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Seit sie denken konnte, spürte Alani tief in ihrem Inneren, dass etwas in ihrem Leben nicht stimmte. Sie fühlte einfach, dass es ein Geheimnis gab. Ihre Familie allerdings hüllte sich in Schweigen. Jedoch wollte sie nicht mehr mit dieser Ungewissheit weiterleben. Durch eine spielerische Idee nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Und so machte sie sich auf zu einer Reise in ein fernes, fremdes Land, mit einem überraschenden und unerwarteten Ausgang...
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Seitenzahl: 243
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Es war wieder einer dieser Tage, an dem sie sich verloren fühlte. Nur, dass es heute noch schlimmer war als an so manchen Tagen vorher. Sehr viel schlimmer.
Alani öffnete ihre linke Hand und ließ langsam die Erde durch ihre Finger rinnen. Es kam ihr vor, als würden die Sandpartikel in Zeitlupe auf dem dunkelbraunen Holz landen. Genauer gesagt, auf dem Sarg, auf den sie gerade blickte. Auf den Sarg ihrer Mutter.
Sie versuchte erst gar nicht, die Tränen tapfer zurückzuhalten, sondern ließ ihnen freien Lauf. Es kostete sie Überwindung, jetzt noch die weiße Rose auf den hinabgelassenen Totenschrein fallen zu lassen. So fühlte sich also der endgültige Abschied an, dachte sie.
Wie in Trance nahm sie die Menschen um sich herum wahr, als sie sich anschließend umdrehte. Sie wartete die Beileidsbekundungen nicht ab, sondern verließ auf der Stelle den Friedhof. Die teilweise entrüsteten Blicke, die ihr folgten, waren ihr egal. Sie wollte einfach nur weg. Sie hörte, wie Patrick und Emma hinter ihr herriefen, aber auch das spielte keine Rolle. Dabei waren es die zwei Menschen, die ihr am nächsten standen. Ihr Lebensgefährte und ihre beste Freundin. Aber auch das war in diesem Augenblick nicht wichtig.
Sie sprang in ihren Wagen, startete den Motor und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sie achtete nicht groß auf den Weg. Sie wollte nur alleine sein, egal, wo das sein würde. Das war im Moment das Wichtigste für sie.
Nach einer Weile fand sie sich auf der Strecke in die nächste Stadt wieder. Ziellos fuhr sie durch die Straßen. Schließlich parkte sie ihren Wagen kurzentschlossen vor einem Kino und ging hinein.
In 15 Minuten würde der nächste Film anfangen, das kam ihr gerade recht. Dass dies ein Film aus der Marvel-Reihe war, spielte keine Rolle. Normalerweise sah sie sich so etwas nicht an.
Erleichtert darüber, dass das Kino nur halbvoll war, ließ sie sich auf ihren Sitzplatz fallen. Es wurde schon dunkel, als sie in ihrer Handtasche herumwühlte. Endlich hatte sie ihr Smartphone gefunden. Sie schaltete es aus. Natürlich hatte sie zuvor gesehen, dass sowohl Patrick als auch Emma versucht hatten, sie zu erreichen.
Ihre Augen brannten vom vielen Weinen. Sie lehnte sich zurück und ließ langsam die Lider sinken. Alles in ihr fühlte sich leer an. Ausgebrannt, innen völlig hohl.
Die letzten Wochen liefen noch einmal wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab. Und sie fragte sich zum unzählig wiederholten Male, warum ihre Mutter selbst kurz vor ihrem Tod nicht mit ihr gesprochen hatte. Was war das Geheimnis, über das niemand jemals sprach?
Es lag wie ein bedrohlicher Schatten über dieser Familie. Auch ihr Vater hatte sich niemals dazu geäußert, wenn sie nachgebohrt hatte.
Und jetzt war er nicht einmal zur Beerdigung gekommen, obwohl er immer noch mit ihrer Mutter verheiratet war, zumindest auf dem Papier.
Patrick wurde nervös. Mittlerweile hatte er mindestens zwanzig Mal versucht, Alani auf ihrem Phone zu erreichen. Er machte sich große Sorgen.
Er drehte sich zur Seite und schaute ratlos Emma an, die neben ihm stand.
Sie wiederum versuchte durch Textnachrichten ihre Freundin Alani dazu zu bewegen, einfach nur kurz zurückzurufen oder wenigstens per Nachricht zu antworten.
Patrick sah etwas hilflos aus.
„Emma, ich glaube, wir können nichts tun im Moment. Offenbar möchte Alani allein sein.“ Er seufzte und ließ dabei sein Smartphone in die Hosentasche gleiten. Er zuckte mit den Schultern und sah Emma an, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten.
Emma schaute der Trauergesellschaft zu, wie sie sich langsam auflöste. Niemand rechnete mit einem Leichenschmaus, nachdem Alani nicht mehr hier war.
Sie stand mit Patrick zusammen auf dem Parkplatz des Friedhofes und nickte ihm zu.
„Es deutet alles darauf hin, dass sie Zeit für sich braucht. Wir versuchen, uns keine Sorgen zu machen und hoffen, dass sie bald wieder auftaucht.“
Emma blickte zu Boden und murmelte in ihren Bart. „Sie ist ja erwachsen, sie wird wissen, was sie tut.“
Dabei malte sie mit ihrem rechten Schuh verschiedene Muster in den Sand.
Patrick wusste nicht genau, was er jetzt mit sich anfangen sollte.
Wäre es richtig, hier zu warten, bis Alani wieder zurückkam oder würde es mehr Sinn machen, zu ihrer Wohnung zu fahren? Er hatte keinen Plan, wie lange sie wegbleiben würde. Oder sollte er jetzt zu sich nach Hause fahren?
Angespannt wanderten seine Augen den davonfahrenden Autos hinterher.
Emma hatte sich bereits entschlossen, nachdem sie noch einmal eine Nachricht für ihre Freundin verfasst und abgeschickt hatte. Sie würde nach Hause fahren. Alani könnte jederzeit zu ihr kommen.
Es machte wahrscheinlich keinen Sinn, ziellos mit dem Auto durch die Gegend zu fahren in der Hoffnung, Alani irgendwo zu entdecken.
Vielleicht war sie schon längst in Frankfurt untergetaucht und lag in irgendeinem Hotelbett. Emma stellte sich diese Szene gerade vor. Sie fand, das würde passen. Schließlich betrug die Entfernung nur 40 Kilometer bis zu der Großstadt am Main.
Niemand konnte ahnen, dass Alani keine 15 Kilometer entfernt im Kino saß und dort nichts, aber auch gar nichts von dem Film, der da lief, mitbekam.
Alani wusste nicht genau, was sie nun tun sollte. Sie war innerlich total zerrissen und entscheidungsunfähig.
Sie wollte reden oder auch nicht. Sie brauchte jemand, der sie tröstete oder auch nicht. Sie war durstig oder auch nicht. Sie fühlte nichts mehr. Ausgebrannt und leer. Die letzten Wochen forderten ihren Tribut. Die Krankheit ihrer Mutter, die vor noch nicht so langer Zeit entdeckt wurde, war das zentrale Thema geworden. Verständlicherweise.
Mit ihrer Mutter Brigitte, ein zartes, empfindsames Geschöpf, musste man zeitlebens behutsam umgehen. Sie war nicht gemacht für diese Welt, in der nicht immer alle freundlich zueinander waren. Und die Krankheit hatte sie dann ihre ganze Kraft gekostet. Damit kam sie nicht klar. Alani hatte sich gekümmert, wo sie nur konnte, bis zum Ende. Die letzten Tage hatte ihre Mutter in einem Hospiz verbracht. Das war ihr eigener Wunsch gewesen und dann kam das Ende viel schneller, als es alle erwartet hatten.
Alani fischte das letzte trockene Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte einmal kräftig hinein. In diesem Moment ließ auf der Leinwand Thor seinen Hammer auf einen Stein krachen, so dass dies gar nicht auffiel.
Wie durch den Hammerschlag wachgerüttelt, nahm Alani jetzt erst wieder die Umgebung, in der sie sich befand, richtig wahr. Sie schnappte ihre Tasche und verließ den Vorführraum.
Draußen grinste ein Jugendlicher sie an und blickte dann in die andere Richtung. Das hieß wohl soviel wie, der Film war bestimmt nicht das Richtige für dich.
Alani ignorierte seinen Blick. Es war ihr auch total gleichgültig, wie sie aussah. Wären ihre Empfindungen Realität, hätte sie nur noch Sehschlitze statt Augen. Es fühlte sich an, als hätte sie stundenlang durchgeheult. Ihre Lider hingen schwer nach unten und alles brannte.
Sie ging, so schnell sie konnte, zu ihrem Auto, klappte die Sonnenblende nach unten, um sich in dem rückseitigen Spiegel zu begutachten. Na klar, genau, wie sie befürchtet hatte. Sie sah schrecklich aus und bleich noch dazu. Fröstelnd zog sie die Schultern nach oben.
Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht, dachte sie, und startete den Motor ihres Wagens.
Es kam ihr tatsächlich die Idee in der Anonymität der Großstadt abzutauchen, also fuhr sie los in Richtung Frankfurt. Zum Glück kannte sie sich dort aus.
Patrick stand immer noch auf dem Parkplatz vom Friedhof. Unentschlossen trat er von einem Bein auf das andere. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
Frustriert steckte er sein Smartphone in die Hosentasche. Mittlerweile wusste er nicht mehr, der wievielte Versuch es war, Alani zu erreichen. Nervös spielte er mit dem Autoschlüssel, entschloss sich aber letzten Endes doch, nach Hause zu fahren. Was sonst konnte er tun?
Emma war schon seit einer halben Stunde wieder daheim. Sie vertraute Alani und war davon überzeugt, dass die Freundin sich noch eine Weile alleine ausheulen musste, bevor sie wieder zurückkam.
Darum versuchte sie erst gar nicht mehr, Alani anzurufen. Sie saß mittlerweile in ihrer Küche und hielt eine Tasse Kaffee in ihren Händen. Nun war also Brigitte nicht mehr da. Ein merkwürdiges Gefühl. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn sie ihre Mutter verlor.
Dabei war ihre Kindheit eine andere als die ihrer besten Freundin Alani.
Emma wuchs in einer Bilderbuchfamilie auf, eine lustige Mutter, ein verständnisvoller Vater und einen Bruder, mit dem sie sich die meiste Zeit gut verstand.
Bei Alani hingegen war alles anders. Die Mutter eine sehr zurückhaltende Frau, der Vater ein richtiger Tyrann in ihren Augen. Er duldete niemals ein Widerwort, weder von seiner Tochter und schon gar nicht von seiner Frau. Emma hatte die Stimmung im Hause ihrer Freundin immer als sehr bedrückend wahrgenommen. Zumindest, wenn der Vater zugegen war.
Und so kam es, dass Alani sich mehr in Emmas Zuhause aufhielt, wenn die beiden Zeit miteinander verbrachten.
Als die beiden Freundinnen älter wurden, versuchten sie oft herauszufinden, warum die beiden Familien so unterschiedlich waren.
Jetzt, wo Emma längst erwachsen war, stand für sie fest, dass es irgendetwas zwischen den Eltern von Alani geben musste, das dieses Verhalten von beiden begründete.
Nun konnte Alani ihre Mutter nicht mehr fragen. Wie oft hatte sie es versucht, manches Mal mit Unterstützung von Emma. Doch Brigitte schaute Alani immer nur stumm und mit traurigem Blick an, wenn es um dieses Thema ging.
Emma seufzte laut und schüttelte den Kopf. Traurig für Alani, dass sie bisher nicht hinter das Geheimnis gekommen war, welches sich wie ein schweres graues Tuch über diese Familie legte.
Alani hatte mittlerweile ihr Hotelzimmer bezogen. Für eine Nacht brauchte sie Abstand. Sie ließ sich auf das breite Bett fallen und schloss ihre immer noch brennenden Augen. Sie war müde und wollte versuchen zu schlafen, einfach nur schlafen und vergessen. Sonst nichts.
Doch erst ein heißes Schaumbad trug dazu bei, dass Alani endlich in den erlösenden Schlaf fallen konnte.
Es brauchte am nächsten Morgen einige Sekunden, bis sie wusste, wo sie war und warum.
Doch es half alles nichts, das Leben ging weiter. Sie traute sich zuerst gar nicht, auf ihr Smartphone zu schauen. Wahrscheinlich hatte Patrick vor lauter Sorge dutzende Male versucht, sie zu erreichen.
Alani hatte einen Hauch von schlechtem Gewissen, aber auch wieder nicht. Er kannte sie doch. Schließlich waren die beiden seit drei Jahren ein Paar und es war nicht das erste Mal, dass sich Alani zurückzog, wenn sie Probleme hatte.
Mit einem Seufzer nahm Alani schließlich ihr Telefon zur Hand. Nachdem sie eine Weile auf die zahlreichen Nachrichten von Patrick und Emma geschaut hatte, entschloss sie sich, den beiden zu schreiben. Sie fasste sich kurz, teilte nur mit, dass sie im Laufe des Tages nach Hause kommen würde.
Schließlich checkte Alani ohne Frühstück aus dem Hotel aus und fuhr noch eine Weile ohne Ziel durch die Stadt. Sie war voller Unruhe, wusste nicht so genau, was sie mit sich anfangen sollte.
Doch am Ende ihrer Überlegungen kam sie zu dem Entschluss, zurück in ihre Wohnung zu fahren. Sowohl für Emma als auch für Patrick war heute ein normaler Arbeitstag, die beiden waren also im Moment nicht ansprechbar. Obwohl Alani gar nicht wusste, ob sie das wollte. Mit jemandem reden.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss ihrer Wohnungstür um und betrat ihr Zuhause. Der erste Blick fiel durch die offene Küchentür auf ihren Esstisch. Dort stand noch ihre Kaffeetasse von gestern früh.
Es war die weiße Tasse mit vielen bunten Früchten darauf. Dieser Anblick versetzte ihr sofort einen Stich ins Herz. Die Lieblingstasse ihrer Mutter.
Alani ließ sich auf den hervorgezogenen Stuhl sinken und flüsterte: „Ach Mama.“ Dicke heiße Tränen liefen aus ihren Augen.
Sie sprang auf und wischte sich mit einer zornigen Bewegung die nassen Spuren von den Wangen. Sie war sauer auf alles und jeden.
Dann hörte sie ihr Handy vibrieren. Patrick.
Sie drehte es unschlüssig in ihrer Hand. Schließlich nahm sie das Gespräch entgegen.
„Hallo du“, flüsterte sie leise ins Mikrofon.
Patrick fiel ein Stein vom Herzen. Endlich konnte er mit ihr reden.
„Alani, ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Wie geht es dir? Wo bist du denn?“
Dann hielt er inne. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht zu bedrängen. Es war schließlich eine sensible Situation.
„Ich bin wieder zu Hause“, antwortete Alani knapp und wartete ab.
„Kann ich etwas für dich tun? Ich könnte vorbeikommen oder möchtest du allein sein?“, fragte Patrick stockend.
Er war sehr unsicher, er wollte nichts falsch machen.
„Patrick, ich weiß es im Moment selbst nicht. Ich brauche noch etwas Zeit für mich. Nicht böse sein. Ich melde mich, ja?“, hörte Alani sich sagen.
„Natürlich Alani, ich warte, bis du dich meldest. Alles klar.“
Dann registrierte er, dass Alani schon aufgelegt hatte. Er hätte ihr gerne noch gesagt, dass er sie vermisste. Doch offenbar war es dafür nicht die richtige Zeit.
Emma brütete über ihrem neuesten Projekt. Sie war Architektin und hatte eine große Herausforderung angenommen, die kaum noch Freizeit zuließ. Trotzdem schaute sie in regelmäßigen Abständen auf ihr mobiles Telefon. Bisher hatte sich Alani noch nicht bei ihr gemeldet. Langsam fing sie an, sich Sorgen zu machen. Doch auch sie wollte die Freundin nicht unter Druck setzen. Sie überlegte die ganze Zeit, wie sie Alani helfen konnte.
Mitten in ihre Gedanken hinein kam die erlösende Nachricht von Alani. Sie teilte ihr mit, dass sie wieder zu Hause sei.
Emma schloss erleichtert die Augen. Na, immerhin, dachte sie. Doch sie wartete vergeblich auf mehr. Hatte sie doch gehofft, Alani würde schreiben, sie solle vorbeikommen. Sie war jedoch davon überzeugt, dass Alani sich spätestens morgen Abend melden würde. Sie kannte ihre Freundin schon so lange. Auch war ihr klar, dass sie mit jemandem reden musste, der die schwierigen Familienverhältnisse gut kannte.
Trotz ihrer momentan knappen Zeit hätte sie das natürlich getan. Aber offenbar war es nicht erwünscht. Emma wandte sich achselzuckend wieder ihren Plänen und Berechnungen zu.
Alani indessen verfolgte jedoch einen anderen Plan.
Sie sah es als eine geringe Chance an, aber besser als gar keine, dachte sie sich.
Sie würde ihre Großmutter besuchen. Die alte Dame lebte ganz in der Nähe in einem Pflegeheim. Alani hoffte, trotz der Demenz, mit der die Greisin zu kämpfen hatte, ihr möglicherweise irgendwelche Informationen entlocken zu können. Es gab sogenannte lichte Momente, in denen sich ihre Oma mütterlicherseits durchaus erinnern konnte. Gleich nach der Mittagsruhe im Heim würde sie einen Besuch dort antreten.
Doch vorher galt es, eine schwierigere Aufgabe zu erledigen. Alani musste ihren Vater anrufen. Sie hatte eine solche Wut im Bauch. Warum war er nicht zur Beerdigung erschienen und hatte ihr, seiner Tochter, nicht beigestanden?
Und was war mit der Wohnung ihrer Mutter?
Nach ihrem Tod hatte sie ihm eine E-Mail geschrieben, da er auf ihre Anrufe nicht reagiert hatte. Das ganze Verhalten ihres Vaters war seltsam.
Alani atmete tief durch und wählte die Nummer des Festnetzanschlusses in Schweden.
Er war nach der Trennung von Brigitte, seiner Frau, in die Nähe von Uppsala ausgewandert. Seine Mutter war gebürtige Schwedin und er fühlte sich diesem Land schon immer sehr verbunden. Offenbar war es für ihn vor fünf Jahren die beste Art, einen dicken Strich unter sein bisheriges Leben zu ziehen.
Alani erinnerte sich an die drei Besuche während ihrer Kindheit in Schweden. Sie konnte sich nicht für dieses Land begeistern. Es war ihr zu kalt, zu einsam, da wo ihre Großmutter herstammte, zu wenig Leben.
Es hatte schon etliche Male geklingelt. Alani wollte gerade wieder auflegen, als sich ihr Vater am anderen Ende meldete.
Offenbar war ihm klar, dass er um dieses Gespräch nicht herumkam.
„Hallo Papa“, kam es ziemlich gepresst durch Alanis Lippen.
Sie vernahm seinen Atem. „Was gibt es?“, hörte sie ihn knapp sagen.
Es kostete sie Überwindung, freundlich zu bleiben.
„Ich wollte gerne wissen, warum du mich auf Mamas Beerdigung alleine gelassen hast?“, schleuderte ihm Alani am Telefon entgegen. Sie bemerkte einen dicken Kloß in ihrem Hals und in ihren Augen sammelten sich wieder Tränen.
Ihr Vater antwortete, wie gewohnt, mit einer unglaublichen Kälte in der Stimme.
„Ich habe damit nichts mehr zu tun. Nur deshalb hast du angerufen?“, wollte er wissen.
Alani hatte im Vorfeld gewusst, dass dies nicht leicht werden würde, aber in Anbetracht der Situation hätte sie doch mit etwas Mitgefühl gerechnet.
Sie ging nicht auf die Frage ein, denn sie wollte so schnell wie möglich dieses Telefonat beenden.
Darum fragte sie nur noch, was denn nun mit der Wohnung ihrer Mutter passieren würde.
Er lachte höhnisch.
„Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass das dein Erbe ist. Was soll dieses Theater jetzt?“
Alani war fassungslos über den Ton, den ihr Vater da anschlug. Bevor sie die Kontrolle verlor, legte sie einfach auf und schwor sich in diesem Moment, nie mehr wieder ein Wort mit ihrem Vater zu reden. Dieses Thema war nun ein für alle Mal erledigt. Es dauerte noch eine Weile, bis ihr Ärger und ihre Wut sich soweit gelegt hatten, dass sie ans Autofahren denken konnte. Über die Landstraße zu fahren statt über die Autobahn war eine bewusste Entscheidung von Alani. Sie zwang sich, die Natur wahrzunehmen, um noch ein weiteres Stück herunterzukommen.
Nach einer halben Stunde stand sie endlich auf dem Parkplatz des Pflegeheimes, in dem ihre Großmutter lebte.
Bevor Alani ausstieg, fragte sie sich allerdings, was sie genau ihre Oma fragen wollte. Sie konnte es im Moment nicht in Worten formulieren und beschloss, es aus der Situation heraus zu versuchen. Erst einmal musste sie feststellen, in welcher Verfassung denn Katharine Ostmann, so hieß ihre Großmutter, sich gerade befand. Vielleicht war das alles auch nur ein unmögliches Unterfangen oder gar eine Schnapsidee. Aber das würde sich jetzt gleich herausstellen. An der Beerdigung ihrer eigenen Tochter konnte sie auch nicht teilhaben, weil es ihr zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht ging. Es gab eben unterschiedliche Phasen.
Alani betrat das große Gebäude und steuerte auf das Zimmer ihrer Großmutter zu. Eine Pflegerin begegnete ihr auf dem Flur, bevor sie den Raum betreten konnte.
Sie begrüßte Alani freundlich und erkannte sie sofort.
„Guten Tag, Frau Meißner! Da wird sich Frau Ostmann aber freuen, dass sie Besuch bekommt.“
Alani war froh, das zu hören.
„Guten Tag, dann geht es ihr also gut heute?“, wollte sie von der jungen Frau wissen.
„Ich sage es einmal so“, begann die hübsche dunkelhaarige Frau, auf deren Namensschild Anna stand, „sicher wird ihr gefallen, dass Sie kommen, aber ob sie weiß, wer Sie sind, steht auf einem anderen Blatt. Übrigens mein herzliches Beileid noch zum Tod ihrer Mutter.“
Alani bedankte sich und klopfte an die Tür, hinter der ihre Großmutter wohnte.
Sie betrat das kleine Zuhause der alten Dame, die in einem Sessel vor dem Fenster saß und sie ganz gespannt und neugierig betrachtete.
Alani hoffte inbrünstig, sie würde sie erkennen.
Bevor sie etwas sagen konnte, fragte die weißhaarige Greisin sehr resolut: „Was machen Sie in meinem Zimmer und wer sind Sie überhaupt?“
Alani versuchte es mit der Wahrheit.
„Hallo, Oma, ich bin es, Alani.“ Sie machte eine Pause, um zu schauen, wie die Reaktion auf der anderen Seite ausfallen würde.
Es war Katharine Ostmann anzusehen, dass sie versuchte, ihre grauen Zellen funktionieren zu lassen.
„Ich kenne dich doch“, kam es von den Lippen ihrer Oma, „aber nicht mit einem so komischen Namen.“
Sie legte die Stirn in Falten und schien nachzudenken. Auf einmal leuchtete ihr Gesicht und sie streckte die Hand nach Alani aus.
„Brigitte, mein Brigitte-Mädchen. Komm her zu mir.“
Alani war gerührt von dem zärtlichen Blick, mit dem ihre Großmutter sie ansah. Bevor sie antworten konnte, fragte ihre Oma.
„Wie geht es dir? Hast du endlich allen die Wahrheit gesagt?“
Alani stockte der Atem für einen kurzen Moment. Dann hakte sie nach.
„Was soll ich denn gesagt haben?“
Anscheinend war das die falsche Frage. Ihre Großmutter schüttelte hilflos den Kopf. „Nein, nein, nein…du bist so dumm.“
Dann fing sie an zu weinen und war nicht mehr in der Lage, sich zu beruhigen, so dass Alani nach dem Personal klingeln musste.
Der kurze Besuch endete damit, dass ihre Oma eine Beruhigungsspritze bekam und Alani gebeten wurde zu gehen.
Enttäuscht lief sie zu ihrem Wagen zurück. Dieser Versuch hatte nichts gebracht.
Allerdings spukte der Satz, hast du endlich allen die Wahrheit gesagt, noch eine ganze Weile in ihrem Kopf herum. Aber einen Reim darauf machen, konnte sich Alani nicht.
Da fiel ihr die beste Freundin ihrer Mutter ein, Friederike. Sie wusste bestimmt mehr. Sie erinnerte sich, dass diese ebenfalls so stille Frau oft am Mittwochnachmittag zum Kaffee kam, außer ihr Vater war zu Hause. Es war eine feine Frau, immer sehr adrett gekleidet, daran erinnerte sich Alani.
Sie wusste, wo sie wohnte. Nachdem sie vor sehr vielen Jahren Witwe geworden war, hatte sie ihr Haus verkauft und sich am Stadtrand eine nette Eigentumswohnung geleistet. Und da Alani ja sowieso unterwegs war, entschloss sie sich, dort vorbeizufahren. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Gesagt, getan.
Gerade als sie auf den entsprechenden Klingelknopf gedrückt hatte, kam eine junge Frau aus dem Haus, grüßte freundlich und öffnete ihren Briefkasten.
Bisher hatte sich nichts getan, so dass Alani noch einmal auf den kleinen schwarzen Knopf drückte.
„Entschuldigung, dass ich Sie anspreche“, hörte sie die junge Frau sagen, „Sie wollen zu Frau Assmus?“
„Ja, ich wollte Frau Assmus besuchen. Sie ist eine Freundin meiner Mutter. Es geht ihr doch gut?“
„Das will ich hoffen. Sie ist heute früh abgereist und wird auch nicht so schnell zurückkommen. Sie besucht ihren Sohn für einige Monate in den USA. Das hat sie sich zum Rentenbeginn geschenkt. Ich weiß das so genau, weil ich ihre Blumen versorge. Aber das müsste ihre Mutter doch wissen, sorry, ist mir so herausgerutscht.“
Außerordentlich gesprächig, dachte Alani, gab ihr aber Antwort. „Meine Mutter ist gerade verstorben, deshalb wollte ich mit Frau Assmus sprechen. Ich konnte nach der Beerdigung nicht mit ihr reden.“
Die junge Frau schlug die Hände vor ihr Gesicht.
„Oh, das ist ja schlimm. Mein Beileid.“ Für Alani hatte sich damit ihre Mission erledigt, leider. Friederike war ihre letzte Hoffnung, etwas herauszufinden, von dem sie spürte, dass es da war. Aber was war es, worüber ihre Mutter nie gesprochen hatte?
Ob Friederike es gewusst hatte? Schade, dass sie unmittelbar nach der Beerdigung abreiste. Mhm … in drei Monaten würde sie es noch einmal versuchen, soviel war sicher.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als nach Hause zu fahren. Als sie in ihre Straße bog, sah sie schon das Auto von Patrick stehen. An ihn hatte sie den ganzen Nachmittag nicht mehr gedacht.
Nachdem Alani am Straßenrand geparkt hatte, hielt er ihr die Tür ihres Wagens auf.
Zur Begrüßung nahm er sie vorsichtig in die Arme und küsste sie ganz zart auf den Mund.
„Hallo, Alani, ich konnte nicht anders, ich musste einfach kommen, um zu sehen, wie es dir geht. Außerdem habe ich dich vermisst.“
Er sah sie traurig aus seinen blauen Augen an.
„Hallo, Patrick“, entgegnete Alani. „Was soll ich dir sagen? Ich bin noch ganz schön von der Rolle. Aber komm erst einmal mit nach oben. Wir müssen nicht auf der Straße reden, nicht wahr?“
Patrick nickte, lief hinter ihr die Treppe hoch und betrat nach ihr die Wohnung.
Als erstes sah er die bunte Kaffeetasse mit den vielen Früchten und dachte an Brigitte.
Alani ließ sich auf einen der Stühle fallen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Patrick stellte sich hinter sie und massierte ihr den Nacken. Sie war vollkommen verspannt, was ihn nicht wunderte bei dem Stress und den Sorgen.
Er schaute auf die Uhr.
„Soll ich uns etwas Leckeres kochen? Hunger hätte ich schon und ich gehe davon aus, dass du heute noch nichts gegessen hast, oder?“
Alani bemerkte erst jetzt das nagende Gefühl in ihrem Magen, dass sie als ordentlichen Kohldampf ausmachen konnte.
Sie stimmte Patrick zu.
„Sehr gerne. Schmeiß ein paar Nudeln in den Topf, Tomatensauce steht im Schrank. Mehr ist nicht vorrätig, ich muss einkaufen gehen. Ich geh schnell duschen und zieh mich um, ok?“
Doch bevor er antworten konnte, war sie schon in ihrem Schlafzimmer verschwunden.
Patrick machte sich ans Werk, stellte Nudelwasser auf den Herd und holte das Essgeschirr aus dem Schrank.
Pünktlich zum Essen erschien Alani frisch geduscht in Jogginghose und Sweatshirt und setzte sich an den gedeckten Tisch.
Sie erzählte Patrick von dem Besuch bei der Großmutter und gab kurz das unerfreuliche Gespräch mit ihrem Vater wieder.
Ihr Freund legte die Stirn in Falten. Er wusste das auch alles nicht zu deuten, aber offensichtlich gab es etwas in dieser Familie, über das nicht geredet wurde. Alani tat ihm leid, sie quälte sich oft damit herum. Er hätte wahrscheinlich besser damit leben können, doch Alani war jemand, die sehr klare Strukturen brauchte und Dinge immer klären wollte. Möglichst sofort.
Würde es nach Patrick gehen, würden er und Alani schon längst zusammen wohnen.
Er verstand auch Alanis Zögern nicht so ganz. Sie waren seit etwas mehr als drei Jahren ein Paar, verstanden sich gut. Aus seiner Sicht sprach nichts dagegen.
Ob er es jetzt noch einmal zur Sprache bringen sollte? Schließlich ging es ihr nicht gut, da lag es doch nahe, diesen Schritt zu gehen. Dann wäre sie nicht allein.
Das war seine logische Schlussfolgerung.
Nachdem sein Teller leer war und er das Besteck abgelegt hatte, wagte er den Versuch.
Doch etwas daran war falsch, seine Ansprache war nicht emotional, sondern er zählte Fakten auf, die für ein Zusammenleben sprachen. Alani konnte im ersten Moment nicht antworten.
„Patrick“, begann sie, „es ist wirklich schön, dass du dir Gedanken um mich machst, aber ich halte das für einen falschen Zeitpunkt. Ich finde, wir lassen das noch eine Weile so, wie es jetzt ist. Es läuft doch gut mit uns.“
Schon während sie diese Worte aussprach, bemerkte sie, dass sich das alles nicht richtig anfühlte. Aber sie wollte es auch nicht zerreden.
„Ich bin wirklich gerne mit dir zusammen“, versuchte sie es zu retten. „Aber lass mich bitte erst den Rest von meiner Vergangenheit aufräumen, dann bin ich bereit für den nächsten Schritt, ok?“
Sie griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand und hielt sie fest.
Patrick nickte, sagte aber kein Wort.
Für den Rest des Abends wurde dieses Thema nicht mehr berührt.
Als Alani am nächsten Morgen aufwachte, lag Patrick nicht mehr neben ihr.
Offensichtlich war er schon auf dem Weg zur Arbeit. Sie selbst hatte für den Rest der Woche noch Urlaub.
Alani reckte und streckte sich und im gleichen Moment klingelte ihr Telefon.
„Guten Morgen Emma“, begrüßte sie ihre Freundin.
„Hi, hast du gut geschlafen?“, fragte Emma, ließ Alani allerdings keine Zeit zum Antworten, fragte direkt und ohne Umschweife: „Hast du Lust, mit mir frühstücken zu gehen, jetzt gleich? Ich könnte mir eine Stunde freischaufeln. Was sagst du?“
Alani überlegte einen Moment.
„Ja, das ist eine prima Idee, dann bis gleich in unserem Lieblingscafé, ok?“
Emma war begeistert. „Super, ich freue mich, bis gleich.“
Alani sprang unter die Dusche, zog sich an, verließ 20 Minuten später ihre Wohnung und radelte zum vereinbarten Treffpunkt.
Emma saß schon am Lieblingstisch der beiden und winkte ihr durch die Fensterscheibe zu. Die beiden Freundinnen umarmten sich und bestellten dann ein reichhaltiges Frühstück bei der Bedienung.
Alani erzählte Emma von Patricks missglücktem Versuch, sie vom Zusammenleben zu überzeugen.
Emma kommentierte es nicht, zog aber die Augenbrauen nach oben. Das reichte schon für Alani. Damit drückte Emma nicht unbedingt Begeisterung aus.
Danach sprachen die beiden über Emmas neues, großes Projekt. Jede von ihnen hatte einen Beruf, der sehr viel Kreativität verlangte. Emma war Architektin und Alani arbeitete als Goldschmiedin.
Und plötzlich erinnerte sich Emma an ein privates Projekt ihrer Freundin Alani.
„Sag mal, was wurde denn aus dem Tisch, den du vorhattest zu bauen?“
Alani hatte vor vielen Monaten die fixe Idee entwickelt, einen neuen Küchentisch zu bauen, oder besser, sie wollte ihren Essplatz in etwas Einzigartiges verwandeln. Irgendwann hatte sie angefangen, von jeder Urlaubsreise einen Button mitzubringen, den sie schön fand, aus irgendeiner Stadt oder von einer Sehenswürdigkeit. Sie hatte sich vorgestellt, alle Buttons als Tischplatte umzufunktionieren, indem sie diese in Kunstharz eingoss. Sie würde das Untergestell ihres jetzigen Tisches verwenden und hatte auch schon eine Verschalung für ihr Vorhaben gebaut, handwerklich war sie wirklich gut. Doch fehlten ihr noch einige Buttons, denn der Tisch war relativ groß.
Da sie aber in nächster Zeit nicht vorhatte zu verreisen, ruhte diese Arbeit.
„Schade“, sagte Emma nachdenklich. „Du könntest dir welche aus diversen Internetläden besorgen.“
Alani schüttelte den Kopf. „Nein, das trifft es nicht. Diese Buttons sollen eine Geschichte erzählen, weißt du, was ich meine? Ich möchte auf den Tisch schauen und mich erinnern.“
Emma lächelte. „Eine schöne Idee, Alani. Aber dann wird es noch eine Weile dauern, bis du anfangen kannst, deine Tischplatte zu gießen. Dafür musst du noch etliche Male in den Urlaub fahren.“
Alani zuckte mit den Schultern. „Dann wird das eben so sein. Gut Ding will Weile haben.“
Emma schaute abwesend vor sich hin und nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Sie legte anschließend den Kopf etwas auf die Seite und schaute ihre Freundin an.
„Außer… außer, du lässt die Buttons durch eine Reise zu dir kommen?“
Alani lachte. „Wie stellst du dir das denn vor?“