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Seinem eigentümlichen Äußeren verdankt der Mittdreißiger Ignaz seit seiner Jugend zahlreiche Spitz- und Spottnamen, von denen sich "Kobold" am hartnäckigsten gehalten hat. Im Gegenzug hat er die Marotte entwickelt, jeden Menschen in seinem Umfeld ebenfalls mit einem Spitznamen zu belegen. Und so wird seine Stammkneipe, das "Brazil", vom Steinmann, dem Fischer und dem Oktopus bevölkert. Außerdem von Lotto und der Hexe. Selbst seine Freunde Boris, der Elefant, und Robin, der Kolibri, sind nicht von Ignaz' heimlichen Taufen verschont geblieben. Robins Beziehung mit der attraktiven Felicitas lässt Spannungen zwischen den Freunden entstehen, und das Verschwinden eines Hundes führt zu einer Reihe von Auseinandersetzungen, die das Ende von Ignaz' beschaulichem Leben bedeuten.
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Seitenzahl: 166
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Mai
Delfinsprung
Die Delfine sprangen nicht, sie flogen regelrecht über die puderweißen Wellenscheitel der türkis leuchtenden See, und die gelben Schleier des gleißenden Sonnenlichts lösten sich sanft im Pink des nur leicht bewölkten Himmels auf.
Gefaltete Gehirne. Oder waren es die Falten in ihren Hirnen? Auf jeden Fall waren ihre Gehirne denen von Schimpansen überlegen. Jeder einzelne von ihnen hatte seine eigene Persönlichkeit. Ihr Schnattern war eine komplexe Sprache. Und sie berauschten sich wie Menschen auch. Kugelfisch statt Schnaps. Nur ihr Lächeln war keins. Sie konnten einfach nicht anders.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar. Delfine.«
»Ist doch mal was anderes. Nicht immer nur weiß. Das ganze Bad ist weiß.«
»Sieht aus wie Airbrush.«
»Und? Ist das jetzt was Schlechtes?«
»Wie auf dem Jahrmarkt. Ist nicht meins.«
»Immer bist du nur dagegen, wenn ich mal was will!«
»Ach komm, als ob. Warum nicht den da oben? Der sieht schick aus, und ist schlicht. Und man kommt sich beim Kacken nicht vor, als würde man im Autoscooter sitzen.«
»Bei uns ist schon viel zu viel schlicht. Und sag nicht kacken, wenn wir unter Leuten sind. Außerdem ist der viel zu teuer.«
»Wir müssen das ja nicht hier und jetzt entscheiden. Lass doch erstmal nach den Pflanzen gucken.«
»Wie immer!« Schnaubend stürmte sie in den nächstbesten Gang.
Der Kobold starrte an der Baumarktwand hinauf, die bis zur Decke mit mannigfaltig gemusterten Klodeckeln drapiert war. Die Galerie an Scheußlichkeiten überforderte ihn. Was, wenn er einen der obersten haben wollte? Wie hoch mochte die Wand wohl sein? Fünf Meter, oder zehn? Wahrscheinlich nur Ausstellungsstücke. Die verpackten mussten sie irgendwo im Lager haben. Ihn hatte der Riss eigentlich gar nicht gestört. Sie dafür umso mehr.
Das Zischen einer Laserpistole ertönte aus seiner Hosentasche.
›Bin gleich am Auto. Hab kein Bock mehr. Komm jetzt‹
Also keine Pflanzen. Es versprach, eine heitere Heimfahrt zu werden. Wenn er Glück hatte, würde sie ihn nur anschweigen. War es ein Fehler gewesen, nach so kurzer Zeit schon zusammenzuziehen? Wenn sich schon die Wahl des Klodeckels als derart brisant herausstellte? Der Kobold ließ die Bäderwelt hinter sich und schlurfte in Richtung der Kassen.
Bauchklatscher
Sie saß bereits hinter dem Lenkrad. Eine strohblonde Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und hing recht merkwürdig vor ihrem Gesicht. Da die Neuordnung der Haarpracht jedoch die Aufgabe des demonstrativen Arme-vor-der-Brust-Verschränkens bedeutet hätte, war die Strähne dazu verdammt, noch eine Weile in ihrer misslichen Position zu verharren. Misslich fühlte sich auch der Kobold, als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
»Ignaz, ich hab keinen Bock mehr. Das wird so nichts. Vielleicht war es ein Fehler, so bald …«
»Aber du wolltest doch, dass wir …«
»Weiß ich auch. Aber ich hab einfach gemerkt, dass … dass das nix wird. Steig bitte aus.«
»Was? Was soll …?«
»Steig jetzt bitte aus.«
»Häh? Ich … machst du jetzt …?«
»Ja.«
Schweigen. Keine Träne. Die Tür knallte zu. Sie würgte ab. Wo war die nächste Haltestelle?
Niedere Mythologie
Am nächsten Tag, es war ein netter Sonntagmittag, saß der Kobold noch alleine in seinem Séparée und wartete sowohl auf sein Bier als auch auf seine Freunde. Außer ihm und dem Oktopus, der hinter der Theke nahezu regungslos das Bier zapfte, war nur der Steinmann im Brazil zugegen. Auch er wartete. Auf sein Schnitzel, derweil er an seiner Apfelschorle nippte. Wie immer.
Was das alles soll?
Nun, Ignaz, der Kobold, war ebenso wenig ein Kobold wie der Oktopus ein Oktopus und der Steinmann aus Stein war. Er hatte einfach eine Vorliebe für solcherlei Spitznamen. Er, der Kobold.
Diese Vorliebe war das Ergebnis unfreiwilliger Taufen, die ihm über die Jahre hinweg, meist mit der Absicht, sie vor ihm zu verbergen, durch seine Mitmenschen zuteil geworden waren. Sein Äußeres schien offenbar dazu einzuladen.
Lang und hager war er. Trotz der Länge von Gliedmaßen und Rumpf wirkte der dazugehörige Kopf jedoch irgendwie zu groß. Das Verhältnis stimmte einfach nicht. Und seine meist ungekämmten Haare schienen das Volumen seines Kopfes noch zu vergrößern. Die Stellen, an denen sich der Haaransatz bereits zurückgebildet hatte, schimmerten wie polierter Stein unter dem Haargestrüpp hervor. Seine Ohren waren zwar nicht allzu groß, standen jedoch etwas weiter ab, als sie es sollten, und wirkten, als würden sie von unsichtbaren Haken in die Höhe gezogen. Seine Nase hingegen war nur minimal gekrümmt und auch nur ein wenig zu lang – eigentlich konnte man sie als recht normal bezeichnen, womit sie die Ausnahme in der ansonsten so unausgewogenen Gesichtstopographie darstellte. Als markant hätte man seine Gesichtszüge wohl bezeichnet, wäre er ein bekannter Schauspieler gewesen.
Manche seiner Namen kannte er: Als er noch Bart getragen hatte, war er für die Nachbarn der Eltern der Rabbi gewesen. Für die hübsche Zahnarzthelferin war er, wohl des langen Halses wegen, die Eidechse, und seine Klassenkameraden hatten ihn den Kobold genannt.
Einer von ihnen, einer, den er eigentlich mochte, hatte mit diesem Namen während eines anfangs harmlosen, dann immer schlimmer werdenden Streits mehrfach auf ihn eingedroschen.
Kobold!
Es war ihm wohl herausgerutscht. An der Reaktion der anderen hatte sich nämlich schnell gezeigt, dass dieser Name keine spontane Eingebung gewesen sein konnte, sondern ein Geheimnis, das nur ihm geheim war. Kobold – eine Gattungsbezeichnung von wissenschaftlicher Präzision. Es war ihm beinahe peinlich gewesen, sie nicht schon früher, aus den Blicken der anderen, aus ihren Gesten, erahnt zu haben.
Doch warum gerade Kobold? Kobolde waren doch klein, er war es nicht. Könnte es die Form des Kopfes, der Ohren, gewesen sein? Glich er einem garstigen Fabelwesen tatsächlich mehr, als dem durchschnittlich daherkommenden Menschen? Oder war es seine Art? Immer irgendwie geheimnistuerisch, wenn auch ohne Grund, und den Eindruck erweckend, als würde er gerade etwas aushecken. Er wusste ja, dass er so war. Am Ende war es wahrscheinlich die Summe seiner Eigenarten.
Als dem anderen Jungen bewusst geworden war, dass er dieses bis dato gut gehütete Geheimnis preisgegeben hatte, war der einzige Ausweg die Flucht nach vorne gewesen: Kobold! Kobold! Wie auf Kommando hatten die anderen in sein Geschrei mit eingestimmt.
Von da an hatte er sich angewöhnt, Menschen, die in sein Leben traten und die er noch nicht kannte, mit einem Spitznamen zu belegen, ebenso wie es alle mit ihm taten. Als vorgezogene Vergeltung für das Unvermeidbare sozusagen. Allerdings mit der eisernen Regel, dass er jedem Menschen immer nur einen Namen gab. Niemals zwei oder gar noch mehr.
Ob die Gestalten in der Kneipe wohl auch schon Spitznamen für ihn ersonnen hatten? War dieser Rückzugsort, dieses Refugium, auch schon kontaminiert? Oh, wenn er doch nur ihre Gedanken lesen könnte!
Morphologie
War man ein Spatz oder eine Blaumeise, und flog über den Wohnblock, in dem der Kobold wohnte, so sah man dort unten zwei nicht ganz rechtwinklige rechte Winkel, deren kürzere und längere Schenkel sich annähernd parallel gegenüberlagen, wodurch sich ein an zwei Ecken offenes Rechteck ergab.
Dieser Wohnblock war das Zentrum eines größeren innenstadtnahen Viertels, welches sich in Gänze aus den grobschlächtigen Geschosswohnungsbauten der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre zusammensetzte. Zu unterscheiden waren die einzelnen Gebäude nur nach ihren Dächern: Den älteren hatte man noch ein Satteldach verpasst, während die jüngeren schnittige Flachdächer zur Schau trugen.
Das Appartement des Kobolds, dem nun nicht mehr nur ein Klodeckel, sondern auch eine Bewohnerin fehlte, befand sich im Hochparterre eines schlanken sechsgeschossigen Mehrfamilienhauses, welches als Rückseite des Blocks fungierte und dabei wie eine graugelbe Pappwand wirkte, die man, um sie zum Stehen zu bringen, am Ende mit einem Knick versehen hatte.
Die an einer Hauptstraßenkreuzung gelegene Schauseite des Komplexes bildete ein langgezogener eingeschossiger Pavillon, in dem sich längsseitig ein türkischer Lebensmittelladen, eine Dönerbude, ein Friseursalon und eine winzige Fahrschule aneinanderreihten.
In der Ecke des Pavillons saß schwerfällig ein weiterer Lebensmittelladen, an dessen Schaufenster, nur der Existenz des türkischen Ladens wegen, der Hinweis ›Deutsche Lebensmittel‹ prangte (auch wenn dies nicht ganz der Wahrheit entsprach). Die kürzere Seite beherbergte das Brazil, doch dazu später mehr.
Alles in allem mutete besagter Wohnblock wie ein aus den Bruchstücken alter Vasen zusammengeklebter Aschenbecher an. Die durch die ungleichmäßigen Ränder geformte Mitte des Blocks war mit einer aschgrauen Asphaltdecke belegt. Eingefasst von einem traurigen Grünstreifen, hielt sie Parkplätze für die Bewohner des Blocks bereit.
Nahm man sich jedoch ein wenig Zeit und schaute genauer hin, so fiel auf, dass das Wohngebilde mitnichten eine leblose Ansammlung von Scherben aus Beton, Stein, Ziegel und Glas war. Vielmehr verbarg sich hinter der von Rissen und Abplatzungen übersäten Haut ein pulsierender und komplexer Organismus.
Und seiner tristen Erscheinung zum Trotz, war der Parkplatz jenes Organ, welches die Existenz des Organismus erst ermöglichte. Über ihn betraten und verließen die zahllosen Gäste tagtäglich ihren Wirt, und die Versorgung der mit ihm verbundenen Funktionseinheiten war nur durch ihn gewährleistet.
Wenn der Parkplatz Magen und Darm des Blocks war, so war das Brazil – zumindest aus Sicht des Kobolds – dessen Herz.
Herzkammer
Das Brazil bestand aus einem mittelgroßen Gastraum mit angeschlossener Küche, die dem Gast eine Palette gutbürgerlicher, aber nachlässig zubereiteter Speisen bot.
Den Eingang erreichte man über einen langen, schmalen Vorraum, der eigentlich nicht mehr als ein durch den Pavillon hindurchführender Flur war, über den man von der Hauptstraße zum Parkplatz und vom Parkplatz zur Hauptstraße gelangte.
Wenn man nun, so wie Boris und Robin, auf die der Kobold bereits seit über einer halben Stunde wartete, von der Hauptstraße kam, hätte man jenen Vorraum betreten können. Und hätte man sich nicht, so wie Boris, dazu entschieden, sich zuerst noch eine Zigarette anzustecken, hätte man dort dann drei mögliche Richtungen einschlagen können: geradeaus zum Parkplatz, nach rechts in eine der engen Gästetoiletten oder nach links in den Gastraum des Brazil.
Beim Betreten des Brazil wäre einem dann zuallererst die schiere Menge an dunkel gebeiztem Holz aufgefallen, die so gar nicht zum Äußeren des Gebäudes mit seinen großen Glasflächen und Verkleidungen aus beigefarbenem Aluminium passen wollte. Dem unbedarften Gast musste sich der Verdacht aufdrängen, eine Gruppe neidischer Städter habe in einer Nacht- und Nebelaktion den Innenraum einer rustikalen Dorfschenke entwendet und in den schmucklosen Pavillon gestopft.
So wenig wie die Ausstattung des Brazil zu seiner Hülle passte, so wenig passte sein Name zu Speisekarte und Ambiente. Wer nämlich erwartete, Exotisches speisen und süße Cocktails zwischen Bast- und Bambusdekor schlürfen zu können, der wurde spätestens beim Durchschreiten der Eingangstür bitter enttäuscht. Allerdings hätte man bereits beim Anblick des mit Goldrand eingefassten Leuchtkastens mit klassischem Bierlogo misstrauisch werden können.
Nun aber stand man im Brazil und schaute sich nach einem freien Platz um (den zu finden zu keinem Zeitpunkt ein ernsthaftes Problem darstellte). Wäre es Winter gewesen, hätte man wohl als Erstes seine Jacke oder seinen Mantel an einem der brünierten Haken in der schmalen Garderobennische gegenüber der Theke aufgehängt.
Da es jedoch Sommer war, würde man sich ohne Umschweife hinüber zu dem massiven Holztresen begeben, wodurch der Blick auf den Spielautomaten zwischen Eingangstür und Tresenklappe fallen musste, von dem aus ein satt lächelnder Löwenkopf den Raum überschaute. Wohl um den ein wenig nackt erscheinenden Bereich zwischen Theke und Garderobe zu beleben, hatte man den bunten Kasten an die Wand gehängt, nur um ihm, nachdem er nicht ein einziges Mal benutzt worden war, kurzerhand den Stecker zu ziehen. Über dem Automaten hing, als Überbleibsel einer lange zurückliegenden Weltmeisterschaft, eine Deutschlandfahne mit schwarzem Adler, die der Räumlichkeit eine geradezu staatstragende Strenge verlieh, und deshalb absolut fehl am Platz wirkte. Um die Erscheinung des gutbürgerlichen Wirtshauses zu unterstreichen, hatte man zudem Jesus samt Kreuz an den Türsturz genagelt.
An der Theke angekommen, würde man sich dann, um die Höflichkeit trotz all der freien Tische nicht zu kurz kommen zu lassen, an das menschliche Kneipeninventar namens Eduard Fischer wenden, um zu fragen, ob denn noch ein Tisch für so und so viele Personen frei sei. Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung hätte Eduard Fischer daraufhin in Richtung der freien Tische genickt und damit gleichzeitig seine Freude über den Besuch der Gäste demonstriert.
Denn Eduard Fischer, der beleibte Sohn des Gaststättenpächters Johann Fischer, war die buchstäbliche Verkörperung der Trägheit, und ähnelte seinem dürren Vater weder äußerlich, noch in dessen Drang, jeden Gast mit seinen Schwänken zu unterhalten, wenn er nicht gerade in der Küche stand.
Eduard Fischer, dessen Kleiderschrank offenbar ausschließlich mit Trainingsjacken gefüllt war.
Eduard Fischer, der Oktopus. Der Oktopus und der Fischer.
Während der alte Fischer nur dann und wann im Gastraum anzutreffen war, schien es, als würde der Oktopus die Kneipe niemals verlassen. Lediglich wenn die Natur ihn rief, gab er seinem Vater Bescheid, der dann aus der Küche hervorkam und seinen Sohn vertrat (wobei er sich auf das Schwätzen wesentlich besser verstand, als auf das korrekte Aufnehmen der Bestellungen).
Der Spitzname, den der Kobold für Johann Fischer gewählt hatte und der gleichzeitig dessen tatsächlicher Nachname war, konnte zwar nicht als sonderlich kreativ bezeichnet werden, doch wäre kein anderer Name denkbar gewesen. Der Fischer sah nun einmal aus wie ein Fischer. Der hellgraue, zerzauste Bart und das furchige Gesicht. Die offen zelebrierte Leidenschaft für karibischen Rum. Außerdem der gelbe Friesennerz, den er auch dann trug, wenn es draußen nur nieselte. Schaffte er die angelieferten Lebensmittel vom Parkplatz in die Küche, vollendeten die gelben Gummistiefel und die grobgestrickte Wollmütze das Gesamtbild.
Der Oktopus hingegen hieß Oktopus, weil er den Tresen mit seinen kräftigen langen Armen wie mit Tentakeln abfahren konnte, ohne dabei den Rest seines Körpers auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Er hatte es sich ganz offensichtlich zur Aufgabe gemacht, jegliche körperliche Betätigung auf ein ihm erträgliches Minimum zu reduzieren. Hatte er nichts zu tun, nahm man ihn kaum wahr, da er still wie eine der zahllosen Spirituosen hinter der Theke verharrte, die an deren verspiegelter Rückwand aufgereiht waren.
Oberhalb der Schnapsflaschen, ungefähr in der Mitte der Theke, hing ein riesiger Stierschädel wie ein Totem an der Wand, zwischen dessen Hörnern ein hölzerner Baseballschläger steckte, den Eduard Fischer dort angebracht hatte. Man konnte ja schließlich nie wissen.
Im Gastraum hatte man dann die Wahl zwischen Barhockern, einigen freistehenden Tischen mit wahlweise zwei oder vier Stühlen und den entlang der straßenseitigen Fensterfront angebrachten Sitzgruppen mit karamellig glänzenden ovalen Holztischen. Die Fenster selbst waren fast vollflächig mit schweren grünen Gardinen behangen, weshalb man nie genau sagen konnte, ob es draußen noch hell oder bereits dunkel war. Eingefasst wurden die Tische von dunklen Holzbänken, die sich zur Kneipe hin öffneten und deren mit jägergrünem Cord bezogene Lehnen durch seitliche Holzwände bis auf circa anderthalb Meter Höhe verlängert wurden, wodurch die einzelnen Sitzgruppen voneinander abgetrennt waren. Diese Anordnung ließ die Sitzgruppen wie Séparées wirken – ein Umstand, der das Brazil dem Kobold so sympathisch machte: Man war für sich, konnte jedoch, wenn man es wollte, die übrigen Gäste beobachten. Zumindest diejenigen, die an den Tischen oder an der Theke saßen.
An der Rückwand des Gastraumes befand sich in Verlängerung der Theke ein altmodischer Kamin aus Bruchstein, in dem jedoch selbst an den kältesten Wintertagen kein Feuer brennen konnte, da das Gebäude über keinen Schornstein verfügte. Als wollte man die ihres Daseinszwecks beraubte Feuerstelle verhöhnen, hing über dem Kaminsims ein grobes Stück Holz, auf das in Frakturschrift die Worte Wo das Feuer nicht verlöscht brandgemalt waren – eines der vielen zusammengeklaubten Mitbringsel und Souvenirs, die dem Raum eigentlich zur Dekoration gereichen sollten, jedoch wirkten, als habe man besonders schmuddelige Ecken durch die größtmögliche Dichte an kitschigem Nippes überdecken wollen.
Neben dem gerade Genannten waren dies:
Barockengel, verziert mit Fastnachtsorden,
Bierdeckel aus aller Herren Länder,
Bierhumpen aus aller Herren Länder,
ein langes Ruder aus Holz, quer über die Wand gehängt, ein Steuerrad und ein Sextant,
einige Autogrammkarten und Trikots der lokalen Fußballmannschaft,
sowie allerlei vermeintliche Mitbringsel aus Brasilien und der Südsee.
Bruchstein
Wie fast jeden Mittag saß der Kobold also im Brazil. Es war die zweite von vier Sitzgruppen, die er sich für sein tägliches Bier ausgewählt hatte. Nicht zu nah am Eingang und auch nicht zu weit am Rand, sodass er das Gefühl hatte, alles überblicken zu können.
Jetzt fehlten nur noch seine Freunde, die, was er auf Grund der Gardinen allerdings nicht sehen konnte, bereits draußen vor der Eingangstür standen und sich darüber beratschlagten, in welchem Ton sie auf die gerade erfolgte Trennung reagieren sollten. Waren mitfühlende Worte gepaart mit bedauernden Blicken angebracht oder doch eher ein aufmunternder Spruch, der die unendlichen Chancen hervorhob, die durch die, zugegebenermaßen heftige, Abservierung nun vor ihm lagen.
Während Robin der Meinung war, dass das geschundene Gemüt des Freundes unmittelbar nach der Trennung noch keine flapsige Bemerkung vertragen würde, war Boris vom genauen Gegenteil überzeugt. Man einigte sich schließlich deshalb auf die lockere Herangehensweise, weil Robin bewusst war, dass der erste Spruch ohnehin von Boris kommen und dieser selbst dann nicht mitfühlend und bedauernd sein würde, wenn sie es eine Woche im Voraus geübt hätten.
Von all diesen strategischen Überlegungen ahnte ihr Freund nichts, und es hätte ihn wahrscheinlich auch kaum interessiert, denn er war damit beschäftigt, den Steinmann zu beobachten, der gerade sein Schnitzel aß und dabei seine Apfelschorle schlürfte. Immer das Gleiche. Noch nie hatte er ihn ein Bier, einen Wein oder einen Schnaps trinken sehen.
Der Steinmann hieß eigentlich Schultz. Eliot Schultz. Der Kobold wusste das, weil sie Nachbarn waren. Aus einem Gespräch mit dem Fischer hatte der Kobold außerdem herausgehört, dass der Steinmann als Vertreter arbeitete. Für wen oder was, das hatte er nicht verstehen können, nur dass es wohl ein Beruf war, der nicht nur anstrengend, sondern auch nicht besonders gut bezahlt war.
Wahrscheinlich jammerte der Steinmann aber einfach nur gerne. Denn warum ein Vertreter, wenn er doch so schlecht verdiente, sich einen Mercedes leisten konnte – schwarz, nicht das allerneuste Modell, aber neu genug, um noch immer sehr teuer zu sein – war schlicht unerklärlich. Ebenso wie die bedingungslose Liebe des Steinmanns zu seinem Hund. Eine unbeschreiblich hässliche Bulldogge, die unaufhörlich am Sabbern war und hinkte. Ein wahrer Dämon der Grube, dessen linkes Auge für immer geschlossen war, was Buddel (der wunderliche Name des Köters), wollte er sehen, was sich zu seiner Linken abspielte, zu unnatürlichen Verdrehungen seines Kopfes zwang. Trotz der Hundeliebe seines Herrchens musste Buddel auf dem Erdgeschossbalkon schlafen, weshalb sich der Kobold kaum noch auf den seinigen wagte. Schon mehrmals hatte ihn das sabbernde Geschöpf voller Aggressivität angebellt. Ohne Grund. Aus reiner Garstigkeit. Drecksvieh.
Der Steinmann selbst war ein stilles Wasser. Er sprach kaum ein Wort und verzog auch dann keine Miene, wenn man ihm direkt ins Gesicht blickte oder ihm zum Gruß zunickte. Er wirkte wie eine Statue; seine Gesichtszüge, die massigen Formen seines Körpers, alles schien aus hartem, grob behauenem Granit zu bestehen. Der militärisch anmutende Bürstenhaarschnitt verstärkte den Eindruck noch, denn selbst die blonden Haare erweckten den Eindruck, als ob sie aus gespaltenem Schiefer bestünden. Die bunten, in die Hosen gestopften Kurzarmhemden und die randlose Brille wirkten hingegen wie alberne Verzierungen, die das eigentliche Wesen ihres Trägers auf groteske Art und Weise kontrastieren sollten; ähnlich den im Brazil allgegenwärtigen Barockengeln, die mittels der um die Specknacken gebundenen Fastnachtsorden ihrer Würde beraubt waren. Auch die Stimme war einer dieser Bausteine, die einfach nicht zum Rest der Mensch-Stein-Skulptur passen wollten. Etwas zu hoch war sie, nicht schrill oder gar weiblich, aber eben einfach unpassend.
Der Steinmann blickte von seinem Schnitzel auf und dem Kobold direkt in die Augen. Erwischt, verdammt. Schnell den Blick zurück ins Bierglas, das schon fast wieder leer war. Wo blieben die beiden denn nur?
Die Tür schlug auf und das Bimmeln von Messingglöckchen ertönte. Endlich.
Kolibris und Elefanten
Als Boris und Robin den Gastraum betraten, nickten sie sich verschwörerisch zu, was Ignaz verriet, dass die Marschroute ihres Treffens bereits feststand, und er in der nächsten Stunde mit bemitleidenden Worten und aufbauenden Phrasen bedacht werden würde.