Die unsichtbare Hand - Julie Clark - E-Book

Die unsichtbare Hand E-Book

Julie Clark

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Trügerische Erinnerung, tödliche Familienbande

Kalifornien, Sommer 1975: Die Kleinstadt Ojai wird von einem grausamen Doppelmord erschüttert: Die 14-jährige Poppy und der 17-jährige Danny werden erstochen in ihrem Elternhaus aufgefunden. Ein ungeheuerlicher Verdacht macht die Runde: Wurden die beiden von ihrem eigenen Bruder getötet?

Kalifornien, 2024: Ghostwriterin Olivia Dumont erhält einen Auftrag, den sie am liebsten ablehnen würde. Sie soll ein Buch für ihren Vater schreiben, den gefeierten Schriftsteller Vincent Taylor. Und dabei das fast fünfzig Jahre alte Verbrechen aufklären, das sie schon ihr Leben lang beschäftigt hat. Eigentlich will Olivia mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben. Doch um das dunkelste Geheimnis ihrer Familie aufzuklären, muss sie ihn dazu bringen, sein Schweigen zu brechen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 517

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Buch

Kalifornien, Juni 1975: Ein grausamer Doppelmord erschüttert die Kleinstadt Ojai. Die vierzehnjährige Poppy und der siebzehnjährige Danny werden erstochen in ihrem Elternhaus aufgefunden. Ein ungeheuerlicher Verdacht macht die Runde: Wurden die beiden von ihrem eigenen Bruder getötet?

Kalifornien, 2024: Ghostwriterin Olivia Dumont erhält einen Auftrag, den sie am liebsten ablehnen würde. Sie soll ein Buch für ihren Vater schreiben, den gefeierten Schriftsteller Vincent Taylor. Und dabei das fast fünfzig Jahre alte Verbrechen aufklären, das sie schon ihr Leben lang beschäftigt hat. Eigentlich will Olivia mit ihrem Vater nichts mehr zu tun haben. Doch um das dunkelste Geheimnis ihrer Familie aufzuklären, muss sie ihn dazu bringen, sein Schweigen zu brechen.

Die Autorin

Julie Clark wuchs in Santa Monica auf. Während sich ihre Freunde auf Surfbrettern in die Wellen stürzten, las sie lieber Bücher am Strand. Nach dem Studium arbeitete sie in Berkeley an der University of California. Dann kehrte sie zurück nach Santa Monica, wo sie heute mit ihren beiden Söhnen und einem Goldendoodle lebt und als Lehrerin tätig ist. Mit Der Tausch und Der Plan eroberte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste und stand wochenlang auf Platz 1.

Lieferbare Titel

Der Tausch

Der Plan

JULIECLARK

DIE

UNSICHTBARE

HAND

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Pesch und Christine Reinhardus

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe The Ghostwriter erschien erstmals 2025 bei Sourcebooks Landmark, Naperville, Illinois.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 05/2025

Copyright © 2025 by Julie Clark

© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung von mauritius images / Danita Delimont und www.buerosued.de

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-32969-3V003

www.heyne.de

Für alle, die es verabscheuen, wenn Romanfiguren der Atem stockt: Ich habe mein Bestes gegeben.

ANMERKUNG DER AUTORIN

Ein Teil dieser Geschichte spielt in den Siebzigerjahren in der Stadt Ojai in Kalifornien. Ich habe mich sehr um eine zeitgerechte Darstellung der Gegend und ihrer Bewohner bemüht, musste allerdings im Rahmen der Geschichte einige kleinere Änderungen vornehmen. Sie betreffen insbesondere das jährlich stattfindende Ojai-Sommerfestival, wie es in diesem Roman geschildert wird. Im Laufe der Jahrzehnte gab es eine Reihe von Stadtfesten – zunächst den ursprünglichen Ojai Day von 1917 bis 1928 und dann einen weiteren in den Fünfzigerjahren. In den Neunzigerjahren war die Nordhoff High School für kurze Zeit Austragungsort eines Festivals, bis dann ab Herbst 1991 im Libby Park der Ojai Day wieder neu aufgelegt wurde.

Ich habe die gesamte Umgebung sowie die an das Ojai Meadow Preserve grenzenden Häuser ein wenig verändert, um Ähnlichkeiten mit bestehenden Nachbarschaften und Gebäuden auszuschließen. Sie werden bald verstehen, warum ich das gemacht habe.

Mein besonderer Dank gilt Wendy Barker vom Ojai Valley Museum. Sie hat für mich den Kontakt zu Craig Walker hergestellt, Heimatforscher und lebenslanger Einwohner der Stadt. Craig hat entscheidend dazu beigetragen, mir das Ojai der Siebzigerjahre näherzubringen. Er hat mich über die geografische Beschaffenheit des jetzigen Ojai Meadow Preserve aufgeklärt, mir erzählt, wie die Innenstadt seinerzeit aussah und womit die Kinder sich damals die Zeit vertrieben. Alle Irrtümer sind ausschließlich meine eigenen.

VORWORT

»Ich weiß, was dein Dad getan hat.«

Es war das Jahr, in dem ich zehn Jahre alt geworden war, und einer meiner Klassenkameraden hatte sich neben mich auf die Bank gesetzt und flüsterte aufgeregt in mein Ohr.

Ich legte mein Bologna-Sandwich auf den Tisch. »Er hat ein Buch geschrieben«, sagte ich. Der kometenhafte Aufstieg meines Vaters als Schriftsteller begeisterte mich nicht unbedingt. Seither sprach er lauter. Er trank mehr als sonst – und er hatte ohnehin schon eine Menge getrunken –, war häufig auf Reisen und ließ mich mit seiner Assistentin Melinda allein, einer jungen Frau, die mittlerweile einen eigenen Schlüssel zu unserem Haus besaß. Und die mir erzählte, mein Vater sei zu beschäftigt, um meine Mathearbeit zu unterschreiben oder mit mir Vokabeln zu lernen.

Der Erfolg meines Vaters hatte dafür gesorgt, dass die Literaturszene auf ihn aufmerksam wurde – in den Buchhandlungen standen seine Bücher direkt neben denen von Stephen King, und in manchen Wochen übertraf er sogar dessen Verkaufszahlen. Sein Erfolg war auch in Ojai nicht unbemerkt geblieben und hatte Erinnerungen geweckt. Das Getuschel wurde schließlich so nachdrücklich, dass es sogar den Kids auffiel.

Der Junge, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, schüttelte den Kopf, und seine Augen glitzerten vor Schadenfreude, weil er derjenige war, der es mir sagte. Der genau dort, in der Cafeteria der Schule, mein Recht auf eine unbeschwerte Kindheit zerstörte. »Dein Dad hat seinen Bruder und seine Schwester umgebracht. Er hat sie zu Hause ermordet.«

»Du lügst«, gab ich zurück. »Du bist ja bloß neidisch.«

Doch als die Kinder um uns herum völlig anders reagierten, als ich erwartet hatte, kamen mir Zweifel an meinen eigenen Worten. Denn in ihren Mienen spiegelte sich keine Spur herablassender Skepsis, sondern nur stummes Entsetzen darüber, dass dieser Junge sich tatsächlich getraut hatte, laut auszusprechen, was alle anderen bereits wussten.

So fing alles an. Auf diese Weise entdeckte ich das dunkle Geheimnis im Zentrum meiner Familie.

Von diesem Moment an wurde der Mord an Danny und Poppy Taylor zu einer Geschichte, die man sich heimlich auf Pyjamapartys erzählte, während man Ouija spielte und um Mitternacht der Geist der Bloody Mary im Spiegel erschien. Zwei Kinder, genauso alt wie wir, die 1975 erstochen worden waren, während die ganze Stadt den offiziellen Beginn des Sommers beim jährlichen Ojai-Festival feierte, nur hundert Meter vom Haus der beiden entfernt.

Alle in meiner Klasse kannten bald sämtliche Details dieser Geschichte, obwohl Danny und Poppy zu diesem Zeitpunkt bereits seit über fünfzehn Jahren tot waren. Wie Poppy eigentlich ihre beste Freundin am Tilt-A-Whirl treffen wollte und vorher rasch nach Hause gegangen war, um sich einen Pullover zu holen. Wie man sie in einen Hinterhalt gelockt und in ihrem Schlafzimmer umgebracht hatte. Wie ihr älterer Bruder Danny, der herbeieilte, um sie zu retten, im Flur ermordet worden war, nur ein paar Schritte von seiner Schwester entfernt.

Meine Mitschüler kramten alte Zeitungsausschnitte aus den Schränken hervor und reichten sie in der Pause wie Schmuggelware herum. Die Klassenfotos der beiden wurden eingehend studiert. Die zierliche Poppy mit dem gewellten Haar, das aussah, als würde es rasch zerzausen, ihre sommersprossigen Wangen. Dannys Gesicht, erleuchtet von unerfülltem Potenzial, sein breites Lächeln ein niemals eingelöstes Versprechen.

Sie sprachen darüber, wo man Danny gefunden hatte, malten sich aus, wie verzweifelt er versucht haben musste, seiner kleinen Schwester zu Hilfe zu kommen und sie zu beschützen, auch wenn es ihn sein eigenes Leben kostete. Aber Danny war gescheitert, Poppy war gestorben, und man hatte ihre Namen aus der Vergangenheit in die Gegenwart gezerrt, um als warnendes Beispiel zu dienen. Passt auf, dass ihr nicht so endet wie Danny und Poppy. Diese Warnung verbarg sich insgeheim hinter der Routinefrage der Eltern: Ist ein Erwachsener zu Hause?

Plötzlich ergab alles in meiner Kindheit einen Sinn. Das leise Gemurmel, das uns überall zu folgen schien. Die Lücke, die entstand, wenn wir in der Schlange im Supermarkt standen. Unser Telefon, das niemals klingelte, weil sich jemand mit mir zum Spielen verabreden oder mich zum Geburtstag einladen wollte. Ich hatte immer geglaubt, es läge daran, dass meine Mutter uns verlassen hatte, als ich fünf Jahre alt war, eine Schande, die ich mit mir herumtrug, bis eine noch größere sie verdrängte.

Als ich es schließlich erfuhr, war es nicht schwer, die Fotoalben hinten im Schrank meines Vaters zu finden.

Eine frühe Aufnahme, mit der schwungvollen, schrägen Schrift meiner Großmutter auf der Rückseite – Danny neun Jahre, Vince acht Jahre, Poppy sechs Jahre –, zeigte die Geschwister nebeneinander in Pyjamas auf einer braun gestreiften Couch, Becher mit heißer Schokolade in ihren Händen. Auf einem anderen Foto, das ein paar Jahre später entstand, spielten sie an einem kleinen Küchentisch Karten. Im Hintergrund war undeutlich ihre Mutter zu erkennen, und von der Zigarette des Vaters im Aschenbecher stieg am Bildrand Rauch auf.

An den Gesichtern der drei Geschwister konnte ich ablesen, wie die Zeit verging und die Jahre und Tage allmählich näher an den 13. Juni 1975 herankrochen.

Drei Jahre noch, als sie auf einem Foto den Familienwagen, einen Kombi, in der Auffahrt wuschen – Danny in seinen dünnen Shorts hielt den Schlauch, mein Vater ein magerer Zwölfjähriger, der mit bloßem Oberkörper dastand und die Motorhaube mit einem Schwamm bearbeitete, und die zehnjährige Poppy, die aufkreischte, als ein Wasserstrahl sie am Rücken traf.

Zwei Jahre noch, als Danny, im Anzug, hochgewachsen und gut aussehend, an der Schule eine Auszeichnung entgegennahm, und meine Großeltern, stolz und noch ungebrochen, neben ihm standen.

Ein Jahr noch, als mein Vater seinen fünfzehnten Geburtstag feierte. Er beugte sich über den selbst gebackenen Geburtstagskuchen und warf dem Fotografen einen bösen Blick zu.

Zehn Monate noch, als Poppys Klassenfoto in der Highschool aufgenommen wurde; sie lächelte, und ihr leicht schiefer Vorderzahn, den sie wahrscheinlich gehasst hatte, war zu sehen. Zwei Haarspangen hielten ihr langes Haar direkt über den Ohren zurück. Ich fragte mich, ob sie irgendwie ahnte, welches Schicksal ihr am Ende des Schuljahres bevorstand. Ob sie wusste, dass dies ihr letztes Klassenfoto sein würde. Oder sich einfach nur fragte, ob ihr Haar okay aussah oder wie sie in der Mathearbeit abschneiden würde, die sie vielleicht später an diesem Tag schreiben würde.

Ich versuchte wieder und wieder, diesen zehnjährigen Zeitraum zu verstehen, ging dieselben Theorien und Fragen durch, die offenbar alle, die Danny gekannt und Poppy geliebt hatten, so sehr beschäftigten. Sie kamen immer wieder auf Dannys Potenzial, seine Beliebtheit, seinen Sinn für Humor zu sprechen. Und sie beschrieben Poppys leidenschaftliches Engagement für Gleichberechtigung. Ihre Hartnäckigkeit. Ihre Träume, später einmal Regisseurin zu werden.

Auch von meinem Vater war die Rede. Wie er mit seinen Scherzen manchmal so weit ging, dass es an Grausamkeit grenzte. Wie er sich – vergeblich – darum bemüht hatte, dazuzugehören und sich einzufügen. Damals hatten sich alle gewundert, wie es dem schwierigen Vincent gelungen war, sich diese Freundin an Land zu ziehen.

Die Freundin, die später meine Mutter werden sollte.

Ihre Geschichten verwiesen auch auf meine eigenen, seit jeher vorhandenen Charakterzüge. Die Intensität meines Vaters. Die Unsicherheit meiner Mutter. Das Temperament meiner Tante und das Charisma meines Onkels.

Aber als Ghostwriterin – jemand, der den Geschichten anderer zuhört und eine Erzählung daraus entwickelt – weiß ich inzwischen aus Erfahrung, wie schwer es ist, etwas herauszufinden, das jemand unbedingt geheim halten will. Wenn dieser Jemand schließlich stirbt, nimmt er seine Geheimnisse mit ins Grab, bis irgendwann niemand mehr am Leben ist, der sich daran erinnert.

Alles, was jetzt noch übrig ist, sind die fünfzig Jahre alten Mordfälle, fest verankert im Zentrum unserer Familie. Sie sind ebenso sehr Teil meiner DNA wie mein braunes Haar.

Ich habe mir unzählige Male vorgestellt, was am 13. Juni 1975 geschehen ist. Wie aus der Vogelschau sehe ich den Tag vor meinem geistigen Auge, kann ihn wie einen Film betrachten, der allmählich vor mir abläuft. Ein junges Mädchen im Teenageralter ist auf dem Weg nach Hause, um sich rasch einen Pullover zu holen. Sie ist beinahe am Ziel. Ist die Straßenbeleuchtung schon eingeschaltet? Der Gerichtsmediziner hat Poppys Todeszeitpunkt auf ungefähr 19 Uhr bestimmt, Dannys kurz danach.

Poppy wusste nicht, was ihr zu Hause zustoßen würde. Sie ahnte nichts von dem entsetzlichen Albtraum ihrer letzten Minuten. Ganz gleich, wie ich mir den Ablauf vorstelle, sie hatte nicht die geringste Chance. Den Autopsie-Ergebnissen zufolge wurde mein Vater innerhalb einer Stunde zum Einzelkind.

Manche sagen, dieses Trauma habe ihn zu einem der produktivsten Horrorautoren seiner Generation gemacht. Andere sind weniger großzügig.

Mein Vater ist ein talentierter Schriftsteller – ein professioneller und instinktiver Lügner. Ich bin nicht naiv genug, um alles, was er mir erzählt hat, für die absolute Wahrheit zu halten. Ich möchte Sie dazu einladen, sich selbst ein Urteil zu bilden, so wie ich es tun musste.

Olivia Taylor Dumont

13. Juni 2025

KAPITEL 1

MÄRZ 2024

Ich spüle meinen Kaffeebecher aus, und heißes Wasser rauscht in das Kupferspülbecken, als mein Telefon klingelt. Ich trockne mir die Hände ab und gehe zu dem langen Esstisch hinüber, den ich vor einigen Jahren auf dem Flohmarkt erstanden habe.

Ich nehme das vibrierende Handy und erwarte, Toms Namen und sein Gesicht auf dem Display zu sehen. Er ruft mich immer auf seinem Weg zur Arbeit an, und wir nutzen diese Zeit, um über die vielen Themen zu sprechen, die uns ständig durch den Kopf gehen. Warum der Kongress sich wie ein Haufen verwöhnter Zehnjähriger benimmt. Oder was tatsächlich im Mordfall JonBenét Ramsey passiert ist. Manchmal redet er mir gut zu, wenn ich einen Panikanfall habe, weil ich seit einem Jahr keinen Auftrag mehr hatte. Egal, um was es geht, wir sind jedenfalls ständig miteinander im Gespräch, seit wir uns kennengelernt haben. Ich verstehe jetzt endlich, was andere Menschen meinen, wenn sie von ihrem Lieblingsmenschen sprechen. Tom ist mein Lieblingsmensch, und ich bin seiner.

Aber diesmal ist nicht Tom der Anrufer, sondern meine Literaturagentin Nicole. Sie ist die einzige Person aus der Verlagsbranche, zu der ich noch Kontakt habe. Anfangs kümmerten sich meine Autorenfreunde noch um mich, luden mich auf einen Kaffee oder Drinks ein. Sie schickten mir Links zu Schreib-Retreats und Tagungen. Doch als ich immer seltener darauf antwortete, verwandelten sich die Einladungen erst in fürsorgliche Textnachrichten und Mails und hörten irgendwann schließlich ganz auf.

Hoffnung flackert in mir auf. Vielleicht ist mein Exil endlich vorüber.

Ich werfe einen Blick aus dem Fenster über die Veranda zu dem Anbau aus Holz, in dem ich arbeite, und frage mich, seit wie vielen Monaten ich ihn nicht mehr betreten habe. Sind es sechs? Oder zehn? Ich denke einen Moment lang an Tom, der ihn entworfen hat. Ich stelle mir vor, wie begeistert er wäre, wenn ich ihm berichten könnte, dass ich endlich ein neues Projekt habe.

»Ich hoffe, du rufst an, weil du einen Auftrag für mich hast«, sage ich.

Es ist schon über ein Jahr her, seit ich zum letzten Mal auf der Bühne einer großen Literaturtagung saß – ich war als einzige weibliche Teilnehmerin zu einer Veranstaltung über Ghostwriting im 21. Jahrhundert eingeladen worden – und bei dieser Gelegenheit meine Karriere ruinierte.

»Genau«, sagt Nicole und hält dann kurz inne, als sei sie nicht sicher, wie sie fortfahren soll. »Aber es ist … ein etwas untypischer Auftrag.«

Ich öffne die gläserne Schiebetür und trete hinaus auf die natursteingeflieste Terrasse mit Panoramablick über den Canyon; bei klarem Wetter kann man von hier aus das Meer am Horizont erkennen. Heute ist der Himmel allerdings grau, und noch sind die Baumkronen weit unter mir nur undeutlich zu sehen, während der Morgennebel sich allmählich in der zunehmenden Wärme auflöst. Dieses Haus hoch oben am Hang des Topanga Canyons habe ich mir von meinem ersten großen Vorschuss gekauft, für ein Buch über eine junge Golfspielerin, die sich aus eigener Kraft aus dem Kinderheim auf nationales Golfniveau hocharbeitet. Es kam einem Gefühl von Heimat am nächsten, seit ich Ojai als Vierzehnjährige verlassen hatte.

Ich liebe das Haus mit seinen Stein- und Gipswänden, den sensibel an die natürlichen Gegebenheiten angepassten Sanitärinstallationen und seinen etwas eigenwilligen Ecken. Nicht jeder möchte an einer verschlungenen Straße im Canyon wohnen, mindestens dreißig Minuten weit entfernt von allen grundlegenden Annehmlichkeiten. Ganz zu schweigen von den alljährlichen Waldbränden, die dafür sorgen, dass sämtliche Bewohner des Topanga Canyons alle Wind- und Wetterbedingungen genauestens registrieren und stets eine gepackte Tasche im Kofferraum des Autos haben, damit sie von einem Augenblick auf den anderen das Gebiet verlassen können. Aber diese Gefahr hatte mich nicht abgeschreckt, denn ich kannte sie. Ihr Schatten war mir vertraut wie eine Landstraße, die einen nach Hause führt und deren Kurven und Windungen sich vor einem wie Erinnerungen entfalten. Wer als Heranwachsende gesagt bekommt, der eigene Vater sei ein Mörder, versteht sich darauf, Gefahr nicht ins Bewusstsein dringen zu lassen. Auch wenn das Unterbewusstsein ständig wachsam bleibt und vorbereitet ist. Darauf wartet, dass die Gefahr sichtbar wird.

»Sag’s mir einfach«, erwiderte ich.

»Das Team von Vincent Taylor hat Kontakt mit uns aufgenommen. Du weißt schon, der Horrorautor? Sie möchten dich als Ghostwriterin für sein nächstes Buch haben.«

Ich spüre kaum, wie eine Brise um meine Knöchel und über die bloßen Arme streicht, denn bei der bloßen Erwähnung dieses Namens verwandelt sich mein Geist in ein einziges wirbelndes Durcheinander. Vincent Taylor, mein Vater. Ich habe seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen, und in meinem jetzigen Leben weiß niemand, dass wir miteinander verwandt sind. Und doch ist er der dunkle Kern, den ich von meinem restlichen Leben abgekapselt habe.

Nicole füllt eilig die durch mein Schweigen entstandene Stille. »Ich weiß, du arbeitest sonst nicht in diesem Bereich. Aber es ist ein Auftrag, und sie haben dich direkt angefragt.«

»Ich bin keine Romanautorin«, sage ich schließlich, und meine Stimme klingt vor Aufregung höher als sonst. Ich räuspere mich, um meine Nervosität zu kaschieren. »Es gibt bestimmt viele, die das besser können.«

Ich höre, wie Nicole etwas auf ihrem Schreibtisch hin und her schiebt, und stelle mir den Blick aus ihrem Fenster in Manhattan vor, auf die belebte Straße weit unten, verstopft mit Autos und Menschen. »Das weiß ich, aber er besteht darauf, dass du den Auftrag übernimmst.« Dann senkt sie neugierig die Stimme: »Ich muss einfach fragen. Woher kennst du ihn denn?«

Ich lasse mich auf einen der schmiedeeisernen Stühle am Tisch draußen nieder, die Zweige der Glyzinie über mir wuchern kreuz und quer durcheinander. Im sanften Wind schwingt die einzige Lampe auf der Terrasse hin und her, leise seufzend streicht Luft durch den Canyon. »Ich kenne ihn nicht«, gebe ich zurück.

Das ist nicht mal gelogen. Ich habe hart daran gearbeitet, mein Leben vollkommen von dem meines Vaters abzutrennen. Ich habe viele Jahre im Ausland verbracht, bis ich sicher sein konnte, dass die amerikanischen Medien die Existenz von Vincent Taylors Tochter vergessen hatten. Ich zog 2005 wieder in die Vereinigten Staaten zurück, im Besitz einer doppelten Staatsbürgerschaft und dem Nachnamen des Mannes, mit dem ich in meinen Zwanzigern eine kurze Ehe geführt hatte – Dumont. Und es ist noch länger her, seit ich Vincent Taylor als jemanden ansah, den ich einmal kannte.

Nach meiner Rückkehr in die Staaten arbeitete ich zunächst als Journalistin. Ich hatte geglaubt, dass ich über Menschen wie meinen Vater schreiben wollte, Menschen, die sich nicht an Regeln halten, die das System austricksen und ihre Privilegien ausnutzen. Doch dann fand ich es abscheulich. Der ständige Kampf darum, an eine Story zu kommen, stieß mich ab. Ich hasste es, den Leuten im Park, im Supermarkt oder am Telefon aufzulauern und sie dazu zu bringen, dass sie mir etwas sagten, was sie mir eigentlich nicht sagen wollten. Also genau dasselbe zu tun, was man mir selbst angetan hatte, bevor es mir gelang, meinen Namen zu ändern und von der Bildfläche zu verschwinden.

Zum Ghostwriting kam ich per Zufall. Eine ehemalige Mitschülerin arbeitete inzwischen als Lektorin für einen großen Verlag in New York. Sie nahm Kontakt mit mir auf, weil der Verlag den Zuschlag für ein Buchprojekt bekommen hatte – die Biografie eines legendären Filmstars der Sechzigerjahre. Der bereits verpflichtete Ghostwriter hatte das Projekt aus unbekannten Gründen fallen lassen. Meine Freundin steckte in der Klemme und suchte dringend jemanden, der den Abgabetermin einhalten konnte. Ich sagte zu und stellte fest, dass ich gut darin war.

Seither habe ich viele Buchseiten mit den Biografien starker Frauen gefüllt. Ich habe über die erste asiatisch-amerikanische Frau im Weltraum geschrieben, über Politikerinnen, die das politische Umfeld für Frauenrechte entscheidend veränderten, oder über Spitzenwissenschaftlerinnen ihres Fachgebietes. Ich liebe die Anonymität des Ghostwritings, die es mir ermöglicht, in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen und mich gerade lang genug in ihrem Leben einzunisten, um eine gute Geschichte über sie zu erzählen. Niemand kann mich sehen oder sich daran erinnern, wer mein Vater ist. Ich bin die unsichtbare Hand, die Seiten füllt, nicht der Name auf dem Buchdeckel.

»Also, die Bezahlung stimmt jedenfalls«, fährt Nicole fort. »Er lebt in Ojai, daher ist es auch keine große Fahrerei für dich.«

»Hast du noch was anderes?«, sage ich mit plötzlicher Verzweiflung.

Ich habe diese Frage schon unzählige Male gestellt. In Briefen, Mails und Telefonaten. Im Grunde zielt meine Frage jedoch auf etwas anderes ab: Wie kann es sein, dass ich nach so vielen erfolgreichen Jahren eine derartige Bruchlandung hingelegt habe? Alles, was ich an jenem besagten Tag tat, war, das laut auszusprechen, was alle über den Mann in der Mitte der Bühne dachten. John Calder, der sein neuestes Buch über einen Politiker-der-zum-Sexhändler-wird vorstellte, war beleidigend und frauenfeindlich. »Geht es Ihnen nur ums Geld, John, oder gibt es auch eine Grenze, die Sie nicht überschreiten würden? Gibt es eine Person, deren Loblied Sie nicht singen würden, und sei der Vorschuss auch noch so hoch?«, fragte ich ihn, als ich an der Reihe war.

Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Ausgangsfrage des Moderators, ein bekannter Kritiker der New York Times. Ich höre jedoch noch, wie die Zuschauer den Atem anhielten, weiß noch, wie sich alle Köpfe in meine Richtung am Rand der Bühne wandten, erinnere mich an meinen Stuhl, dessen blaue Farbe sich leicht von den anderen Bezügen unterschied, als sei meine Anwesenheit hier ein nachträglicher Einfall gewesen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich einen Fehler begangen hatte. Der Moderator räusperte sich und sagte: »Besten Dank für Ihren Beitrag, Miss Dumont, das war wirklich sehr anschaulich.« Das Publikum lachte, und das Gespräch ging weiter, aber mir war in diesem Moment klar, welch fatale Auswirkung meine Worte haben würden. Öffentlich einen Mann wie John Calder herauszufordern, mit seiner langen Liste von Bestsellern und Beziehungen, die bis in einflussreiche Kreise der Politik und der Unterhaltungsindustrie hineinreichten, ungeachtet der widerlichen Themen, die er in den öffentlichen Diskurs einbrachte, war ein Fehler, den Nicole nicht ausmerzen konnte.

Der Verleger des Buches, das ich beworben hatte, forderte mich auf, eine Entschuldigung zu veröffentlichen. Stattdessen schimpfte ich in den sozialen Medien darüber, dass die Frauenfeindlichkeit innerhalb der Verlagsbranche es Männern wie John Calder ermöglichte, Profit aus moralischer Verkommenheit zu schlagen. Sie erhielten doppelt so hohe Honorare wie ähnlich bekannte Frauen und wurden mit großem Werbeaufwand vermarktet, der wiederum die Verkaufszahlen steigerte, was zu noch höheren Vorschüssen für diese Männer führte. Ich hingegen war erschöpft von dem Arbeitsaufwand, den ich betreiben musste, um mich an zweiter Stelle zu halten. Und außerdem war ich wütend, weil Talent für die Leute an der Spitze offenbar kaum zählte. Mit den letzten vier Posts auf diesem Thread besiegelte ich schließlich mein Schicksal:

(7/10) Während wir anderen mit der harten Arbeit beschäftigt sind, auch marginalen Stimmen Gehör zu verschaffen und Geschichten zu erzählen, die der Gemeinschaft nutzen, hat John Calder beschlossen, einen anderen Weg einzuschlagen.

(8/10) Vielleicht gesellt sich Gleich und Gleich eben tatsächlich gern. Der Umgang färbt ab, und John Calder pflegt Umgang mit einigen der niederträchtigsten und korruptesten Individuen unserer Gesellschaft.

(9/10) Ich rede hier vom pädophilen Politiker. Dem CEO, der zugleich Rassist ist. Dem Richter, der einen Vergewaltiger freispricht, um die »Zukunft des jungen Mannes nicht zu ruinieren«.

(10/10) Ich bin sprachlos, dass Verleger bereit sind, solche Leute zu unterstützen. Verleger, die die Ansicht vertreten, John Calder sei ein so großes Talent, dass sie ihm Geld und eine Bühne geben.

Wegen dieser Posts startete John Calder eine landesweite Medienkampagne gegen mich und warf mir vor, ich würde versuchen, ihn zu canceln. Anschließend zog er vor Gericht. Er behauptete, er habe meinetwegen zwei Buchverträge verloren, weil die Gegenseite sich für einen weniger umstrittenen Autor entschieden hätte. Der Prozess fand in demselben Bundesstaat statt, der auch die Literaturveranstaltung organisiert hatte, und ich sah mich einem Richter gegenüber, dem es sichtlich in den Fingern juckte, einer Frau mit vorlautem Mundwerk eine Lektion zu erteilen. Er verhängte ein Bußgeld von fünfhunderttausend US-Dollar und riet mir, in Zukunft vorsichtiger mit meinen Worten umzugehen. Nicht mehr so emotional zu sein. Mich zu beruhigen.

Obwohl viele Leute insgeheim meiner Meinung waren, gingen sie nicht so weit, mir Ghostwriter-Aufträge zu geben. Ich konnte ja nicht einfach meinen Namen ändern und unter einem anderen schreiben. In diesem Geschäft kommt man ohne den Nachweis erfolgreicher Projekte nicht weiter, und meine Bilanz hatte zu den besten gehört. Bis das schließlich nicht mehr so war.

»Du weißt, ich habe alle möglichen Leute angerufen«, sagt Nicole jetzt. »Ich habe jeden gefragt, bei dem ich was guthatte. Wir müssen die Sache einfach aussitzen.«

Ehrlich gesagt ist es ein Wunder, dass Nicole mich nicht längst fallen gelassen hat.

Eigentlich möchte ich dieses Projekt ablehnen. Eigentlich muss ich es ablehnen – nicht nur, weil ich alles darangesetzt habe, mich vollständig von meiner Familie und dem Trauma, das mit ihr verbunden ist, zu lösen, sondern auch, weil ich meinem Vater keine Möglichkeit geben will, mich zu manipulieren. Denn hier geht es ganz sicher nicht um einen Job.

»Ich dachte, Vincent Taylor hätte sich vor ein paar Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen«, sage ich.

»Männer wie er haben eine Schwäche dafür, ihr Comeback zu inszenieren«, sagt Nicole. »Nach den Gesprächen mit seinem Team habe ich aber irgendwie das Gefühl, dass es bei ihm nicht rundläuft. Sie hatten einige Rückschläge, und wenn sie dieses Buch mit unserer Hilfe termingerecht und ohne weitere Probleme liefern können, denke ich, dass sie uns auch für andere Projekte anfragen werden.« Sie legt eine kurze, bedeutungsvolle Pause ein. »Vielleicht öffnet dir das eine Tür.«

Ich gehe zum Rand der Terrasse hinüber, wo ein handgeschnitztes Geländer meinen Grund und Boden von den Wäldern des Staatsforsts weiter unten im Canyon abgrenzt, und blicke in die wolkenverhangene Ferne. »Welche Rückschläge gab es denn?«, frage ich. »Wo lag das Problem?«

»Über Einzelheiten wollten sie nicht sprechen. Du musst erst zusagen, dann gibt es umfassende Informationen.«

Über mir kreist ein Falke, und plötzlich werde ich vorsichtig, fühle mich mit dem unsichtbaren Geschöpf verbunden, das dieser Raubvogel jagt. »Und wie viel zahlen sie?«, frage ich schließlich.

»Sie haben zweihundertfünfzigtausend Dollar geboten. Vielleicht kann ich noch mehr raushandeln, weil er speziell dich angefragt hat. Es gibt auch eine Beteiligung an den Tantiemen, und wenn das Buch gut läuft – was ziemlich wahrscheinlich ist –, könnte es eine solide Einnahmequelle für dich sein.« Sie schweigt einen Augenblick lang. »Vielleicht musst du dann dein Haus nicht verkaufen.«

Der Falke schießt jetzt steil nach unten, und ich wende mich wieder dem Haus zu. Mir fällt das Ehepaar ein, das vor einigen Tagen hier war und in einem geräuschlosen Tesla die Auffahrt herauffuhr. Die nackten Füße des Ehemanns steckten in teuren italienischen Halbschuhen, seine Frau hielt ihre Birkin-Tasche an die Brust gepresst, während sie den verschlungenen, unbefestigten Weg bis an die Stufen der Haustür zurücklegten. Ich lächelte sie an, als ich, wie immer bei Besichtigungsterminen, davonfuhr, denn ich will nicht hören, was potenzielle Käufer über mein Haus sagen, aber die Stimme der Frau drang bis zu mir ins Auto mit den heruntergelassenen Scheiben. »Diese Bruchbude kann man gleich abreißen«, sagte sie voller Geringschätzung.

Als meine Maklerin später am Abend anrief und mir mitteilte, die beiden würden kein Angebot abgeben, schlug sie mir vor, mit dem Preis herunterzugehen. Schon wieder.

»Gut«, sage ich jetzt zu Nicole und weiß bereits im Voraus, dass ich es bereuen werde. Ich weiß schon jetzt, dass ich für diesen Auftrag auf Arten und Weisen bezahlen werde, die ich mir noch nicht mal vorstellen kann.

»Okay, ich sage ihnen Bescheid und melde mich dann wieder bei dir.«

»Wann will er denn mit dem Projekt anfangen?«, frage ich.

»Sie haben es eilig, ich denke, die Sache kommt schnell in die Gänge. Plane schon mal ein, dass du Ende der Woche dorthin fahren musst.«

Wir beenden das Gespräch, und ich blicke wieder zurück zum Canyon. Von dem Falken und seiner Beute ist nichts zu sehen. Ich versuche, diesen Auftrag nicht als eine Gelegenheit, sondern als eine Notwendigkeit zu sehen. Mein Vater sagte früher immer: Keine Reue. Niemals zurückblicken. Ich verspreche mir selbst, dass ich mich in den Plan, den er für mich ersonnen hat, nicht verstricken lassen werde. Ganz gleich, wie er aussehen mag. Hinter diesem Auftrag steckt mit Sicherheit irgendein Schwindel; seit Jahrzehnten produziert mein Vater wie am Fließband Romane, und es kann einfach nicht sein, dass er meine Hilfe nötig hat. Ich werde das Projekt als notwendiges Übel betrachten, um diese Phase meines Lebens zu beenden – und die fast täglich eingehenden Mitteilungen über mein überzogenes Konto. Um John Calder und meinem Anwalt endlich zahlen zu können, was ich ihnen schulde. Und vielleicht auch, um mit dem Mann, der mein Leben lang praktisch ein Unbekannter für mich war, zu einer Art Abschluss zu kommen.

Wie dem auch sei, im Alter von vierundvierzig Jahren und nach einer beinahe drei Jahrzehnte langen Abwesenheit kehre ich nun zum ersten Mal wieder in mein einstiges Zuhause zurück.

KAPITEL 2

Am Freitag steht Tom zusammen mit mir auf, um mich zu verabschieden. Es ist noch so früh am Morgen, dass das Licht nur die Kronen der Bäume rings um mein Haus streift. Ich trinke auf der Terrasse einen Kaffee, blicke über den Canyon und verspüre eine interessante Mischung aus Angst und Anspannung. Als der Vertrag am Mittwoch in meinem Posteingang lag, rief ich Nicole an und ging die Einzelheiten mit ihr durch.

»Sie wollen nicht offenlegen, dass er mit einem Ghostwriter arbeitet, also müssen wir die Sache diskret abwickeln«, sagte sie. »Sie haben eine Vertraulichkeitsvereinbarung vorgeschlagen, aber ich konnte sie überzeugen, dass du ein Profi bist und Erfahrung mit solchen Projekten hast.«

»In Ordnung«, erwiderte ich. Nichts lag mir ferner, als irgendjemandem mitzuteilen, dass ich als Ghostwriterin an einem Horrorroman arbeite, dessen Autor beinahe so verhasst ist wie John Calder.

»›Der AUTOR wird seine Mitarbeit an diesem PROJEKT nicht in Unterhaltungen, Interviews, Medien offenlegen‹, bla, bla, bla«, las Nicole aus dem Vertrag vor. »Natürlich nicht. Da es sich um Vincent Taylor handelt, will er bestimmt, dass seine Fans glauben, er hätte den Roman selbst geschrieben. Aber der Verleger weiß Bescheid, und das ist alles, was für uns zählt.«

»Verstanden«, antwortete ich und verschwieg ihr wohlweislich, dass ich dieses Geheimnis mit Freuden mit ins Grab nehmen werde – wenn ich dadurch nur wieder Arbeit bekomme. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, was es über mich selbst aussagt, dass ich diesen Job annehme. Wie rasch ich mich auf Calders Ebene hinabbegeben habe, indem ich ein Projekt wegen der Höhe des Vorschusses annehme, und ohne mich darum zu kümmern, mit wem ich zusammenarbeite.

Tom tritt neben mich, und gemeinsam blicken wir in die Ferne. Die seidig rosafarbene Tönung des Himmels erinnert mich an den Anblick der Berghänge um Ojai bei Sonnenuntergang. Aber das sage ich natürlich nicht.

Als ich Tom von dem Auftrag erzählt habe, hat er eine Menge Fragen gestellt – wer, wo, wie lange. Ich bin ihnen ausgewichen, indem ich ihm erklärte, ich hätte eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben und dürfe nichts darüber erzählen. Obwohl das rein technisch gelogen war – man hatte mich nicht aufgefordert, etwas zu unterschreiben –, redete ich es mir selbst schön, indem ich mir vor Augen hielt, dass ich schon an vielen Büchern mitgearbeitet hatte, bei denen nicht bekannt werden durfte, dass ich als Ghostwriterin mitwirkte. Und dass es bei diesem Projekt genauso sein würde. Natürlich wusste ich, dass Tom wütend geworden wäre, wenn ich ihm die Wahrheit erzählt hätte. Toms Kindheit war von Lügen geprägt – seine Eltern waren Narzissten, die betrogen, manipulierten und logen –, und als wir anfingen, uns zu treffen, sagte er von Anfang an, Lügen seien für ihn ein Trennungsgrund.

Von dieser ausgeprägten Abneigung hatte ich jedoch noch nichts gewusst, als ich ihm dieselbe Geschichte über meine Vergangenheit auftischte wie allen anderen auch, seit ich in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt war. Dass ich von zwei liebevollen Eltern erzogen worden war und mein Vater plötzlich an einem Herzanfall gestorben sei, als ich während der Schulzeit im Ausland war, und dass meine Mutter an Gebärmutterkrebs starb, als ich studierte. Damals, zu Beginn unserer Beziehung, erzählten wir einander noch viel über die einschneidenden Ereignisse in unseren Leben, aber ich zog nie in Betracht, ihm die wahre Geschichte mitzuteilen. Seit Jahren hatte ich niemandem erzählt, mit wem ich verwandt oder was in meiner Familie geschehen war. Deswegen kam es mir auch nie so vor, als würde ich Tom belügen. Die Wahrheit ist weit weg, irgendwo in einem fernen Winkel meiner Vergangenheit, und ich hatte nicht die Absicht, je dorthin zurückzukehren. Ich musste mir auch keine Sorgen machen, dass mein Geheimnis entdeckt wird. Denn es war ausgeschlossen, dass es jemals einen Grund für mich geben könnte, Kontakt zu einem meiner Eltern aufzunehmen. Dieses Geheimnis hat nichts damit zu tun, wer ich als Partnerin für Tom bin. Es spielt einfach keine Rolle.

»Hast du alles eingepackt?«, fragt er mich jetzt.

»Ja, ich bin so weit fertig«, sage ich.

Er nimmt mich fest in den Arm, und ein leises Schuldgefühl flackert in mir auf, weil dieses sorgfältig verborgene Geheimnis mir plötzlich wieder so nahegerückt ist. Wie ein schlagendes Herz, das darauf wartet, dass ich es zur Kenntnis nehme.

Er geht mit mir zum Auto, trägt meine Tasche und beugt sich herab, um mir einen Abschiedskuss durchs offene Fenster zu geben. »Ruf mich an, wenn du heute Abend alles geregelt hast, okay?«

Wir sehen uns an, und in diesem Augenblick bereue ich es, den Job angenommen zu haben. Was ich hier tue, ist falsch – ich sollte ihn nicht belügen, nicht nur in Bezug auf die Vertragsbedingungen, sondern auch was den Ort betrifft, an den ich zurückkehre und den ich vor langer Zeit aus eigenem Entschluss verlassen habe. Aber der Vertrag ist unterzeichnet, der Vorschuss wahrscheinlich bereits auf meinem Konto, und ich kann jetzt nur noch hoffen, dass ich die Sache ohne Zwischenfall hinter mich bringe.

Ich fahre die Küstenstraße nach Norden und dann nach Osten, Richtung Ojai in Ventura County. Unterwegs lasse ich meine Gedanken in meine Kindheit zurückwandern, zu jener Zeit, als ich noch nichts von den Morden oder dem Schatten des Verdachts wusste, der meinem Vater überallhin folgte. Ich denke an die Zeit zurück, als wir in einem winzigen Apartment in unmittelbarer Nähe der Ojai Avenue wohnten. Jeden Sonntag aßen wir in Nina’s Diner zu Mittag, wo ich gierig einen Burger mit dem berühmten roten Relish verschlang und mein Vater mithilfe von reichlich Kaffee versuchte, seinen jeweiligen Kater unter Kontrolle zu bekommen. Er unterhielt mich mit Geschichten über Lionel Foolhardy – ein ungeschickter, zu Unfällen neigender Junge, dessen gute Absichten unweigerlich zu Chaos führten. Etwa die Geschichte von den Meerschweinchen, die sich zufällig befreien konnten und im Klassenzimmer herumliefen, als Lionel an der Reihe war, den Käfig zu reinigen. Oder wie bei einem misslungenen Experiment mal ein kleines Feuer ausgebrochen war.

Das war noch vor dem Zeitpunkt, als die Schriftstellerkarriere meines Vaters Fahrt aufnahm. Bevor sein Alkoholkonsum schlimmer wurde und er außerdem zu Kokain griff. Erst als Erwachsene ist mir klar geworden, was er da tat – er versuchte, sich durch Selbstmedikation von dem Trauma zu heilen, das er mit sich herumschleppte. Drogen, Alkohol, Frauen – die Zeitungen berichteten so ausführlich über seine Eskapaden, dass irgendwann sogar das Medieninteresse erlahmte.

Ich habe mich meinem Vater nicht entfremdet, weil ich glaube, er hätte Danny und Poppy getötet. Trotz seiner vielen Fehler halte ich den Mann, den ich einmal angebetet habe, nicht für einen Mörder. Aber Ruhm und Trauma verwandelten ihn, der zuvor ein liebevoller Vater gewesen war, in jemanden, den ich kaum wiedererkannte. Gewohnheiten wurden zu Abhängigkeiten, der Vater von früher verschwand, und an seine Stelle trat ein Mann, der mich ständig enttäuschte. Der beschloss, mich ebenfalls zu verlassen, nachdem meine Mutter mich verlassen hatte. Als ich vierzehn war, schickte er mich in ein Internat im Ausland, wo ich meist auch die Schulferien verbrachte und mich auf dem leeren Schulgelände oder mit Freunden herumtrieb. Wenn er es irgendwie schaffte, gemeinsame Ferien zu organisieren, verbrachte ich den größten Teil der Zeit allein, weil mein Vater, ganz gleich, wohin er reiste, häufig in letzter Minute noch ein paar Vortragstermine einplante und die restliche Zeit an der Hotelbar durchbrachte. Es ist schwer zu sagen, wer mich mehr verletzte – meine Mutter, weil sie mich verließ und sich nie mehr um mich kümmerte, oder mein Vater, der vor meinen Augen verschwand. Sich stückweise auflöste wie ein Zauberkünstler, bis unsere Familie schließlich auf ein einziges Mitglied zusammengeschrumpft war: mich selbst.

Als ich die Außenbezirke von Ojai erreiche, bemerke ich die Veränderungen in der Stadt. Neue Geldströme haben das alte Ojai weggeschwemmt. Ich fahre durch die Innenstadt. Auf der Ojai Avenue ist jede Menge los, Touristen überqueren die zweispurige Straße, Fahrradfahrer auf Leihrädern aus dem Ferienpark sausen an mir vorbei, und in mir steigen Erinnerungen auf. Wie ich auf den Schultern meines Vaters sitzend ein Eis esse. Wie ich an der Hand meiner Mutter über die Straße gehe, wobei ich mich deutlicher an ihren flatternden Rock erinnern kann als an ihr Gesicht. Erinnerungen an das Licht in Ojai, jenen magischen, bei Sonnenuntergang langsam in Rosa übergehenden Goldton. Den Duft von Eukalyptus und Rosmarin auf den kilometerlangen Wanderwegen rund um die Stadt.

Und ich denke an Jack Randall, den Sohn von Dannys bestem Freund Mark. Jack wurde ebenfalls von jemandem erzogen, den jener Tag im Jahr 1975 traumatisiert hatte. Wir beide haben früh gelernt, mit niemals ausgesprochenen Erinnerungen zu leben. Gemeinsam machten wir uns heimlich auf die Suche nach Antworten, tauschten hinter meiner geschlossenen Schlafzimmertür oder beim Mittagessen in der Schulkantine flüsternd unsere Theorien aus.

Wir betrachteten nicht nur grübelnd die Fotoalben meines Vaters, sondern gingen auch in die Bücherei und erzählten der Bibliothekarin, wir müssten für die Schule einen Aufsatz über die Geschichte Ojais schreiben. In Wahrheit verbrachten wir unsere Zeit jedoch damit, die auf Mikrofiche gespeicherten Zeitungsartikel vom Juni und Juli 1975 durchzusehen und nach Informationen über die Morde zu suchen. Die Artikel lieferten kaum mehr als Einzelteile des Puzzles. Der ungelöste Fall wird mit allem Nachdruck untersucht. Die Retrospektive zehn Jahre später in der Lokalzeitung von Ojai war wesentlich detaillierter, wahrscheinlich weil mein Vater inzwischen volljährig war und die Leute sich trauten, Namen zu nennen.

Zu Beginn der Ermittlungen war die Polizei davon ausgegangen, dass es sich bei dem Mörder um einen Ortsfremden handelte, der sich nur kurz in der Stadt aufgehalten hatte. Berichten zufolge war Poppy am vorhergehenden Wochenende per Anhalter nach Ventura und wieder zurück gefahren, und die Polizei war auf der Suche nach jemandem, der gesehen hatte, wie Poppy aus dem Auto stieg. Sie hofften, ein Zeuge könne dabei helfen, Automarke und Modell genauer festzustellen. Ihnen Anhaltspunkte liefern, um jenen Unbekannten zu verfolgen, der das junge und attraktive Mädchen gesehen hatte und am folgenden Wochenende zurückgekehrt war, weil er eine günstige Gelegenheit witterte, sich ihr zu nähern. Danny war lediglich ein Kollateralschaden gewesen. Unter den Ansässigen kursierten jedoch Gerüchte. Das leise Grummeln einer anderen Geschichte, die allmählich an der Oberfläche auftauchte. Die später zwischen meinen Mitschülern ausgetauscht wurde wie dieser Zeitungsartikel. Geschichten über Streitereien zwischen meinem Vater und Danny. Dass man kurz vor den beiden Morden meinen Vater und Poppy bei einer heftigen Meinungsverschiedenheit gesehen hatte. Dass mein Vater sie körperlich angegriffen hätte.

Es muss so vieles zurechtgerückt werden, was nicht nur durch die unterschiedlichen Blickwinkel, sondern auch durch die vergangene Zeit durcheinandergeraten ist. Inzwischen sind seit den Morden fast fünfzig Jahre vergangen. Die Erinnerungen sind verblasst. Anspielungen und Verdächtigungen haben sich zu etwas Konkretem verfestigt. Jeder hat eine Theorie und niemand eine Antwort. Und mein Vater befindet sich mittendrin und weigert sich, irgendetwas davon zur Kenntnis zu nehmen.

Ein Argument, das er immer vorbringt, wenn jemand es wagt, das Thema anzuschneiden, ist, dass er ein Alibi hatte. Er war damals mit meiner Mutter Lydia zusammen, was der ebenfalls anwesende Lehrer bestätigte, der zwischen meinen Eltern vermittelte. Der Polizei hat es gereicht. Es ist mir scheißegal, wie die anderen darüber denken.

Bald lässt der Verkehr nach, und ich stelle fest, dass sämtliche vertraute Orientierungspunkte meiner Kindheit verschwunden sind – der Eisladen mit den kreisförmig angeordneten Lichtern in Regenbogenfarben, die altmodische Apotheke, wo Jack einmal einen Bazooka-Kaugummi für fünf Cent geklaut hat, einfach um zu zeigen, dass er sich traut. Aber wenn ich die Straße nur scharf genug fixiere, habe ich das Gefühl, ich könnte jeden Moment Jack auf seinem BMX-Rad sehen, der sich zwischen den Fußgängern hindurchfädelt. Und mich selbst, wie ich heftig in die Pedale meines alten Schwinn-Modells trete, um nicht zurückzubleiben. Ich weiß, dass er nach wie vor hier wohnt und das Weingut der Familie führt. Ich frage mich, ob er mich erkennen würde. Oder ob sein Blick nur kurz über mich hinweggleiten würde, als sei ich eine Touristin auf der Durchfahrt.

KAPITEL 3

Die Straße, in der mein Vater wohnt, liegt am östlichen Ende der Stadt und sieht weitgehend unverändert aus. Als ich in die lange Auffahrt einbiege, kommt es mir so vor, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ich werfe einen Blick auf den kleinen Post-it-Zettel an meinem Armaturenbrett, tippe den Code ein, den mir der Anwalt meines Vaters geschickt hat, und das elektronische Tor schwingt auf. Meine Reifen knirschen über den Kiesbelag, zu beiden Seiten des Weges wachsen üppige, tiefgrüne Büsche. Ich biege in den offenen Carport ein und parke neben einem Springbrunnen, aus dem früher Wasser sprudelte und der jetzt trocken und rissig aussieht.

Das Haus, eine zweistöckige Hacienda im spanischen Stil, hat mein Vater erworben, nachdem sein erstes Buch sich eine Million Mal verkauft hatte. Auf den ersten Blick sieht es genauso aus wie früher, aber bei genauerer Betrachtung hat die Zeit hier doch Spuren hinterlassen. Die Dachziegel sind beschädigt, der Putz um die Fenster blättert ab. Die Gärtner haben jedoch ganze Arbeit geleistet. Das Gelände ist vollkommen frei von Unkraut, und anstelle der Rosen, an die ich mich erinnere, haben sie dürreresistente Büsche gepflanzt und Steinflächen angelegt. Die Stufen zur Eingangstür aus Eichenholz sind gefegt, die handgemalten Fliesen leuchten immer noch bunt.

Als ich die Hand hebe und klopfen will, öffnet sich die Tür, als habe drinnen jemand auf meine Ankunft gewartet.

Es ist jedoch nicht mein Vater. Eine kleine Frau im blauen Jogginganzug steht vor mir, das graue Haar zu einem Nackenknoten verschlungen. Ich werfe einen Blick in den Flur und erwarte, dass mein Vater auftaucht, aber hinter ihr bleibt alles leer.

Sie hebt eine Augenbraue, als warte sie auf eine Erklärung von mir. Ich sehe über meine Schulter zur Auffahrt zurück und sage dann: »Ich bin Olivia Dumont.«

»Dumont.« Sie verdreht die Augen. »Ich weiß, wer Sie sind.« Schließlich tritt sie beiseite und gibt den Weg in das große Wohnzimmer frei. Die Einrichtung ist unverändert, die abgewetzten Ledersessel und Sofas sind so platziert wie eh und je. Der Terrakottaflur verleiht dem weiß verputzten Raum eine gewisse Behaglichkeit. An den dunklen Deckenbalken hoch oben sind weder Staub noch Spinnweben zu sehen.

Etwas unsicher bleibe ich abwartend stehen. Ich habe vom Anwalt meines Vaters sehr konkrete Anweisungen erhalten: Ich sollte direkt zum Haus fahren und spätestens um neun Uhr morgens ankommen. Ich dürfte niemandem in Ojai erzählen, wer ich war oder aus welchem Grund ich mich hier aufhielt. Ich würde im Gästehaus übernachten und nur morgens mit Mr. Taylor zusammenarbeiten.

»Ich heiße Alma«, sagt sie, verrät mir aber nicht, in welcher Beziehung sie zu meinem Vater steht. Ist sie seine Partnerin? Oder eine Art Haushälterin? »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich bin dabei, einen für Mr. Taylor aufzusetzen.«

»Etwas Stärkeres wäre mir lieber, falls Sie was dahaben. Vielleicht einen Gin Tonic?« Ich lache angespannt. »Ich weiß, es ist noch etwas früh, aber …« Es überrascht mich selbst, wie nervös ich bin. Offenbar bleibe ich bis in alle Ewigkeit eine Halbwüchsige, die vor einer schwierigen Unterhaltung mit ihrem Vater beinahe die Nerven verliert.

Sie murmelt etwas über Väter und Töchter vor sich hin und deutet dann nach hinten auf die Treppe. »Er ist in seinem Büro. Ich nehme an, Sie finden selbst dorthin.«

Damit entlässt sie mich, und ich nehme den Weg über die Hintertreppe, einen engen Tunnel, der mich direkt vor die Tür zu meinem früheren Zimmer führt. Ich öffne sie und spähe vorsichtig hinein. Alles sieht völlig unverändert aus. Mein Bett steht in der Ecke unter dem Fenster, von dort aus habe ich im Liegen immer die Sterne betrachtet, die hinter den Bäumen funkelten. Und davon geträumt, die Stadt eines Tages zu verlassen. Ich habe bekommen, was ich wollte, auch wenn ich damals nicht erwartet hatte, dass es so schnell gehen würde. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie einfach es für meinen Vater sein würde, seine vierzehnjährige Tochter in die Schweiz zu schicken und anschließend sein früheres Leben wieder aufzunehmen, als sei ich lediglich eine kurze Episode gewesen. Vaterschaft? Hab ich auch mal versucht. Eine Zeit lang war es ganz lustig.

Ich gehe weiter, vorbei am geschlossenen Schlafzimmer meines Vaters am Ende des Flurs und dann drei Stufen hinunter zu seinem Arbeitszimmer, einem über der Garage liegenden Eckzimmer. Ich zögere. Am Abend meiner Abschlussfeier habe ich das letzte Mal mit meinem Vater gesprochen. Ungefähr acht Jahre später habe ich ihn noch einmal auf einer Literaturtagung in New York gesehen. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, zuerst die Liste der Diskussionsteilnehmer und Hauptredner durchzugehen, bevor ich an solchen Veranstaltungen teilnahm. Wenn mein Vater anwesend war, ging ich nicht hin. Bei dieser Tagung war er jedoch erst verspätet in die Liste aufgenommen worden, und deswegen hatte ich nichts von seiner Teilnahme geahnt. Ich stand mit einer Gruppe von Freunden in der Hotellobby am Times Square, als wir aufmerksam wurden, weil sich in einiger Entfernung in der Menge eine gewisse Aufregung breitmachte. Und dann tauchte mein Vater auf, umringt von Bewunderern sowie den Organisatoren der Veranstaltung. Er sah in unsere Richtung, sein Blick blieb einen Augenblick lang an mir hängen und wanderte dann weiter, bis er durch die Drehtür auf die Straße hinaus verschwand.

»Unfassbar, dass der hier noch mitmischen darf«, sagte einer meiner Freunde.

Ich weiß nicht mehr, was ich darauf geantwortet habe, in Gedanken war ich immer noch bei dem Blick meines Vaters. Er hatte mich nicht wiedererkannt, und ich verspürte eine komplexe Mischung aus Traurigkeit und Bedauern. Ich verließ die Konferenz bereits am Nachmittag und schob einen häuslichen Notfall vor.

Ich klopfe leise an die Tür zu seinem Arbeitszimmer.

»Herein.«

Er sitzt an seinem Riesenschreibtisch gegenüber dem Fenster, das von einer Wand zur anderen reicht. Das Zimmer wird vollständig von den hohen Bücherregalen beherrscht, in denen sämtliche Exemplare seiner eigenen Werke stehen, die schätzungsweise in mehr als vierzig Sprachen übersetzt wurden. Sein Haar ist mittlerweile völlig weiß und sieht etwas zerrauft aus, als wäre er gerade mit den Händen hindurchgefahren, während er versucht hat, ein verzwicktes Problem mit dem Plot zu lösen.

Der Bildschirm vor ihm ist jedoch dunkel. Die Papierstapel und Bücher, die sich auf dem Schreibtisch türmen, wirken arrangiert und nicht wie das kreative Chaos eines arbeitenden Schriftstellers. Er dreht sich in seinem Stuhl um und sieht mich an.

Ich stehe da und weiß nicht recht, was ich sagen soll. Hi, Dad, klingt irgendwie zu harmlos, weil es so vieles gibt, das ich ihn fragen möchte. Was ist los? Warum bin ich hier? Er kann doch sicher nicht wollen, dass ich ein Buch für ihn schreibe.

»Willkommen zu Hause«, sagt er. Offenbar hat er meinen Gesichtsausdruck bemerkt, denn er fügt hinzu: »Du siehst aus, als hättest du einige Fragen.«

»Was zum Teufel ist hier eigentlich los?«, frage ich schließlich.

Er wirft mir einen wachsamen Blick zu und sagt: »Ich habe dich für einen Job angefordert, Olivia.«

Erinnerungen an früher steigen in mir auf. Der Kommandoton meines Vaters versetzt mich wieder in meine Kindheit zurück, ich presse die Lippen aufeinander und sage mir selbst, dass ich erwachsen bin und jederzeit gehen kann.

»Lass es mich anders formulieren«, sage ich. »Warum hast du mich hergeholt? Was willst du wirklich von mir?«

»Ich dachte, die Vertragsbedingungen wären eindeutig.«

»Ich schreibe keine Romane«, erkläre ich. »Und ich will ganz sicher keine Romane für Leute wie dich schreiben.«

»Und doch bist du hier.« In einer stummen Pattsituation taxieren wir einander. Schließlich sagt er: »Du hast ja richtigen Bockmist gebaut bei dieser Sache mit John Calder.«

Natürlich hat er von meinem massiven Fehltritt gehört. Die Verlagsbranche ist übersichtlich, und die Leute tratschen gern.

»Nicht mal mich hat man derart gecancelt«, fährt er fort. »Und dabei dachten alle, ich wäre ungestraft mit einem Mord davongekommen.«

»Die meisten denken das immer noch«, sage ich, weil ich einfach nicht anders kann.

Er übergeht die Spitze. »Ich hatte mir überlegt, dass dir im Moment ein Job – selbst wenn es nur ein Brotjob ist – eigentlich gelegen kommen müsste.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht.« Es ist eine beleidigende Vorstellung, dass mein Vater nach all den Jahren und den unzähligen Malen, in denen er mich als Elternteil – und als Mensch – enttäuscht hat, allen Ernstes zu glauben scheint, er könne jetzt mir nichts, dir nichts auf der Bildfläche erscheinen, mir einen Gefallen erweisen, und damit sei alles entschuldigt.

»Setz dich, Olivia. Ich kriege Nackenschmerzen, wenn ich die ganze Zeit hochsehen muss.«

Der Holzstuhl knarrt unter meinem Gewicht, und das Geräusch ist mir vertraut, obwohl ich es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört habe. Der Stuhl mit dem Quilt-Bezug, auf dem ich früher meine Hausaufgaben erledigt habe, steht immer noch in der gewohnten Ecke.

Ich nehme mir einen Augenblick lang Zeit, ihn richtig anzusehen. Als Erstes fällt mir auf, dass seine schmal gewordenen Schultern das Hemd nicht mehr ausfüllen. Die Beine in den üblichen dunklen Jeans sind zaundürr, unter dem Hosensaum lugen knochige Fußknöchel in nicht zusammenpassenden Socken hervor. Er gleicht dem misslungenen Porträt eines Mannes, den ich früher einmal gekannt habe. Alle vertrauten Eigenheiten sind noch vorhanden – die Art, wie er das Kinn vorstreckt, seine etwas groß geratenen Ohren, die unter dem unordentlichen Haarschopf hervorragen. Seine Nase ist am Ansatz nach wie vor leicht schief. Aber er ist magerer und schwächer geworden. Dieser Mann konnte mit seiner Ausstrahlungskraft mühelos Hunderte von Zuschauern fesseln. Jetzt kommt es mir so vor, als habe er sich wieder zu dem verdrossenen Teenager von einst zurückentwickelt, als habe sich die Zeit im Kreis gedreht und sei wieder am Ausgangspunkt angelangt.

Bevor ich antworten kann, tritt Alma ein und bringt meinem Vater und mir Tee.

»Ich dachte …«, beginne ich, halte aber inne, als ich ihren bösen Blick bemerke.

»In diesem Haus gibt es keinen Alkohol«, sagt sie und sieht meinen Vater an. »Haben Sie es ihr schon gesagt?«

»Sie ist erst seit zwei Minuten hier.« Er klingt verärgert, aber seine Anspannung zeigt sich deutlich an seinen zitternden Händen und dem Blick, der unruhig zwischen Tee, Fensterscheibe und Bücherregalen hin und her wandert.

Alma mustert ihn abwartend. Offenbar führen die beiden eine stumme Diskussion, bis mein Vater schließlich nachgibt und ihre Frage beantwortet. »Nein.«

Alma dreht sich zu mir um. »Ihr Vater ist krank.«

Ich sehe ihn an und frage mich, was es sein könnte. Hat er Krebs? Oder ist es sein Herz?

Alma spricht an seiner Stelle. »Er leidet an Lewy-Körperchen-Demenz.« Als sie meinen verwirrten Gesichtsausdruck bemerkt, erklärt sie: »Eine Mischung aus Alzheimer und Parkinson-Erkrankung. Sie ist fortschreitend, aber es gibt viele Möglichkeiten, den Verlauf zu verlangsamen.« Sie mustert meinen Vater durchdringend. »Es ist allerdings sicher nicht hilfreich, wenn man versucht, mit der Tochter, zu der seit vielen Jahren kein Kontakt mehr besteht, ein gemeinsames Buchprojekt in Angriff zu nehmen.«

Ich nicke, unfähig etwas zu sagen, denn mein Gehirn ist vollauf damit beschäftigt, diese Informationen zu verarbeiten.

Alma fährt fort: »Die Krankheit Ihres Vaters ist bereits so weit fortgeschritten, dass seine Schreibfähigkeit beeinträchtigt ist.«

»Tut mir leid, dass ich Sie unterbrechen muss, ich möchte bestimmt nicht unhöflich sein«, sage ich jetzt. »Aber worin genau besteht Ihre Rolle hier?«

»Ich bin die Krankenpflegerin Ihres Vaters. Kurz nachdem er die Diagnose bekam, hat er mich auf den Rat seines Arztes eingestellt. Ich sorge dafür, dass er isst und regelmäßig seine Medikamente einnimmt. Ich halte Aufregungen von ihm fern.« Ihre Lippen formen sich zu einem schmalen Strich und verraten mir, dass meine Gegenwart ihr nicht passt. Oder vielleicht verurteilt sie mich auch dafür, dass sie sich um ihn kümmert und nicht ich.

Mein Vater schaltet sich ein. »Den ersten Entwurf des Buches habe ich schon geschrieben. Ich bin vertraglich verpflichtet, ein fertiges Manuskript zu liefern, aber das kann ich nicht.« Er blickt einen Augenblick stumm zu Boden und sieht dann wieder auf. Alma steht wie ein stummer Wächter neben ihm und lässt ihm Zeit, fortzufahren. »In einer solchen Situation blickt man auf sein Leben zurück. Man bereut vieles.«

Ich warte, ob er sich noch ausführlicher dazu äußert, auf welche seiner Reuegefühle er sich hier genau bezieht.

»Ich weiß nicht, ob ich diese Aufgabe für dich übernehmen kann«, sage ich schließlich. »Mir ist klar, dass ich einen Vertrag unterzeichnet habe, aber …« Ich sehe an ihm vorbei durchs Fenster zu den Bergen in der Ferne. Mein Vater hat den perfekten Blick auf den berühmten pinkfarbenen Moment von Ojai, wenn der Sonnenuntergang die Berghänge in einem wunderbar satten Rosa erstrahlen lässt. 

»Ich weiß, ich habe dich in vieler Hinsicht enttäuscht«, antwortet er. »Aber ich brauche das hier, und ich glaube, dir geht es auch so.« Als ich nichts erwidere, sagt er: »Versuchen wir es doch einfach. Wenn sich nach einer Woche herausstellt, dass es nicht funktioniert, kannst du gehen.«

Ich denke wieder an das Geld, das ich John Calder schulde. An die fünfhunderttausend Dollar, von denen ich bisher so gut wie nichts bezahlt habe. An die Abzahlung meiner Hypothek und die Rate, die ich im vergangenen Monat wieder zu spät überwiesen habe, und an den Anruf aus der Rechnungsabteilung meines Anwaltes, in dem ich aufgefordert wurde, meine Rechnung zu begleichen, die auf zweihunderttausend Dollar angestiegen ist. Ich denke daran, dass ich mein Haus mit Sicherheit verlieren werde, wenn ich nicht dafür sorge, dass dieser Auftrag hier klappt. Ich nehme einen Schluck Tee, wünsche mir sehnlichst, es wäre ein Gin Tonic, und sage dann: »Okay. Versuchen wir es eine Woche lang.«

Mein Vater schlägt begeistert die Hände auf die Knie. »Ausgezeichnet.« Zu Alma sagt er: »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen. Könnten Sie Olivias Sachen zum Gästehaus bringen lassen?«

»Das ist nicht nötig«, werfe ich ein. »Darum kann ich mich selbst kümmern.«

»Das Bett ist frisch bezogen, und ich habe Handtücher für Sie hingelegt«, sagt Alma. »Was die Kisten betrifft, konnte ich leider nichts machen, hoffentlich sind sie Ihnen nicht allzu sehr im Wege.« Sie geht hinaus und zieht leise die Tür hinter sich zu.

»Sind da irgendwelche toten Hamster drin?«, witzle ich.

Als ich klein war, dachte sich mein Vater mit Vorliebe Schatzsuchen für mich aus. Auf der Ablage im Badezimmer hinterließ er Zettel mit Anweisungen, die mich zu seiner Sockenkommode dirigierten, wo ein glänzender Dollar wartete. Oder sie klebten an einer Milchpackung und schickten mich zum Besenschrank, wo ich eine Tüte meiner Lieblingslakritzstangen entdeckte. Doch als ich acht Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule nach Hause und sah eine Kiste vor der Wohnungstür stehen. Bei dieser speziellen Schatzsuche waren alle möglichen, allmählich größer werdenden Kisten im Spiel, bis ich die letzte Kiste unter dem Waschbecken im Badezimmer fand.

»Das war ein Fehler«, erwidert mein Vater barsch und holt mich in die Gegenwart zurück. »Das hätte jedem passieren können.«

»Bestimmt niemandem, der grundlegende Biologiekenntnisse hat«, gebe ich zurück. »Jeder weiß, dass man mehr als zwei Löcher in den Deckel bohren muss.«

Ich nehme noch einen Schluck Tee und warte, bis die Abwehrbereitschaft meines Vaters nachlässt. Nach einer Weile sagt er: »Ich habe seit sieben Jahren keinen Alkohol mehr getrunken, verstehst du?«

»Glückwunsch«, gebe ich zurück und frage mich, ob er vielleicht das Bedürfnis hat, sich irgendwie mit mir zu versöhnen.

»Er hat mich beinahe umgebracht, also habe ich damit aufgehört. Es liegt natürlich eine gewisse Ironie darin, dass ich jetzt trotzdem sterbe.«

Ich schüttle das in mir aufsteigende, komplizierte Gemisch aus Reue und Angst ab, ich könnte einen Menschen verlieren, von dem ich mir jahrelang eingeredet habe, dass ich ihn nicht brauche. »Erzähl mir von dem Buch.«

Mein Vater dreht sich in seinem Stuhl, öffnet die obere Schreibtischschublade und zieht einen Packen linierter Notizblöcke daraus hervor, zusammengehalten von einem Gummiband – es müssen zwanzig oder dreißig Blöcke sein. Entsetzt stelle ich fest, dass er die gesamte Rohfassung mit der Hand geschrieben hat. »Ein paar Sachen solltest du vorher wissen.« Er zögert, als wisse er nicht recht weiter. »Zuerst mal ist das hier kein Roman, sondern meine Memoiren.«

»Das verstehe ich nicht«, sage ich. »Bei der Unterzeichnung hieß es, es würde sich um deinen nächsten Horrorroman handeln. Wozu die Lüge?«

»Wir wollten verhindern, dass jemand erfährt, um was für ein Projekt es in Wirklichkeit geht, falls du abgelehnt hättest.«

Natürlich. Mein Vater möchte, dass ich als Ghostwriterin die Memoiren seiner glorreichen Karriere schreibe und mich über sein Talent, seine vielen Auszeichnungen und Erfolge verbreite. Ich weiß nicht, ob ich das auf objektive Weise fertigbringe, aber ich habe versprochen, es zu versuchen.

»Es ist jedenfalls eine Menge Material, mit dem man arbeiten kann«, sage ich. »Ich brauche Zugang zu deinen Lektoren, Verlegern und natürlich zu deinem Agenten. Und nur damit du’s weißt, ich werde deine Sucht und dein Verhalten nicht einfach beschönigen. Das wäre bestimmt auch nicht in deinem Sinne. Skandale verkaufen sich bekanntlich besonders gut, und in deinem Leben gibt es davon ja reichlich.«

»Du hast mich nicht richtig verstanden«, sagt er. »In diesem Buch geht es nicht um meine Karriere. Es geht ausschließlich um meine Kindheit. Genauer gesagt um meine Familie und die Monate vor dem Mord an Danny und Poppy.«

Ich sinke zurück an die Stuhllehne und starre ihn an. Die Lüge über den Roman ergibt plötzlich einen Sinn. Wenn bekannt geworden wäre, dass mein Vater die Absicht hat, ein Enthüllungsbuch über die Morde zu schreiben, wären die Leute ausgerastet. Meine Gedanken wandern zu den Personen, mit denen ich sprechen muss – die Freunde von Danny und Poppy, alle, die 1975 an diesem Fall gearbeitet haben. Leute, die meinen Vater kannten.

Zum Beispiel meine Mutter.

Ich frage mich, ob ich bereit bin, das Projekt in Angriff zu nehmen, und habe zugleich das Gefühl, ich hätte mein ganzes Leben lang darauf gewartet, dieses Buch zu schreiben.

»Erst mal muss ich lesen, was du bisher geschrieben hast«, sage ich nach einer Weile. »Und ich brauche auch deine Erlaubnis, mit den Leuten von damals zu sprechen. Hast du da schon was vorbereitet? Den Betreffenden gesagt, dass du planst, ein Buch darüber zu schreiben?«, frage ich und habe ein leicht beklommenes Gefühl bei der Vorstellung, dass ich eventuell auf nichtsahnende Personen zugehen muss. Normalerweise informieren Autoren, die Memoiren schreiben wollen, vorab alle Freunde und Nahestehende, dass ich auf sie zukommen werde und es in Ordnung ist, mit mir zu reden.

Mein Vater schüttelt den Kopf. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein. Du hast diesen Auftrag nicht bekommen, weil du ein Buch schreiben sollst. Deine Aufgabe besteht darin, ein bereits fertig geschriebenes Buch druckreif zu überarbeiten.«

»Und wenn ich etwas umschreiben muss?«

»Ich weiß, wie man ein Buch schreibt, Olivia.«

»Du weißt, wie man einen Roman schreibt«, korrigiere ich. »Das hier ist was völlig anderes. Bei Memoiren geht es um Fakten und nicht um Fiktion.«

»Dieser Punkt ist nicht verhandelbar. Niemand weiß, was ich weiß, daher kann dir sowieso niemand helfen. Und ich möchte dich außerdem darauf hinweisen, dass ein Vertragsbruch wahrscheinlich nicht zu den Problemen gehört, mit denen du dich gern genauer auseinandersetzen möchtest.« Sein Blick ist unnachgiebig, als er mich fixiert und darauf wartet, dass ich kapituliere.

Ich möchte aufstehen und weggehen. Ihm sagen, dass dies nicht die üblichen Arbeitsbedingungen für mich sind. Oder ich könnte ihm anbieten, dass ich gern zu Vertraulichkeitsvereinbarungen mit den jeweiligen Personen bereit bin, falls er sich damit wohler fühlt. Andererseits ist mir die Vorstellung, mich diesen Personen zu nähern – Poppys bester Freundin Margot, Dannys bestem Freund Mark, meiner Mutter – und ihnen auseinanderzusetzen, dass mein Vater ein Buch über ihr gemeinsames Trauma verfasst, äußerst unangenehm.