Die Unsterblichen - Ketil Bjørnstad - E-Book

Die Unsterblichen E-Book

Ketil Bjornstad

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Beschreibung

Eigentlich führt Thomas Brenner ein gutes Leben. Er ist ein erfolgreicher Arzt, glücklich verheiratet, hat zwei Kinder. Mit Ende Fünfzig freut er sich auf den Ruhestand, auf Reisen mit seiner Frau, auf eine Zeit der Entspannung. Aber plötzlich fühlt er sich alt und überfordert. Sein geordnetes Leben gerät aus den Fugen. Verantwortung abgeben, das ist es, was er sich wünscht; statt dessen bekommt er immer mehr aufgebürdet. Hier die beiden Töchter, die mit Mitte Zwanzig noch nicht auf eigenen Füßen stehen, dort die alten Eltern, die pflegebedürftig werden. Und auch Brenner selbst bleibt von Krankheiten nicht verschont. Die lange geplante Familienreise nach Chicago soll zum ersten Schritt in ein unbeschwerteres Leben werden, doch es kommt alles ganz anders …. Nach dem Erfolg mit seiner Romantrilogie um den jungen Pianisten Aksel Vinding ist "Die Unsterblichen" Ketil Bjørnstads persönlichstes Buch. Es ist eine Bestandsaufnahme, nicht nur eines Lebens, sondern einer ganzen Generation. Die Menschen scheinen alterslos, nahezu unsterblich – doch zu welchem Preis?

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Seitenzahl: 392

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Thomas Brenner steht kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag und hat alles, was er sich nur wünschen kann: Er ist erfolgreicher Arzt, glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder. Er freut sich auf die kommenden Jahre, darauf, kürzerzutreten und endlich das Leben zu genießen. Doch sein wohlgeordneter Alltag gerät zunehmend aus den Fugen: Nicht nur muß er sich um seine pflegebedürftigen Eltern kümmern, auch die erwachsenen Töchter stehen mit Zwanzig noch immer nicht auf eigenen Beinen. Und dann sind da seine Herzbeschwerden, die er nicht länger ignorieren kann. Brenner setzt alle Hoffnungen auf eine lange geplante Familienreise nach Chicago – doch kann diese wirklich der so lang herbeigesehnte Neubeginn sein, der erste Schritt in eine unbeschwerte Zukunft?

Die Unsterblichen erzählt von verpaßten Gelegenheiten und zweiten Chancen, von der Vergänglichkeit des Lebens und der Flüchtigkeit des Glücks – eine radikale Bestandsaufnahme nicht nur einer Familie, sondern einer ganzen Generation.

Ketil Bjørnstad wurde 1952 in Oslo geboren und lebt dort als Schriftsteller, Pianist und Komponist. Er hat eine Serie von LPs und CDs mit eigener, von Jazz und Rock beeinflußter Musik produziert und zahlreiche Romane veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm im insel taschenbuch erschienen: Die Frau im Tal (it 4092).

Ketil Bjørnstad

Die Unsterblichen

Roman

Aus dem Norwegischenvon Lothar Schneider

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4315.

De udødelige bei Aschehoug & Co., Oslo

© 2011 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, Oslo, Norway

Die Übersetzung wurde durch Norla gefördert.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagabbildung: Rosa Basurto / Millennium / plainpicture

Umschlaggestaltung: cornelia niere, münchen

eISBN 978-3-458-75210-3

www.insel-verlag.de

… And all the men and women merely players,

They have their exits and entrances,

And one man in his time plays many parts …

William Shakespeare, As You Like It

1

Der Gedanke kam erst, lange nachdem sie eingeschlafen war. Da hatte er sich schon mindestens eine Stunde im Bett hin und her gewälzt. Seine alte Mutter mußte ins Pflegeheim, diese Entscheidung war nun endgültig, und damit war die Trennung von ihrem Mann unausweichlich. Der Pflegedienst sah sich nicht mehr in der Lage, die prekäre Situation im Brenner-Haus zu verantworten, zu viele Stürze hatte es gegeben, zu viele Auseinandersetzungen, zu viel Streit und Zank; eine solche Verantwortung konnte man nicht länger übernehmen.

Aber es war nicht nur der Gedanke an die Situation von Mutter und Vater, der Thomas wach hielt. Es war eine Sache, die etwas früher passiert war, als er neben Elisabeth im Bett gelegen hatte und sie miteinander redeten. Das machten sie nun öfter, seit sie nicht mehr arbeitete und mehr Zeit für solche Gespräche blieb, obwohl sich an seiner Arbeitssituation als Arzt nichts verändert hatte und er genauso zeitig wie immer aufstehen mußte. Durch diese Gespräche fühlte er sich ihr wieder näher, das war neu. All die Jahre hatten Annika und Line sie voll und ganz beansprucht, und sie hatten sich damit klaglos abgefunden.

Sie bemühten sich, dem anderen zu zeigen, daß zwischen ihnen nach wie vor eine starke Bindung existierte. Kleine Zärtlichkeiten, freundliche Worte. Und seit kurzem hatten sie begonnen, wieder andere Seiten voneinander zuzulassen. Sie entdeckten die alten Bedürfnisse, physische wie psychische, die für ihre Beziehung wichtig waren. Eine Beziehung, die jetzt fast vierzig Jahre dauerte und wahrscheinlich noch viele Jahre dauern würde, wenn sie zu den Glücklichen zählten, die zusammen alt wurden. Auch daran hatte Thomas Brenner in dieser Nacht gedacht, obwohl er wußte, daß die Zeitdimension nicht unbedingt Glück bedeutete, wie er bei seinen Eltern sah, mit all den oft grotesken Schwierigkeiten für die Alten ebenso wie für die Angehörigen.

Aber an all das zu denken war für sie beide längst zur Gewohnheit geworden, das war es also nicht, was Thomas Brenner an diesem Herbstabend des Jahres 2009 nicht einschlafen ließ, als er das Rauschen in den Rohren hörte und wußte, daß die altmodische Zentralheizung ansprang, weil es draußen kälter geworden war. Zuerst war der Gedanke gar nicht klar, war gleichsam noch nicht ins Bewußtsein gedrungen, so als hätte ihn das Unterbewußtsein gedacht. Er verspürte nur ein Unbehagen, die Art von Unbehagen, wie es manchmal bei der Behandlung eines Patienten auftauchte, daß da etwas nicht stimmte, daß den Laborwerten nicht zu trauen war, daß ein Grund bestehen mußte, warum ihn der Patient aufgesucht hatte und beunruhigt war. Und wenn ihn diese Unruhe ansteckte, war das für ihn ein Anlaß zur Sorge. Und jetzt empfand er diese Unruhe, und deshalb wälzte er sich im Bett hin und her.

Aber wer hatte ihn angesteckt? An wen hatte er an diesem Abend gedacht außer an Elisabeth? Er hatte ihre Brust gestreichelt. Mehrmals. Und plötzlich war ihm, als hätte er unter der Haut etwas gespürt, von dem sie anscheinend nichts wußte oder nichts wissen wollte. Einen Knoten. Fest und unverkennbar.

In dem Moment schob sie seine Hand weg. Das konnte zufällig sein. Das konnte auch mit Absicht geschehen sein. Daß sie gemerkt hatte, daß er etwas getastet hatte, von dem sie nicht wollte, daß er sich darum kümmerte. Denn so war es üblich zwischen ihnen, dachte er. Diese Rücksichtnahme war die Stärke ihrer Beziehung. Was aber ganz plötzlich zu einer Schwäche werden konnte. Er dachte wieder an den Knoten. Sie muß da etwas unternehmen, dachte er und schlief ein.

Es war am nächsten Tag, nachmittags, gerade als er im Wartezimmer der Gemeinschaftspraxis, in der er arbeitet, seine alte Schulfreundin Mildred Låtefoss erblickte, daß er ihn wieder spürte, diesen veränderten Herzrhythmus, kräftige Schläge, die in Wellen kamen und den Puls erhöhten. Er wollte gerade die junge Mutter mit dem Kind hereinrufen, die sich angemeldet hatte und schon über eine Dreiviertelstunde wartete. Doch der Anfall war so stark, daß er, statt sie mit der Hand hereinzuwinken, nur murmelte »einen Augenblick«, um dann zurück in sein Sprechzimmer zu gehen und hinter sich die Tür zu schließen. Er spürte, wie der Schweiß kam und gleichzeitig die unvermeidliche Schwäche, die er auch beim letzten Mal gespürt hatte und die ihn zwang, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Abwesend und beklommen starrte er hinaus in den Oktobertag vor dem Fenster, das intensive gelbe Laub, das noch an den Bäumen hing, die Stadt und weit unten der Fjord, darüber der rötliche Nachmittagshimmel, der ihn immer an Munchs Schrei erinnerte, ein Gedanke, der ihm banal vorkam und schmerzliches Unbehagen erzeugte, manchmal sogar Panik, ohne daß er wußte, warum. Vielleicht war es nur die Vorstellung, daß wieder ein Tag im Meer versank, daß die Sonne das Licht mitnahm, daß er bald dem Alter wieder einen Tag näher gerückt sein würde, ein Lebensabschnitt, von dem er keineswegs so sicher war, ob er ihn würde erleben dürfen.

In wenigen Wochen wurde Elisabeth, die zwei Jahre älter war als er, sechzig. Ein Jubiläum, das ihn schon ein halbes Jahr beschäftigte, den Saal in Slemdal mieten, Musiker engagieren und dafür sorgen, daß Elisabeth, die jedes Aufhebens um ihre Person verabscheute, trotzdem Einladungen an den großen Freundeskreis verschickt hatte.

Er richtete sich auf, hoffte, daß der Anfall vorübergehen würde, wie es bei solchen Anfällen üblich war. Aber als sich der Anfall nach einigen Minuten nicht beruhigte, nahm er sich zusammen und bat die Mutter mit dem Kind herein, wobei er gleichzeitig Mildred Låtefoss mit einem vielsagenden Gesichtsausdruck signalisierte, daß sie danach an der Reihe sei. Er stellte fest, daß das Wartezimmer noch voller geworden war.

Sie war groß und blond und erinnerte ihn an seine jüngere Tochter Line. Aber diese Frau war mindestens zehn Jahre älter, was sich bestätigte, als sie ihre Personenkennziffer nannte. Es folgte ein unverbindliches Geplauder über die Freude, ein Kind zu haben und daß das siebenmonatige Mädchen gesund und kräftig sei, er hatte es bereits früher untersucht. Schon in fünf Monaten würde es in die Krabbelgruppe dürfen, und die Mutter konnte wieder arbeiten gehen. An der Anspannung, mit der sie das sagte, merkte er, daß sie es kaum erwarten konnte, daß sie nicht die übliche Bemerkung hören wollte, es sei wohl zu früh. Er merkte, daß sie so schnell wie möglich zurückwollte zu etwas, das sie wegen des Kindes hatte aufgeben müssen. Eine Art Ordnung wiederherstellen, die ihr momentan fehlte, über die sie nicht verfügte, solange das Kind alles bestimmte. Er versuchte, nicht an sein Herz zu denken, während er mit ihr redete. Das einleitende Gespräch konnte er so lange oder kurz gestalten, wie er wollte. Früher oder später kam der Punkt, an dem er fragen mußte, warum der Patient gekommen war. Darauf konnte sie nicht sofort antworten, rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Da nahm er das Kind, hielt es mit beiden Händen, immer wieder gerührt, atmete am Hinterkopf den besonderen Geruch des Kleinkindes ein. Er sah, wie erschöpft die Mutter unter dem glatten Make-up wirkte.

»Ich möchte fragen, ob ich ein Schlafmittel bekommen kann«, sagte sie.

»Für Sie oder Ihre Tochter?« fragte Thomas Brenner. Jetzt sah er, daß ihre Hände zitterten.

»Für Eveline«, antwortete sie, während er ihr das Kind vorsichtig zurückgab. O diese netten, altmodischen Namen, dachte er. Dabei wollte niemand von ihnen zurück in die Vergangenheit. Alles sollte neu und modern sein, schlicht und einfach in der Wohnung und im Kopf. Sie taten ihm nur leid. Sowenig Möbel wie möglich. Sowenig verwirrende Gedanken wie möglich. Dafür stilvoll.

»Eveline schläft nachts kaum noch«, sagte die junge Mutter und war den Tränen nahe. »Ich habe angefangen, ihr Paracetamol zu geben.«

»Damit sollten Sie aufhören«, sagte Thomas Brenner. »Ich kann Ihnen etwas Besseres verschreiben. Aber muß das wirklich sein?«

»Nur für kurze Zeit«, sagte die Mutter mit bittenden Augen. »Ich muß schlafen können.«

Weil du einen Anspruch darauf hast, dachte Thomas Brenner, sagte es aber nicht. Ein deutliches Zeichen für die egoistische Haltung hierzulande. Diese junge Mutter und auch seine eigene Tochter Line, sie glichen diesen Schauspielern und Supermodels, die ihr Geld damit verdienen, der Dummheit des Westens ein Gesicht zu geben.

Mehr und mehr hatte er in den letzten Jahren festgestellt, daß er seinen eigenen Patienten zunehmend mit Abneigung begegnete, daß er bei dem Charme und der Schönheit, die diese jungen Mütter früher für ihn gehabt hatten, jetzt nur daran dachte, wie dumm und egoistisch sie waren. Schlafmittel für einen Säugling? Damit sie bei ihrem Schönheitsschlaf nicht gestört wurden? Es widerte ihn an.

Und darin bestand auch eines seiner gegenwärtigen Probleme, dachte er, daß ihm der Arztberuf auf die Nerven ging, daß er ihm nicht mehr das bedeutete, was er früher bedeutet hatte, daß ein Schatten in sein Leben gekommen war, von dem er nicht genau wußte, woher er kam.

Er hatte sich eigentlich darauf gefreut, älter zu werden, vorausgesetzt, er bliebe gesund. Er hatte gedacht, die Zeit, die nun vor ihm lag, sei eine Zeit für Ruhe, Frieden und Vertiefung, eine Zeit, um zu ernten, die Früchte seiner Arbeit zu genießen, in Konzerte und Ausstellungen zu gehen, Orte zu besuchen, die er schon immer hatte sehen wollen, wie Chicago, die Reise, die er bereits gebucht hatte und die sie gemeinsam gleich nach der Geburtstagsfeier antreten würden, sein Geschenk für Elisabeth, die sich nichts mehr wünschte als Seurats Bild Un dimanche après-midi à l’Ile de la Grande Jatte zu sehen, das im Art Institute of Chicago in der Michigan Avenue hing, Elisabeth, die einmal in ihrem Leben das Chicago-Sinfonieorchester live hören wollte und die nicht zuletzt durch Saul Bellows Straßen gehen wollte, ein Autor, den sie über alles schätzte.

Ja, so mußte auch Elisabeth gedacht haben, als sie vor einigen Monaten ihren Arbeitsplatz gekündigt hatte, weil der sich nicht mehr vereinbaren ließ mit den Anforderungen, die ihre Eltern inzwischen an sie stellten, und weil zudem weder Annika noch Line ihr Leben auf die Reihe brachten und im Augenblick voll von Thomas Brenner unterstützt wurden, was er nicht länger zu tun bereit war, nachdem Elisabeth nur noch sporadische Einkünfte in der Telefonzentrale bei Burlington Ltd. hatte, ein Dienst, zu dem sie sich verpflichtet fühlte. Weiter weg vom Auslandseinsatz für Telenor konnte sie kaum kommen.

Also noch ein Zeichen für Streß, unvorhergesehenen Streß, von dem er nicht geglaubt hatte, daß er zu diesem Alter gehörte. Obendrein sein Kammerflimmern, das alles trug nicht dazu bei, daß er seiner fachlichen Motivation entsprechend für die Sorgen der jungen Mutter offen war. Dabei hatte er die Medizin immer als Berufung gesehen.

Langsam, aber durchaus spürbar, hatte sich seine Welt, seine überschaubare, sinnvolle Welt, verändert, war zunehmend von Streß, Sinnlosigkeit und der Orientierung am Geld bestimmt. Daß diese junge Mutter es so eilig hatte, wieder zu arbeiten, provozierte ihn plötzlich, obwohl er wußte, daß das ungerecht war. Es war überhaupt völlig übertrieben, daß er sich so aufregte. Aber ihm fiel auf, daß die junge Frau teure Kleidung trug, ebenso teure Kleidung, wie seine jüngere Tochter anzuziehen pflegte. Und als sie sich plötzlich an ihrem iPhone zu schaffen machte, weil es an ihrer Haut vibriert hatte, hätte er am liebsten gerufen: »Und jetzt sofort raus hier, selbstsüchtige Pute!«

Aber das tat er nicht, wohlerzogen wie er war. Stattdessen reichte er ihr ein Rezept für ein Schlafmittel und sagte, daß er hoffe, daß die süße Kleine jetzt gut schlafen könne, mit schönen Grüßen von der Pharmazie in der Schweiz. Nein, letzteres sagte er nicht. Er kam sich lächerlich vor, jeder Würde beraubt. Die junge Mutter mußte sehen, daß er gestreßt war, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand, daß seine Haut ungesund gerötet war.

Er lächelte sein freundlichstes Lächeln, wünschte alles Gute, schob Mutter nebst Kind hinaus und winkte Mildred Låtefoss herein.

Mildred war Mildred, das sah er sofort. Sie alterte nicht im selben Tempo wie die andern der alten Klassenkameraden vom Gymnasium. Sie gehörten zur besseren Gesellschaft, ausnahmslos. Aber ihre soziale Stellung verhinderte nicht, daß sie unterschiedlich verfielen. Erst vor zwei Wochen war Thomas Brenner auf dem Heimweg von der Praxis angehalten worden. Solrunn Plesner war den Weg aus dem Wald heruntergekommen und hatte ihn, obwohl sie schon zwanzig Meter an ihm vorbei war, angerufen.

»Aber das ist doch Thomas!«

Er erkannte die Stimme wieder. Es war damals die hellste und fröhlichste in der ganzen Klasse gewesen. Sie klang jetzt trüber, und als er sich umwandte, sah er zu seinem Entsetzen eine kleine Kugel von einer Frau, die mit Stöcken ging – o diese schrecklichen Stöcke, die zwar der Gesundheit förderlich waren, aber wenn er sah, wie alternde Menschen damit durch die Natur stapften, fand er es unerträglich. Gesundheitsfanatiker, die sich am Leben erhalten wollten, denen man aber wünschte, sie wären tot, wie Line einmal sagte. Sie erinnerten an die Roboter aus Krieg der Sterne.

Solrunn Plesner war kaum wiederzuerkennen, hatte zuviel Wasser im Körper und die gleiche ungesunde Röte im Gesicht, wie auch er sie hatte. Wie konnte sie nur so dick werden? dachte er, während er sie umarmte und merkte, wie ihr Haar nach Rauch und Fett stank.

Er war einmal in sie verliebt gewesen. Jetzt wollte er sie so schnell wie möglich loswerden, wollte gar nicht hören, was sie von ihrem Leben erzählte, wie alles schiefgegangen war, Mann und Arbeitsplatz gleichzeitig, Herzinfarkt und Bluthochdruck, ach ja, er war doch Arzt, habe aber schon genug Patienten, wie er sagte, und es sei besser zu bleiben, wo sie war.

Und dann flüchtete er und bereute es gleich drauf, weil er sich so schäbig vorkam, so primitiv, immer noch fixiert auf die Hochglanzbilder der Jugend. Solrunn Plesner sollte immer noch die Frau sein, in die er sich verlieben könnte.

Das war doch fürchterlich unreif, dachte er. Ein ernster Charakterfehler. Und jetzt saß Mildred Låtefoss vor ihm und brachte ihn dazu, diesen Erinnerungstümpel aufzuwühlen, in dem es einmal viele Wellen gegeben hatte und der jetzt so lange still und ruhig dagelegen hatte. Er dachte kaum mehr an die Vergangenheit, vor allem, weil ihm die Zeit dazu fehlte, dachte nicht daran, daß er und Mildred einst auf einem Klassenfest miteinander geknutscht hatten, daß sie ihm bei verschiedenen Anlässen deutlich signalisiert hatte, daß sie für ihn verfügbar war, wenn er das wollte.

»Was führt dich zu mir?« fragte er und betrachtete die hochgewachsene Frau, die wie er Medizin studiert hatte und die später ihm gegenüber immer sehr aufmerksam gewesen war, ihm Weihnachtskarten und Geburtstagsgrüße geschickt hatte. Er wußte, daß sie Kardiologin am Rikshospital war, daß sie gut verheiratet war, zwei Kinder hatte, im selben Alter wie die seinen, daß sie regelmäßig in Fachzeitschriften publizierte. Merkwürdig, dachte Thomas Brenner, daß sie jetzt zu ihm kam, während er dieses Herzjagen hatte.

Er überlegte einen Moment, ob er ihr davon erzählen sollte, begriff aber schnell, wie unprofessionell das sein würde. Er hatte genügend Kollegen, die so sehr von sich eingenommen waren, daß sie mit ihren Patienten von dem sprachen, was sie beschäftigte, unfähig anzuhören, was der Patient eigentlich sagen wollte. Mildred Låtefoss hatte, indem sie zu ihm kam, gezeigt, daß sie ihm vertraute. Er stellte fest, daß sie die ersten grauen Haare bekam. Sie stand vor derselben Wahl wie Elisabeth, färben oder hinnehmen, das Altern verbergen oder dazu stehen. Er war schon grau, bevor er vierzig Jahre alt wurde.

»Ich komme nicht als Patientin«, sagte sie mit einem Lächeln, »möchte dir aber etwas ins Ohr flüstern.«

Thomas Brenner wurde unruhig. Es gefiel ihm nicht, wie dieses Gespräch anfing.

»Mir etwas zuflüstern?«

»Ja. Es warten zwar draußen noch viele, aber fünf Minuten hast du doch für mich?«

Er nickte und hörte sie reden. Er war so beschaffen, dachte er, daß andere, sobald er in der Nähe war, das Bedürfnis hatten, zu erzählen. Mildred Låtefoss fragte ihn zwar schon, wie es ihm gehe mit der Arbeit und zu Hause, aber bevor er auch nur ansetzen konnte zu einer Antwort, war sie bereits bei ihrem Thema, der Zusammenarbeit der Krankenhäuser. Nach einigen schlimmen Jahren mit viel Hin und Her hatte man endlich beschlossen, die Arrhythmienabteilungen des Ullevål-Krankenhauses und des Rikshospitals zusammenzulegen. Das sei für alle Beteiligten von Vorteil, meinte sie.

Er nickte und spürte, daß sein Herz immer noch hämmerte. Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn er irgendwann auf dem Operationstisch von Mildred Låtefoss landen würde. Sie redete weiter, flüsterte keineswegs wie angekündigt.

Er musterte sie dabei und dachte, daß er froh war, daß sie nie ein Paar geworden waren, was ohne weiteres hätte geschehen können, so interessiert wie sie immer an ihm gewesen war. Elisabeth, im Gymnasium zwei Klassen über ihnen, hatte Mildred in den ersten Jahren als Bedrohung empfunden, obwohl Elisabeth stärker gewesen war, reifer, schöner, alles. Jetzt war das eher umgekehrt, dachte Thomas Brenner wehmütig. Elisabeth hatte verloren, während Mildred an Selbstwert gewonnen hatte. Dieser Gedanke quälte ihn.

Er wußte nicht, wieviel Schuld er daran trug, daß Elisabeth wesentlich schwächer und auch unsicherer wirkte als zu Beginn ihrer Beziehung. Er hatte das bei so vielen Paaren beobachtet, daß der eine Teil den andern fast völlig vereinnahmte, den Partner in einen Schatten verwandelte. Er hatte sich schon lange Sorgen um sie gemacht, und jetzt kam das mit dem Knoten.

Wie sollte er damit umgehen? Als Arzt war er verpflichtet, mit ihr darüber zu reden. Aber er wußte auch, wie unmöglich das sein würde. Sie hatte ihn nie als ihren Arzt akzeptiert, wollte nicht, daß er ihr gegenüber die sorgende Rolle übernahm. Außerdem war sie keineswegs die schwächere. Er wußte, wie kaputt er selbst war. Daran war das Alter schuld, dachte er oft. Er war jetzt unsicherer als zuvor, und darauf war er nicht gefaßt gewesen. Er hatte geglaubt, daß man sich gerade in den Jahren über Fünfzig genügend Reife, Wissen und Souveränität erarbeitet hatte, um darauf vertrauen zu können. Sein Blick glitt von Mildred Låtefoss zum Fenster und weiter zur Stadt und zum Fjord. »… also ist es wichtig, daß du anwesend bist«, sagte sie. Aber er hatte nicht gehört, was sie sagte. Sie merkte es sofort.

»Irgend etwas quält dich«, sagte sie mitfühlend.

»Nein, keine Sorge«, sagte er. »Aber die Tage sind lang«, fügte er entschuldigend hinzu. »Anwesend wo?«

»Bei der Jahresabschlußfeier«, sagte sie mit einem Lächeln. »Es wird von dir erwartet.«

»Aber ich gehe doch immer hin«, sagte er.

»Diesmal ist es besonders wichtig, daß du kommst«, sagte sie. Du meine Güte, dachte er. Wie peinlich. Er sollte offenbar eine Auszeichnung bekommen.

Die Kollegen meinten es gut. Ärzte wie er wurden in regelmäßigen Abständen geehrt. Das konnte verschiedene Gründe haben, humanitäre Arbeit, eine wichtige Veröffentlichung zur Volksaufklärung. Er dachte mit Grausen an die Feier des Vorjahres, als sein Kollege Ulrik Meidel die ersehnte Ehrung bekommen hatte. Er besaß den gepflegtesten Schnauzbart und das größte Ego in der ganzen Ärzteschaft. Und dann hatte er die Auszeichnung in Silber erhalten. Den Verdienstorden des Königs in Silber! Das war für ihn wie eine Ohrfeige. Als würde er mit dem Stiefelabsatz in den Dreck getreten. Vor aller Augen der Lächerlichkeit preisgegeben. Er war schließlich zu dieser Feier gekommen in der Gewißheit, ausgezeichnet zu werden. Natürlich hatte das Ordenskomitee sich dafür eingesetzt, daß er die Medaille in Gold bekäme und dazu zum St.-Olavs-Ritter erster Klasse geschlagen würde, aber die Entscheidung lag letztlich beim König und seinen Beamten, und im Falle von Ulrik Meidel hatten sie sich aus irgendeinem Grund für Silber entschieden.

Die Feier wurde deshalb für das Komitee, für die Verleiher des Ordens und für Ulrik Meidel selbst eine schrecklich peinliche Angelegenheit. Ihm kam nicht in den Sinn, daß vielleicht die, die den Orden in Silber bekamen, in der Gesellschaft die besseren Menschen waren. Menschen, die ihr Leben für andere einsetzten, aber nicht über genügend Ego oder Eitelkeit verfügten, um an eine Auszeichnung überhaupt nur zu denken. Muß man sich einer solchen Prozedur aussetzen? dachte Thomas Brenner. Muß man sich derart erniedrigen, um auch zu den eitlen Menschen zu gehören? Soll man so skrupellos sein, sich über eine Ehrung zu freuen, obwohl man weiß, daß es andere gibt, denen sie genauso oder gar noch mehr zusteht?

Jetzt saß also Mildred Låtefoss vor ihm und wollte ihn zum Mittelpunkt solcher Peinlichkeiten machen, ähnlich der Veranstaltung mit Ulrik Meidel, Silber oder Gold oder nichts. Das war paradox, denn wirklich verdient hätte Elisabeth eine solche Auszeichnung. Das wäre eine wichtige Bestätigung für einen schwierigen Lebensabschnitt, auch wenn er wußte, daß derartige Ehrungen nicht ihre Sache waren. Aber alles, was sie in Rußland geleistet hatte, als die Mädchen klein waren, verdiente eine Auszeichnung. Was ihn anging, fühlte er sich mehr und mehr wie auf dem Abstellgleis, mehr und mehr vergessen. Früher hatte man in Fragen der Allgemeinmedizin seinen Rat gesucht. Er war im Rundfunk und im Fernsehen aufgetreten und hatte sich in der Zeitung zu Wort gemeldet. Jetzt war niemand mehr an seinen Kenntnissen interessiert, alles beschränkte sich auf die übliche Routine in der Gemeinschaftspraxis.

Aber das konnte er Mildred Låtefoss nicht erzählen. Das würde sentimental, wenn nicht gar pathetisch klingen. Andererseits konnte er diese lächerliche Ehrung unmöglich ablehnen, das wäre sowohl für Mildred wie für das übrige Komitee eine Beleidigung.

Das Telefon rettete ihn. Es gab nur wenige Gespräche, die die Arzthelferinnen zu ihm ins Sprechzimmer durchstellten. Er entschuldigte sich bei Mildred und griff zum Hörer.

Noch bevor er einen Laut gehört hatte, wußte er, daß es sein Vater war.

»Jetzt ist es beschlossen«, sagte er mit einer zittrigen Stimme, die Thomas nicht an ihm kannte. »Man holt sie morgen um zehn.«

Er ertappte sich dabei, sich zuerst die Konsequenzen dieser Nachricht vorzustellen, bevor er dem Vater all sein Mitgefühl zeigte. Konnte er sich morgen freimachen? Hatte er viele Termine? Er schaltete den PC ein, während er sprach. Er mußte bei der Mutter sein an ihrem ersten Tag im Pflegeheim. Es wurde von ihm erwartet, daß er in dieser Situation die Verantwortung übernahm, außerdem war er Arzt.

»Jetzt wird es ernst, mein Junge!« Der Vater schrie es fast in den Hörer.

»Ich weiß, Vater. Ich weiß, wie schlimm das für euch sein muß.«

»Das ist für uns alle schlimm, Thomas.«

Er hörte, wie der Vater versuchte, sich zusammenzunehmen, sicher weil die Mutter im Stuhl direkt neben ihm saß, so wie sie seit inzwischen fünf Jahren in diesem Zimmer gesessen hatten, das Wohnstube und Küche gleichzeitig war, nur unterbrochen vom Pflegedienst, der drei- bis viermal täglich kam und beiden ins Bad half, zur Toilette oder zum Waschen. In der übrigen Zeit trugen sie Windeln, und das Doppelbett war vom Schlafzimmer im oberen Stock nach unten gebracht worden, damit ihnen das Treppensteigen erspart blieb.

Thomas Brenner merkte, daß Mildred unruhig wurde, sie schien zu erraten, worum es ging, und wollte sich verabschieden. Wahrscheinlich hörte sie die laute Stimme des Vaters am Telefon.

Er bat sie mit einer Handbewegung zu bleiben. Es wäre unhöflich gewesen, sie nach dem, was sie erzählt hatte, einfach gehen zu lassen. Dieser Ausnahmezustand war längst kein Ausnahmezustand mehr. In all diesen Jahren hatte sein Vater angerufen und in den Hörer gebrüllt, so als befürchtete er, der Sohn sei genauso schwerhörig, wie er selbst und seine Frau es geworden waren. Er hatte gebrüllt wegen Glühbirnen, die kaputt waren, Schneelawinen, die vom Dach rutschten, dem Pflegedienst, der unfreundlich gewesen war, Windeln, die ausliefen, aber meistens, weil die Mutter gestürzt war. Fast jede Woche war sie einmal gestürzt, aber offensichtlich hatte sie eine besondere Art, zu fallen, denn erst in diesem Jahr hatte sie sich etwas gebrochen, zuerst den Arm, dann das Handgelenk, aber zum Glück nicht den Oberschenkelhals oder einen Knöchel. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann machte sie von alldem kaum ein Aufhebens.

Gordon Brenner dagegen, Vater von Thomas und früher einmal Bauunternehmer, machte Aufhebens für zwei, und das bedeutete eine doppelte Dosis an Ängstlichkeit und Erregung, und einige Zeit hatte er die Nase so voll von den beiden, daß er nicht mehr wußte, was er machen sollte. Denn diese Vorfälle wiederholten sich regelmäßig, und Thomas wurde zeitweise jeden zweiten Nachmittag gerufen, um zu helfen, den Fernseher instand zu setzen, eine bessere Antenne für das Radio zu organisieren oder einzukaufen: Büroklammern, Briefmarken, Windeln, Papiertaschentücher, Aftershave, Malstifte, Manschettenknöpfe, den besonders feinen Fischpudding vom Feinkostladen, die Koteletts bei Ström-Larsen oder das gute Walnußbrot in der kleinen Bäckerei, das seine Mutter Bergljot Brenner so liebte. Es war, als würde durch die Regelmäßigkeit sein Mitgefühl abkühlen, seine Empathie verschwinden.

Und es hatte ihn im vergangenen Jahr besonders irritiert, daß die Empathie für seine Töchter stieg, je mehr die Probleme mit den Alten zunahmen.

Für seine Kinder war er bereit, egal was zu tun, wenn damit für sie ein Hauch von Glück verbunden war, das beide zu verlieren drohten, falls sie es jemals gehabt hatten. Kein Opfer war zu groß. Aber seinen eigenen Eltern gegenüber zeigte er nicht diese Fürsorge.

Und deshalb schämte er sich, denn bei Elisabeth war es umgekehrt. Sie machte oft den Töchtern gegenüber einen sehr distanzierten Eindruck, gerade wenn die sie am meisten brauchten, aber für ihre Eltern opferte sie sich völlig auf. Keine Forderung war ihr zu groß. Und das Ehepaar Dahl war inzwischen genauso pflegebedürftig geworden wie das Ehepaar Brenner. Manchmal sagte er im Spaß, daß sie wie eine eigene Pflegestation seien, daß sie eigentlich auch seine Eltern ins Dahl-Haus bringen und im Dagaliveien ein Pflegeheim einrichten könnten, aber für diese Art von Spaß hatte Elisabeth keinen Sinn. Jedesmal, wenn er derartige verbale Ausrutscher losließ, wurde sie wütend, und so hatte er damit aufgehört. Sie wohnten schließlich im selben Haus, das Ehepaar Tulla und Kaare Dahl idiotischerweise im oberen Stockwerk und Elisabeth mit ihrer Familie im Erdgeschoß. Mehrmals hatte Thomas vorgeschlagen, die Stockwerke doch zu tauschen, aber das kam nicht in Frage, auch nicht für Elisabeth, die immer auf der Seite ihrer Eltern stand, ohne daß er wußte, ob das wirklich so war oder ob sie von den Verpflichtungen und Zwangsvorstellungen überfordert war. Der frühere Immobilienmakler Kaare Dahl mußte einfach eine Aussicht haben hinüber zu dem Ort, den er für Drøbak hielt, auch wenn es Nesoddtangen war. Dort, am großen Fenster der Bibliothek, würde er bis zu seinem Todestag sitzen.

Und obwohl Tulla, früher Stewardeß bei der SAS und Thomas’ Lieblingsschwiegermutter, wie er gerne scherzte, durchaus offen war für praktische Lösungen und möglicherweise auch das Stockwerk mit der Tochter getauscht hätte, kam es nie soweit. Außerdem hatte auch sie die Aussicht geliebt, solange Fornebu noch der Hauptflughafen Oslos war. Sie hatte ein beinahe sentimentales Verhältnis zu landenden oder startenden Flugzeugen.

Es war, als würden sie ihr Alter nicht wahrhaben wollen, ihre physischen Schwächen und ihre Unselbständigkeit, als würden sie nicht merken, daß sie der Tochter immer mehr aufbürdeten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum Elisabeth ihren Posten bei Telenor gekündigt hatte. Und wenn sie sich Gedanken machten, dann lag für sie der Grund, daß ihre Tochter den Arbeitsplatz aufgegeben hatte eher bei den jämmerlichen Töchtern, die nie erwachsen wurden.

Thomas Brenner hörte seinen Vater an und versuchte, ihn zu beruhigen, dabei war es ihm sehr unangenehm, daß Mildred Låtefoss in diesen intimen Bereich hineingezogen wurde. Aber sie wirkte völlig solidarisch mit ihm, und kaum hatte er den Hörer aufgelegt, nicht ohne zu versichern, daß er am morgigen Tag zur Stelle sein werde, wenn der Krankentransport zu dem verrückt großen Haus im Holmenkollnveien komme, sagte sie:

»Derartige Situationen kenne ich leider. Aber darüber wollen wir jetzt sicher nicht reden?«

»Nein, vielleicht nicht«, sagte Thomas Brenner verlegen. »War das mit der Jahresabschlußfeier alles, was du wolltest?«

Sie lächelte. »Ja. Keine nennenswerten Beschwerden, die deiner Hilfe bedürften. Im Moment.«

Du meine Güte, der Knoten, fiel ihm plötzlich ein. Elisabeths Knoten. Das war es, was im Unterbewußtsein nagte und diesen Tag so trüb machte.

»Wie geht es denn dir, Thomas?« sagte Mildred Låtefoss Minuten später an der Tür seines Sprechzimmers und er spürte, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. »Du siehst schlecht aus.« Sie nahm seine Hände auf eine intime Art, die er in diesem Moment gar nicht ertrug. Wie eine Lehrerin die Hände ihres Schülers nimmt, um mit ihm ein ernstes Wort zu sprechen oder ihn zu trösten.

Und er konnte ihr schließlich nicht erzählen, daß er gerade Herzrhythmusstörungen hatte, das wäre für sie ein willkommener Anlaß, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen, und das wollte er absolut nicht. Dabei war ihm klar, daß er im Ernstfall zu ihr gehen würde, und erst heute hatte er daran gedacht, jedenfalls im Unterbewußtsein, daß der Ernstfall da war, daß vielleicht keiner von ihnen mehr gesund war, daß Elisabeth einen Knoten in der Brust hatte und er selbst unter Herzflimmern litt, daß sich bei beiden in diesem Herbst das Alter bemerkbar machte, daß das nur der Anfang war für all die Schmach, die noch kommen würde, die Einschränkung der Möglichkeiten, der langsame Tod, wie er sich sowohl bei den Eltern wie den Schwiegereltern vor seinen Augen abspielte, und dabei waren sie noch keine sechzig, weder Elisabeth noch er.

Wahrscheinlich war der Knoten völlig harmlos. Trotzdem sollte das untersucht werden. Als Arzt würde er sie auf der Stelle zum Spezialisten schicken. Aber sie wollte ihn ja nicht als ihren Arzt. So sind wir nun mal, dachte er. Mit Prinzipien und Zwangsvorstellungen, die uns am Ende direkt in den Tod treiben.

»Ich bin losgeworden, was ich sagen wollte«, sagte Mildred Låtefoss und küßte ihn auf die Wange, nahe beim Mund, dreist und entwaffnend zugleich. Das hatte sie viele Jahre nicht mehr getan, und er errötete verlegen.

»Und du?« sagte er erzürnt und überrumpelt. »Ich habe gar nicht gefragt, wie es dir geht?«

»Ich bin dabei, mich scheiden zu lassen«, sagte sie. »Darüber können wir ein andermal reden, bei einem Glas Wein.«

Aber er wollte mit Mildred Låtefoss keinen Wein trinken. Er hatte für sie keinen Platz in seinem Leben. Hatte das nie gehabt. Und es erschreckte ihn, daß sie plötzlich wieder da war, ihn mit einem Verdienstorden und einer Scheidung an sich binden wollte, egal wie taktvoll und selbstlos sie auftrat. Dieser Gedanke erzürnte ihn noch mehr. Sie hatte einen Plan. Sie mußte gewußt haben, sowohl intuitiv wie aus Erfahrung, daß er nicht so ohne weiteres für Annäherungen empfänglich war. Aber nun hatte sie ihn in ihr Netz verstrickt, und dieser idiotische Einfall mit der Auszeichnung war sicher von Anfang an nur ihre Idee, und dann hatte sie die ahnungslosen Kollegen auf ihre Seite gezogen.

»Wer von euch geht?« sagte er plötzlich, fast wütend auf sich, weil er das wissen wollte.

»Ich natürlich«, sagte sie. Als sei es völlig klar, daß kein Mann von Mildred Låtefoss weggeht. Ihr Blick war hart und intensiv. Sie betonte eine Wahrheit. »Die Kinder sind aus dem Haus, und Kurt Ove und ich, wir sind fertig miteinander. Das versteht jeder, der uns näher kennt.«

»Und ist er verzweifelt?« fragte Thomas Brenner leise.

Sie nickte und öffnete die Tür zum Wartezimmer, um weitere Kommentare zu vermeiden. »Ja, er ist verzweifelt.«

Er ließ es dabei bewenden. Kurt Ove, dieser nette und immer so wohlmeinende Jasager von einem Mann, einer der führenden Krebsforscher des Landes, was sollte aus ihm werden? Sein Unwohlsein verstärkte sich. Thomas Brenner konnte verstehen, daß sich jüngere Menschen trennten, aber wenn man bald sechzig war? Warum ist ihnen das nicht früher eingefallen? Sind sie nur der Kinder wegen zusammengeblieben? Wirklich? Wie war in diesem Fall die Stimmung am Abend, wenn die Kinder im Bett waren? Gab es keine Gemeinsamkeit? Saßen sie dann nur da, trommelten mit den Fingern, lasen jeder in seinem Buch und tranken Rotwein, um die Spannung zu verringern? Wenn eine solche Wohlstandsfamilie wie Mildred und Kurt Ove es nicht schaffte, zusammenzubleiben, wer dann?

Thomas Brenner schauderte es bei dem Gedanken, dasselbe könnte ihm widerfahren, daß Elisabeth ihm eines Tages eröffnen würde, ihrer Wege gehen zu wollen, oder umgekehrt, ihn aus dem Haus werfen würde, denn es war schließlich das Haus der Dahls. Er würde damit nicht zurechtkommen. Sich provisorisch eine Wohnung in einem Häuserblock mieten, mit Elisabeth telefonieren, die Töchter im Restaurant treffen, ihnen etwas zu erklären versuchen, was nicht zu erklären war. Das durfte nie passieren.

Er stand mit seiner alten Schulfreundin in der Tür. Für ihn war das Sprechzimmer immer so etwas wie ein sicherer Ort, an dem nichts geschehen konnte.

Hier drinnen war nichts gefährlich, weil man darüber reden konnte. In diesem Zimmer würde buchstäblich niemand sterben. Einige würden sehr ernste Diagnosen bekommen, aber hier drinnen ließ sich alles ordnen, jedenfalls vorläufig, solange er hinter dem Schreibtisch saß, den weißen Arztkittel anhatte mit Blutdruckmesser und Stetoskop in Reichweite. Er war ja wie ein Psychologe, dachte er oft, wenn ihm die Fachärzte Informationen schickten, MR-Resultate, Biopsien oder Röntgenbilder. Die medizinische Wissenschaft war zu kompliziert geworden, um immer auf dem neuesten Stand zu sein. Seine wichtigste Aufgabe war es, Autorität zu zeigen, so zu tun, als wüßte er Bescheid über das, was er sagte, über die Vielzahl von Medikamenten und Behandlungsmethoden, um dann mitfühlend und vertrauenerweckend über den Spezialisten zu reden, mit dem der Patient bald in engen Kontakt kommen würde, damit der Patient das Gefühl von Hoffnung hatte. Er wollte noch eine abschließende Bemerkung machen, spürte aber die Blicke von allen, die im Wartezimmer saßen und ungeduldig wurden.

»Wir bleiben in Verbindung«, sagte Mildred Låtefoss vielsagend.

»Natürlich«, sagte Thomas Brenner und rief eine alte, gebeugte Frau herein, die ihren Nerz bereits angezogen hatte, verfroren wie sie sicher war. Er konnte ihren langsamen Blutkreislauf förmlich sehen unter der totenblassen Haut.

Als er eine gute Stunde später die Praxis schloß, rief er Elisabeth an. Allein ihre Stimme zu hören war eine Erleichterung. Das Herz schlug schon nach dem ersten Satz wieder im Sinusryhthmus.

»Du klingst erschöpft«, sagte sie.

»Die Verlegung erfolgt morgen. Um zehn Uhr. Ich muß sie natürlich begleiten.«

»Ich komme auch mit«, sagte sie. »Obwohl, es geht nicht. Ich muß Mama zum Friseur begleiten.«

Sie sagte Mama und Papa. Er beneidete sie deswegen. »Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Dann wird daraus keine Staatsaffäre, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Wie hat er darauf reagiert?«

»Er schrie wie gewöhnlich. Ich glaube, er ist völlig außer sich. Im tiefsten Innern hofft er sicher, daß es nur vorübergehend ist.«

Elisabeth hörte ihm zu. Sie merkte sicher an seiner Stimme, daß da noch etwas war, dachte er. Er erzählte von Mildred Låtefoss, daß sie sich scheiden lassen wolle, erwähnte aber nichts von dem Verdienstorden. Elisabeth schien überrascht. »Die auch?« sagte sie.

»Wer denn noch?«

»Erinnerst du dich nicht an meine ehemalige Kollegin Merete? Sie war für Sibirien zuständig. Sie hat letztes Jahr Mann und Kinder verlassen, und sie ist schon weit über Sechzig.«

»Darüber müssen wir noch reden«, sagte Thomas Brenner und sehnte sich danach, sie zu sehen, wie immer um diese Tageszeit. All die Jahre, abgesehen von der Zeit, in der sie im Ausland arbeitete, war er daran gewöhnt, sie als täglichen Gesprächspartner zu haben. Sie hatte das ganze Leben die Autorität behalten, die darin bestand, zwei Jahre älter zu sein als er, was besonders deutlich war, als sie noch beide aufs Gymnasium gingen.

»Wollen wir essen gehen?« schlug er vor.

»Meinetwegen gerne«, sagte sie. »Wir müssen ohnehin heute abend Lines Auftritt im Tanzinstitut anschauen.«

»Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen. Und was ist mit Annika?«

»Ich kann sie fragen.«

Er ertappte sich dabei, zu hoffen, daß sie nicht mitwollte, obwohl sie immer willkommen war. Aber er wußte, daß der Zustand der Unselbständigkeit, in dem sich Annika eingerichtet hatte, seit sie vor nun sieben Jahren das Abitur gemacht hatte, Elisabeth auf die Nerven ging.

Er wußte selber nicht, was er davon halten sollte. Viele seiner Kollegen befanden sich in einer ähnlichen Situation. Die Kinder wurden einfach nicht erwachsen. Sie wohnten noch zu Hause bei ihren Eltern, nachdem sie längst mit Schule und Studium fertig waren, und mußten versorgt werden, weil sie es nicht schafften oder wollten, einen Beruf zu finden. Annika hatte sich, genauso wie ihre jüngere Schwester Line, nach dem Gymnasium nicht entscheiden können, was sie werden wollte.

Zuerst war sie ein Jahr weggegangen, hatte eine weiterbildende Internatsschule besucht. Aber sie war danach noch unentschlossener als vorher, und sowohl Elisabeth wie Thomas hatten den Verdacht, daß sie mit Alkohol und vielleicht auch mit Drogen in Kontakt gekommen war. Sie hatte in diesem Jahr beträchtlich zugenommen, und nachdem sie sich keine eigene Wohnung gesucht hatte, weil das Geld fehlte und sie keinen passenden Ferienjob fand, blieb sie zu Hause wohnen, das Dahl-Haus war nun mal ebenso verrückt groß wie das Brenner-Haus. Und seitdem waren sechs Jahre vergangen.

Es kam vor, daß er versuchte, mit ihr zu reden, vor allem, weil sie ihm leid tat, aber mehr als Tränen brachten diese Gespräche nie, und Annikas Weinen hatte er noch nie ausgehalten, nicht einmal, als sie klein war. Vielleicht hat sie deshalb ein Gewichtsproblem, dachte er, weil er sie beim kleinsten Anlaß immer mit Süßigkeiten vollgestopft hatte.

Sie hatte es nicht geschafft, sich einen Freund zuzulegen. Und dabei war sie in der Schulzeit sehr souverän aufgetreten, war führend in der Clique und eindeutig der Publikumsliebling in einer Schulaufführung. Ihre Parodie auf übervorsichtige Eltern war schon beinahe beleidigend gewesen. Elisabeth und Thomas hatten sich auf peinliche Weise in ihrer grundlosen Ängstlichkeit angesprochen gefühlt.

Auf den stürmischen Applaus hatte sie mit souveräner Selbstsicherheit reagiert. Damals waren sie völlig davon überzeugt gewesen, daß die Tochter ihren Weg machen würde, in der Industrie oder auf der Wirtschaftshochschule, so wie viele ihrer Freunde und Freundinnen. Statt dessen entschied sie sich für diese Internatsschule ganz oben in Nordnorwegen, und Thomas hegte lange den Verdacht, daß das etwas mit Stian zu tun hatte, diesem eigenwilligen Jungen aus dem Ankerveien, für den Annika offensichtlich geschwärmt hatte, ohne daß dieses Interesse von seiner Seite erwidert wurde.

Trotzdem war sie diesem Stian in den hohen Norden gefolgt. Für ihn, der Oslo und das bürgerliche Milieu mit teurer Wohnlage am Holmenkollen hinter sich lassen wollte, war das sicher nicht erfreulich. Stian hatte das Jahr auf den Lofoten dazu genutzt, draußen in der Natur zu leben – Angeln auf dem Meer, Bergsteigen –, anschließend hatte er Teile des Inlandeises in Grönland bezwungen und hohe Gipfel in Südamerika bestiegen.

Annika ihrerseits hatte sich nach ihrer Heimkehr für eine Lehrstelle bei einer Silberschmiedin unten am Akerselven beworben und sie bekommen. Aber da verdiente sie nichts. Sie, das heißt Thomas und Elisabeth, mußten dafür bezahlen, daß Annika eine Lehre machen durfte bei dieser unablässig Tee und Rotwein trinkenden Frau, Prototyp einer alternden Kunsthandwerkerin aus den siebziger Jahren, mit polnischen Postern an den Wänden ihres Zimmers im Künstlerkollektiv.

Sie kümmerte sich um Annika, so gut sie konnte, aber Annika hatte keinen Antrieb mehr, was Elisabeth und Thomas schmerzlich feststellten. Besonders nachts dachten sie voller Sorge an die Tochter, wenn sie, statt zu schlafen, in ihrem Kinderzimmer leise Rockmusik spielte und der Rauch ihrer Zigaretten durch den Türspalt drang.

Sie hatte zweifellos einen Knacks bekommen, aber egal wie sehr die Eltern auf ihre behutsame Weise fragten und bohrten, blieb ihnen unverständlich, warum Annika so gar keine Anstalten machte, selbständig zu werden. Daß dann letztlich die Sache unter den Teppich gekehrt wurde, war auch Elisabeths Schuld, weil sie Annikas schwierige Situation vor den Großeltern vertuschen wollte. Sie hatten ihr Enkelkind immer geliebt und nicht einmal bemerkt, wie übergewichtig es geworden war. Großmutter Tulla jedenfalls steckte der Enkeltochter jedesmal, wenn sie sich im oberen Stockwerk zeigte, selbstgebackene Kokosmakronen in den Mund. Und es waren nicht nur die Süßigkeiten. Elisabeth und Thomas hatten schon bald gemerkt, daß Annika häufig zweimal aß, zuerst mit den Großeltern, danach unten in ihrer Wohnung. Die Alten aßen immer nachmittags, während Elisabeth und Thomas spät aßen, weil Thomas es nie schaffte, vor fünf die Praxis zu schließen. Und diese Mahlzeiten waren meist lang und ausgiebig, waren die schönste Zeit des Tages. Sogar Line, in dieser Zeit als Teenager ständig abgelenkt, nahm gerne an diesen Essen teil.

Ja, dachte Thomas, das war viele Jahre eine unbeschwerte Gemeinsamkeit, wenn auch von Sorgen und schlaflosen Nächten begleitet. Deshalb überraschte es ihn, daß er diesmal nicht automatisch wollte, daß Annika im Restaurant mit dabei war, und ein starkes Schuldgefühl überschattete den ursprünglichen Wunsch.

»Natürlich ist es besonders nett, wenn Annika mitkommt«, sagte er. Aber Elisabeth wußte, daß er es anders meinte, so gut kannte sie seine Stimme.

»Da ist noch etwas anderes, was dich quält«, sagte sie. »Ich höre es.«

»Mir graut einfach vor morgen«, sagte er. Das entsprach der Wahrheit. Ihm graute ungeheuer davor, seine eigene Mutter begleiten zu müssen, vielleicht zum letzten Mal, hinaus aus dem Brenner-Haus, dazu das laute, verzweifelte Schreien des Vaters, Schreien, für das es keinen Trost gab, das die Sache für alle nur schlimmer machen würde, aber so gnadenlos war das Alter, das wußte er mittlerweile, zu oft hatte er solche Verlegungen mitgemacht und Patienten aus allen Stadtteilen begleitet, weil er ein beliebter Hausarzt war. Ein Pflegeheim war und blieb das Vorzimmer zum Tod und deshalb erschreckend, egal wie lange oder kurz man dort sein mußte.

Herrgott, dachte er, es gab Patienten, die über fünfzehn Jahre im Pflegeheim verbrachten. Sie starben nie, am Leben erhalten von blutverdünnenden Mitteln und Herztabletten. Der Körper siechte dahin, aber das Herz schlug trotzdem, und auch wenn die Erinnerung verschwunden war, so verschwanden nicht die Unruhe und die Angst, das rastlose Wandern von Zimmer zu Zimmer in der Hoffnung, Frieden zu finden, ein Zuhause finden, einen Menschen finden, einen Jesus oder einen Gott, der trösten konnte und alles erklären.

Aber es war ja nicht nur diese Sorge, dachte Thomas Brenner. Es war auch die plötzliche Angst um Elisabeth, und vielleicht war es vor allem deshalb, daß er mit ihr allein sein wollte, herausfinden, was sie dachte, ihr vielleicht etwas entlocken über Gesundheitsvorsorge, sie wie nebenbei fragen, ob sie zur Mammographie ginge.

Er könnte auf neue Erkenntnisse verweisen, dafür oder dagegen, fragen, was sie dazu meinte. Ach, wie schwierig war es doch, offen mit seinen Nächsten zu reden. Nie hatten sie Annika gesagt, was sie eigentlich dachten, wie besorgt sie waren. Die Parodie auf unachtsame Eltern, in der Annika und ein anderer Junge aus der Klasse eine Klassenkameradin auf eine gedachte Eisfläche stießen und gleich danach das Eis fegten, auf dem die Freundin wie eine um sich selbst kreisende, hilflose Krähe flatterte, diese Parodie war Wirklichkeit geworden.

Inzwischen war Annika eine um sich selbst kreisende, hilflose Krähe geworden, egal wie cool sie sich gebärdete. Und sowohl Elisabeth wie Thomas ließen sie diese Rolle spielen, so wie sie es am liebsten wollte oder mußte. Sie hatte das Leben besessen und wieder verloren, ebenso wie die Alten im Dahl- und im Brenner-Haus es besessen hatten und dabei waren, es zu verlieren, ebenso wie Kurt Ove es definitiv verloren hatte. Aber sie alle hatten immer noch materiellen Wohlstand.

Elisabeth war die erste, die das erkannt hatte, als sie aus Baku zurückkam, wie irrsinnig privilegiert sie alle waren, jeder im eigenen Haus, im eigenen Zimmer, an der Spitze der Geldpyramide, unfähig, diesen Wohlstand anders als für sich selbst zu benutzen.

Und sie war es dann, die alle mit dem Buddhismus irritiert hat. Aber als es mit Annika ernst wurde, hatte die buddhistische Botschaft eine tiefere Bedeutung bekommen, kreiste um den Begriff der Achtsamkeit. Den führte sie einige Wochen lang im Mund, mit abwesendem Blick. Elisabeth war eigentlich nie unaufmerksamer gewesen als in dieser Zeit, hänselte er sie, denn sie hatte das Essen anbrennen lassen und vergessen, den Wecker zu stellen, völlig gefangen in ihrer Achtsamkeit. Sie hatte bewußt sein wollen, immer im Augenblick, ohne zu urteilen. Und dieses letzte – nicht zu urteilen – war ihr besonders wichtig gewesen. So hatte sie sein wollen, zu Thomas, zu den Mädchen und zu ihren Eltern. Sie lief herum mit abwesendem Blick, versunken in der Meditation, erklärte aber allen, sie sei ganz im Hier und Jetzt. Übte Achtsamkeit.

Und allmählich begriff Thomas, daß sie es ernst meinte, daß der abwesende Blick gar nicht so abwesend war, daß sich das, was sie tat, auf die Familie auswirkte. Nach einigen Wochen strahlte sie tatsächlich eine neue Art von Ruhe aus. Sie löste alle Schwierigkeiten mit Annika und später mit Line viel besser als er. Sie war ganz einfach viel achtsamer, ohne Meinungen und Vorurteile. Und zu dieser Zeit kündigte sie ihren Job.

Ihre Begründung waren Konflikte mit Telenor, aber Thomas wußte sofort, daß es ihr darum ging, für ihre Eltern und für Annika und Line in wirklich verantwortlicher Weise dazusein. Sie wollte sich um keine Karriere mehr kümmern, mußte kein hochgestecktes Ziel verfolgen. Sie hatte einfach genug davon, ständig unterwegs zu sein, sicher auch deshalb, weil ihr mehr und mehr klar wurde, daß viele der Länder, in denen sie sich für den Aufbau eines Mobilfunknetzes engagiert hatte, nie in der Lage sein würden, die trostlosen Lebensumstände ihrer Bewohner zu ändern. Sie hatte den Menschen im Kaukasus, in den einsamen Dörfern, in der Metropole Moskau etwas geben wollen.