchsetzte, demgegenüber blieb man in Deutschland erstaunlich und bewundernswert blind und taub.

Da versagte die viel gerühmte Osteuropa-Expertise – trotz der vielen Fachleute für Russland –, da versagte schlicht die Vernunft, eine basale Beobachtungs- und Vergleichsgabe. Man war in Deutschland nicht fähig, weder die eklatanten aktuellen Verhältnisse angemessen einzuschätzen noch historische Parallelen zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu ziehen. Man könnte meinen, Deutschland hätte unter den Ersten sein müssen, die den ukrainischen Freiheitsdrang erkennen und anerkennen – war doch Deutschland selbst geteilt und ein Teil davon so lange unfrei. Nichts dergleichen. Das Gegenteil war der Fall.

Für uns Ukrainer war es ein eindeutiges Warnsignal, dass so viele Teile der deutschen Gesellschaft diese ukrainische, europäische Revolution verkannten. Es war nicht nur ein Zeichen dafür, dass es um das deutsch-ukrainische Verhältnis nicht gut bestellt war, sondern dass die früheren „Missverständnisse“ keineswegs nur sporadisch und zufällig gewesen waren, sondern einen systemischen Charakter hatten, der wiederum höchstwahrscheinlich mit „dem deutschen historischen Komplex“ verbunden ist und vermutlich relativ tief in der Geschichte wurzelt und daher kaum reflektiert wird – dafür aber umso wirkmächtiger ist.

Gerade damals wurde der Ernst der Lage von uns Ukrainern erkannt und einige von uns, aber auch unsere Diplomatie, machten sich an eine nach Kräften systematische Aufdeckungs- und Aufklärungsarbeit für die deutsche Öffentlichkeit. Gerade damals ist in der Ukraine auch der Typus des öffentlichen Intellektuellen aufgekommen und außerordentlich oft wurden diejenigen befragt, die den Ukrainern die Deutschen und Deutschland zu erklären suchten: Wieso konnte es überhaupt dazu kommen, dass Deutschland uns so profund verkennt? Welche Prozesse sind da im Gang?

Der große Krieg Russlands gegen die Ukraine, die flächendeckende Invasion seit dem 24. Februar 2022, aber auch die Zeit unmittelbar davor, als dieser Vormarsch in Vorbereitung lag und die ukrainischen Staatsgrenzen immer dichter von den russischen Truppen umstellt wurden, haben die Struktur ukrainischer Vorwürfe – aber auch umgekehrt deutscher Vorbehalte gegenüber der Ukraine – in ein besonders krasses Licht gerückt.

Da war die unglaubliche Langsamkeit, die Verleugnung des Ernstes der Lage, die nicht zu fassende Zögerlichkeit der deutschen Politik, aber auch die offen ausgesprochenen Erwägungen, ob die Ukraine nicht lieber gleich aufgeben sollte angesichts der ungleichen Kräfteverhältnisse, der weitverbreiteten Resignation und der Bereitschaft, sich „den natürlichen Läufen der Geschichte“ zu fügen – bis dann der große Durchbruch kam, die „Zeitenwende“ genannt. Aber auch danach kommen aus verschiedenen, sehr unterschiedlichen Teilen der deutschen Gesellschaft immer wieder Apelle zur „Beendigung“ dieses Krieges.

*

Es wäre irrig, verkehrt und völlig ungerecht zu behaupten, Vorwürfe und Vorbehalte wären alles, was die Ukrainer gegenüber den Deutschen vorzuweisen haben. Ja, Vorwürfe stehen nicht einmal im Vordergrund und nicht sie bestimmen den Grundton und den Grundcharakter ukrainischer Einschätzungen und ukrainischer Einstellungen zu Deutschland, seiner Gesellschaft und seiner Politik.

Nein, die Liste enthält auch jede Menge Anerkennung und Dankbarkeit, unverfälschte Bewunderung und ehrlichen Respekt gegenüber Deutschland. Diese Liste ist mindestens genauso lang, nur beinhaltet sie eben andere Punkte. Es wäre nun wichtig, diese beiden Listen miteinander abzugleichen und vielleicht auch aufeinander zu beziehen. Nur zeugt dieses Respektieren deutscher Besonderheiten und dieser Respekt für deutsche Befindlichkeiten wirklich vom Verständnis dessen, was in den Deutschen vorgeht?

Und doch allein schon die Persistenz dieser Vorbehalte, ihre strukturelle Wiederholung – wie die Wiederholbarkeit von deren Anlässen –, lassen darauf schließen, dass die ukrainische Einstellung zum heutigen Deutschland von einer Ambivalenz gekennzeichnet ist, die weder zu übersehen noch weiter zu ignorieren und schon gar nicht zu vernachlässigen ist.

Denn wenn sich etwas verändert hat in der Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland, dann ist es die Gewichtung ihrer Bedeutung. Es ist nicht mehr möglich, die Ukraine als ein – im Vergleich mit Russland aber auch insgesamt – nebensächliches Land zu sehen, dessen Rolle nicht so entscheidend ist, sodass man sich auch weiterhin leisten kann, die vorhandenen und sehr wohl registrierten Spannungen und Verärgerungen geflissentlich zu ignorieren. Und das nicht nur etwa, weil die Ukraine sich plötzlich als so wichtig, etwa für die Sicherheit in Europa, für die Verteidigung von grundsätzlichen europäischen Werten, der demokratischen Ordnung oder der liberalen Freiheiten, herausgestellt hätte. Das natürlich auch. Aber auch deswegen, weil sich erst jetzt, erst mit dem großen Krieg, gezeigt hat, dass nicht alle ukrainischen Warnungen und Einschätzungen – und auch nicht alles, was an Einschätzung aus Osteuropa kommt – unbedingt der Paranoia oder dem antirussischen Ressentiment geschuldet sein müssen. Denn es geht am Ende um das allgemeine Verständnis dessen, wie die heutige Welt beschaffen ist und was davon zu erwarten ist. Und diese Sichtweisen scheinen sich in verschiedenen Teilen Europas dramatisch zu unterscheiden.

Aber vor allem, weil die Stellung und die Einstellung der heutigen Ukraine etwas sehr Wichtiges über Deutschland selbst offenbaren, viele seiner strukturellen mentalen Unwägbarkeiten besonders deutlich zum Vorschein bringen und daher vielleicht auch ein transformatives Potenzial für Deutschland und Europa bergen könnten, zumindest die Fähigkeit besitzen, sie dazu zu bringen, sich und einige eigene Dispositionen infrage zu stellen.

Ein guter Teil der Expertenanalysen und öffentlichen publizistischen Debatten in der Ukraine über Deutschland ist der Frage gewidmet, warum Deutschland eine so merkwürdige Haltung gegenüber diesem Krieg einnimmt. Das Deutschlandverstehen und das Deutschlanddeuten sind zu einem eigenen Zweig geworden, bei dem es mitunter sehr leidenschaftlich zugeht: Entrüstung mischt sich mit Verachtung, Entsetzen gesellt sich zum Ressentiment, alles von der Fertigkeit begleitet, mehr oder weniger treffende historisch-genetische Auslegungen zustande zu bringen. Dass Deutschlands Haltung uns nicht nur nicht gleichgültig ist, sondern dass diese Haltung aufgrund der Bedeutung und des Einflusses Deutschlands sich auch existenziell auf das Schicksal unseres Landes auswirken kann, versteht sich von selbst.

Doch kann man beinahe zum ersten Mal deutlich beobachten, dass sich die Ukraine sehr vehement dagegen wehrt, ein bloßes Objekt der deutschen Einstellung zu sein, und sich äußerst intensiv bemüht, die Wahrnehmungen und Einschätzungen in Deutschland auch aktiv zu beeinflussen. Es müsste darum gehen, die lieb gewonnenen Einstellungen infrage zu stellen und noch besser sie zu dekonstruieren, ja, einige ukrainische Intellektuelle erheben den Anspruch, durch die Erklärung des Wesens und am Beispiel der Ukraine Deutschland zum Nachdenken über sich selbst zu bringen. Deutschland soll anhand der ukrainischen Position im Krieg sich selbst umgestalten und sein Bild von sich und der Welt transformieren.

*

Freilich gibt es nicht nur ukrainische Vorwürfe und Vorbehalte gegenüber Deutschland, sondern auch deutsche Vorbehalte und Vorwürfe an die Adresse der Ukrainer. Allerdings dürften diese, allein schon wegen der geringen Kenntnisse der Ukraine und ihrer Geschichte, geringer sein als umgekehrt. Das Wichtigste dabei aber scheint: Unsere Vorwürfe an die Deutschen sind die unmittelbaren Reaktionen auf ihre Einstellungen und Handlungen uns gegenüber und diese sind wiederum meistens Folgen von deutschen Vorstellungen darüber, was die Ukraine und das Ukrainische ausmachen.

Dem auf den Grund zu gehen, was sie ausmacht – seien es historisch bedingte Vorurteile, geschichtlich gewachsene Reflexe, die Folgen von Ignoranz oder aber berechtigte kritische Einschätzungen an den politischen Verhältnissen in der Ukraine –, wäre eine wirklich wichtige Angelegenheit, gerade in den heutigen Tagen.

Zwei Dinge stehen aber fest: Erstens, dass die deutschen Vorbehalte gegenüber der Ukraine deshalb schon nicht so umfangreich sind, wie es umgekehrt die ukrainischen gegenüber den Deutschen sind – einfach schon aus dem Grund, weil der Stellenwert der Ukraine in den Augen der Deutschen nicht im Entferntesten mit demjenigen Deutschlands in der ukrainischen Wahrnehmung vergleichbar ist. Und zweitens: Es hat ganz den Anschein, dass die deutschen Vorbehalte gegenüber der Ukraine zwar nicht so zahlreich sind wie umgekehrt, dafür aber möglicherweise einen strukturellen Kern, ein systemisches Zentrum aufweisen, das in allen Verhältnissen und Wahrnehmungsmodi unterschwellig präsent bleibt, und diese unabdingbare Präsenz sorgt auch für die Persistenz deutscher Einstellungen, Einschätzungen und Verkennungen der Ukraine.

Und dies lässt es als sehr plausibel erscheinen, dass alle deutschen „Fehlleistungen“ der letzten Jahrzehnte in Bezug auf die Ukraine bei aller tatsächlichen und anscheinenden Heterogenität doch mindestens ein gemeinsames Motiv aufweisen. Und dieses Motiv ist womöglich die spezifische deutsche Lesart und das spezifisch historisch bedingte Verständnis des Begriffs Nationalismus, die dann im Fall der Ukraine in viele falsche Auslegungen münden und eben zur Verkennung führen.

Natürlich kann man die Gesamtheit dieser Einstellungen, falschen Einschätzungen und Fehlleistungen nicht auf ein einziges Motiv und eine einzige Ursache zurückführen und reduzieren. Und dennoch: Vielleicht könnte die Aufklärung in diesem einen Sachverhalt dazu beitragen, die vertrackte Komplexität etwas durchsichtiger zu machen.

*

Das Wichtigste, was aber festzuhalten ist: Der Kardinalvorwurf, der wichtigste Vorbehalt und daher der Hauptquell des Misstrauens und oft auch der Missbilligung dem Ukrainischen gegenüber, ist der Vorstellung und oft der Überzeugung entsprungen, alles Ukrainische sei sehr bis äußerst nationalistisch, die Träger der ukrainischen Identität seien verkappte Nationalisten, die nicht nur ihren vermeintlichen liberalen Schein vorgaukeln würden, sondern in ihrer Gesinnung und Weltsicht eigentlich modernitätsunfähig sind.

Zumindest im linken und liberalen intellektuellen und akademischen Milieu in Deutschland dominiert eine bestimmte Vorstellung der Idee des Nationalismus. Schon der Begriff ist äußerst negativ konnotiert, und wenn wir von nationalen Bestrebungen sprechen, stößt das auf eine ablehnende Wand.

Klar war bis Februar 2022 auch, dass Deutschland die Ukraine kaum kennt und kaum kennen will. Überdeutlich war auch, dass Deutschland ein besonderes Verhältnis zu Russland hat und haben will, dieses Russland aber auch überhaupt nicht kennt und nicht versteht, ein besonderes, partnerschaftliches Verhältnis aber unbedingt aufrechterhalten will, um jeden Preis. In dieser Vorstellung eines besonderen deutsch-russischen Verhältnisses wird die Ukraine entweder als Teil Russlands gedacht oder als antirussisch.

Unmissverständlich war auch, dass Deutschland diese lieb gewonnenen Einsichten und Eigenschaften nicht verlassen und nicht revidieren will. Denn sie sind ein integraler Teil seines Nachkriegsselbstverständnisses, das so schwer erarbeitet schien. Und in Wirklichkeit mit erstaunlicher Leichtigkeit kam.

Offenkundig wollte Deutschland seine internationale Verantwortung nicht wahrnehmen, weil es sie nicht wahrhaben wollte. Und dennoch hatte Deutschland den Anspruch und erhob ihn auch immer wieder, in der Europäischen Union führen zu wollen, auf der Grundlage von Überzeugungen und moralischen Prinzipien, die es sich nach 1945 erkämpft zu haben schien.