Ein unbedachter Moment - Birgit Schrod - E-Book

Ein unbedachter Moment E-Book

Birgit Schrod

4,8

Beschreibung

Susanne lebte in einem festen Rahmen, in dem sie sich sehr wohl fühlte. Allerdings gab es diesen einen Moment, der alles auseinander brechen ließ. Es quälte sie nur eine Frage: Warum habe ich das zugelassen? Birgit Schrod wurde 1957 in der Nähe von Darmstadt geboren und lebt weiterhin in der Region. Schon als Jugendliche schrieb sie Geschichten und Gedichte und verwirklichte jetzt den Traum vom eigenen Buch.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 362

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (10 Bewertungen)
8
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Birgit Schrod

Ein unbedachter Moment

Roman

AUGUST VON GOETHE LITERATURVERLAG

FRANKFURT A.M. • LONDON • NEW YORK

Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.

©2018 FRANKFURTER LITERATURVERLAG

Ein Unternehmen der

FRANKFURTER VERLAGSGRUPPE

AKTIENGESELLSCHAFT

Mainstraße 143

D-63065 Offenbach

Tel. 069-40-894-0 ▪ Fax 069-40-894-194

E-Mail [email protected]

Medien- und Buchverlage

DR. VON HÄNSEL-HOHENHAUSEN

seit 1987

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.d-nb.de.

Websites der Verlagshäuser der

Frankfurter Verlagsgruppe:

www.frankfurter-verlagsgruppe.de

www.frankfurter-literaturverlag.de

www.frankfurter-taschenbuchverlag.de

www.publicbookmedia.de

www.august-goethe-von-literaturverlag.de

www.fouque-literaturverlag.de

www.weimarer-schiller-presse.de

www.deutsche-hochschulschriften.de

www.deutsche-bibliothek-der-wissenschaften.de

www.haensel-hohenhausen.de

www.prinz-von-hohenzollern-emden.de

Dieses Werk und alle seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Nachdruck, Speicherung, Sendung und Vervielfältigung in jeder Form, insbesondere Kopieren, Digitalisieren, Smoothing, Komprimierung, Konvertierung in andere Formate, Farbverfremdung sowie Bearbeitung und Übertragung des Werkes oder von Teilen desselben in andere Medien und Speicher sind ohne vorgehende schriftliche Zustimmung des Verlags unzulässig und werden auch strafrechtlich verfolgt.

Lektorat: Dr. Andreas Berger

Titelbild: Jeremy Bishop / unsplash

ISBN 978-3-8372-1985-2

Susanne ließ sich auf den Stuhl in der Miniküche hinter ihrem Laden fallen, kickte die Schuhe von sich und rieb ihre schmerzenden Füße. Es war ein verdammt langer Tag. Auf dem kleinen Tisch stand noch eine halb volle Kaffeetasse. Sie nippte daran, um gleich das Gesicht zu verziehen, denn der Kaffee war schon längst kalt.

Sie massierte ihren schmerzenden Nacken mit der rechten Hand und schaute auf ihre Armbanduhr: Es war 18 Uhr, und sie konnte endlich den Laden schließen. Sie stand auf, lief barfuß zur Tür, schloss ab, löschte das Licht und ließ beim Zurückgehen in die Küche ihren Blick durch den Verkaufsraum schweifen. Sie war stolz, denn sie hatte erreicht, wovon sie lange geträumt hatte: einen eigenen Blumenladen. Seit zwei Jahren war sie die Eigentümerin. Sie schlüpfte wieder in ihre Schuhe, schnappte sich ihre Handtasche, knipste alle Lampen aus und betrat durch die Hintertür den kleinen Hof.

Ihr Fahrzeug stand direkt am Straßenrand, sie entriegelte schon von Weitem die Autotür und stieg dann ein. Bevor sie losfuhr, betrachtete sie noch einmal die Schaufenster und lächelte zufrieden. „Das Blattwerk“ hatte sich etabliert, sodass sie im vergangenen Jahr eine Halbtagskraft, Saskia, 28 Jahre jung, einstellen konnte. Leider war diese zurzeit im Urlaub, sodass sie selbst den ganzen Tag im Laden stehen musste. So schnell kann man sich daran gewöhnen, ein bisschen weniger zu arbeiten, dachte sie seufzend. Sie startete den Wagen und fuhr los.

In den 20 Minuten Fahrzeit, die sie für den Nachhauseweg brauchte, ging ihr vieles durch den Kopf. Alles in allem war sie zufrieden und glücklich mit ihrem Leben.

Sie war verheiratet, hatte einen Sohn, ein eigenes Haus und keine finanziellen Sorgen, das war schon eine ganze Menge in der heutigen Zeit, in der nichts mehr sicher schien.

Sie freute sich jetzt auf eine Badewanne mit wundervoll duftender Schaumkrone, und niemand würde sie davon abhalten. Sie hatte ohnehin das Haus mindestens die nächsten zwei Stunden noch für sich. Das würde reichen, um sich zu entspannen.

Mittlerweile war sie daheim angekommen. Nachdem sie den Wagen in der großräumigen Garage geparkt hatte, ging sie auf ihr Domizil zu. Vor vielen Jahren hätte sie sich nicht vorstellen können, in einem solchen Haus zu leben. Ihr Traum war es immer, in einem rustikalen Eigenheim zu leben, mit viel Holz und einfach gemütlich sollte es sein.

Leider hatte sie die Rechnung ohne ihren Mann gemacht. Thomas war mit seinen 45 Jahren zwei Jahre älter als Susanne, und inzwischen waren die beiden 21 Jahre verheiratet. Er war Architekt und auch er hatte eine klare Vorstellung, welche Attribute seine Behausung aufweisen sollten.

Die beiden hatten sich zu Studienzeiten kennengelernt in einer lauen Nacht, irgendwo in München auf irgendeiner Geburtstagsparty von irgendwem. Er war damals 23 und sie 21 Jahre alt. Er war ihr gleich aufgefallen: groß, dunkelhaarig, dunkle Augen, klare, kräftige Stimme. Das erste Bild von ihm hatte sie immer noch vor Augen.

Er stand mit einer Flasche Bier inmitten der Menge und hielt einen Vortrag über moderne Architektur. Susanne hatte damit überhaupt nichts am Hut. Sie war nur durch eine Freundin, die sie schon lange kannte, auf dieser Feier gelandet. Sie selbst hatte angefangen, Textildesign zu studieren, allerdings fand sie keinen richtigen Zugang zu ihrem Fach, obwohl sie schon immer eine kreative Ader hatte. Sie war sich damals überhaupt nicht sicher, ob sie wirklich studieren wollte. Ihre Eltern hatten sie darin bestärkt, und so nahmen die Dinge ihren Lauf.

An diesem Abend war ihr gar nicht nach Feiern zumute, sie wurde von der Freundin einfach mitgeschleift und da war sie jetzt.

Sie hatte sich einen Cocktail geschnappt, saß auf der Gartenmauer und hörte diesem Typen, der da über Minimalismus und Baumaterialien wie Glas, Stahl und Beton wild gestikulierend referierte, zu. Irgendwann waren das alles nur noch böhmische Dörfer für sie und gähnend langweilig, sodass sie sich auf den Weg zum Essenfassen machte. Im Inneren des Hauses roch es lecker nach Tomatensauce. Nachdem sie ihren Teller mit Spaghetti und Sauce vollgeladen hatte, zog sie es vor, wieder nach draußen zu gehen, denn drinnen war es ihr viel zu warm. Als sie ihren Fuß über die Schwelle der Terrassentür setzte, blieb sie mit dem Absatz hängen, der Teller entglitt ihren Händen und landete auf einem weißen Herrenhemd, seinem Hemd! Oh Gott, war ihr das peinlich!

Niemand war zu diesem Zeitpunkt mehr nüchtern, sodass es natürlich lautes Gegröle und Gelächter gab. Susanne wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Thomas jedoch sagte gar nichts, zog einfach ganz leger sein Hemd aus, wischte damit noch den Boden auf und grinste sie unverschämt an, sodass sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Mit einer lässigen Bewegung entsorgte er die Schweinerei in seiner Hand in den nächsten Busch und sagte zu ihr: „Ist doch halb so schlimm, es gibt ja noch genug. Übrigens, mein Name ist Thomas.“

Susanne stotterte irgendetwas vor sich hin. Er aber nahm sie einfach an der Hand, zog sie nach drinnen, belud ihr in Nullkommanichts einen neuen Teller und hielt ihn ihr unter die Nase, was sie noch mehr verlegen machte. Ihm gefiel, was er sah, und für ihn war klar: Er musste wissen, wer sie war.

So kam es, dass die beiden sich Spaghetti essend – er in einem geliehenen T-Shirt – unterhielten und am Ende des Abends Telefonnummern tauschten.

All diese Bilder gingen Susanne auf dem Weg ins Badezimmer durch den Kopf. Sie beugte sich über die weiße Designerwanne und drehte das Wasser auf, bevor sie ihre Kleider auf die schwarzen Fliesen fallen ließ. Sie betrachte sich im Spiegel über dem Waschbecken, schnitt eine Grimasse, schminkte sich sorgfältig ab und glitt in die Badewanne. Oh, tat das gut! Sie hatte das Licht gedimmt und musste lächeln. Fast wie im Film, dachte sie.

Und ja, manchmal kam ihr das Leben mit Thomas wie im Film vor, fast zu schön, um wahr zu sein. Sehr dankbar darüber, dass sie das immer noch wahrnahm und nichts für selbstverständlich hielt, reckte sie sich in der Wanne.

Letztlich war sie damals vor 22 Jahren einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Thomas war schon immer gradlinig und schnörkellos. Sie selbst war oft unentschlossen, es fanden einfach immer zu viele Überlegungen in ihrem hübschen Kopf statt.

Jedenfalls ließ Thomas nicht viel Zeit verstreichen, nach dieser Tomate-trifft-auf-Hemd-Nummer, Susanne wiederzusehen. Von Anfang an hatten sie sich viel zu erzählen. Amors Pfeil hatte bei beiden einen Volltreffer gelandet. Nach einem halben Jahr beschlossen die beiden zu heiraten. Die Mutter von Susanne war mehr bestürzt als erfreut über diese Eröffnung ihrer Tochter. Es folgten die üblichen Bemerkungen wie: „Du kennst ihn doch noch nicht richtig“, oder auch Fragen wie: „Müsst ihr denn heiraten?“

Nein, sie wollten heiraten, basta!

Susanne lag immer noch träge in der Wanne und grinste vor sich hin. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich und ihren Mann bei der Hochzeit und in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung, die winzig war. Aber das war ihnen egal, sie waren glücklich. Ein gutes Jahr nach der Hochzeit kam ihr gemeinsamer Sohn Adrian zur Welt, das Glück war perfekt.

In diesem Moment hörte sie die Haustür ins Schloss fallen und schreckte auf. Meine Güte, dachte sie, wie lange liege ich eigentlich jetzt schon hier? Sie schaute auf ihre Hände, die schon sehr schrumpelig waren. Es war wohl Zeit, aus dem Wasser zu steigen, bevor sie sich ganz auflöste, sie hatte sich ganz in ihren Gedanken verloren.

Gerade als sie sich in ein großes Laken einwickelte, hörte sie die stürmischen Schritte ihres Mannes auf der Treppe.

Dann hörte sie ihn rufen: „Hallo, jemand zu Hause? Wo bist du?“

Susanne öffnete die Badezimmertür.

Er stand vor ihr auf dem Flur. Er sah immer noch gut aus, und sie war stolz auf ihn. „Hey, meine Blumenfee, da bist du ja. Wie war dein Tag?“ Er küsste sie auf ihre nackte Schulter.

„Hallo“, antwortete Susanne und strich ihm über den Arm, „anstrengend, aber ein guter Tag. Hast du Hunger? Oder hast du schon gegessen?“, fragte sie ihn, denn sie schob mächtig Kohldampf.

„Nein, keine Zeit. Wollen wir essen gehen?“ Fragend zog er die Augenbrauen nach oben und sah sie an. Er antwortete aber gleich selbst, als er ihren Gesichtsausdruck sah: „Okay, du bist zu kaputt und zu faul, um noch mal aus dem Haus zu gehen, ich habe verstanden. Wie wärs dann mit Spaghetti und Tomatensauce?“

Wenn er sie ärgern wollte, kam diese Bemerkung schon mal aus seinem Mund. Sie zog die Nase kraus und streckte ihm die Zunge raus.

Er lachte und meinte: „Ich gehe erst mal duschen, überlege es dir: Entweder ausgehen oder kochen.“ Er ließ sie stehen, ohne eine Antwort abzuwarten, und lief zur Dusche.

Susanne stand in ihrer unentschlossenen Art auf dem Flur und überlegte: Kochen, na ja, aber weggehen, nein, dazu hatte sie keine Lust. Also ging sie ins gemeinsame Schlafzimmer, um sich anzuziehen, und anschließend nach unten in die Küche.

Sie inspizierte den Kühlschrank, kombinierte, was sie aus den vorhandenen Lebensmitteln zaubern konnte, und machte sich ans Werk. Als Thomas 20 Minuten später ebenfalls nach unten kam, wehte schon ein leckerer Duft durch den Raum.

„Da komme ich ja gerade richtig, um den Wein aufzumachen“, ließ er verlauten und tat dies dann auch.

Als sie etwas später am Tisch gemeinsam ihre Mahlzeit einnahmen, erzählte er ihr von einem neuen spannenden Projekt, für das er eine Anfrage erhalten hatte. Wenn er so über seine Arbeit redete, lagen immer noch ganz viel Begeisterung und Leidenschaft in seiner Stimme. Er liebte es, neue Gebäude zu erschaffen, wie er es selbst formulierte. Er hatte allerdings auch einen absolut steilen Karriereweg hingelegt. Bei ihm kam nach dem Studienende das richtige Angebot zur richtigen Zeit. Verwirklicht hatte er sich beziehungsweise seine Ideen das erste Mal vollständig in ihrem eigenen Haus. Es war sein Baby. Viele Nächte hatten sie durchdiskutiert, da von Susannes Vorstellungen kaum etwas übrig geblieben war. Holz gab es nur noch in Form der Fußböden, ansonsten war er zu keinem Kompromiss bereit. Am Anfang musste sich Susanne auch an die riesengroßen Fenster im Wohnbereich gewöhnen. Aber sie musste zugeben, dass dieses Haus etwas sehr Elegantes und Zeitloses in sich trug. Es war irgendwie ein Teil von Thomas: gradlinig und schnörkellos.

Auch fanden die beiden einen Kompromiss, Susanne durfte sich dann bei der Einrichtung austoben. Mittlerweile wohnten sie nun schon über zehn Jahre in diesem Haus und fühlten sich wohl. Der gemeinsame Sohn war vor ein paar Monaten ausgezogen in eine Studenten-WG, seitdem war es ruhiger, aber das war der Lauf der Dinge.

Sie seufzte.

Thomas interpretierte es falsch und bemerkte: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich übernehme mich schon nicht. Du weißt doch, das ist für mich nur eine neue Herausforderung.“

„Das glaube ich dir aufs Wort, schließlich kenne ich dich lange genug“, war ihre Antwort.

Er hob sein Glas, schaute sie an und lachte. „Auf dein wahres Wort, meine Liebe.“

Ja, sie liebte ihn noch immer, obwohl es nicht immer einfach gewesen war. Sie stand ausnahmslos in seinem Schatten, jedoch musste sie auch zugeben, dass sie keine Frau für die erste Reihe war. Und trotzdem: Es war auch nicht immer leicht, wenn sie auf allen Festen, Veranstaltungen, Präsentationen zusah, wie andere Frauen ihren Thomas anschmachteten. Auf der einen Seite war es ein Kompliment, auf der anderen Seite machte sie dies ein bisschen unruhig. Sie vertraute ihm grundsätzlich und doch war sie sich nicht sicher: Konnte er immer allen Versuchungen widerstehen?

Die einzige Person, der sie sich je anvertraut hatte, war ihre Freundin Caroline. Sie war ein Jahr älter als Susanne. Die beiden kannten sich schon seit der Schule. Caroline war auch diejenige, die ihre Freundin vor vielen Jahren auf diese Geburtstagsparty mitgenommen hatte und somit daran schuld war, dass Susanne Thomas kennengelernt hatte.

Caroline war eher das Gegenteil von Susanne: Sie war impulsiv, manchmal ein bisschen zu laut, hatte zu allem etwas zu sagen, von Beruf war sie freie Journalistin.

Caroline lachte damals die Bedenken von Susanne weg mit der Bemerkung, dass dies doch die Beziehung auch lebendig halten würde.

„Hey, was sagst du dazu?“, hörte sie Thomas in ihre Gedanken hinein fragen. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Entschuldige, ich war grad weit weg.“

„Ja, das habe ich bemerkt. Was sagst du dazu, dass ich mit dir nächstes Wochenende wegfahren möchte?“

„Oh, ich habe tatsächlich was verpasst eben, als ich in meiner Traumwelt war“, lachte sie.

Das nächste Projekt, das Thomas angeboten bekommen hatte, sollte in Wien realisiert werden. Daher kam seine Idee, mit ihr zusammen dorthin zu fahren, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, ehe er den Auftrag annahm.

„Oh, schön. Ja, natürlich freue ich mich und ich hoffe, es bleibt ein wenig Zeit für uns beide übrig außer deiner Arbeit.“

„Ja, das ist ja auch die Idee. Ich weiß, dass ich viel Zeit mit meiner Arbeit und gelegentlich zu wenig Zeit mit dir verbringe. Da unser Herr Sohn nicht mehr bei uns wohnt und wir wieder total frei sind, dachte ich, wir müssten uns mal wieder mehr um uns kümmern.“ Er schaute sie liebevoll an und griff über den Tisch nach ihrer Hand.

Also, dachte sie, hatte er es auch bemerkt, Gott sei Dank.

Ihre Beziehung war etwas zu kurz gekommen in letzter Zeit.

Sie hatte sich viele Gedanken gemacht, ganz bestimmt mehr als er. „Ja, dann machen wir das so, ich würde mich freuen“, stimmte sie zu und hielt seine Hand fest.

Danach räumten sie die Küche gemeinsam auf. Es war schon spät. Sie beschlossen, schlafen zu gehen. Susanne verschwand noch einmal im Bad. Als sie zurückkam, lag er schon gleichmäßig atmend im Bett, er schlief. Leider passierte das in den letzten Wochen viel zu oft. Sie beobachtete ihn eine Weile, drehte sich aber dann um, löschte das Licht und wartete, bis der Schlaf sie einholte.

Als sie am nächsten Morgen um kurz nach 7 Uhr erwachte, hörte sie schon im Bad nebenan die Dusche rauschen. Just in dem Moment, als sie ihre Beine aus dem Bett schwang, kam er aus dem Badezimmer.

„Guten Morgen“, sagte er und schaute sie an.

„Na, du Schlafmütze, hast du ausgeschlafen?“, gab sie zurück.

„Ja, ich weiß, ich habe schon geschlafen, tut mir leid, ich war müde.“ Während er dies sagte, ging er weiter durch den Raum, um den begehbaren Kleiderschrank zu erreichen.

Susanne ging wortlos nach unten in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten. Kaum hatte sie angefangen, den Tisch zu decken, hörte sie ihn schon die Treppe herunterzurennen.

„Für mich nur einen Kaffee, ich habs eilig. Ich muss um 8 Uhr auf der Baustelle sein. Wir müssen da noch etwas klarstellen, bevor die Handwerker weiterarbeiten.“ Er schnappte sich die Tasse aus ihrer Hand, nahm hastig ein paar Schlucke und gab sie ihr wieder zurück.

„Oh, ja dann …“

Bevor Susanne weiterreden konnte, küsste er sie flüchtig auf den Mund und war schon auf dem Weg zur Haustür, von wo aus er ihr noch zurief: „Dann bis heute Abend, viel Spaß mit deinen Blumen.“

Ein dumpfes Geräusch folgte, die Eingangstür war zu, und er war weg.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und blickte in die Tasse. Ja, so war er, nicht immer, aber oft. Sie musste wieder an Caroline denken. Ihre Freundin und Thomas waren vom gleichen Schlag. Sie nahm sich fest vor, Caroline in der Mittagspause anzurufen. Es war schon viel zu lange her, dass sie mit ihr gesprochen hatte.

Während sie frühstückte und sich später im Bad fertig machte, gingen ihre Gedanken viele Jahre zurück.

Während damals Susanne und Thomas ein Paar geworden waren, blieb Caroline noch eine Zeitlang Single. Sie war viel unterwegs, sie nahm die Dinge wesentlich leichter als Susanne und hatte es nicht eilig. Sie mochte Männer, hatte aber noch keine Lust, sich zu binden.

Als Thomas und Susanne ihre winzige Wohnung gegen eine größere tauschten, gab es eine Einweihungsparty. Es waren Arbeitskollegen eingeladen und Freunde, die es in ihrem gemeinsamen Leben gab.

Und es gab Ben. Ben war ein Kollege von Thomas, ebenfalls Architekt und für Susanne nicht einschätzbar. Er war ein ganz anderes Kaliber Mann als ihr eigener. Alles an ihm war ein bisschen zu viel für ihren Geschmack. Ein Macho, wie er im Buch stand, prahlte zu laut, und sie hatte oft das Gefühl, dass nicht immer alles der Wahrheit entsprach, was er so von sich gab.

Thomas gab zu, dass Ben auch bei der Arbeit exzentrisch sei, allerdings gerade deshalb bizarre Ideen beisteuern konnte.

Caroline war sehr angetan von Ben und kommentierte das in der Art, endlich gäbe es mal einen, der nicht so spießig wäre wie alle anderen.

Jedenfalls kam Caroline eines Tages und erzählte Susanne, dass sie sich mit Ben verabredet hätte.

Was dann folgte, war eine chaotische On-Off-Beziehung der beiden, was sie keineswegs dramatisch fanden, eher alle anderen um sie herum.

Trotz der unterschiedlichen Persönlichkeiten oder gerade deshalb entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Paaren, es gab gemeinsame Unternehmungen, und es folgte eine unbeschwerte Zeit.

Ben fand das dann alles zu langweilig und wollte Thomas überreden, sich mit ihm selbstständig zu machen. Es gab viele Gespräche und Überlegungen. Aber selbst Thomas wagte diesen Schritt nicht: Ben war ihm nicht zuverlässig genug.

Jedenfalls entschieden sich Ben und Caroline quasi von einem Tag zum anderen, gemeinsam nach Berlin zu gehen.

Susanne fand es etwas schade, dass die Freundin so weit weg war. Es kam aber dann genau so, allerdings hatte die Freundschaft der beiden Frauen all die Jahre nicht darunter gelitten, man sah sich eben nur nicht mehr so häufig.

Susanne wurde dann schwanger und war auch erst einmal sehr mit ihrem Mutter-Dasein beschäftigt. Caroline nannte sie zwar leicht belustigt das Mutter-Schaf und belächelte sie ein wenig, aber Susanne war sich nie sicher, wie viel da Ernst oder Fassade war.

Als Adrian ungefähr ein Jahr alt war, kamen die beiden zu Besuch aus Berlin und eröffneten völlig überraschend, dass sie eine Woche vorher geheiratet hatten. Susanne konnte das nicht verstehen, aber irgendwie passten die zwei zusammen, so sprunghaft, wie sie waren. Ob das auf Dauer gut gehen würde, war die andere Frage.

Mittlerweile war es Zeit, in den Blumenladen zu fahren. Susanne griff auf dem Garderobenschrank nach ihrem Autoschlüssel und verließ ebenfalls das Haus.

Sie freute sich auf ihre Arbeit. Sie liebte es, ihre Kreativität dort auszuleben. Das, was ihr bei ihrem Studium nicht gelungen war, konnte sie mit den Pflanzen durchaus umsetzen. Es war die richtige Entscheidung, nachdem Adrian in den Kindergarten gegangen war, eine Ausbildung zur Floristin zu machen. Thomas konnte das nicht so ganz nachvollziehen, respektierte aber ihren Wunsch und unterstützte sie dabei.

Sie arbeitete all die Jahre in diesem Laden. Als die Besitzerin aus Altersgründen verkaufen wollte, schlug Susanne zu und verwirklichte ihren Traum.

Mittlerweile war sie bei ihrem „Blattwerk“ angekommen und begann mit ihrer Arbeit. Sie genoss es, inmitten ihrer Blumen zu sein, so viele Farben und Düfte. Niemals hätte sie sich einen Schreibtischjob vorstellen können, das war ihr alles viel zu leblos.

Kaum hatte sie die Blumen alle versorgt und in dekorativen Gefäßen aufgereiht, öffnete sich schon zum ersten Mal die Ladentür.

„Guten Morgen, Susanne“, rief jemand nach hinten in die Küche, wo Susanne sich gerade einen Kaffee einschenken wollte. Sie streckte den Kopf aus der Tür und schaute in Richtung Verkaufsraum.

„Guten Morgen, Ella“, grüßte sie fröhlich zurück. „Na, was hast du mir denn heute Schönes mitgebracht?“

Ella stellte die große Kiste auf den Verkaufstresen und packte aus. Es kamen Vasen und Übertöpfe zum Vorschein. Wundervolle Exemplare, sehr geschmackvoll und etwas außergewöhnlich in jeder Hinsicht.

Susanne betrachtete die Gegenstände und war begeistert: „Hey, ich bin jedes Mal so angetan von deinen schönen Sachen. Ella, wie machst du das nur?“

„Och, Susanne, nichts Besonderes, das ist normal für mich, so, wie wenn du einen schönen Strauß bindest.“

Die beiden Frauen kannten sich schon lange, diese Verbindung kam zustande durch die Kinder. Ella hatte einen Sohn in Adrians Alter. Die beiden Buben trafen sich regelmäßig zum Spielen, und so kamen sich die Mütter dann näher.

Als Susanne den Blumenladen übernahm, hat es sich so ergeben, dass sie Ellas schöne Töpferarbeiten in ihrem Laden verkaufte, damit war beiden gedient, und bei Susannes Kunden waren die Artikel sehr beliebt.

„Was gibts Neues zu berichten, meine Liebe?“, erkundigte sich Ella. „Wie geht es Thomas?“

Susanne schnaufte einmal tief durch, ehe sie antwortete: „Gut, danke.“

„Oh, Sturm im Paradies?“ Ella lachte.

„Nein, nein. Thomas war und ist mein Traummann. Die Krux an der Sache ist, ich sehe ihn kaum in letzter Zeit. Ich freue mich ja, wenn er so erfolgreich ist mit seiner Arbeit. Aber für mich bleibt immer weniger Zeit übrig. Ich hoffe, das ändert sich wieder. Immerhin fahren wir am nächsten Wochenende nach Wien, und das war seine Idee.“

„Dann genieße es. Tja, die einen arbeiten zu wenig, die anderen zu viel. Wahrscheinlich ist es nie so optimal, wie es gerade ist.“

„Ach, Ella, ich will mich ja gar nicht beschweren. Schließlich können wir ja auch durch die Arbeit von Thomas ein so schönes Leben führen, ohne große Sorgen. Trotzdem wäre es mir manchmal lieber, wir könnten ein bisschen mehr Zeit miteinander verbringen.“

Ella sah sie verschmitzt an. „Kann ich verstehen, Susanne. Wenn er dann mal in Rente geht und den ganzen Tag um dich herum ist und dich nervt, erinnere ich dich gern an deine Worte.“

Jetzt mussten beide lachen.

„Ja, wahrscheinlich liegst du richtig mit deiner Einschätzung, also nehmen wir es so, wie es ist.“

„So, dann gehe ich mal wieder, ich schaue dann nächste Woche wieder rein.“

„Wunderbar, Ella, danke, dass du hier warst, bis bald.“ Susanne räumte die neue Ware auf die beleuchteten Regalböden zwischen die kleinen Topfpflanzen und besah sich dann ihr Werk, sie war zufrieden. Die neuen Arbeiten von Ella würden wieder weggehen wie warme Semmeln, da war sie sich sicher.

Kaum stand sie am Schneidetisch, um noch einige Blumen zurechtzustutzen, kam schon der erste Kunde durch die Tür, und der normale Arbeitstag nahm seinen Verlauf.

Als sie den Laden zur Mittagszeit zusperren wollte, kam zu ihrer Überraschung Adrian durch die Tür gehuscht. „Hi, Mum“, begrüßte er sie ganz leger.

„Hallo, mein Großer, das ist ja eine Überraschung!“

„Was machst du in der Pause?“, wollte er wissen. „Du hast nicht zufällig Lust, mich auf einen Döner einzuladen? Du weißt ja, armer Student und so.“

Sie stöhnte auf: „Döner!“

„Ja, komm schon, Mum, der eine Döner wird nicht dein ganzes Ernährungskonzept über den Haufen schmeißen.“ Adrian grinste von einer Backe zur anderen.

„Ja, wir gehen Döner essen. Ich lade dich ein. Ist ja schön, dass du vorbeikommst.“ Sie blickte ihn etwas misstrauisch von der Seite an. „Bist du einfach so vorbeigekommen? Ist ja schon verdächtig, wenn du so angeschneit kommst“, lachte Susanne.

„Na ja, ich wollte fragen, ob ihr übermorgen, also am Samstagnachmittag, zu Hause seid?“

„Was liegt an?“

„Ich wollte noch ein paar restliche Sachen, die im Keller liegen, abholen.“

„Ja, aber da musst du doch nicht fragen. Du hast doch einen Schlüssel.“

Sie sah ihn an und bemerkte zu ihrer Überraschung, dass sich seine Wangen rosarot färbten, und beobachtete ihn erwartungsvoll.

Mittlerweile waren sie bei dem Schnellimbiss angekommen und suchten sich einen Platz.

Er druckste ein wenig herum, bis er schließlich sagte: „Ja, weißt du, ich komme nicht allein. Ich bringe Marie mit, meine Freundin.“ So, jetzt war es draußen, und das Rot vertiefte sich noch.

Ach, wie süß, dachte Susanne und musste sich beherrschen, nicht zu lachen.

„Marie also, okay. Meine erste ernsthafte Schwiegertochter?“ Jetzt musste sie doch lachen.

„Mama!“ Eine steile Falte bildete sich auf Adrians Stirn.

„Na, erzähl mal. Seit wann kennt ihr euch?“

„Marie studiert auch Medizin, es hat sich so ergeben. Du hast Papa doch auch auf so einer Studentenparty kennengelernt. Aber immerhin hat mir Marie keine Spaghetti aufs Hemd gekippt.“ Jetzt lachte er.

„Na, der Spruch wird wahrscheinlich mal auf meinem Grabstein stehen“, bemerkte sie trocken. „Ja klar, bring Marie mit. Ich freue mich für dich.“

„Gut, dann gehe ich jetzt Döner holen“, sagte Adrian, blieb aber stehen, bis Susanne verstand.

Sie holte ihr Portemonnaie aus der Tasche und drückte ihm Geld in die Hand. Sie sah ihm hinterher und seufzte. Daran merkt man, dass man älter wird, dachte sie.

Da fiel ihr ein, sie wollte ja unbedingt Caroline in der Mittagspause anrufen. Das würde sie verschieben müssen, schade. Vielleicht blieb ihr ja nachher noch Zeit.

Ihr Smartphone machte sich in ihrer Tasche bemerkbar. Sie hatte eine Nachricht von Thomas erhalten. Er hatte ihr einen Link mit dem Kommentar „Für uns“ geschickt, den sie öffnete. Sie kicherte vor sich hin: Er hatte doch tatsächlich eine Suite im Ritz-Carlton gebucht mit Whirlpool und Kingsize-Bett.

Wollte er etwas gutmachen? Sie schüttelte den Kopf und freute sich ganz einfach auf das nächste Wochenende. Sie musste immer noch kichern, als Adrian mit dem Döner zurückkam.

„Wieso grinst du denn so vor dich hin?“, fragte er sie erstaunt.

„Och, nichts Besonderes, ich habe nur gerade eine Mitteilung bekommen. Lass uns essen! Guten Appetit.“ Sie konnte und wollte ihrem Sohn nicht sagen, was ihr alles durch den Kopf ging – Whirlpool und Kingsize-Bett!

Er war auch mittlerweile dabei, seinen Döner zu verschlingen, und wollte das wahrscheinlich auch gar nicht mehr wissen.

Susanne erkundigte sich nach dem Studium und wie es in der WG so lief. Nach Adrians Aussage war alles cool und easy. Na dann, dachte sie.

Sobald er seinen Döner aufgegessen hatte, verabschiedete er sich: „Ich muss gehen, Mum, wir sehen uns am Samstag. Danke für das Mittagessen.“

Und zack, war er weg.

Susanne sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: Sie hatte noch etwas Zeit, bis sie ihr Geschäft wieder öffnete. Sie konnte sich im Laden noch einen Kaffee genehmigen und Caro anrufen. Das hatte sie ja ohnehin vor.

Sie setzte sich also langsam in Bewegung und lief vorbei an den Schaufenstern in der Fußgängerzone. Sie begutachtete ihr Spiegelbild und war zufrieden. Sie hatte keine überzogenen Vorstellungen von sich und ihrem Körper, sie wusste, dass sie keine zwanzig mehr war, und das war auch gut so. Natürlich kamen ein paar Fältchen und ein paar graue Haare, aber damit hatte sie keine Probleme, Gott sei Dank. Das ist eben der Lauf der Dinge, dachte sie, außerdem gibt es Wichtigeres.

Mittlerweile war sie an ihrem Ziel angelangt und schloss die Hintertür auf, ging in ihren kleinen Aufenthaltsraum, setzte die Kaffeemaschine in Gang, griff zum Telefon und wählte Carolines Nummer. Es klingelte endlos, bis Caroline endlich abhob.

„Hey, kleine Blumenfee“, sagte sie in leicht spöttischem Ton.

Aber Susanne wusste, dass das nicht so gemeint war, und lachte. „Hallo, du große Klatschspaltentante“, rief sie im Gegenzug in den Hörer.

Sie hörte Caro vor sich hin wiehern. „Keinen Respekt mehr vor älteren Leuten, was?“, schnaubte sie.

„Ich wollte mal hören, wie es dir geht. Alles okay bei euch, Caro?“, fragte Susanne.

„Ja, das ewige Chaos, der allgegenwärtige Journalistenstress und meine heiße Hassliebe zu Ben, hat sich nichts geändert“, hörte sie Caroline sagen.

Susanne konnte förmlich Carolines schönes Gesicht vor sich sehen: Sie war eine Frau in der Audrey-Hepburn-Klasse, eine sehr schlanke Figur mit einem sehr zarten Gesicht mit immer schwarzen Lidstrichen und roten Lippen. „Mondän“, würde ihre Mutter sagen. Einzig und allein ihr Anblick erweckte den Eindruck, sie könnte zerbrechen. Wenn sie dann allerdings ihren Mund aufmachte und in der ihr eigenen Art und Weise redete, gewann man ganz schnell den Eindruck, dass es sich hier nicht um ein zartes Wesen handelte.

Susanne wurde aus ihren Gedanken herausgerissen.

„Und du, liebste Freundin, ist dir noch nicht langweilig mit deinem schönen, erfolgreichen Architekten in deinem wundervollen Haus?“ Caro lachte aus vollem Hals.

„Ach, Caro, du weißt doch, so ein Leben wie du oder wie ihr könnte ich nicht führen, das wäre mir zu rastlos. Ich bin zufrieden und glücklich mit Thomas, immer noch.“

„Und mit deinem Blumenladen, apropos, wie läuft es denn so?“

„Ich kann nicht klagen, natürlich geht immer mehr, aber er ist mein Baby, ich werde ihn schon noch groß kriegen“, meinte Susanne.

„Nächste Woche bin ich in London, Ben arbeitet an einem neuen Projekt, ach so, er hat schon wieder seinen Arbeitgeber gewechselt. Aber das kennst du ja, er ist gut, sehr gut sogar, aber man muss eben mit seiner Art klarkommen“, erzählte Caro.

„Ach, Caro, das ist so: Menschen ändern sich nicht, auch Ben nicht. Wenn das das Einzige ist …“ Susanne ließ den Satz in der Luft hängen.

Caro antwortete nicht gleich: „Natürlich ist das nicht alles, aber was solls?“

„Möchtest du darüber reden?“

„Nee, Susanne, nicht am Telefon. Sag mal, wie lange haben wir uns eigentlich nicht mehr gesehen?“, wollte die Freundin wissen.

„Warte, lass mich überlegen, bestimmt ist das schon sechs Monate her. Da siehst du, man ist so in seine Alltagsroutine eingespannt, da verfliegt die Zeit geradeso.“

Caro überlegte einen Moment und meinte dann: „Du, wenn ich aus London zurück bin, melde ich mich bei dir. Dann kann ich absehen, wie es hier weiterläuft. Wenn es bei dir dann passt, komme ich mal für zwei oder drei Tage. Was meinst du?“

Susanne lächelte und rief erfreut ins Telefon: „Ja, das wäre super. Bis dahin ist auch Saskia wieder aus dem Urlaub zurück. Dann muss ich nicht mehr den ganzen Tag im Laden stehen. Das wäre megaschön, wenn das klappt.“ Sie hörte bei Caro im Hintergrund Stimmen und Musik.

„Ah, Susanne, ich muss hier weitermachen, okay? Ich melde mich wie versprochen. Bye.“ Sie wartete nicht mehr auf eine Antwort, sondern drückte Susanne einfach weg.

Etwas erstaunt schaute diese auf ihr Telefon und zuckte dann mit den Schultern, Caro eben. Susanne trank ihren Kaffee aus, es wurde Zeit, den Laden wieder aufzusperren.

Thomas hatte ihr eine Mitteilung geschickt, dass er wohl heute Abend nicht vor 22 Uhr zu Hause sein würde.

Das war eine gute Gelegenheit, dass Susanne nach Feierabend bei ihren Eltern vorbeischauen würde. Sie überlegte, kurz vorher anzurufen, machte es aber dann nicht, sie würde sie einfach überraschen in der Annahme, dass die beiden sich freuten. Also machte sie sich nach Ladenschluss auf den Weg.

Ihre Eltern wohnten draußen am Weßlinger See. Susanne hoffte, dass sie zügig fahren konnte, dann könnte sie in einer knappen halben Stunde da sein. Sie öffnete das Autofenster ein wenig und genoss es, die Strecke zu fahren. Als Kind fand sie es großartig, direkt am See zu wohnen, und so freute sie sich jedes Mal, wenn sie nach Hause fuhr.

Ihre Eltern bewohnten ein kleines Häuschen, waren beide schon eine Weile im verdienten Ruhestand und genossen ihr Leben. Da sie beide noch fit waren, reisten sie, so oft es eben ging, um, wie ihr Vater immer sagte, endlich mal etwas von der Welt zu sehen. Susanne gönnte es ihnen von Herzen. Da sie selbst keine Geschwister hatte, fühlte sie sich schon auch irgendwie verpflichtet, immer mal wieder hinzufahren und sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass es den Eltern auch wirklich an nichts fehlte. Und sie freute sich auch immer auf das Zuhause, in dem sie aufgewachsen war.

Sie bog nach rechts in die Straße ein, in dem ihr Elternhaus stand, parkte den Wagen, stieg aus und betrat durch das kleine Eingangstor das Grundstück. Sie atmete tief durch. Ach, schön war es hier.

Da hörte sie schon die Stimme ihrer Mutter Erika aus dem Garten: „Susanne, das ist aber schön, dass du vorbeikommst“, um dann gleich den Kopf zu drehen und laut zu rufen: „Walter! Walter! Deine Tochter ist da.“

Susanne musste lächeln. So war sie, ihre Mutter, schon immer sehr bestimmend, sie gab den Ton an. In dieser Hinsicht hatte sie selbst wohl mehr von ihrem Vater abbekommen, der der ruhigere Part in dieser Beziehung war.

Aber jeder auf seine Art war liebenswert, sie waren gute Eltern, immer gewesen und immer noch.

„Hallo, Mama.“ Susanne begrüßte ihre Mutter und überreichte ihr einen Strauß gelber Rosen.

„Ach, Kind, sind die schön! Du kommst gerade richtig zum Abendbrot. Du hast doch bestimmt noch nichts essen können?“ Sie stürmte voraus, und Susanne folgte ihrer Mutter in Haus.

In der Küche deckte ihr Vater gerade den Tisch.

„Hallo, Paps.“ Susanne lächelte ihren Vater an.

Er lächelte zurück. „Ach, meine Suse, na, Mädchen, wie geht es dir denn?“

Ja, so war er, der Paps.

Susanne setzte sich auf „ihren“ Platz in der gemütlichen, kleinen Küche. Sie genoss es, bedient zu werden, das ließ sich ihr Vater nicht nehmen.

Susanne erzählte von den beruflichen Neuigkeiten von Thomas, von der Reise nach Wien, von Adrians Freundin, die sie aber erst übermorgen kennenlernen würde, und vom Blumenladen. Wie immer wollten es ihre Eltern ganz genau wissen.

Nach dem Abendbrot musste sich Susanne noch diverses Prospektmaterial ansehen, die Eltern planten im Herbst eine Reise nach Südtirol. So unterhielten sie sich noch eine Weile und beratschlagten, welches wohl das schönste Hotel sei.

Prospekte blättern war auch mal wieder ganz schön, dachte Susanne, statt immer nur alles wegzuwischen auf dem Smartphone. Gegen 20:30 Uhr brach Susanne in Richtung Pasing auf. Ihre Eltern standen vorm Haus und winkten ihr noch nach. Schönes Gefühl.

Als sie den elektrischen Türöffner der Garage in ihrem Haus betätigte, war sie ein wenig erstaunt, dass der Wagen von Thomas schon dastand. Sie freute sich, dann blieb doch noch etwas Zeit für beide heute Abend.

Als sie eintrat, lag er auf der Couch und sah ihr entgegen.

„Hallo, du bist ja schon zu Hause.“ Sie schaute ihn erstaunt an.

Er grinste sie an. „Ich kann auch wieder gehen, wenn es dir zu früh ist.“

Sie ließ sich neben ihn auf dem Sofa nieder und druckste ein wenig herum: „Na ja, so schlimm ist es jetzt auch nicht, dann bleib halt da.“

Kaum hatte sie es ausgesprochen, brach sie in lautes Lachen aus, in das Thomas einstimmte. Er zog sie zu sich herunter und küsste sie.

Sie schaute ihn an und flüsterte ihm ins Ohr. „Ist das die Vorfreude auf das Kingsize-Bett und den Whirlpool?“

Er grinste zurück. „Gefällt dir nicht, was ich ausgesucht habe?“

„Doch, unbedingt“, entgegnete Susanne. „Überhaupt, nachdem ich mir vorgestellt habe, mit was wir unsere Zeit verbringen können.“

„Ach ja, das musst du mir unbedingt sagen, was dir da durch den Kopf ging.“ Er hatte auf einmal einen sehr hungrigen Blick, den hatte sie schon lange vermisst. „Oder besser: Zeigs mir.“

Susanne öffnete den Mund und wollte antworten, aber das ließ er gar nicht mehr zu. Seine Finger knöpften ihre Bluse auf, er hörte gar nicht mehr auf, sie zu küssen, und sie genoss es, sie hatte es vermisst.

Danach lagen sie auf der Couch nebeneinander und blickten sich sehr lange still in die Augen. Ihre Blicke sprachen Bände, da mussten keine Worte mehr folgen, dazu kannten sie sich zu gut.

Sie schafften es gerade noch, ihre Kleider aufzusammeln und nach oben ins Schlafzimmer zu gehen. Mittlerweile war es schon spät.

Susanne erzählte, wie es bei den Eltern war. „Ach, und noch etwas: Am Samstag bekommen wir Besuch.“

Thomas sah über diese Ankündigung nicht unbedingt glücklich aus. „Wer gibt uns denn die Ehre?“

„Deine potenzielle Schwiegertochter kommt, mit unserem Sohn natürlich.“

Thomas ließ sich Zeit mit der Antwort, schaute Susanne an und meinte dann nur: „Da bin ich ja mal gespannt, ob er meinen guten Geschmack geerbt hat, was Frauen anbelangt.“

Susanne schüttelte lachend den Kopf. „Komm, lass uns einschlafen, ehe du noch weiter so wirres Zeug redest.“

Thomas zog die Nase kraus und tat so, als wäre er beleidigt.

Sie löschten beide die Nachttischlampen und schliefen eng beieinander ein.

Am nächsten Morgen die übliche Prozedur, allerdings setzte sich Thomas doch tatsächlich an den Frühstückstisch und trank in Ruhe seinen Kaffee. Bei der Gelegenheit erzählte ihm Susanne von dem Telefonat mit Caro.

Thomas meinte lediglich dazu: „Ist ja ganz schön, wenn es nicht langweilig wird, aber was die beiden da veranstalten, damit wäre ich überfordert.“

Susanne antwortete: „Manchmal glaube ich, dass Caro schon aus Prinzip anders handelt, sie will um keinen Preis bürgerlich sein, so wie sie es nennt. Dabei ist es doch ganz schön, einen festen Rahmen zu haben, oder?“ Sie blickte Thomas erwartungsvoll an.

„Ja, das finde ich auch“, sagte er, stellte seine Tasse auf den Tisch, stand auf, nahm sie in den Arm und lächelte. „Es war eine wundervolle Nacht, schöne Frau, aber jetzt muss ich gehen.“

Susanne machte ein enttäuschtes Gesicht, natürlich nur, weil es dazugehörte. „Kommst du wieder?“

Er lachte, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und lief in Richtung Haustür, um von dort aus zu rufen: „Aber klar doch …“

Rums, die Haustür war zu. Susanne blickte ihm nach und schnaufte tief durch. Doch, sie hatte ein schönes Leben, keine Frage.

Zeit, in den Laden zu fahren, dachte sie. Und Zeit, dass die Putzfrau heute kommt, war ihr nächster Gedanke. Ohne Reinemachefrau würde sie das nicht schaffen mit ihrem Job und diesem großen Haus. Am Anfang war das ein komisches Gefühl für sie, dass jemand anders ihre Wohnung putzte, aber sie gewöhnte sich ganz schnell daran.

Sie fuhr den gewohnten Weg zu ihrem Laden, heute ein bisschen früher, sie würde gleich neue Blumenlieferungen bekommen. Sie freute sich auf ihre Arbeit.

Nachdem sie alle Schnittblumen versorgt hatte, klopfte es an der Schaufensterscheibe. Ella lief vorbei und winkte ihr zu.

Susanne grüßte zurück und ging in die Küche, sie hatte den Mitteilungston ihres Smartphones gehört. Sie wischte über das Display und sah, dass Caro geschrieben hatte.

„Hi, wird nix mit London, melde mich, komme dann wahrscheinlich früher.“

Susanne sah stirnrunzelnd auf den Text, den ihre Freundin geschickt hatte, und schrieb zurück: „Ja klar, sag einfach Bescheid.“ So, und abgeschickt.

Der restliche Tag verging wie im Flug. Sie war froh, dass am Montag Saskia wiederkommen und sie entlasten würde.

Bevor sie den Laden absperrte, versuchte sie, Thomas telefonisch zu erreichen, allerdings blieb ihr Ruf ungehört.

Als sie ein paar Minuten später im Auto saß, versuchte sie es erneut. Er nahm wieder nicht ab.

Na dann, dachte Susanne, fahre ich nach Hause. Sie wäre zu gerne heute Abend irgendwo nett essen gegangen, aber natürlich mit Thomas. Vielleicht war er in einem Meeting, dachte sie und startete den Wagen.

Sie überlegte während der Fahrt, wie sie ihren Abend gestalten wollte: Schon viele Male hatte sie sich vorgenommen, wieder mehr Sport zu treiben. Das schlechte Gewissen klopfte gerade bei ihr an. Thomas ging segeln, wenn er entspannen wollte. Das war so ganz und gar nicht ihre Welt.

Bevor sie aber weitere Gedanken wegen ihrer Fitness zulassen konnte, meldete sich ihr Magen. Sie würde jetzt erst einmal nach Hause fahren und etwas essen.

Sie ließ, entgegen ihrer Angewohnheit, ihren Wagen draußen stehen, vielleicht würde sie ins Kino gehen, sollte Thomas wieder lange arbeiten.

Wie immer wühlte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Schlüssel, fand ihn aber letztlich und sperrte die Haustür auf. Was war denn das für ein Geruch?

Verwundert machte sie große Augen und ging dem Duft nach. Sie konnte es kaum glauben: Ihr Mann stand am Herd und kochte. Sie schloss schnell noch einmal ihre Augen: Es musste eine Fata Morgana sein. Sie blinzelte und riss die Augen wieder auf – und tatsächlich: Er stand noch immer da mit dem Kochlöffel in der Hand.

Grinsend ging sie auf ihn zu: „Na, schöner Mann, so läuft das also, ich muss dich ein bisschen verwöhnen, und dann kochst du. Hätte ich das eher gewusst …“ Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

„Na, na“, war sein Kommentar, „so einfach ist das jetzt nicht.“ Er küsste sie auf den Mund, rührte danach in dem Topf, der auf dem Herd stand, und ließ sie probieren. „Wie war dein Tag?“

„Danke, super gelaufen heute, ganz viele Schnittblumen verkauft. Ich bin zufrieden. Und du bist so früh zu Hause? Das bin ich gar nicht gewohnt. Gibt es einen Grund?“, wollte sie wissen.

„Der beste Grund überhaupt“, bemerkte er und ließ seine Augen über ihren Körper wandern, „steht direkt vor mir.“

Komisch, dachte Susanne, ich sollte mich freuen, aber warum bin ich so misstrauisch? Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare, als wolle sie ihre trüben Gedanken wegwischen. Sie sah ihn an und sagte dann: „Ich bin das gar nicht mehr gewohnt, aber ich freue mich natürlich.“

Er beobachtete sie genau und konnte ihre Freude nicht so ganz spüren, aber vielleicht musste sie erst einmal abschalten vom Tagesgeschehen.

„Dauert es noch lange mit dem Essen?“, erkundigte sie sich.

„Nein, ist gleich so weit, ich decke nur noch den Tisch.“

Sie setzte sich an den Tisch und ließ sich bedienen. „Caro hat mir heute geschrieben, sie kommt wohl früher als geplant. Sie fliegt jetzt doch nicht nach London. Irgendetwas stimmt nicht, sagt mir mein Gefühl.“

Thomas legte seine Stirn in Falten, sah sie an und wollte gerade etwas sagen, als es an der Haustür klingelte, und zwar sehr stürmisch.

„Ich gehe“, sagte er und setzte sich in Bewegung.

Susanne lauschte, vernahm das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür und hörte darauf sofort Caros Stimme.

„Ah, der Hausherr selbst“, lachte sie gurrend, „lass mich rein, schöner Mann.“ Gleich darauf stand sie schon in der Küche.

Susanne erschrak bei ihrem Anblick: Caro sah etwas ramponiert aus.

„Sanne, meine liebe Sanne“, rief sie und fiel der Freundin um den Hals.

Oje, schoss es Susanne durch den Kopf, nüchtern war Caro nicht.

Thomas warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu und rollte mit den Augen.

„Hey, Caro, was ist denn passiert, dass du so Hals über Kopf hier auftauchst?“, fragte Susanne.

„Soll ich wieder gehen?“, fragte die Angesprochene barsch.

Thomas meldete sich zu Wort: „Ach, Caro, was für ein Quatsch, du bist hier immer willkommen, das weißt du. Wir sind nur ein bisschen überrascht.“ Er blickte sie besorgt an und fuhr dann fort: „Komm, geh mal ins Bad, mach dich frisch, dann essen wir erst einmal, ja?“

Sie schlug die Hacken zusammen und hob die Hand zum militärischen Gruß. „Ja, Herr Kommandant“, und verließ blitzschnell die Küche.

Thomas sank auf den nächsten Stuhl. „Ach du meine Güte, was geht denn hier ab? Das wird bestimmt noch ein dramatischer Abend.“

Susanne atmete tief ein. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie so schnell kommt. Eigentlich dachte ich, sie reist erst an, wenn wir nächstes Wochenende wieder aus Wien zurück sind. Aber egal, sie ist jetzt da.“

Thomas stand auf und nahm sie in den Arm. „Dann wollen wir mal hören, was unsere Freundin so bewegt.“

Caro betrat den Essbereich und flötete: „Ich hoffe, ich störe euch Turteltauben jetzt nicht.“

Die drei nahmen an dem großen Esstisch Platz, Thomas holte den Topf vom Herd und servierte das Essen.

Susanne sah die Freundin an. „Wie geht es dir denn? Du siehst ein wenig müde aus.“