Die Unsichtbaren - Roy Jacobsen - E-Book

Die Unsichtbaren E-Book

Roy Jacobsen

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Beschreibung

Barrøy - so heißt die kleine Insel inmitten Norwegens atemberaubender Küste, auf der Ingrid aufwächst, fernab der übrigen Welt. Bis eines Tages mit dem Kriegsgefangenen Alexander die große Geschichte, der Zweite Weltkrieg an ihren Strand gespült wird. Zwischen den beiden entspinnt sich eine sprachlose Liebe, die nur kurz währen kann. Neun Monate später bekommt Ingrid eine Tochter und folgt Alexanders Spuren durch ein Nachkriegs-Norwegen, der nach der deutschen Besatzung nur vergessen will...

Eines Tages spült das Meer den jugen russischen Kriegsgefangenen Alexander an Barrøys Strände und mit ihm die große Geschichte, den Zweiten Weltkrieg. Zwischen den beiden entspannt sich eine kurze sprachlose Liebe, bevor die deutsche Besatzung Norwegens sie auseinandertreibt. Neun Monate später bekommt Ingrid eine Tochter. Mit Kaja vor den Bauch gebunden, folgt Ingrid Alexanders Spuren durch einen frischen Frieden, in einem Nachkriegs-Norwegen, das nichts anderes will als vergessen...

Roy Jacobsens Insel-Saga erzählt, auch vor dem Hintergrund deutscher Geschichte, mit außergewöhnlichem Sog vom Leben einer Familie in überwältigender Natur, von starken, eigenwilligen Frauen, von Schuld und Kollaboration.

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ROY JACOBSEN

DIE UNSICHTBAREN

Eine Insel-Saga

Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs undAndreas Brunstermann

C.H.BECK

Zum Buch

Auf einer Insel inmitten der atemberaubenden Küstenlandschaft Norwegens wächst Ingrid Barrøy auf. Das raue Inselleben hat seine eigenen Gesetze, bestimmt von weiten Horizonten und vom Meer, von harten Wintern und leuchtenden Sommern. Ein Leben, das, wie die Landschaft selbst, durchwoben ist von einer fesselnden, spröden Schönheit, fernab der übrigen Welt.

Eines Tages spült das Meer den jungen russischen Kriegsgefangenen Alexander an Barrøys Strände und mit ihm die große Geschichte, den Zweiten Weltkrieg. Zwischen Ingrid und Alexander entspinnt sich eine kurze sprachlose Liebe, bevor die deutsche Besatzung Norwegens sie auseinandertreibt. Neun Monate später bekommt Ingrid eine Tochter. Mit Kaja vor den Bauch gebunden, folgt Ingrid Alexanders Spuren durch einen frischen Frieden, in einem Nachkriegs-Norwegen, das nichts anderes will als vergessen …

Roy Jacobsens Insel-Saga erzählt, auch vor dem Hintergrund deutscher Geschichte, mit außergewöhnlichem Sog vom Leben einer Familie in überwältigender Natur, von starken, eigenwilligen Frauen, von Schuld und Kollaboration.

Über den Autor

Roy Jacobsen, geboren 1954, schreibt Romane, Erzählungen und Kinderbücher und gilt als einer der wichtigsten Autoren Norwegens. «Die Unsichtbaren» wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und war auf der Shortlist des Man Booker International und des Dublin Awards. Der Autor schrieb außerdem zusammen mit Nicolas Winding Refn das Drehbuch von «Walhalla Rising» (2009). Er lebt in Oslo.

Über die Übersetzer

Gabriele Haefs, geboren 1953, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin, erhielt u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis (zusammen mit Jostein Gaarder) und den Königlich Norwegischen Verdienstorden, Ritter 1. Klasse. Sie übersetzte u.a. Karin Fossum, Jostein Gaarder, Elin Brodin, Åsa Larssson, Lena Andersson und die Werke ihres Mannes Ingvar Ambjørnsen.

Andreas Brunstermann, geboren 1960, übersetzt Belletristik und Sachbücher aus dem Norwegischen, Schwedischen und Englischen.

Inhalt

DIE UNSICHTBAREN

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WEISSES MEER

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II

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III

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DIE AUGEN DER RIGEL

Prolog

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Epilog

DIE UNSICHTBAREN

1

An einem windstillen Tag im Juli steigt der Rauch senkrecht empor. Pastor Johannes Malmberget wird auf die Insel hinausgerudert und vom Bauern und Fischer Hans Barrøy empfangen, dem rechtmäßigen Besitzer der Insel und Oberhaupt der einzigen dort lebenden Familie. Er steht auf dem Anleger, den seine Vorfahren aus Ufersteinen errichtet haben, und betrachtet das ankommende Boot, die gebeugten Rücken der beiden Ruderer und, hinter ihren schwarzen Schiebermützen, das lächelnde und frisch rasierte Gesicht des Pastors. Als sie nahe genug herangekommen sind, ruft er: «Sieh an, da kommen ja feine Leut.»

Der Pastor steht auf und lässt den Blick über das Ufer gleiten, über die Wiesen, die sich zu der kleinen Ansammlung von Holzhäusern hinaufziehen, er lauscht dem Geschrei der Möwen, die auf jedem Fels ihr gänseartiges Quack-Quack ertönen lassen, er lauscht den Seeschwalben und den herumstolzierenden Austernfischern, die im scharfen Sonnenlicht ihre Schnäbel in den Sand der weißen Strände bohren.

Als er das Boot verlässt und mit unsicheren Schritten den Steg erklimmt, entdeckt er, was er noch nie zuvor gesehen hat; seine eigene Heimat am Fuße der Felsen auf der Hauptinsel, wie sie von Barrøy betrachtet aussieht, die Handelsstation und die Schuppen, die kleinen Höfe, die Wäldchen und die Boote.

«Nicht zu glauben, wie klein das ist. Die Häuser sind ja kaum zu sehen.»

Hans Barrøy erwidert: «Ach, ich kann sie gut sehn.»

«Du hast wohl bessere Augen als ich», sagt der Pastor und starrt hinüber zu der kleinen Gemeinde, in der er seit dreißig Jahren seinem Amte nachgeht, die er jedoch noch nie zuvor von solch einem irrsinnigen Standort aus betrachtet hat.

«Ja, Ihr seid hier noch nie gewesen», sagt Hans Barrøy.

«Es sind auch zwei Stunden zu rudern.»

«Ihr habt doch wohl Segel.»

«Heute ist es ja ganz windstill», sagt der Pastor und hält den Blick auf die Heimat gerichtet, denn die Wahrheit ist, dass er Angst vor dem Meer hat und nun ganz ergriffen und aufgeregt ist, nachdem er die friedliche Überfahrt überstanden hat.

Die Ruderer haben ihre Pfeifen hervorgeholt, sitzen abgewandt von den anderen da und rauchen. Endlich kann der Pastor Hans Barrøy die Hand geben und entdeckt im selben Moment den Rest der Familie, die ihm von den Häusern entgegenkommt, Hans’ alten Vater, Martin, der seit dem Tod seiner Frau vor fast zehn Jahren Witwer ist, Hans’ unverheiratete und viel jüngere Schwester Barbro. Und die Herrscherin der Insel, Maria, die die dreijährige Ingrid an der Hand hält, alle im Sonntagsstaat, wie der Pastor zufrieden feststellen kann, sie haben das Boot wohl schon entdeckt, als es Oterholmen umrundete, jetzt nur noch ein schwarzer Hut im Meer, dort im Norden.

Er geht der kleinen Schar entgegen, die jetzt stehen geblieben ist, mit gesenkten Köpfen, den Blick auf das Gras gerichtet, und reicht einem nach dem anderen die Hand, keiner wagt es, zu ihm aufzusehen, nicht einmal der alte Martin, er hat die rote Mütze abgenommen, und schließlich Ingrid, die, wie der Pastor bemerkt, saubere, weiße Hände hat, nicht einmal Trauerränder unter den Nägeln, die auch nicht abgebissen sind, sondern kurz geschnitten, und dann die kleinen Grübchen, unter denen die Knochen nach und nach hervortreten werden.

Er hält dieses kleine Wunderwerk fest und denkt, dass es sich schon bald in eine hart arbeitende Frauenhand verwandelt, eine sehnige, erdfarbene und schwielige Hand, die Hand eines Mannes, dieses Holzstück, zu dem früher oder später alle Hände hier draußen werden, er sagt: «Schau an, da ist ja die Kleine, sag mir, glaubst du an Gott?»

Ingrid antwortet nicht.

«Natürlich tut sie das», sagt Maria, die Erste, die den Gast direkt anblickt. Doch in diesem Moment macht der Pastor dieselbe Entdeckung noch einmal und geht eiligen Schrittes am Bootshaus vorbei, das wie eine Stufe in die Landschaft eingefügt ist, und hinauf auf eine Anhöhe mit noch besserer Aussicht.

«Donnerkeil, jetzt sehe ich auch den Pfarrhof.»

Hans Barrøy tritt an ihm vorbei und sagt: «Und von hier aus seht Ihr die Kirche.»

Der Pastor eilt ihm nach, bleibt stehen und bewundert die weiß gekalkte Kirche, die wie eine ausgebleichte Briefmarke unterhalb der schwarzen Felsen zum Vorschein kommt, auf denen die letzten Schneeflächen leuchten, wie Zähne in einem verfaulten Maul.

Sie gehen weiter hinauf und reden über Taufen und Fischfang und Daunen, und der Pastor ist regelrecht erheitert angesichts der Insel, die von zu Hause aus betrachtet einem schwarzen Stein am Horizont ähnelt, sich jedoch als der grünste Garten erweist, wie er in Gottes Namen einräumen muss, so wie vermutlich viele der Inseln hier draußen, mit nur einer oder zwei Familien, Stangholmen, Sveinsøya, Lutvær, Skarven, Måsvær, Havstein, auf jeder eine Handvoll Menschen, die eine dünne Schicht aus Erde beackern und in der Tiefe des Meeres fischen und Kinder gebären, die aufwachsen und dieselbe Erde beackern und in derselben Tiefe fischen; dies ist keine unfruchtbare und karge Küste, sondern eine Perlenschnur und Goldkette, wie er in seinen beseeltesten Predigten zu unterstreichen pflegt. Die Frage ist, wieso kommt er nicht öfter hierher?

Und die Antwort ist das Meer.

Der Pastor ist eine Landratte, und nur wenige Tage des Jahres sind so ruhig wie dieser, auf den er den ganzen Sommer lang gewartet hat. Doch als er hier am Fuße einer grasbewachsenen Scheunenrampe steht und auf seinen ewigen Pfarrbezirk blickt, wo Gott schon seit dem Mittelalter standgehalten hat, wird ihm plötzlich klar, dass er nicht wusste, wie der Bezirk aussieht, bis jetzt, es ist geradezu verstörend, als hätte er in all diesen Jahren einen Schleier vor den Augen gehabt oder wäre Opfer eines lebenslangen Schwindels gewesen, nicht nur, was die Größe seiner Pfarrgemeinde betrifft, sondern womöglich auch sein geistiges Wirken, ist das wirklich nicht größer?

Glücklicherweise ist der Gedanke eher beunruhigend als bedrohlich, eine Metaphysik des Meeres, bei der alle Abstände lügen, und er ist kurz davor, wieder abzuschweifen, aber da kommt die Familie, der Alte hat jetzt die Mütze auf dem Kopf, gleich hinter ihm die hochgewachsene Maria und die robuste Barbro, die der Pastor seinerzeit nicht konfirmieren konnte, aus verschiedenen und ungeklärten Gründen, Gottes wortkarge Kinder auf einer Felseninsel im Meer, die sich also als ein Juwel erweist.

Er bespricht die bevorstehende Taufe mit ihnen, die Taufe der dreijährigen Ingrid mit dem langen, pechschwarzen Haar und den glänzenden Augen und den Füßen, die vor Oktober wohl kaum in einem Paar Schuhe stecken werden; wo hat sie nur die Augen her, denen die träge Dummheit der Armut gänzlich fehlt?

Im selben euphorischen Atemzug erwähnt er, dass er Barbro bei der Taufe gern singen hören würde, sie hat doch eine schöne Stimme, soweit er sich erinnert …?

Eine gewisse Verlegenheit breitet sich in der Familie aus.

Hans Barrøy nimmt den Pastor beiseite und erklärt, dass Barbro wohl eine Stimme hat, ja, durchaus, doch dass sie die Wörter dieser Choräle nicht kennt, nur die Töne singt, und das war auch der Grund, aus dem sie seinerzeit nicht konfirmiert wurde, abgesehen von einigen anderen Ursachen, wie der Pastor sicher noch weiß.

Johannes Malmberget lässt es dabei bewenden, es gibt allerdings noch eine Frage, die er mit Hans Barrøy zu erörtern wünscht, es geht um die kryptische Grabinschrift, die ihn bekümmert, seit Hans’ Mutter dort begraben wurde, ein Vers auf ihrem Stein, gemäß ihrem eigenen Wunsch, der eignet sich nicht für einen Grabstein, er ist zweideutig und predigt nahezu, dass das Leben nicht lebenswert sei. Doch als Hans auch hierauf nichts Besonderes erwidert, kommt der Pastor wieder auf die Daunen zu sprechen und fragt, ob sie welche zu verkaufen haben, er braucht zwei neue Federbetten für sein Haus und bezahlt mehr, als sie auf dem Markt oder von der Handelsstation bekommen würden, Daunenschwere ist Goldschwere, wie man hier draußen sagt …

Endlich haben sie etwas Handfestes und Greifbares zu besprechen und betreten das Wohnhaus, wo Maria in der guten Stube eine Tischdecke ausgebreitet hat, und nach Kuchen und Kaffee und beschlossenem Handel überkommt den Pastor eine tiefe Ruhe, und er spürt, wie der Schlaf nun die größte Gnade ist, die ihm widerfahren kann, woraufhin seine Augen zufallen und seine Atemzüge schwerer und länger werden. Mit den Händen im Schoß sitzt er in Martins Schaukelstuhl, ein schlafender Pastor in ihrem Heim, ein sowohl beeindruckender als auch lächerlicher Anblick. Sitzend und stehend bleiben sie so lange bei ihm, bis er die Augen öffnet und schmatzt und aufsteht und so aussieht, als wüsste er nicht, wo er ist. Aber dann erkennt er sie wieder und verneigt sich, wie zum Dank. Sie wissen nicht, wofür er sich bedankt, und er sagt kein Wort, während sie ihn hinunter zum Boot begleiten und sehen, wie er sich neben einem Sack Daunen und einem kleinen Fass Möweneiern im Achtersteven auf einen Haufen Netze legt, um gleich darauf wieder die Augen zu schließen, sodass es aussieht, als schliefe er auch, während er sie verlässt. Noch immer ragt der Rauch wie eine senkrechte Säule in den Himmel.

2

Alles Wertvolle auf einer Insel kommt von außen, abgesehen von der Erde, aber deswegen sie sind nicht hier, das ist den Inselbewohnern peinlich bewusst. Hans Barrøy hat seinen letzten Sensenschaft zerbrochen und muss die Heuernte einstellen. Er kann sich keine neue Sense schnitzen und dazu Holz benutzen, das auf der Insel wächst, denn es muss eigentlich Eschenholz sein, das er von der Handelsstation kaufen kann, oder er muss ein anderes Holz benutzen, das er sich dann selbst beschaffen kann, gratis.

Er hängt das Sensenblatt an einen Heureuter, läuft über den grasbewachsenen Weg zum Anlegeplatz, schiebt das Boot hinaus ins smaragdgrüne Meer und will gerade an Bord gehen, besinnt sich jedoch anders und geht wieder hinauf zu den Häusern, wo Maria an der Sonnenwand sitzt und eine Hose flickt und aufschaut, als er gerade um die Ecke biegt.

«Wo ist die Kleine?», fragt er übertrieben laut, er weiß, dass Ingrid ihn gesehen und sich versteckt hat, weil er sie suchen und herumwirbeln soll.

Maria deutet mit dem Blick in Richtung Kartoffelkeller, und sogleich ruft der Vater mit lauter Stimme, dass sie nun wohl nicht mitkommen kann, wenn er hinüber nach Skogsholmen fährt, und dann bewegt er sich wieder zum Ufer hinunter, kaum hat er ein paar Meter zurückgelegt, als er schon ihre Schritte hört und sich im passenden Moment hinunterbeugt, damit sie auf ihn springen und die Arme um seinen Hals legen und johlen kann, während er wie ein Pferd weitertrabt und Geräusche macht, die er nur hervorbringt, wenn sie beide allein sind.

Dieses Lachen.

Er fragt, ob sie das Schaffell mitnehmen sollen.

«Ja», sagt sie und klatscht in die Hände.

Er geht ins Bootshaus und holt eines der Schaffelle und legt es in den Achtersteven des Bootes, sodass es wie ein Bett aussieht, geht wieder an Land und trägt sie an Bord, und sie schmiegt sich mit dem Rücken an den Steven, damit sie ihm beim Rudern zusehen und über den Rand des Dollbords lugen und den Kopf hin und her werfen kann, die kleinen Finger wie weiße Sandwürmer auf der pechschwarzen Reling.

Dieses Lachen.

Er rudert um die Landzunge, durch ein Gewirr aus Felsen und Schären, und wählt den übersichtlichsten Weg nach Skogsholmen, während er über die Taufe vor drei Wochen redet, über die Kirche, die für nicht weniger als acht Kinder von den Inseln so prachtvoll geschmückt war, und doch war es nur sie allein, die auf eigenen Füßen ans Taufbecken treten und ihren Namen nennen konnte, als der Pastor fragte, wie das Kind heißen solle, und der Vater sagt, dass sie allmählich zu groß ist, um dort wie eine Leiche auf dem Schaffell zu liegen, anstatt sich nützlich zu machen, zu rudern oder eine Angelschnur zu halten, damit sie einen oder zwei Köhler mitbringen können und nicht nur die Sensenschäfte.

Sie erwidert, dass sie gar nicht größer werden muss, und beugt sich erst zur einen und dann zur anderen Seite hinaus, obwohl er sagt, dass sie in der Mitte des Boots sitzen soll.

Bei Oterholmen lenkt er das Boot zu den Laichgründen an der Südspitze von Moltholmen, ändert nach achtzig Schlägen erneut den Kurs und rudert zwischen den Lundeschären hindurch, wo das Meer bei diesem Wasserstand gerade tief genug ist, bevor er schließlich das Boot mit einem geschickten Manöver in eine Bucht an der Innenseite der Insel steuert, wo er einen Pflock in den Fels geschlagen hat.

Er sagt ihr, dass sie die Vertäuung an Land ziehen soll, und sie steht da und hält das Boot wie eine Kuh am Strick, während er aufsteht und umherblickt, als ob es dort etwas zu sehen gäbe, die Vögel am Himmel, die Felsen dort hinter seiner eigenen Insel, Barrøy, und die lauten Seeschwalbenschreie, ein weißes und schwarzes Blinken, das den Luftraum über ihnen durchpflügt.

Er klettert an Land und zeigt ihr, wie man einen halben Stek bindet. Sie schafft es nicht und wird wütend, er zeigt es ihr, sie machen es zusammen, sie lacht, ein halber Stek um einen Pflock. Er sagt, dass sie im Gletschertopf baden kann, während er in den Wald geht, dort gibt es zu viele Insekten.

«Vergiss nicht, dich auszuziehen.»

In dem kleinen Wald der von Nord nach Süd verlaufenden Talsenke der Insel findet er vier passende Stämme, keine Esche, aber etwas, das so weit im Norden gar nicht wachsen dürfte, einer davon mit einer Krümmung oberhalb der Wurzel, er wird gut auf der Schulter liegen, das ist mehr, als er erwarten durfte.

Er legt sich die Stangen auf die Schulter, klettert wieder den Felsen hinauf und lässt sich neben dem Gletschertopf fallen, in dem sie bis zu den Achseln im Wasser sitzt und ihre Hände betrachtet, sie ineinander verschränkt und auf die Oberfläche klatscht, sodass das Regenwasser ihr Gesicht bespritzt und sie jauchzen und Grimassen schneiden lässt. Dieses Lachen. Und seine Unruhe, die da ist, seitdem die Kleine geboren wurde.

Er lehnt sich zurück und fällt mit den Schultern auf den rauen Fels, stößt sich den Hinterkopf an einem Stein, liegt da und blickt hinauf zu dem Seeschwalbenschwarm und hört sie Fragen stellen, wie jedes Kind sie stellt, sie will, dass er auch ins Wasser kommt, die Platschgeräusche und der kühle Ostwind, das Salz auf den Lippen, der Schweiß und das Meer, er versinkt in einem Wirbel aus Licht und Schatten, steigt wieder empor und späht zu ihr, die jetzt splitternackt im Sonnenlicht steht und fragt, ob sie sich mit ihren Kleidern abtrocknen darf.

«Nimm das hier», sagt er und zieht sich das Hemd aus und hört sie lachen, wie weiß sein Oberkörper doch ist, so kohlrabenschwarz der Hals und die Arme, er ähnelt einer Puppe, die er einmal für sie gemacht hat, aus Teilen, die nicht zusammenpassen, auch das der gewöhnliche Einfall eines Kindes, die Puppe heißt Oscar, manchmal heißt sie Anni.

Auf dem Rückweg angeln sie drei Köhler, die nebeneinander zu ihren Füßen liegen, während sie in sein Hemd gewickelt dasitzt. Er sagt, dass er es wiederhaben will, da es jetzt zum Abend hin kühler wird. Sie lässt sich rückwärts auf das Fell fallen, umfasst ihre Beine und blickt ihn über die Knie hinweg spöttisch an.

«Du lachst wohl über alles», sagt er und denkt, dass sie den Unterschied zwischen Spaß und Ernst versteht, dass sie selten weint, nicht trotzig ist oder sich verschließt, nie krank ist und lernt, was sie lernen soll, diese Unruhe, die er ablegen muss.

«Willste die nicht ausnehmen?», sagt er und deutet mit dem Kopf auf die Fische.

«Die sind schleimig.»

«Wo hast du das denn gelernt?»

«Bei Mama.»

«Mama ist wohl etwas etepetete. Das sind wir aber nicht, oder?»

Sie steckt zwei Finger in den Mund und überlegt.

«Die Möwen sind hungrig», sagt er.

Sie rammt die rechte Hand in den Bauch des größten Köhlers, reißt die Eingeweide heraus und hält sie mit Abscheu im Blick empor. Er rudert von einem Fischgrund zum anderen, während sie die Eingeweide über die Reling wirft und den Möwen dabei zusieht, wie sie sich auf die Reste stürzen und fressen und einander in einer Art Wirbel um Leben und Tod bekämpfen. Sie presst die Hand in den nächsten Fisch, wirft den Vögeln die Eingeweide zu, schließlich folgt der letzte, dann beugt sie sich über die Reling und spült die Fische einen nach dem anderen aus und legt sie nebeneinander auf die Planken, den größten nach Steuerbord, den mittleren in die Mitte und den kleinen nach Backbord. Danach wäscht sie sich lange und gründlich die Hände, der kindliche Geist scheint intakt, wie er mit halb geschlossenen Augen feststellt, während er an der Stellung des Boots bemerkt, dass sie weiter über der Reling hängt, um Schlangen ins Wasser zu zeichnen, und er muss ein schiefes Boot zurück an Land rudern, wo er es nur halbwegs hinaufzieht, um die Böcke unterzuschieben, denn die Ebbe hat eingesetzt.

Sie läuft ihm auf dem Weg voraus und schleppt die Fische mit sich, ein paar letzte Blutstropfen fließen an ihren dünnen Beinen herab. Auf seiner Schulter die vier Sensenschäfte, die Axt unter dem Arm, ihre trockenen Kleider in der Hand. Er bleibt stehen und sieht die Sonne im Nordwesten, sie ist matt und nebelverhangen, bald wird sie zu einem Mond werden, es geht auf die Nacht zu, er überlegt, ob er die Sense gleich reparieren oder sich ein paar Stunden Schlaf gönnen soll, bis der Morgentau den Rosengarten überzieht; immer hängt der Tau zuerst im Rosengarten, dort wächst ein seltsames rotes Gras.

3

Was auf einer Insel an Land getrieben wird, gehört denen, die es finden, und Inselbewohner finden vieles. Es kann sich um Kork und Tonnen und Hanf und Treibholz und Flottholz handeln – oder um grüne und braune Glaskugeln, die im Meer Fischernetze festhalten –, wie sie, wenn der Sturm sich ausgetobt hat, der alte Martin Barrøy aus den Tanghaufen wühlt und sich dann damit in das Bootshaus setzt, um sie mit neuen Netzen zu umwinden, sie werden dann wie neu. Es kann sich auch um ein hölzernes Spielzeug für Ingrid handeln, um Fischkästen und Ruder, Fischhaken, Schnurschnellen, Schöpfkellen, Bretter und Bootsreste. In einer Winternacht wurde ein ganzes Steuerhaus an Land geschwemmt. Sie zogen es mit dem Pferd nach oben und stellten es im Süden auf der Insel in den Garten, und nun kann Ingrid auf dem Stuhl des Kapitäns sitzen und am Steuerrad aus Messing und Mahagoni drehen, während sie auf die Wiesen und Mauern schaut, die sich in Wellen über die Insel ziehen.

Es sind nicht weniger als acht Mauern.

Sie sind aus Steinen gebaut, die aus dem Erdreich nach oben steigen wie die Glaskugeln aus dem Meer, nur viel langsamer, die Steine brauchen viele Winter dazu, und dann können sie sie im Frühjahr aufsammeln und auf die Mauern legen und sie noch höher machen, die Mauern, die die Insel in neun Wiesen einteilen, oder Gärten, wie sie das nennen. Der Südgarten wird am meisten heimgesucht, dort bricht das Meer mit seinem ganzen Ungestüm herein. Dann folgt der Busengarten, von dem niemand weiß, woher er seinen Namen hat, aber es kann an den grünen Graskuppen und den erhöhten Ackerstellen liegen, die großen und kleinen Frauenbrüsten ähneln und die die Schafe nach der Mahd rund und schön weiden. Dann der Steingarten, weil es dort mehr Steine gibt als anderswo. Der Rosengarten, weil das Gras dort rot ist wie unreife Vogelbeeren. Der Stallgarten umgibt die Häuser, der Garten Eden schaut nach Norden, ist aber trotzdem der fruchtbarste, wo die Kartoffeln angebaut werden, dann der Schorfgarten, der Nordgarten und der Notgarten, die alle ihren Namen verdient haben, auch wenn der Nordgarten der grünste von allen ist und Bootshaus und Landungsplatz umhüllt wie ein riesiger grüner Fäustling.

Sie finden tote Tümmler und Alken und von stinkenden Gasen zum Bersten gefüllte Kormorane, sie waten durch fauligen Tang und finden halbe Schuhe und einen Hut und einen Krug und Bruchstücke von fremden Leben, Zeugnisse von Überfluss, Schlendrian, Verlust und Verschwendung und von Unglücken, die Menschen getroffen haben, welche ihnen unbekannt sind und denen sie niemals begegnen werden. Ab und zu finden sie auch eine unfreiwillige Botschaft, die sich nicht entziffern lässt, einen Mantel aus England, die Taschen voller Zeitungen und Tabak, einen Kranz von einem feuchten Grab in der Tiefe des Meeres, die französische Trikolore an einer zersplitterten Fahnenstange und einen schleimigen Kasten mit den intimsten Besitztümern einer exotischen Frau.

Ein seltenes Mal finden sie auch eine Flaschenpost, die eine Mischung aus Sehnsüchten und Geständnissen enthält und an andere gerichtet ist als die, die sie finden, die aber, wäre sie an die richtige Adresse gekommen, die Empfänger dazu gebracht hätte, Blut zu weinen und Himmel und Erde in Bewegung zu setzen. Jetzt öffnen die Inselbewohner sie in ihrer ganzen Nüchternheit und ziehen die Briefe heraus und lesen sie, falls sie die Sprache verstehen, und machen sich auch Gedanken über den Inhalt, kleine, vage Gedanken – eine Flaschenpost ist eine geheimnisvolle Vermittlerin von Sehnsucht, Hoffnung und ungelebtem Leben –, und danach legen sie die Briefe in die Kiste für das, was weder besessen noch weggeworfen werden kann, und sie kochen die Flasche aus und füllen sie mit Johannisbeersaft, oder sie stellen sie einfach als Beweis für ihre eigene Leere auf die Fensterbank im Stall, sodass das Sonnenlicht hindurchscheint und grün wird, ehe es sich neigt und sich auf den trockenen Grashalmen auf dem Boden zurechtlegt.

Aber an einem Herbstmorgen findet Hans Barrøy einen ganzen Baum, den der Sturm hochgeschoben und an der Südspitze der Insel abgelegt hat. Einen riesigen Baum. Hans Barrøy traut seinen Augen nicht.

Jetzt senkt sich das Meer im Rhythmus des Windes, und der Baum liegt da wie das Skelett eines urzeitlichen Ungeheuers, ein Walrumpf, mit intakten Wurzeln und Zweigen, aber ohne Nadeln oder Rinde, die hat das Meer verzehrt, eine weiße Tonne Harz, so wertvoll draußen in der Welt, da man damit die Bögen berühmter Geiger einreiben kann, damit ihre Töne rein werden. Es ist eine russische Lärche, die durch Jahrhunderte am Ufer des Jenissei in der Einöde südlich von Krasnojarsk herangewachsen ist, in der die Taigawinde ihre Spuren hinterlassen haben wie ein Kamm in fettigem Haar, bis eine Frühlingsüberschwemmung mit Zähnen aus Eis den Baum in den Fluss warf und ihn mit sich führte, drei-, viertausend Kilometer nordwärts in die Karasee, und ihn in die Krallen der salzigen Ströme legte, die ihn nach Norden bis an den Rand des Eises brachten, und dann weiter nach Westen, vorbei an Nowaja Semlja und Spitzbergen und bis zu den Küsten von Grönland und Island, wo wärmere Strömungen ihn aus dem Griff der Kälte rissen und wieder nach Nordosten trieben, in einem mächtigen, die halbe Erde umfassenden Kreis, vollendet in einem Jahrzehnt oder zwei, ehe ein letzter Sturm ihn auf eine Insel an der norwegischen Küste warf, sodass er in einer Dämmerung im Oktober von Hans Barrøy gefunden werden kann, der ihn in stummem Staunen betrachtet.

Ein so gewaltiger Baum ist in dieser Gegend noch nie angeschwemmt worden.

Hans Barrøy läuft nach Hause und holt die Familie.

Sie machen sich daran, die Beute zu teilen, sie entfernen die Zweige und zersägen Wurzeln und Äste und stapeln sie an der Nordwand des Stalles auf, als Brennholz, dann machen sie sich über den Stamm selbst her, Holzscheit um Holzscheit. Doch dann liegt da plötzlich eine römische Säule von gut dreizehn Metern, und sie können sie noch immer nicht mit Pferd und Flaschenzügen und der Kraft von fünf Menschen auf den Hof schaffen. Sie vertäuen die Säule und gehen nach Hause und überschlafen die Sache, erschöpft, müde und zufrieden.

Und bei der nächsten Springflut können sie den Baum noch einige Meter höher ziehen, doch da bleibt er dann liegen, eine umgestürzte Marmorsäule.

Hans und Martin schneiden noch zwei große Holzstücke zurecht, sie brauchen einen ganzen Tag dazu, und sie sehen, dass das mit Harz gefüllte Kernholz immer noch rot glühender wird, je näher sie dem Zentrum kommen, hart wie Glas und doch porös unter der Messerklinge. Sie schaben es ab und zerkrümeln es zwischen den Fingern und nehmen einen Geruch wahr, bei dem sie einsehen, dass es unmöglich wäre, dieses Wunderwerk zu zerhacken, nur um es in einem Ofen zu verbrennen. Der Baum ist eine Einheit, die bewahrt werden muss, irgendwann werden sie Verwendung dafür haben, in einer anderen Zeit, oder sie werden ihn verkaufen können, er muss doch ein Vermögen wert sein.

Mit einer letzten Kraftanstrengung wälzen sie ihn auf drei Laufrollen, damit er nicht das Gras berührt, schlagen auf jeder Seite vier Pfähle in den Boden, treiben Bolzen durch die Pfähle und ins Holz. Und da liegt die Säule noch heute, hundert Jahre später, eine weiße Walze vor dem Meer. Es mag aussehen, als habe jemand sie vergessen, es mag aussehen, als habe sie einmal eine Funktion gehabt, als sei sie unentbehrlich gewesen.

4

Niemand kann eine Insel verlassen, eine Insel ist ein Kosmos im Taschenformat, wo die Sterne im Gras unter dem Schnee schlafen. Aber es kommt vor, dass jemand es versucht. Und an einem solchen Tag weht ein sanfter Ostwind. Hans Barrøy hat Segel gesetzt, ein braun imprägniertes Schratsegel. Die ganze Familie ist dabei, außer dem alten Martin, der von dieser Reise nichts hält.

Sie wollen Barbro abliefern.

Barbro ist dreiundzwanzig und muss endlich in Dienst gehen. Sie haben ihr eine Stelle besorgt.

Nachdem sie am Kai bei der Handelsstation vertäut haben, geht Ingrid mit Barbro an der Hand hinauf zum Laden und zur Ortschaft, wo die Bäume in den Himmel wachsen und die Häuser angestrichen sind und so dicht nebeneinanderstehen, dass man ohne Mantel von einem zum anderen gehen kann.

Barbro will niemanden außer Ingrid an der Hand halten, denn sie weiß, was geschehen wird, und sie bleibt vor dem Laden stehen, und alle Blicke richten sich auf sie, die Inselbewohnerinnen, sie sind hier an Land so selten zu sehen.

Ingrid ist fein angezogen, mit blauem Kleid und grauer Strickjacke, mit grünen Eiskristallen an Kragen und Ärmeln. Barbro trägt ein gelbes Kleid und eine Friesjacke, die zu kurz ist, sie sagt, sie will Kandiszucker.

Hans ist ihr nachgelaufen und sagt ja, sie kann Kandiszucker bekommen. Aber nach dem Besuch im Laden will sie nicht weiter zum Hof gehen, wo die Hausfrau, Gretha Sabina Tommesen, versprochen hat, sie als Magd einzustellen, wenn es sie nicht mehr kostet als das Essen und ein Bett. Hans und Maria müssen Barbro weiterschleppen, während Ingrid ganz hinten geht und verstohlene Blicke auf die Kinderschar wirft, die ihnen in einiger Entfernung folgt. Sie hat schon einige von ihnen gesehen, aber nur kurz, in der Kirche und im Dorf, sie weiß den Namen von zweien, erkennt vier Gesichter, aber keins davon lächelt, und sie starrt nicht lange hin, dann läuft sie hinter den anderen her in den Garten, der das weiße Haus mit der schweren, dunklen Füllungstür umgibt, die sich nun öffnet und sie in einen anderen Erdteil eintreten lässt.

Aber dort schafft es Gretha Sabina Tommesen, Barbro dreimal «die Idiotin» zu nennen, während sie die Kammer zeigt, in der Barbro zusammen mit der anderen Magd schlafen soll, die ebenfalls von den Inseln stammt, nur ist sie viel jünger als Barbro. Sie erklärt, dass die Idiotin damit rechnen muss, zur Handelsstation geholt zu werden, wenn der Hering kommt, und sei es mitten in der Nacht, wie alle Frauen im Haus.

«Kann sie Fisch ausnehmen?»

«Sicher», sagt Maria. «Sie kann auch kochen und karden und spinnen und Socken stricken …»

«Ist sie reinlich?»

«Das sehn Sie doch.»

«Verstehst du, was ich sage, Barbro», ruft sie Barbro zu, die nickt und zu einer Kristalllampe hochschaut, die über ihrem Kopf hängt, ein Sternenhimmel, in dem die Blicke so tief versinken, dass sie dort bleiben und der Nacken steif wird. Als nun Gretha Sabina Tommesen zu Maria sagt, dass die Schwägerin nicht damit rechnen darf, andere Kleider zu bekommen, als sie selbst mitgebracht hat, sieht Hans die Schwester an – deren Blick noch immer auf das neue Sonnensystem gerichtet ist – und fasst einen Entschluss, nimmt sie an der einen Hand und ihren kleinen Koffer in die andere und geht wieder hinaus, macht auch jetzt den Umweg zum Laden und wartet, bis Maria und Ingrid sie eingeholt haben.

Die Eheleute wechseln einen Blick. Er nickt zur Tür hinüber. Sie nickt zurück. Sie gehen hinein und kaufen Zucker und Kaffee, zwei Packungen vierzöllige Nägel, einen Eimer Teer, Sago, Zimt, ein Fässchen Grobsalz, bestellen drei große Säcke Roggenmehl, die in vier Tagen abgeholt werden sollen, und gehen mit ihren Waren wieder hinaus und zum Anleger und steigen in ihr Boot und setzen Segel.

Über der See hängt ein feiner Dunst.

Aber Hans kann seine Schwester nicht ansehen. Er setzt sich auf die andere Seite der Ruderpinne, um das Segel zwischen sich und sie zu bringen. Aber deshalb ist er ja nicht Marias Blick entzogen, sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, sie ist stark und kommt von einer anderen Insel, sie hat die Haushaltsschule besucht und hätte überall einen Dienst finden können, aber sie ist auf Barrøy, bei ihm, Hans Barrøy, der fünfunddreißig ist, als er hier versteckt sitzt, vor seiner eigenen Schwester und einer ärgerlichen Scham, sie gehören beide eng zusammen, Scham und Versteck, aber weiterhin ist er Marias Blick ausgesetzt, und der wird nicht weichen, bis Hans zugibt, dass er ein Trottel ist, ein Nicken würde reichen. Dann richtet sie ihren Blick auf die Wellen und hat dieses ärgerliche Lächeln auf den Lippen, das sie nur noch unbesiegbarer macht.

Der alte Martin steht am Steg und nimmt sie mit schrillem Lachen in Empfang.

«Hab ich’s nicht gleich gesagt!»

Er watet auf sie zu, hebt den Koffer an Land und führt seine Tochter zu den Häusern, während Ingrid nebenherläuft und vom Dorf erzählt, bis ihre Stimme im Geschrei der Möwen untergeht. Maria und Hans bleiben am Steg stehen und überlegen, ob sie die Karre holen oder die Einkäufe nach oben tragen sollen.

«Das können wir doch sicher tragen?»

Sie geht vor ihm her. Er lässt die Einkäufe fallen und packt sie bei den Hüften und wirft sie in das hohe Gras, wo nicht einmal Gott sie beide sehen oder Marias halb ersticktes Geheul hören kann, und wie sie ihm allerlei Namen gibt, während sie wieder dieses Lächeln hat, das vorhin noch in die Wellen gerichtet war, jetzt hat er es eigentlich wieder hochgeholt. Und danach haben sie keine Lust weiterzugehen, sondern bleiben liegen und schauen in den Himmel, während sie von einem Tag erzählt, als sie ein Kind auf Buøy war und ein Stall unter dem vielen Schnee auf dem Dach zusammenbrach. Er hört zu und fragt sich, worauf sie wohl hinauswill, wie er das immer tut, was meint Maria und worauf will sie hinaus. Bis Ingrid plötzlich über ihnen steht und fragt, wo sie denn bleiben, Barbro will wissen, was es zu essen geben soll, Hering oder Köhler oder den fetten Butt, den der Vater gestern erwischt hat.

«Ich schneid den Butt klein», sagt er und erhebt sich und holt doch die Karre und lädt die Einkäufe darauf und Ingrid noch dazu und schiebt die Karre bergauf, während Maria liegen bleibt. Sie ist die Philosophin auf der Insel, die mit dem schrägen Blick, da sie von einer anderen Insel kommt und Vergleiche hat, das nennt sich Erfahrung oder sogar Klugheit, aber es kann ihr auch ein gespaltenes Gemüt geben, es kommt darauf an, wie verschieden die Inseln sind.

5

Sie haben drei Weiden auf Barrøy, vier Birken und fünf Ebereschen, eine davon ist knorrig und in der Mitte rund wie eine Tonne und heißt die Alte Esche, und alle zwölf neigen sich in die Richtung, die die Natur ihnen auferlegt hat.

Auf einer Felskuppe im Westen gibt es auch ein paar kleinere, unscheinbare Birken, sie stehen da und halten einander wie umarmt und werden das Liebeswäldchen genannt, spreizen sich indes in alle Richtungen, wenn der Wind bläst.

Darüber hinaus haben sie eine mächtige Weide, die fast flach am Boden liegt und seit ewigen Zeiten so gelebt hat, auf den Knien, auf der Grenze zwischen Rosengarten und Busengarten. Die Vorfahren haben die Steinmauer in einem Bogen um die Weide herumgebaut, anstatt sie zu fällen. Es ist anscheinend der einzige Baum auf der Insel, der nicht gefällt werden kann. Auch fällen sie nicht die anderen, obwohl Holz kostbar und notwendig ist, doch manchmal kommt ihnen der Gedanke. Niemals allerdings denkt jemand daran, die Weide auf der Grenze zwischen den beiden Gärten zu fällen, in gewisser Weise ist sie dort, wo sie liegt, schon gefällt und somit befriedet, wie ein Grab.

In den größten Ebereschen am Haus hängen mächtige Elsternester. Oft verfluchen die Inselbewohner die Elstern, weil sie stehlen und alles vollscheißen, sie reden davon, die Nester herunterzureißen. Aber auch daraus wird nichts.

Wenn dann die aus Zweigen gebauten Nester im Kampf mit einem weiteren Sturm schwanken und überleben, nehmen die Menschen mit stoischer Erleichterung zur Kenntnis, dass auch dieses Mal nichts zerstört wurde, auch wenn es oft genug geschieht.

Wenn Regen oder Schnee einmal senkrecht herunterfallen, bilden sich trockene Kreise im Gras unter den Nestern in der Alten Esche. Dort drängen sich dann die Schafe aneinander.

Besonders die Lämmer scheuen den Regen, sie erleichtern sich gemäß der Natur, so bildet sich ein schwarzer und morastiger Lebenszirkel unter jedem Nest, alles hängt mit allem zusammen, wie ein Mensch nicht in zwei Hälften zerfällt, obwohl er sich vornüberbeugt.

Genauso ist es auf den tausend anderen Inseln des Archipels.

Den zehntausend Inseln.

Da die Landschaft so offen und ungeschützt daliegt, könnte wohl jemand auf den Gedanken kommen, die Küste in ein immergrünes Gewand zu kleiden, Kiefern oder Fichten zum Beispiel, könnte überall im Königreich idealistische Baumschulen errichten und beginnen, große Mengen winziger Fichten zu verschiffen und sie den Bewohnern der kleinen und großen Inseln kostenlos zu übereignen, und sagen, dass Generationen nach ihnen über Brennstoff und Bauholz verfügen würden, wenn sie die kleinen Fichtenbäume auf ihr Land pflanzten und wachsen ließen. Der Wind würde aufhören, die Ackerkrume aufs Meer hinauszublasen, Mensch und Tier würden geschützt in Frieden leben, wo zuvor tagein, tagaus der Wind das Haar zerzauste, die Inseln würden nicht länger wie schwimmende Tempel am Horizont aussehen, sondern einer verwahrlosten Wildnis aus Riedgras und Sauerampfer ähneln. Nein, niemand käme auf den Gedanken, so etwas zu tun, einen Horizont zu zerstören. Der Horizont ist offenbar das Wichtigste, das sie hier draußen haben, der vibrierende Sehnerv in einem Traum, wenngleich sie ihn kaum bemerken und auch keinen Versuch machen, ihn zu beschreiben, bevor das Land so reich wird, dass er zu verschwinden beginnt.

6

Es ist wieder Frühling geworden, und der Himmel steht hoch über den Inseln, die Winde sind kalt und verworren und tragen auch ab und zu einen kurzen Schwall von Wärme herbei. Die Austernfischer sind zurückgekehrt und stolzieren in ihrem Federkleid umher wie schwarz-weiße Hühner und nicken mit den Köpfen und stecken die langen, roten Schnäbel in den Sand und bohren und bohren und gackern und können nicht anders, der Austernfischer ist ein idiotischer Vogel, kommt aber mit dem Frühling.

Mitten auf dem Fjord flaut plötzlich der Wind ab.

Hans Barrøy muss das Segel raffen und sich an die Ruder setzen. Da legt sich auch Maria in die Riemen, setzt sich hinter ihn und stößt ihn mit den Knöcheln in den Rücken, bis er ruft, dass es wehtut und dass das Weib – verflucht noch mal nicht rudern kann. Barbro und Ingrid lachen, sie sitzen in ihren blauen und gelben Kleidern dicht nebeneinander auf einem Schaffell, mit einem kleinen Koffer und der untätigen Ruderpinne zwischen sich.

«Du ruderst nicht richtig.»

«Tu ich wohl», sagt Maria und lässt das eine Ruderblatt fallen, sodass das Boot eine jähe Drehung macht. Barbro lacht wieder, obwohl sie weiß, was geschehen wird, dasselbe wie beim letzten Mal, sie wollen sie loswerden.

Sie machen das Boot wieder bei der Handelsstation fest und gehen an Land, erst Hans mit dem Koffer, dann Barbro und Ingrid, Hand in Hand, und Maria als eine Art Abschluss, auch sie ist heute festlich gekleidet, um den Ernst zu unterstreichen, die Entschlossenheit, beim letzten Mal ist es gründlich schiefgegangen, und niemand von ihnen sagt ein Wort.

Beim Laden gibt es einen neuen Halt und Kandiszucker, schließlich geht es hinauf zum Pfarrhof, wo sie von der Pastorenfrau, Karen Louise Malmberget, empfangen werden, die erst vor drei Jahren noch Husvik hieß und seltsam jung wirkt neben dem Pastor Johannes Malmberget, der zweimal Witwer war, bevor Louise in sein Haus und Leben trat. Sie ist kinderlos, er ist es nicht, er hat fünf Söhne, die alle irgendwo in einer Stadt ein Priesterseminar besuchen, als wären sie ein für alle Mal fortgereist und hätten seitdem vergessen, wo sie eigentlich herkommen.

Karen Louise trägt ein helles Kleid mit einer weißen Schürze, und obwohl sie sich im Inneren des Hauses aufhält, hat sie Strümpfe und Schuhe an den Füßen. Sie begrüßt Barbro – reicht ihr die Hand –, heißt sie willkommen und ist umgänglich und lebhaft, als hätte sie sich gefreut, führt alle in der guten Stube und den Zimmern umher und zeigt ihnen die Möbel und die Nähmaschine und das Bügeleisen und erklärt, wo Barbro schlafen wird, in einem hellen und freundlichen Zimmer im ersten Stock, mit Tapeten an den Wänden und einer Kommode mit einer kleinen Blumenvase und einem Nachttopf mit blauem Stempel am Boden, aus Porzellan.

Sie erläutert, was Barbro machen soll.

Und das ist nicht viel, fast scheint es, als suche die Pastorenfrau Gesellschaft im Haus, vielleicht sogar eine Freundin, sie sind ungefähr im gleichen Alter. In der weiß gestrichenen Küche hält sie ein Kochbuch in den Händen, groß wie eine Bibel, und fragt, ob Barbro lesen kann?

Darauf gibt ihr niemand eine Antwort.

Karen Louise entschuldigt sich und sagt, dass das dumm von ihr war, sie blättert vor zum Kapitel über Marmelade und redet darüber, was Barbro kochen soll, zeigt aus dem Fenster auf eine Armee aus großen und kleinen Beerensträuchern, die nebeneinander aufmarschiert sind und sich in sechs schnurgeraden Reihen bis hinunter zu einem weißen Lattenzaun am Ende des frühlingsbraunen Gartens ziehen, Schwarze und Rote Johannisbeeren, Stachelbeeren und an der Felskuppe Himbeeren, von denen Barbro zu berichten weiß, dass es sie auch auf Barrøy gibt, sie haben auch Rote Johannisbeeren, und sie weiß, wie viel Zucker hinzugefügt werden muss …

Da muss Hans Barrøy sich setzen.

Er lässt sich auf einen Stuhl fallen, der sich ohne rechten Sinn zwischen zwei Zimmern befindet, als stünde er dort nur zur Zierde, jedenfalls denkt Hans Barrøy, dass wohl noch niemand darauf gesessen haben kann. Und er kommt nicht wieder hoch. Stattdessen beugt er sich vor und legt das Gesicht in die Hände und stützt die Ellbogen auf den Knien ab, so als suche er etwas auf dem tiefsten Grund eines Gedankens, etwas, das er nicht finden kann, als ihn plötzlich das Gefühl überkommt, dass die anderen stehen geblieben sind und ihn ansehen.

Er blickt auf und sagt etwas, er möchte wissen, wo der Pastor ist?

Er ist im Norden der Insel, sagt die Pastorenfrau, wegen einer Angelegenheit bei …

Sie reden ein wenig über diese Leute, die Johannes Malmberget besucht und die Hans kennt, wie es sich zeigt.

Als die Hausbesichtigung fortgesetzt wird und er auf dem zwecklosen Stuhl zurückbleibt, findet er endlich, wonach er sucht, und erhebt sich und läuft ihnen in ein weiteres Zimmer nach und nimmt die Hand der Schwester und schleift sie hinaus auf den Vorhof, begleitet von wilden Protesten, denn Barbro will in dem schönen Haus bleiben. Die anderen folgen und stehen an der breiten Steintreppe und sehen ihn fragend an, Maria ruft etwas, ihr Gesicht ist schmerzvoll verzogen.

«Ich will hierbleiben», heult Barbro.

«Du wirst nirgendwo bleiben», sagt ihr Bruder und zerrt sie zum Tor und hinaus auf die Straße, wo er stehen bleibt und um Atem ringt, bis Maria und Ingrid sie einholen. Maria mit dem Koffer, sie fragt, was los ist, mit demselben schmerzverzerrten Ausdruck, der am ehesten Trauer gleicht.

«Nichts», sagt Hans.

Schweigend gehen sie am Laden vorbei, der Einkauf fällt heute aus, laufen zur Handelsstation hinunter und klettern an Bord. Hans Barrøy bemerkt, dass der Wind auf Südwest gedreht hat und kräftiger bläst. Er setzt das Segel und treibt das Boot mit einem scharfen Manöver hinaus. Dann kommt auch der Regen. Je weiter sie zur Fjordmündung kommen, desto stärker und dichter wird er. Barbro und Ingrid verbergen sich unter dem Schaffell. Dort hört er sie jedenfalls lachen, und diesmal macht er keine Anstalten, sich vor jemandes Blick zu verstecken, wozu sollte das gut sein, nicht einmal vor den Blicken Marias, die abgewandt vom Regen dasitzt, während das Wasser durch ihre langen braunen Locken trieft, die immer schwärzer und schwärzer werden und flatterndem Seetang ähneln. Und er kann nicht ihr Lächeln entdecken, das sie beide für gewöhnlich rettet.

Bis tief in die Nacht hinein regnet es in Strömen, ein stürmischer Wind hat sich dazugesellt. Widerstrebend dreht er auf West und Nord und wird kälter und schwächer. Es klart auf, und der Regen peitscht nicht länger gegen die Fenster, als Maria die Augen aufschlägt und das leere Bett neben sich bemerkt. Sie streckt die Hand aus und spürt, dass es auch kalt ist.

Sie steht auf und läuft zu Barbro und Ingrid hinein, bittet sie, sich anzukleiden und ihr hinunter in die Küche zu folgen, wo niemand Feuer gemacht hat. Ingrid fragt, was los ist. Maria hat keine Antwort. Sie entzünden ein Feuer und essen zusammen mit Martin, der auch nichts sagt, danach gehen sie hinunter zum Bootshaus, das Boot fehlt, und beginnen, Netze zu flicken, bei geöffneten Türen, damit sie die ganze Zeit gen Norden blicken können, auf Handelsstation und Kirche und Dorf, sie arbeiten schweigend und abwartend und sorgfältig, bis sie endlich das schräge Segel entdecken, das hinauf und hinab wie ein Sägeblatt durch die brausende See schneidet, es ist das Boot, das schließlich zurückstampft, als es Abend geworden ist.

Hans Barrøy lässt das Segel fallen, das Boot trifft auf die Tragrollen und kommt zur Ruhe. Er steigt über die Ruderbänke, beugt sich in die Vorpiek hinunter und greift nach etwas Zappelndem und trägt ein kleines Schwein an Land, das sogleich im weißen Muschelsand umherläuft und quiekt. Es kostete zwölf Kronen, hat nur ein Ohr und auf der Stirn einen schwarzen Fleck, der dem Einschlag einer Kugel ähnelt. Sie können es nennen, wie sie wollen. In einer braunen Tüte hat er Kandiszucker, er reicht sie Barbro, dann geht er ins Bootshaus, holt Simmgarn und fertigt einen Strick für das Schwein, er knüpft eine Schlinge ans Ende und reicht es Ingrid, die dasteht und das Schwein betrachtet, es frisst schon Gras.

«Das machste nicht noch mal», sagt Maria, wendet sich von ihm und dem Schwein ab und geht hinauf zu den Häusern, um das Essen zu bereiten, während auf dem Gesicht ihres Mannes ein Lächeln erscheint, das Ingrid noch nie gesehen hat. Sie spürt, dass die Mutter wütend ist, den Rest des Abends und den ganzen Tag danach. Doch dann geschieht etwas Unsichtbares und die merkwürdige Stimmung ist verschwunden. Das Schwein wird Grützkopf genannt.

7

Die Häuser auf Barrøy stehen in einem schiefen Winkel zueinander. Von oben her sehen sie aus wie vier Würfel, die irgendwer achtlos verstreut hat, dazu gibt es einen Kartoffelkeller, der im Winter zum Iglu wird. Zwischen den Häusern liegen Steinplatten, es gibt Gestelle, auf denen Kleider getrocknet werden, und Graswege führen strahlenförmig nach allen Seiten, aber eigentlich bilden die Häuser einen Keil gegen den Wind, damit sie nicht umgeworfen werden können, selbst wenn sich das ganze Meer über die Insel ergießt.

Niemand kann sich dieses sinnvolle System als eigenes Verdienst anrechnen, es ist das Ergebnis von kollektiver und ererbter Weisheit, erbaut aus teuer erkaufter Erfahrung.

Aber nicht einmal ein historischer Geniestreich kann verhindern, dass sich im Winter eine Flutwelle aus kompaktem Schnee zwischen Wohnhaus und Stall schiebt, durch die sie sich mit Wassereimern und Melkeimern hindurchkämpfen müssen, wenn sie zu den Tieren und wieder ins Haus wollen. Sie nennen diesen Schnee Welle und verfluchen ihn wie nur wenige andere Phänomene, denn die Welle erhebt sich gern dann, wenn die Nerven blank liegen, im Januar und Februar, im Dezember, ja, im März, eine Mauer aus Sulzschnee zwischen Tieren und Menschen, und alles Schippen hilft nichts, auch wenn sie es trotzdem tun, denn alles wird sofort wieder zugeweht. Die Männer schaufeln Schnee, die Frauen schleppen Wasser und Milch, und meistens müssen die Frauen die ganze Runde um Haus und Stall drehen, und das ist eine lange Wanderung, wenn sie sich in den Windböen nicht einmal aufrecht halten können.

Aber die Häuser haben nicht immer so dagestanden wie jetzt, zwischen der Baumgruppe und dem Beerengarten auf dem höchsten Felsrücken, sie standen weiter unten, in einer einige Hundert Meter weiter gelegenen Bucht, die Karvika genannt wird. Dort gibt es jetzt nur noch zwei Grundmauern und die von Tang und Sand überdeckten Reste eines Anlegers. Daran denkt im Alltag niemand auf der Insel, sie wissen eigentlich gar nichts darüber, dass dort einst jemand gelebt hat. Doch selbst in einem Leben zu Fuß auf festem Boden gibt es Augenblicke, da man in anderen Bahnen denkt als den gewohnten, und da geht es einem auf, dass es eine Erklärung dafür geben muss, weshalb die Häuser nicht noch immer drüben in der Bucht stehen, wo sind sie geblieben, diese Häuser, und warum stehen sie dort nicht mehr?

Die Erklärung ist mit ziemlicher Sicherheit tragisch, vielleicht ist sie entsetzlich.

Der alte Martin hat hier die längsten Wurzeln, ist die Quelle mit dem höchsten Status, und er hat ja seine Ansichten darüber, warum und wann die verlorene Zivilisation verschwunden ist, es geht hier um seine eigenen Ahnen, und er erinnert sich auch an ein paar Bruchstücke aus seiner Kindheit, einige Bilder und Sätze und Berichte. Aber er ist nicht mehr der Glaubwürdigste unter ihnen, das liegt an seinem hohen Alter und der natürlichen Schwäche, die nicht nur das Gedächtnis verzehrt, sondern auch seltsame Einfälle und Wunderlichkeiten mit sich bringt, die einen alten Mann in den Augen der Jüngeren lächerlich machen, sodass jede Generation ihre eigenen Wege gehen und sich an das erinnern kann, woran sie sich erinnern will. Auch sie führen sicher irgendwohin, diese neuen Wege, schlimmstenfalls führen sie im Kreis, und dann dauert die Wanderung eben länger.

Aber auch wenn sie rein gar nichts über die Ruinen von Karvika wissen oder wenn sie keine Erklärung dafür haben, was einst zwei Häuser waren und jetzt keine mehr sind, haben sie doch Respekt vor den Ruinen. Sie machen einen Bogen darum, die Kinder spielen dort nicht, die Vögel bauen dort kein Nest, nicht einmal die Eiderenten, und die Menschen kommen nicht auf die Idee, sie abzureißen und die Steine für andere Bauten und Grundmauern zu verwenden, zum Beispiel für die, die sich zwischen den Gärten dahinziehen. Lieber suchen sie sich neue Steine, damit die Reste dort wie ein Denkmal oder ein Friedhof stehen können, unheimlich und überwuchert von Brennnesseln und Weidenröschen, und das Gefühl von etwas aussondern, das zu kalt und zu heiß zugleich ist. Wenn man vom Hügel auf die Ruinen hinabblickt, sehen sie aus wie chinesische Zeichen, geschrieben mit zwei verschiedenen Händen. Im Winter sind sie von Schnee bedeckt, dann werden die Zeichen noch deutlicher, vor dem fauligen, braunen Gras, ehe auch das Gras weiß wird.

8

Sie haben oft darüber diskutiert: In welchem Zimmer sollen wir schlafen? In dem, das nach Norden schaut, ist es schweinekalt und unerträglich, wenn im Winter der Nordostwind weht, im Sommer aber kühl und angenehm. Und dann ist es so gut wie lautlos, da der Regen in der Regel von Südwesten kommt und einen Höllenlärm macht, sei es nun Sommer oder Winter. Wenn die Sommer ganz besonders feucht sind und sie weder auf dem Boden noch auf Reutern Heu trocknen können, sagt Hans Barrøy: «Na, Mutter, ich glaub jetzt, wir ziehn nach Norden, hier kann man’s doch nicht aushalten.»

Wenn im Winter die Eiskristalle auf der Bettdecke glitzern, sagt er das Gegenteil, jetzt ziehen wir nach Süden: «Hier frieren wir uns doch tot.»

Sie nehmen die Daunendecken mit von Norden nach Süden und umgekehrt, lassen sich von den Jahreszeiten treiben, denn sie haben in jedem dieser Sparrenräume, die sie Säle nennen, Nordsaal und Südsaal, ein großes Bett stehen. Ingrid schläft in der Kammer, die dazwischenliegt und nach Westen blickt und mitten in der Nacht Sonne hat, in der Jahreszeit, von der sie in den drei anderen träumen, und Barbro in dem, das nach Osten liegt, woher das gute Wetter kommt.

Der alte Martin schläft unten in einer Kammer hinter dem Wohnzimmer. Manchmal hat er die Tür offen stehen, und er hat einen eigenen Ofen, in dem er energisch einheizt, da er so leicht friert, und deshalb ist es auch in den Jahreszeiten im Wohnzimmer warm, in denen man in diesem Landesteil die Wohnzimmer zu gar nichts benutzt, was bedeutet, dass sie manchmal an einem ganz normalen Sonntag im Oktober oder März dort zu Mittag essen. Dann legt Maria eine weiße Decke auf den Tisch.

Diese Decke hat kleine Borten aus winzigen Blumen, roten und gelben, und grüne Lianen, die sie miteinander verbinden, Marias Mutter hat sie gestickt, vor allem aber ist die Decke weiß.

Und Maria will am liebsten im Südsaal schlafen, auch wenn es bei gutem Wetter im Sommer dort zu warm ist, und zu laut bei schlechtem Wetter, im Sommer wie im Winter, denn von diesem Fenster aus hat sie einen Blick über Barrøy und die kleinen Inseln im Süden, und an klaren Tagen kann sie bis nach Hause nach Buøy schauen, wo sie aufgewachsen ist, ihre Vergleichsgrundlage. Der Südsaal ist außerdem ein wenig größer als der Nordsaal, deshalb kann sie ihre Truhe vor der Wand stehen haben, und es gibt außerdem noch Platz für die beiden Nachtkommoden, die der Vater ihnen zur Hochzeit geschenkt hat, den alten Dreck, wie er sie nannte, zudem stammten sie von ihrer Mutter, die viel zu jung an einer Epidemie gestorben ist, von der die Bevölkerung hier so gewaltig dezimiert wurde, dass nur die Stärksten überlebten.

Wollen wir nicht bald sesshaft werden wie anständige Leute, fragt sie, und nicht herumstreunen wie die Zigeuner?

Und nachdem das Schwein Grützkopf ins Haus gekommen ist – es haust in einer Torfhütte, die für den Moment leer steht –, findet Hans, er müsse ein wenig Initiative an den Tag legen, und deshalb nimmt er, als die Eiderentenhäuser – die E-Häuser – repariert und die Kartoffeln gesetzt sind und die Tage für kurze Frist länger, milder und weiter werden und sie eigentlich Torf stechen müssten, Bohrer und Hammer und Dynamit und geht zum Felsvorsprung in der Nordwestbucht, wo geteerte Pfähle lotrecht in den Meeresboden getrieben und im Abstand von jeweils einem halben Meter mit dem Fels verbolzt sind, sodass bei gutem Wetter größere Boote anlegen können, zum Beispiel das Frachtboot der Handelsniederlassung oder das von Hans’ Bruder Erling, der jedes Jahr um Neujahr vorbeikommt, um Hans und dessen Leinensysteme aufzulesen, wenn es zu den Lofoten geht. Dort steht auch ein Schuppen, den sie den Lofotschuppen nennen, er ist das ganze Jahr abgeschlossen, denn dort wird die wertvolle Lofotausrüstung aufbewahrt.

Wenn auf dieser Insel wirklich etwas fehlt, dann ist das ein richtiger Kai. Und deshalb steht jetzt der alte Martin, der seit über achtzig Jahren kailos hier lebt, auf dem Hofplatz und schaut gen Norden und fragt sich, ob sein Sohn sich endlich an das Unumgängliche machen wird; sie sammeln seit einem Menschenalter Treibholz, an Material mangelt es nicht.

Aber Hans Barrøy hat andere Pläne. Er bohrt zehn tiefe Löcher in die Felswand, lädt, legt die Lunte und jagt gut drei Kubikmeter Stein in die Luft. Die, die zu groß sind, schlägt er mit dem Hammer in Stücke.

Er geht nach Hause, um Pferd und Wagen zu holen, und bittet Maria, mitzukommen, erklärt ihr unterwegs, dass er lieber «Sprengstein» für die Grundmauern hat, die glatten Steine vom Strand sind nur Unsinn, der «Sprengstein» dagegen, der hat raue Oberflächen, die sich ineinander verbeißen, und danach bewegen sie sich nicht um einen Millimeter. Sie sagt: «Grundmauer?»

Ja, die Lösung für das Problem von Schlaf und Windrichtung ist natürlich, das Haus nach Süden zu verlängern, es ist anderthalbstöckig, wie geschaffen für eine Verlängerung, ein drei, vier Meter langer Anbau wird vor Sonne und Regen schützen, und dann können sie das ganze Jahr lang im Südsaal schlafen.

Er macht sich mit Spaten und Füllhacke ans Werk und reißt einen guten Fuß Torf ab, stößt auf Felsboden und fährt Steine nach Hause und hat schon am nächsten Tag mit der Mauer angefangen, jetzt mithilfe von Martin und Barbro. Barbro mag schwere Arbeit, sie packt einen riesigen Stein vom Wagen und trägt ihn fünf Schritte zur Mauer und fragt den Bruder, wo er liegen soll, und lässt den Stein nicht los, bis ihr Bruder ihr die genaue Stelle angewiesen hat.

Aber er zögert, aus Spaß, deshalb wird sie rot im Gesicht und fängt an zu schreien und muss den Stein loslassen. Dann heben sie ihn zusammen hoch und legen ihn an die Stelle, wo er liegen soll. Er fragt sie, wie es denn geht.

«Jau», sagt Barbro und holt den nächsten Stein.

Martin schüttelt den Kopf über diesen Unfug und möchte wissen, ob die Frau nicht auch mit mauern soll.

Hans aber stellt sich taub, obwohl er sich diese Frage ja auch schon gestellt hat. Doch Maria hat offenbar das Unausweichliche begriffen, wenn das Haus verlängert wird, dann verschwindet der Grund, warum sie im Südsaal schlafen will, ihre Aussicht auf ihre Kindheit dort im offenen Meer. Aber sie bringt es nicht über sich, etwas zu sagen, ehe der Mann den Grundstock gelegt und angefangen hat, das Rüstwerk zu errichten, was ist mit der Aussicht, fragt sie, er ist seit fast einer Woche an der Arbeit.

Und nun bietet sich ihr ein Anblick, wie sie ihn noch nie gesehen hat, denn er setzt sich auf die Mauer und sieht aus, als sei er kurz vor dem Zusammenbruch, als Mann und als Mensch. Martin verzieht sich angeekelt und sagt, zum Henker. Maria bringt es auch nicht über sich, einen Mann zu trösten, deshalb dreht auch sie erst einmal eine Runde über den Hofplatz, nur Barbro kann sich neben den Bruder setzen und fragen, warum er denn flennt, so wie er sie immer gefragt hat, als sie noch Kinder waren. Er winkt wütend ab, wischt sich den Schweiß ab und macht sich wieder mit Spaten und Füllhacke an die Arbeit, reißt die Torfschicht auch innerhalb der Mauer herunter und fährt sie hinunter in den Busengarten, wo damit vielleicht kleine Unebenheiten ausgeglichen werden können.

«Und was jetzt?», fragt Maria beim Abendessen.

«Was glaubste denn?», sagt Hans.

Am nächsten Morgen fährt er ins Dorf und hat bei seiner Rückkehr das Boot bis an den Rand mit Zementsäcken beladen, die er auf Pump gekauft hat. Er macht sich daran, Sand zu fahren, und fängt an zu gießen, eine neue Wand innerhalb der bereits fertigen Mauer, danach gießt er auf dem Felsgrund auch eine Art Boden, er wird uneben, aber dicht. Auf den Grundstock nagelt er dann die Verschalung und gießt die Mauer noch einen Fuß höher, soweit der Zement reicht. Als die Verschalungen entfernt werden, sieht es aus, als hätten sie das Haus mit einem grauen Steinkasten verlängert, fünf mal drei Meter, und einen guten Meter hoch.

Es ist eine Zisterne.

Hans Barrøy nagelt einige lange Bretter aneinander, Kante an Kante, und montiert sie als Rinnen unter beiden Dachvorsprüngen, legt zwei Abflüsse schräg nach unten, wo sie sich über der Zisterne treffen und einen Trichter bilden. Er sucht sich einige Bretter und fängt an, einen Deckel zu zimmern. Der sieht aus wie ein Fußboden und ist ebenso solide, sie können darauf sitzen und gehen. In den Deckel wird eine Luke eingelassen, die so angebracht wird, dass sie den Eimern, die hinuntergelassen und hochgezogen werden sollen, nicht ins Gehege kommt.

Der alte Martin lacht beeindruckt.

Da das Wetter an dem Abend, als sie damit fertig sind, auch am Stalldach Abflussrinnen anzubringen, gut genug ist, sitzen sie beim Abendessen auf dem Zisternendeckel. Einen feuchten Juni später ist die Zisterne voll. Das Wasser ist sauber wie Wasser, anders als die Moorbrühe, die die Tiere von jetzt an allein trinken müssen. Nach der nächsten Lofotsaison will Hans dann noch eine Handpumpe besorgen und in der Küche anbringen. Nicht die Pumpe ist die Herausforderung, sondern das Kupferrohr, das unter dem ganzen Haus hindurchgezogen werden muss und wahrscheinlich im Winter gefrieren wird. Das Ideale wäre, die Zisterne nach Norden zu legen, Wand an Wand mit der Küche. Im Nordsaal schlafen sie, wenn es im Süden zu warm ist und der Regen zu viel Krach macht. Wenn es im Norden zu kalt wird, wandern sie mit ihren Bettdecken in den Süden. Es ist ein gutes Leben.

9

Mit den Bewohnern der anderen Inseln tauschen sie Zuchtbullen und Widder aus. Wenn sie einen Widder haben, darf er nicht zusammen mit den Schafen und Lämmern grasen. Er bekommt eine eigene Insel, die Widderholm genannt wird. Dort geht er fast das ganze Jahr umher und frisst Gras und Tang und ist nur um die Weihnachtszeit zu Hause, für einen Monat, und wenn er zu den Schafen soll. Dann holt Hans ihn, und Ingrid ist dabei.

Ingrid hat Angst vor dem Widder, er ist böse. Doch der Vater treibt ihn mit einer langen Gerte hinaus auf eine Landzunge, packt ihn am Fell und ringt ihn nieder und fesselt seine Beine und wirft ihn ins Boot, während Ingrid dabeisitzt und zuschaut und schaudert. Es ist viel Leben in einem Widder. Er ist ein wildes Tier. Mit langen, unbeherrschbaren Zotteln voll salziger Krusten aus Sand und Erde, die neben seinen Hufen zu Boden rieseln, ein schwarzer und wogender Panzer, der nach Meer und Viehstall stinkt. Als sie nach Barrøy kommen, wird ihm ein Strick um den Hals gelegt, und er ist nach der Überfahrt so steif und ungefährlich, dass Hans ihn in den Stall führen kann, ohne auf weiteren Widerstand zu stoßen. Hat er seine Aufgabe erfüllt, bringen sie ihn zurück nach Widderholm oder manchmal zu einer der anderen Inseln, wo es im Moment keine Schafe gibt.