Die Welt, die meine war - Ketil Bjørnstad - E-Book

Die Welt, die meine war E-Book

Ketil Bjornstad

0,0

Beschreibung

Der dritte Band in Ketil Bjørnstads autobiografischer Chronik unserer jüngsten Vergangenheit handelt von den Jahren der Yuppie-Ära und den verschwundenen Idealen der Rebellion. Bjørnstad beschreibt seine ersten Schritte zu späterem Weltruhm und schildert die europäische und norwegische Musikszene der 80er-Jahre. Doch Unfälle, Attentate und Vorfälle im eigenen Leben des Autors bereiten ihm persönliche Probleme, sowohl in Bezug auf seinen Körper, seine künstlerische Arbeit als auch auf die Menschen um ihn herum. Hin- und hergerissen zwischen dem beschaulichen Leben auf einer Insel im Oslofjord und dem hektischen Alltag in der Hauptstadt und an anderen Orten, muss Bjørnstad immer wieder um seinen künstlerischen Ausdruck, aber auch um die großen Linien in seinem Privatleben ringen. Neue Bekanntschaften und alte Freundschaften erweitern den Horizont des Menschen und Künstlers Bjørnstad. Und nicht selten kommt es dabei zu überraschenden und amüsanten Begegnungen mit weltberühmten Stars wie etwa Elton John und Paul Simon oder dem ECM-Produzenten Manfred Eicher. Im Herbst 1983 steht die Welt erneut am Rande eines Atomkriegs. Im folgenden Jahr wird Ministerialrat Arne Treholt festgenommen und der Spionage angeklagt. Bjørnstads Interesse an dem Fall und sein Engagement für eine faire Behandlung des Politikers hat nach und nach Konsequenzen für sein eigenes Leben. Verrat, Lüge und Untreue werden zu zentralen Elementen einer Geschichte, an deren Ende ein historisches Ereignis steht: der Fall der Berliner Mauer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ketil Bjørnstad

DIE WELT,DIE MEINE WAR

Die achtziger Jahre

Roman

Aus dem Norwegischen vonAndreas Brunstermann, Gabriele Haefs,Kerstin Reimersund Nils Hinnerk Schulz

Titel der norwegischen Originalausgabe:

VERDEN SOM VAR MIN.

Band III. Ảttitallet

© Ketil Bjørnstad

First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, 2017

Published in agreement with Oslo Literary Agency.

Die Arbeit der Übersetzer/Übersetzerinnen wurde im Rahmen desProgramms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierungfür Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Der Verlag dankt NORLA, Norwegian Literature Abroad, für die großzügige Förderung der Übersetzung.

Erste Auflage 2022© Osburg Verlag Hamburg 2022www.osburgverlag.deAlle Rechte vorbehalten,insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)Korrektorat: Mandy Kirchner, WeidaUmschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, HamburgSatz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

ISBN 978-3-95510-273-9

eISBN 978-3-95510-282-1

Inhalt

1980

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1981

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1982

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

1983

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

1984

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

1985

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

1986

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

1987

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

1988

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

1989

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Zitatnachweis

1980

1.

Er sitzt in dem kleinen Arbeitszimmer im ersten Stock am Arbeitstisch vor der Schreibmaschine und starrt über die Baumwipfel. Das Meer liegt blaugrau auf der Außenseite der Insel. Ein Dienstag im Januar. Der Schnee auf dem Boden wird unter den schweren Wolken dunkel. Obwohl er erst am Vortag über Bäume, Felskuppen und Ackerflächen gefallen ist, wirkt er bereits schmutzig. Zwischen dem Nachbarhaus und dem Haus, in dem er zusammen mit der Anderen wohnt, entdeckt er einen riesigen zerzausten Brocken von rotem Kater. Das ist Adonis, der Schrecken von Sandøya, das Herzenskind von Hans Petter auf Hauketangen. Nun weiß er, dass die Nachbarskatze Kajsa läufig ist. Er sieht sie aus einem Spalt unter dem Haus von Tore und dessen Freundin hervorkommen. Die schwarzweiße Katze wird jetzt alt, sie wittert in allen Gerüchen, die der Wind mit sich bringt, fährt zusammen beim Anblick ihres langjährigen Liebhabers, mit dem sie mehrere Kinder hat. Er ist gerührt vom erschöpften Zug in ihrem Gesicht.

Er öffnet das Fenster, denkt, er könne irgendetwas hinauswerfen, wenn es da unten auf dem Hof zu einer gar zu argen Rauferei käme. Adonis und Kajsa knurren beide warnend, starren zur Seite, als seien sie mit etwas ganz anderem beschäftigt als dem Gegenüber. Aber die Zeit ist knapp. Jetzt kann er das Geheul aller anderen Kater hören, die zwischen Sträuchern und Unterholz hervorkommen und die Adonis bisher in respektvoller Nähe gefolgt sind. Bewahre, das sind wirklich viele. Ganz vorn sieht er Movitz, den Kater aus seinem eigenen Haus, schon seit Jahren sein Bettgesell, seit das Tier den großen Sprung von der Kiefer auf den Schlafzimmerbalkon gelernt hat. Ein Krach, jede einzelne Nacht, in der Regel genau dann, wenn er sich in den tiefsten Träumen aufhielt. Im Laufe der Zeit ist es fast zu einem lieben Ritual geworden. Im Halbschlaf aufstehen, die Balkontür öffnen und den Kater hereinlassen, die Pfoten spüren, die die Decke plattdrücken, sowie er sich wieder hingelegt hat. Movitz, der auf seinem Bauch herumtritt und dabei vor Freude schnurrt, ehe er sich mitten ins Bett legt und sich die Spuren der nächtlichen Eskapaden ableckt.

Er an seiner Schreibmaschine schafft es nicht, weiterzuschreiben. Er muss beobachten, was draußen passiert. Movitz ist wie immer hinter Adonis Nummer 2 in der Warteschlange. Aber während Movitz sich bisher in respektvoller Distanz gehalten hat, bohrt er diesmal seine Nase fast in den Schritt des furchterregenden Rivalen. Hinter Movitz steht der lächerliche Kater von Sannasvingen, der immer anfängt zu humpeln, wenn er merkt, dass er von Menschen beobachtet wird. Und hinter ihm kommt ein seltsamer Bursche, der von Østergården oder aus der Nähe stammen muss. Ein gerissener Knabe mit Schildpattmuster. Er ist so geil, dass er sich auf dem Boden wälzt. Es gehören noch drei weitere Kater zu diesem brünstigen Aufzug, aber das sind Verlierer oder Stümper, die hier bestenfalls den einen oder anderen Trick lernen können. In seiner Vorstellung war Adonis lange Zeit Sonny Liston, und Movitz war Floyd Patterson. Keiner von ihnen besitzt die Leichtigkeit Muhammad Alis. Diejenigen, die sich allen Ernstes eine Chance einräumen, es mit Kajsa zu treiben, sind bereit, sich gegenseitig die Eier abzubeißen. Und nun wird das Signal gegeben! Adonis hat es geschafft, Blickkontakt zu Kajsa aufzunehmen, aber just in dem Moment, als er sich aufbläst und einen schrillen Schrei ausstößt, springt Movitz von hinten auf ihn. Die beiden Körper verwandeln sich in einen knurrenden Ball, der den Hang hinab auf Tores Schreinerei zurollt. Sofort wittert der Hinkefuß Morgenluft und macht sich ohne Zögern über Kajsa her. Doch die erfahrene Katze windet sich aus seinem Griff und schlägt ihm die Krallen in die Visage. Der kleine Schurke jagt auf den Wald zu. Jetzt versucht der gerissene Knabe von Østergården sein Glück, aber Kajsa bleibt einfach ruhig sitzen und ignoriert ihn, wendet den Kopf den beiden zu, die unten vor der Schreinerei auf Leben und Tod kämpfen. Er, der an seiner Schreibmaschine sitzt und zuschaut, denkt voller Entsetzen an Movitzens bereits zerfressenen Kopf, an Wunden aus früheren Kämpfen, die nicht ganz verheilen wollen. Er war noch kein Jahr alt, als er von einem Fuchs gebissen wurde. Die Wunde begann zu eitern, und nach einigen Tagen fiel Movitz auf einer Seite das Fell aus. Dennoch stand er an der Tür, quengelte und wollte los zu neuen Abenteuern. Später bohrten sich die Krallen anderer Kater in seine Stirn, er hatte tiefe Bisswunden im Schritt. Er schien sich aus allem nichts zu machen. Als ob er den beiden Menschen im Haus an jedem einzelnen Tag dafür dankte, dass er nicht kastriert worden war.

Die Kater sind jetzt unter der Schreinerei verschwunden. Nun ertönt ein so herzzerreißendes Geheul, dass ein Mensch eingreifen muss. Er springt auf, stürzt die Treppe hinunter und hinaus auf den Hof. Dort sieht er Adonis, der in gestrecktem Galopp auf die Straße zujagt. Movitz bleibt verwirrt zurück und wirft seinem Futtermeister einen unschlüssigen Blick zu. Dann scheint der Kater begriffen zu haben, dass er gewonnen hat. Dass er jetzt die Nummer 1 ist. Mit ruhigen Schritten, aber mit einem vor Brunst bebenden Körper geht Movitz langsam den Hang hoch auf die eigene Mutter zu. Sie hat sich auf dem Weg zwischen den beiden Häusern in den Schnee gelegt. Sie erwartet ihren Sohn.

Der Diener des Katers zieht sich langsam zu seiner Haustür zurück. Wieder rieseln große Schneeflocken zu Boden. Bald werden auch die Taten und Untaten dieses Tages vergessen und verborgen sein.

Er bleibt auf der Treppe zum Arbeitszimmer stehen. Das war also die Welt der Katzen. In der Welt der Menschen ging es oft noch brutaler zu. Für Einzelne spielte es nicht einmal eine Rolle, ob das Gegenüber beim Sex lebendig oder tot war. Selbst mit einer Leiche zu vögeln, konnte seinen Zweck erfüllen.

2.

In seiner allerersten Erinnerung steht er auf der Treppe zu Hause im Melumvei, gleich vor der Haustür. Später wird er denken, dass das in den ersten Monaten des Jahres 1955 gewesen sein muss.

Es ist Frühling.

Er erinnert sich an Staub, an die letzten Schneereste. Er erinnert sich daran, dass er zu sich selbst gesagt hat: Jetzt bin ich drei Jahre alt.

Er erinnert sich an den Zaun und das rote Haus auf der anderen Straßenseite. Er erinnert sich an die Angst vor den beiden Jungen, die dort wohnten, und vor deren schwarzem Hund. Aber vor allem erinnert er sich an das Loch in der Treppe daheim. Es war so groß, dass ein Erwachsener eine Faust hineinstecken konnte. Er konnte mit beiden Füßen hineintreten, wenn er die Schuhe auszog.

Es war so erschreckend groß.

Wie war das Loch entstanden?

Er wagte nie, seine Eltern danach zu fragen. War es ein Meteorit gewesen? Eine Atombombe? Ein vom Himmel gestürzter Engel? Oder hatten sich die Eltern gestritten und Vater oder Mutter hatte mit dem Fuß aufgestampft, wieder und wieder, in gewaltigem Zorn?

Oder war er es selbst gewesen?

Dieser letzte Gedanke ist der erschreckendste. Das Gefühl, dass mit ihm vielleicht etwas Schwerwiegendes nicht stimmt, dass Gott ein Zeichen auf die Treppe vor der Haustür gesetzt hat, damit ER in alle Ewigkeit daran denkt, dass hier einer wohnte, mit dem etwas ganz und gar nicht stimmte.

Bis ihm dieser Gedanke gekommen war, hatte er sich des Lebens freuen können, ehe er groß genug wurde, um sich sagen zu können, er sei jetzt drei Jahre alt, er müsse versuchen, sich für den Rest seines Lebens an diesen Augenblick zu erinnern.

Jetzt, da der letzte Gedanke gedacht ist, hofft er, diesen Augenblick vergessen zu können. Der Wind in den Bäumen, der Gesang der Vögel, das Hupen eines Autos in der Ferne. Die Straßenbahn nach Lijordet, die an der Haltestelle Røa vorfährt.

Sich liebevoll zu erinnern. An alle, die da waren. Die ganze Zeit. Die versuchten, sich um mich zu kümmern. Die tiefe Dankbarkeit. Dafür, dass ich wirklich die Möglichkeit erhielt, dieses Leben zu leben. Aber die Erinnerung hat ihre eigene Dramaturgie. Wir erinnern uns an das, woran wir uns erinnern wollen. Das, was wir vermissen, und das, was wir nicht verdrängen können. Deshalb werden diese Bücher über die Vergangenheit als Romane geschrieben. Genau wie das Leben hat der Roman oft ein Leitmotiv und mehrere Nebenmotive. Und wie im Leben sucht unser Gedächtnis aus, welche Erinnerungen wesentlich sind und in Erinnerung bleiben und welche vergessen werden sollen.

So entsteht eine Dramaturgie, die einem Roman zum Verwechseln ähneln kann.

Nicht das Drama an sich sorgt für die Dramaturgie. In Madame Bovary ist das Fehlen von Ereignissen ebenso wichtig wie die Ereignisse selbst. Die Langeweile an sich ist eine der Voraussetzungen dieses Buches.

Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich oft am besten an das Ereignislose: vor dem Haus im Melumvei in Røa auf einer Treppe zu sitzen.

Zumeist war ich glücklich und ahnungslos. Aber ich weiß auch noch, dass ich Unbehagen verspürte.

Meine erste bewusste Erinnerung: dass ich mich fürchtete, vor dem Leben und vor allem, was vor mir lag.

3.

Am 13. Januar 1980 landet das erste F-16-Jagdflugzeug der norwegischen Luftwaffe auf dem Flugplatz Rygge bei Moss. 71 weitere werden folgen. Sie sollen Norwegen gegen die Feinde im Osten verteidigen, gegen den großen Bären Sowjetunion. Sie sollen der Schild der NATO in der Luft sein, bereit, im Notfall ihre Bomben überall auf Europa abzuwerfen. Und später auch viel weiter weg, zum Beispiel über Afghanistan und Libyen.

Major Steinar Berg sitzt im Cockpit. Er ist 950 Stundenkilometer geflogen und hat für die Strecke von Amsterdam hierher siebzig Minuten gebraucht.

Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg ist noch besserer Laune als sonst.

Der Nebel legt sich über große Teile Südnorwegens, Dänemarks und Südschwedens. Auf Sandøya lauschen wir der Stille. Nichts ist so still wie Nebel. In Västra Götalands län, zwischen Tjörn und Stenungsund, ist der norwegische Massengutfrachter Star Clipper unterwegs zur Almöbro, der größten der drei Brücken, welche die Insel Tjörn mit dem Festland verbinden. Die Brücke ist im Nebel nicht zu sehen, aber auf dem Schiff erkennt man sie deutlich im Radar.

Dann zerbricht das Steuerruder des Schiffes.

Der Steuermann kann keinen richtigen Kurs mehr zu der Schrägkabelbrücke halten, die eine Segelhöhe von 43 Metern gestattet. Es geht auf halb zwei am 18. Januar 1980. Die Star Clipper hält genau auf den einen Brückenpfeiler zu. Bei dem Zusammenstoß brechen die tragenden Rohrbögen ein. Der Mittelteil der Brücke ist nicht mehr vorhanden. Große Mengen Beton und Armierung stürzen auf das Schiff, aber niemand von der Mannschaft kommt ums Leben. Nach und nach fahren aus beiden Richtungen bei dichtem Nebel Autos auf die Brücke. Sie können nicht sehen, dass die Mitte der Brücke nicht mehr existiert. Die Autos fallen über den Rand und verschwinden im eiskalten Wasser.

Die Mannschaft auf der in Liberia registrierten Star Clipper der Fred. Olsen-Reederei lässt Notraketen steigen, um die Autofahrer zu warnen, aber das hilft nichts.

Acht Menschen kommen ums Leben.

Erst drei Tage später werden die Wagen auf dem Meeresboden gefunden.

Nachts liegt er wach. Er denkt an die Autofahrer, was sie empfanden in den letzten Sekunden ihres Lebens, ehe der Tod plötzlich kam. Die banalste aller Fragen. Ja, was hast du empfunden? Die Meeresoberfläche, die sich näherte. Das Unbegreifliche an dem Sturz. Die Brücke, über die sie so oft gefahren waren und die plötzlich nicht mehr vorhanden war. Konnten sie noch denken, dass sie sterben würden? Und der liebe Onkel Odd, der ihnen allen so viel bedeutete. Wusste es der Onkel, als der Schlag kam? Bei der Beerdigung sah er im Gesicht des Vaters Trauer und Verzweiflung, wie er sie noch nie gesehen hatte. In all den Jahren danach hatte er versucht, dieses Weinen zu verdrängen. Er hatte sich gesagt, dass der Vater nur zweimal geweint hatte: einmal, nachdem er sich mit der Mutter gestritten hatte auf dem Weg zu einer Hütte bei Hallingskarvet, das andere Mal beim Tod der Mutter, viele Jahre später.

Aber während er schreibt, denkt er plötzlich: Nie hat der Vater so hilflos geweint wie nach Onkel Odds Tod. Hatte er das verdrängt, weil der Vater damit eine andere Seite seiner selbst gezeigt hatte? Im selben Moment erinnert er sich an andere Augenblicke, in denen der Vater geweint hatte. Was ging in seinem Kopf vor? Wie sortierte er die Erinnerungen? Wovor hatte er sich beschützen wollen?

Die Gewissheit des Todes. Er fragt sich, wie stark er wohl selbst sein wird an dem Tag oder in der Nacht, wenn es geschieht. Die 175 Menschen in der Stierkampfarena in Bogotà erhielten auch keine Vorwarnung. Die Tribüne unter ihnen brach einfach innerhalb weniger Sekunden zusammen.

Die Andere ist eingeschlafen. Movitz liegt an seinem Platz im Bett. Er schläft ebenfalls. Die Stille vor dem Haus dringt bis ins Schlafzimmer vor. Oft füllt sie das Haus mit noch mehr Stille. Und diese Stille drängt sich zwischen ihn und die Andere, nicht als etwas Unbehagliches, sondern als etwas Feierliches. Denn sie leben hier auf dieser Insel draußen am Meer wirklich ein stilles Leben. Es passiert nicht viel, es gibt nicht viel, was sie einander erzählen können, wenn sie sich an den Abendbrottisch setzen oder ihr Tagewerk erst zur Hälfte hinter sich gebracht haben. Sie versuchen, etwas zu erschaffen, alle beide. Sie webt, er schreibt an einem Buch oder spielt Klavier. Aber selbst die Flügeltöne können gegen die Stille nichts ausrichten. Die Stille ist keine Freundin. Aber sie ist auch keine Feindin. Sie steht einfach da, mitten im Raum, und sagt: Hier bin ich. Was habt ihr jetzt vor mit mir?

Er kann nicht antworten. Er denkt nur, dass er sich entscheiden muss. Entscheiden, welches Leben er leben will. Aber hat er sich nicht bereits entschieden?

Er lebt seit fast fünf Jahren auf dieser Insel.

4.

Das Telefon klingelt. Ich fahre jedes Mal zusammen. Wie haben sie es geschafft, die Leitung bis hierher ans Meer zu legen? Führt die Leitung über den Boden des Hagefjord zwischen Lippfisch, Kabeljau und Fischen, die als nicht essbar gelten? Riskieren sie nicht, dass Krebse oder Hummer die Leitung kappen?

»Morgen, du. Hier ist Kjell.«

»Welcher Kjell?«

»Es gibt ja wohl nur einen Kjell, mein Junge.«

»Ach, sicher«, sage ich, auch wenn ich noch zwei weitere kenne. Kjell aus meiner Klasse. Kjell vom Norsk Musikkforlag.

In der Leitung herrscht erwartungsvolle Stille. Fast wie in alten Zeiten, als die Telefonistin in Stangeland mithörte. Kjell Bækkelund ruft zwar nicht zum ersten Mal an, aber der letzte Anruf ist lange her, damals wohnte ich noch in Oslo. Bis hierher nach Vestre Sandøya vor Tvedestrand anzurufen ist weit, denke ich. Man ruft nicht so weit an, wenn man nicht etwas ganz Besonderes will. Die Frau in der Zentrale kratzt sich dabei im Gebührenzählerschritt, wie Trond-Viggo immer sagt.

»Wann kommst du nach Oslo?«

Er hat diese nasal lispelnde Stimme, die ganz Norwegen kennt. Nicht viele klassische Musiker sind so bekannt wie er. Bækkelund, Levin, Tellefsen, Knardahl. Das sind schon alle. Und Aase Nordmo Løvberg, natürlich. Ich setze mich automatisch gerader. »Ich komme, wenn du rufst«, sage ich.

»So gehört sich das, Junge«, sagt Bækkelund zufrieden. »Kommst du dann heute Abend? Um Punkt sieben?«

Ich schaue auf die Uhr. »Das kann ich schaffen«, sage ich. Wenn man auf Sandøya wohnt, kommt man, wenn jemand ruft. Wir, die wir uns Kulturarbeiter nennen, kommen, wenn die Mächtigen anrufen.

Bækkelund ist mächtig.

Bækkelund hat etwas mit mir vor. Aber ich weiß nicht, was. Hat er mich für eine Rolle in seinem Ränkespiel ausgesucht? Er ist nicht nur einer unserer bedeutendsten Pianisten, reist um die Welt und spielt neue norwegische Komponisten, Musik, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten wird, die aber gerade jetzt von Botschaften und Konsulaten geschätzt wird zwischen Kanapees und Lobesreden. Er war immer schon großzügig, hat mir vorwärts geholfen, mit fast panegyrischen Artikeln in den Zeitungen und spannenden Projekten, von denen jeder Pianist begeistert gewesen wäre. Wie damals, als er sechs der bedeutendsten Pianisten einlud, während der Festspiele in Bergen im Konsertpalé Rachmaninow-Präludien zu spielen. Er wollte daraus eine Schallplatte bei der Deutschen Grammophon machen. Fast wäre es ihm gelungen.

Als ich dann im Mirafiori sitze, im Schneegestöber bei der Raststätte Cinderella und bei Søndeled, denke ich an die hervorragende Stellung, die er bei den Sozialdemokraten einnimmt. Wenn er zu seiner Adventsparty einlädt, kommen alle. Ministerpräsident Odvar Nordli, bestimmt das gesamte Kabinett, Knut Frydenlund, Inger Louise Valle, Per Kleppe und Bjartmar Gjerde. Sicher doch! Jens Evensen und Eivind Bolle. Gro Harlem Brundtland, die junge, frische und sportliche Umweltministerin, über die alle reden und die noch dazu Ärztin ist. Bestimmt finden sich einfach alle zu diesen Festen ein. Aber keine Pianisten. Nicht ich. Mir sollte die Ehre zuteilwerden, später zu kommen. An einem kalten Januarabend, an dem der Frostnebel an der Küste anzeigt, dass das Eis vielleicht liegenbleibt.

Denn das war etwas, das alle über Bækkelund wussten. Er hatte immer einen Auserwählten. Einen, mit dem er im Frognerpark spazieren ging. Einen, mit dem er an einem Zweiertisch im Theatercafé saß. Es konnte auch eine Auserwählte sein, eine Frau. Dann war es zumeist eine, die seine nächste Ehefrau oder Lebensgefährtin werden sollte. Aber es konnte auch ein Mann sein. Dann war es ein Kronprinz. Einer, der später Kirchen- und Bildungsminister werden würde oder vielleicht sogar Außenminister.

Ich schlingere die kurvigen Straßen durch Telemark hoch auf das Gewerbegebiet bei Brevik zu. Vor meinem inneren Auge tauchen einige unfassbare Bilder auf. Soll ich Politiker werden? Ich erröte, als ich mich plötzlich hinter dem Schreibtisch des Außenministers erblicke. Hier verschiebe ich die Ordner. Eine schöne Frau in einer grünen Wolljacke kommt herein und lächelt. Es ist meine Privatsekretärin. Die persönliche. Die weiß, dass ich immer im Schrank gleich hinter mir eine Flasche vom besten Whisky stehen habe. Jetzt teilt sie mit, dass es bald Zeit wird, sich nach Gardermoen zu begeben, da auf Fornebu keine Jumbojets landen können. Präsident Jimmy Carter wird in weniger als einer Stunde mit der Air Force One eintreffen. Da der norwegische Ministerpräsident plötzlich erkrankt ist, habe ich das Oberkommando. Mit einem kurzen Telefongespräch habe ich mich von meinem üblichen fünften Platz entfernt. Jetzt stehe ich plötzlich an zweiter Stelle, bin fast die Nummer 1. Oder will er von mir etwas anderes? Will er mich zum Chef der Universitätsbibliothek machen? Will er vielleicht, dass ich Landeskonservator werde? Bækkelund ist die eigentliche Spinne im Netz derjenigen, die etwas bedeuten. Er hat Macht über den Möbelhändler in Jessheim, über das gesamte norwegische Parlament, er könnte mit den Fingern schnippen und mich im Handumdrehen zum Rundfunkdirektor machen. Aber was sollte ich in diesem Fall der Anderen sagen? Sie will doch nur auf Sandøya wohnen!

Die Machtphantasien werden immer stärker, und als ich an Larvik vorüberfahre, bin ich bereits zum Oberkommandanten aller Streitkräfte geworden. Ich sitze an einem geheimen Ort in Akershus, wo niemand mich sehen kann. Im hintersten Raum steht ein gewaltiger Steinway-Flügel. Während alle glauben, dass ich verteidigungsstrategische Angriffspläne gegen Breschnew in der Sowjetunion schmiede und mit Svein Sørensen von der Heimvolkshochschule Svanvik in Pasvik telefoniere, meinem Verbündeten, übe ich stattdessen das B-Dur-Konzert von Brahms. Das soll mein Dank an Bækkelund sein. Meine Art, ihn zu überraschen. Vielleicht freut er sich gar nicht. Vielleicht ärgert er sich, weil ich gerade in diesem Moment so viel besser spiele als er. Aber so sind die Folgen der Freigebigkeit. Man bekommt nicht das, was man verdient. Jetzt bin ich es, der Adventsfeste veranstaltet und andere anruft.

Erst als ich mich Drammen nähere, lande ich auf der Rollbahn der Wirklichkeit und merke, dass ich die Geschwindigkeitsbegrenzung um dreißig Kilometer überschritten habe. Ich bremse verdrossen, es gefällt mir nicht, wie ich ihm immer gehorche. Was soll ich eigentlich zurückzahlen? Was kostet ein Superlativ? Meine Gedanken waren noch immer düster, nach dem tristen Silvesterabend, an dem ich mich im Schnee erbrochen und mich selbst von außen gesehen hatte. Die Kontrolle, die ich in den letzten Jahren gehabt hatte, war verschwunden. Ich wusste nicht mehr, wo ich mit dem Schreiben und der Musik hinwollte. Ich wusste nur, dass ich dünner werden wollte. Noch dünner. Dass es von mir noch weniger geben sollte. Erst dann würde ich die Kontrolle haben.

Ich war einer geworden, der Angst davor hatte, etwas zu verpassen. So war es früher nie gewesen. Da hatte ich vor überhaupt nichts Angst. Jetzt hatte ich Angst vor allem. Angst, dass mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnen würde.

Im Frognervei kamen sie aus dem Wohnzimmer gelaufen, sowie ich den Schlüssel ins Schloss steckte.

»Ketil!«

Jedes Mal, wenn Mutter meinen Namen rief, kam ich mir vor wie sechs Jahre alt. Und wenn Vater rief, war ich noch jünger.

»Ich bleibe nur bis morgen. Bækkelund will mit mir sprechen.«

»Bækkelund?«, wiederholt Vater beeindruckt, auch wenn ich die Enttäuschung in seiner Stimme höre. Er möchte so gern mit mir reden wie in alten Tagen. Bis spätabends am Küchentisch sitzen und über Politik diskutieren. Ich spüre mein schlechtes Gewissen. Sie hatten gedacht, ich würde häufiger von Sandøya herüberkommen, da ich trotz allem die Miete für die relativ teure Wohnung im ersten Stock bezahle. Stattdessen lasse ich mich immer seltener blicken.

»Aber ich komme bald wieder«, sage ich. »Und dann bleibe ich einige Tage.«

Ach, diese frommen Lügen, die gebrochenen Versprechen. Hatte ich wirklich für irgendjemanden einen Wert? Bedeutete ich etwas für andere Menschen? Der Gedanke kam plötzlich und war durchaus nicht angenehm. Ich hatte noch nie so gedacht. Es waren die anderen, die etwas bedeuteten. Mutter, Vater, Tormod, Aimée, Ida, Ole, Rotkäppchen, die Andere. Ich war es, der sie brauchte, nicht umgekehrt. So sollte es sein. So musste es sein.

Es schneit jetzt nicht mehr. Der Bürgersteig ist glatt. Ich rutsche zum Olav Kyrres plass hinunter. In der Bygdøy allé sind Eisbuckel. Ich habe es eilig. Es ist zehn vor sieben. Da sehe ich die alte Dame auf der anderen Straßenseite. Ach, diese dickköpfigen alten Hexen, die niemals aufhören, sich auf ihr Lebensrecht zu berufen. Die durch die Straßen schwanken, fast schwerelos mit ihren alten, klapprigen Skeletten und mit löchrigen Strümpfen. Für wen, um alles in der Welt, halten die sich? Für die zu früh geborenen Kinder der Ewigkeit? Werden sie denn niemals sagen, genug ist genug, sich auf stille, höfliche Weise zurückziehen, wie jeder normale Mensch es tun würde, sich von ihrem Stuhl erheben, langsam zur Garderobe gehen, nach Hut und Mantel greifen, die Gamaschen überstreifen und in der Nacht verschwinden, sich in ein Grab legen, während der Schnee rieselt, und zu Erde werden, ja, zu Erde, Gedärm und Eingeweide den Maden überlassen, diese absolut notwendige Verwesung, die Munch und Hamsun so schön beschreiben, und durch die Platz für andere geschaffen wird. Ich bin unterwegs zu Bækkelund. Er wartet auf mich, aber die alte Dame rutscht weiter über den Bürgersteig, ohne zu begreifen, dass das Projekt, auf das sie sich an diesem Abend eingelassen hat, einer Besteigung des Mount Everest gleichkommt.

Ich versuche, sie nicht anzusehen. Noch hält sie sich auf den Beinen. Jetzt gibt es nur uns beide. Sie auf der einen Seite. Ich auf der anderen. Zwischen uns liegt das Leben. Oder ist es der Tod? Wenn sie oder ich die Straße betreten, wird ein Auto kommen, und sie oder ich werden sterben. Wofür leben wir? Ich lebe, um eine wichtige Verabredung mit Kjell Bækkelund einzuhalten. Aber was in aller Welt hat sie vor?

Ich gehe schneller, damit ich an ihr vorbei bin, wenn sie stürzt. Es ist ja nur eine Frage der Zeit. Wenn ich an ihr vorüber bin, bin ich die Verantwortung für sie los. Aber gerade jetzt stürzt sie, gleich vor dem teuren Küchenladen. Mein Herz wird schwer. Sie liegt auf der anderen Straßenseite und strampelt. Beine und Arme in alle Richtungen.

»Ich komme!«, rufe ich. »Bleiben Sie ganz still liegen! Versuchen Sie nicht, aufzustehen, gnädige Frau! Dann stürzen Sie nur wieder!«

Ich finde eine Lücke zwischen den vielen Autos und Bussen, die gerade jetzt wie eine Flutwelle aus Lärm, Bewegung und Auspuffgasen hereinbrechen. Wird dieses gemeine Geschehnis meine Zukunft ruinieren? Ist es der humanistische Roboter in mir, der meine Beine über die Straße zwingt? Warum musste sie gerade heute Abend auf diese lebensgefährliche Straße hinausgehen, denke ich wütend. Sie hätte so viele andere Abende gehabt. Dies ist der Abend, an dem ich zu Kjell Bækkelund bestellt bin. Er hat Pläne mit mir. Große Pläne. Er hat mich von Sandøya herkommen lassen. Das sind zwischen drei und vier Stunden Fahrt. Niemand kann erwarten, dass jemand einer solchen Aufforderung nachkommt, wenn nichts angeboten wird. Bækkelund hat etwas mit mir vor. In seiner Nähe gibt es nur Prominente. Aber nun liegt diese Elendsgestalt da und zappelt zwischen den Eisbuckeln. Großer Gott, auch ein Mensch, denke ich, als ich mich nähere. Und als ich mich Sekunden später über sie beuge, um zu hören, ob sie sich verletzt hat, sehe ich zu meinem Entsetzen, dass dort Tante Svanhild liegt.

»Aber meine Güte, Tante Svanhild!«, rufe ich.

Sie schaut aus ihren schönen, traurigen Augen zu mir hoch. »Ich wollte das nicht«, sagt sie, fast unter Tränen.

»Was wolltest du nicht?«

»Fallen natürlich.«

»Natürlich nicht. Aber hast du dich verletzt? Hast du dir etwas gebrochen?«

Sie lächelt ihr unwiderstehliches Lächeln. »Nein, ich nehme doch Kalziumtabletten«, sagt sie. »Das hab ich von Alfhild gelernt.«

Der Vorname meiner Mutter. Es ist immer so seltsam, wenn ihn jemand nennt. Meine Mutter, wie eine Elfe. Ein Wesen aus einer anderen Welt. Kein normaler Mensch.

»Jetzt fasse ich dich unter den Armen, und dann richten wir uns langsam auf, liebe Tante.«

»Nicht wir sagen, junger Mann. Ich muss mich allein aufrichten.«

»Darüber streiten wir uns nicht. Wir müssen sehen, ob du auf deinen Beinen stehen kannst.«

»Natürlich kann ich auf meinen Beinen stehen, Ketil.«

Sie richtet sich auf. Ich halte sie fest. Merke, wie dünn sie geworden ist. Die Arme. Fast nur Knochen. Sie muss krank sein. Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen, und meine Eltern haben nichts gesagt.

»Du kannst dich da drüben auf die Treppe setzen, und dann gehe ich zum Taxistand am Thomas Heftyes plass und hole uns einen Wagen.«

»Nein«, sagt sie energisch. »Ich bin doch fast zu Hause. Und du hast sicher eine Verabredung.«

»Natürlich bringe ich dich nach Hause.«

»Ich kenne dich zu gut. Du bist ein vielbeschäftigter Mann. Mit wem bist du verabredet?«

»Kjell Bækkelund.«

»Meine Güte. Wann sollst du da sein?«

»Vor zehn Minuten. Nein, in einer Stunde, meine ich.«

Sie mustert mich mit scharfem Blick. »Du meinst um sieben, nicht wahr? Vor zehn Minuten. Ich bin zwar alt, aber ich bin trotzdem nicht schwachsinnig.«

»Ach, Tante!«

»Ich geh allein.«

»Das tust du nicht.«

Es ist das letzte Mal, dass ich mit ihr durch eine Straße gehe. Sie hat sich bei mir eingehakt wie früher, wenn wir viel zu selten zusammen spazieren waren. Meistens saß sie mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel, entweder in ihrer Wohnung oder bei uns. Sie war immer die Eleganteste, die mit dem feinsten Duft. Von ihr habe ich meine Vorliebe für französische Filme. Sie war die Erste, die Fernsehen hatte. Ich habe sie geliebt. Und ich habe sie einmal zutiefst verletzt. An dem fatalen Silvesterabend 1959, als ich ihr gesagt hatte, dass meine Eltern sie eigentlich gar nicht zu Besuch haben wollten.

»Wo warst du denn?«, frage ich.

»Beim Nähkränzchen. Wir fangen früher an, jetzt, wo wir älter sind.«

»Natürlich«, sage ich.

»Wir waren sechs«, sagt sie mit einem traurigen Lächeln. »Jetzt sind wir nur noch zwei. Aber wir können nicht aufhören, es ein Kränzchen zu nennen.«

Ich gehe neben ihr her und höre zu. Auch ihre Stimme ist schwächer geworden.

»Du musst besser auf dich aufpassen«, sage ich.

»Ich habe immer auf mich aufgepasst«, sagt sie.

Ja, denke ich. Sie hat immer allein gelebt.

»Du?«, fragt Bækkelund, als er die Tür einen Spaltbreit öffnet und demonstrativ auf die Uhr schaut. Er trägt ein weißes Hemd und eine Wollweste, wie sie nur Zeitungsredakteure oder Dorftrottel tragen. Das Design der Macht. Als ob man die allerreichsten Amerikaner mit rosakarierten Jacken die allerfeinsten Restaurants betreten sieht.

»Meine Tante ist gestürzt. Meine Lieblingstante.«

»Erzähl mir bitte nichts über deine Tante. Wen wird sie wohl wählen, wenn sie hier in der Gegend wohnt? Die Konservativen natürlich. Meinen alten Freund Albert Nordengen. Aber es gibt für alles eine Grenze. Wenn die Sozialdemokraten im Osloer Rathaus die Macht hätten, gäbe es jedenfalls Verstand genug, um auf den Bürgersteigen zu streuen. Ich gehe davon aus, dass sie sich auch diesmal nichts gebrochen hat. Komm rein.«

Ich denke, das hier ist ein Meilenstein, etwas, woran ich mich den Rest meines Lebens erinnere. Ein privater Besuch bei Kjell Bækkelund. Zum ersten Mal betrete ich die Patriziervilla am Olaf Kyrres plass, die für mich Macht bedeutet. Große politische und kulturelle Macht. Durch diese Tür ist erst vor Kurzem die gesamte norwegische Regierung geschritten. Jetzt komme ich als einziger Gast.

Kälte schlägt mir entgegen. Bækkelund registriert, dass ich das spüre.

»Wir verschwenden nichts«, sagt er. »Es wäre Wahnsinn, im ganzen Haus zu heizen.«

»Natürlich«, sage ich. Wir bleiben in der Diele stehen. Aus dem ersten Stock höre ich eine Frauenstimme, die leise telefoniert. Ich weiß, wer das ist. Die Schauspielerin Ingerid Vardund. Die die Hauptrolle in Elskere gespielt hat. Die Zeitungen haben über sie und Bækkelund geschrieben. Mutter hat immer schon gesagt, Bækkelund steht auf schöne Damen.

»Ins Wohnzimmer?«

»Nein, in die Küche.«

Ich nehme den Geruch von Schweinerippe wahr. Ach ja, denke ich. So ist es richtig. Ein Festmahl mit Wein und brennenden Kerzen. Denkt er an die Wahlen im nächsten Jahr? An einen neuen Minister? Etwas Junges und Frisches. Weder Bratteli noch Nordli hatten Minister, die die Jugend begeistern konnten. Nach all dem Schönen, das er über mich geschrieben hat, muss er einen Plan haben. Bækkelund lässt sich zu keiner Begegnung mit jemandem herab, mit dem er keinen Plan hat.

»Hast du Hunger? Möchtest du Kekse?«

»Ja, gern.«

»Auch Kaffee?«

»Danke, ja.«

Ich verspüre ein plötzliches Unbehagen. Der Geruch nach Schweinerippe ist jetzt noch stärker. Der kleine Esstisch ist mit zwei Tellern und zwei Rotweingläsern gedeckt, aber er geht mit mir ins Wohnzimmer, wo die vielen Lithografien mit den Widmungen all seiner Freunde unter den Künstlern neben- und übereinander hängen.

»Also, was machst du denn so, Ketil?«

»Ich?«

»Ja. Dieses neue Album, das bald erscheinen wird. Tideverv?«

»Tidevann.«

»Ja, genau. Aber ist das eigentlich Jazz?«

»Nein«, sage ich. »Ich betrachte mich nicht als Jazzmusiker.«

Er nickt, zufrieden, fast erleichtert. »Hab ich mir’s doch gedacht«, sagt er.

Wir schweigen.

»Noch ein paar Kekse?«

»Nein, danke.«

»Ich kenne Friedrich Gulda«, sagt er plötzlich.

»Ein guter Pianist«, gebe ich zurück.

»Aber er spielt auch keinen Jazz«, sagte Bækkelund. »Er tut nur so.«

»Ja, das tun viele von uns«, sage ich.

Er nickt zufrieden. Ich habe ein Geständnis gemacht.

Ist das alles, was er von mir will? Ist das der Grund, warum er mich von Sandøya nach Oslo bestellt hat? Will er mich nicht fragen, ob ich mir vorstellen könnte, in die Sozialdemokratische Partei einzutreten? Hat er denn gar keine Verwendung für mich? Hat er einfach nur Angst, ich könnte etwas gelernt haben, das er selbst nicht beherrscht? Kein klassischer Pianist von Format kann Jazz spielen. Nicht einmal Friedrich Gulda. Bækkelund weiß das. Ich weiß das. Aber er scheint darauf zu warten, dass ich es schaffe. Würde ihn das dann ärgern? Ihn eifersüchtig machen?

Zehn Minuten darauf steht er in der Türöffnung und wünscht mir noch einen schönen Abend.

»Nett, dass du dir die Zeit genommen hast.«

»Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin.«

»Das spielt keine Rolle. Ich hatte ohnehin heute Abend nichts anderes vor.«

»Wie denkst du über Reagan?«, frage ich, mit dem plötzlichen Bedürfnis, mich wichtig zu fühlen. »Glaubst du, er wird es schaffen?«

»Natürlich wird er es niemals schaffen. Ein schnöder zweitrangiger Schauspieler. Keine Sorge, mein Junge. Wir haben die Sache im Griff. Ich mache mir größere Sorgen, ob unsere Partei im nächsten Jahr die Parlamentswahlen gewinnen wird. Willoch ist ein Schlaukopf.«

Er lächelt sein bekanntes Lächeln. Steht da mit seinem Bäuchlein. Seine graue Hose ist schon häufiger gewaschen worden. Diese lispelnde Selbstsicherheit. Die freundliche, aber bestimmte Weise, wie er mich vor die Tür setzt, während Ingerid Vardund noch immer telefoniert. Man weiß nicht, ob er eigentlich sarkastisch oder todernst ist.

»Dann viel Glück mit dem Jazz, Ketil. Und geh vorsichtig.«

5.

Ich sitze im Norum. An einem Dienstagabend im Januar sind nur sehr wenige Gäste in der Bar und fast keine im Restaurant. Ich setze mich allein an den Fenstertisch, an dem ich immer mit Ole gesessen habe. Die Kellnerin erinnert mich an Ingerid Vardund. Ich bestelle einen Aperitif, eine Flasche Rotwein und ein Filet Mignon.

Ich habe das Gefühl, nach der vergangenen Nacht noch immer nicht richtig aufgestanden zu sein. Wach zu liegen. Während alle anderen schlafen.

Ich denke an Tante Svanhild. Ich denke an Kjell Bækkelund. Zwei ungeheuer verschiedene Welten. Und ich stehe dazwischen. Das Einzige, was wir alle gemeinsam haben, ist die Musik.

Eine gute Stunde später stehe ich in einer Toilettenkabine unten im Keller und übergebe mich. Die widerlichen Sekunden, ehe der Körper bereit ist. Die Verwirrung in meinen Innereien, als ich den Finger in den Hals stecke. Der Versuch des Körpers, das zu verweigern, was das Gehirn ihm befiehlt. Dann spüre ich die Welle. Das befreiende Gefühl, wenn alles Essen wieder heraufkommt. Die schockierende Kraft der Kotze. Den widerlichen, sauren Geschmack. Den unerträglichen Geruch.

Das kommt von mir, denke ich. Nur von mir.

Als ich am nächsten Morgen nach Sandøya fahre, höre ich im Autoradio, dass Präsident Jimmy Carter weiterhin mit einem Boykott der Olympischen Sommerspiele in Moskau droht. Er verlangt den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan innerhalb von vier Wochen. Aber die Besatzer sind noch immer im Land. Der norwegische Nachrichtensprecher ist nüchtern und scheinbar neutral. In Mekka haben die saudi-arabischen Behörden 63 Personen enthaupten lassen. In Indien ist Indira Gandhi zur Premierministerin gewählt worden. Danach ist in der Sendung Nitimen Kjell Edlund zu hören. Nach Chanson d’Amour in Acker Bilks schrecklicher Klarinettenversion erkenne ich Pink Floyd. Den aggressiven und zugleich so befreienden Jugendchor aus The Wall. Etwas einreißen. Sich nichts vorschreiben lassen. We don’t need no education. We don’t need no thought control. Eine Mauer, die eingerissen werden soll. Das Symbol ist so klar. Die Mauern, die deutlich aufragen in unserem Leben. In der Welt draußen. Ich versuche, mitzusingen. Aber es klingt einfach albern. »Scheiße!«, rufe ich plötzlich, mit einer Aggression, von der ich nicht weiß, wozu ich sie benutzen soll. Dann drehe ich das Radio aus.

Auf Sandøya laufe ich bis hinaus nach Klåholmen und über den äußeren Weg zurück nach Hella. Draußen am Strand schnuppere ich im Südwestwind, der plötzlich milderes Wetter bringt. Es ist so schön, einfach nur hier zu stehen, ohne einen einzigen Plan oder eine Idee im Kopf. Keine Zukunft und fast keine Vergangenheit. Ich betaste unter dem Jogginganzug meine Rippen. Im Haus steige ich auf die Waage. Noch ein Kilo ist von meinem Körper verschwunden. Beim bloßen Gedanken ans Abendessen möchte ich mich schon übergeben.

Die Schallplattenfirma hat mir die Pretenders geschickt. Zum ersten Mal höre ich Chrissie Hynde. Die dunkle, fast maskuline Stimme. Das aggressive Klangbild, die souveränen Melodien. Am selben Nachmittag gehe ich mit der Platte zu Birthe und Eyvind in die alte Schule. Es ist so schön, dass die beiden von jetzt an auf der Insel sein werden. Dass auch sie wirklich hier wohnen wollen. Im Winter waren wir knapp 250 Menschen. Jetzt sind wir 252.

Wir sitzen zusammen, den ganzen Abend. Wir reden über die Musikgruppe, die wir gründen wollen. Und über die Literaturgruppe. Den Filmclub. Die Filmvorführer von Norsk Bygdekino reisen durch das ganze Land. Warum können sie nicht auch nach Sandøya kommen? Doch, denke ich. Das hier ist doch die Welt. Unsere Welt. Mit dem Meer um uns herum, auf allen Seiten. Von hier aus können wir Amerika ins Schaukeln bringen. Der Abend wird lang. Es gibt so vieles, was wir einander vorspielen wollen. Wir sind doch nicht diesen weiten Weg gekommen, um uns voreinander zu verstecken.

Birthe und Eyvind tischen selbstgebackenes Brot, Butter, Käse und Rotwein auf. Ich kann es nicht lassen, die Butter dick zu schmieren.

Um ein Uhr nachts stehe ich vor dem Haus im Gebüsch und übergebe mich. Sie dürfen es nicht sehen. Es ist das zweite Mal an diesem Tag.

6.

Kristin und Trond-Viggo werden heiraten. Er und die Andere fahren zum Fest nach Oslo. Die Einladung auf Bütten und mit Tinte geschrieben. Nicht zur Trauung an sich, sondern zum großen Fest danach, im Gabelshus, wo die beiden vornehmen Familien mit ihrem Hintergrund von Holmenkollen, Montebello und Nordstrand in ihren Smokings und Ballkleidern zusammenströmen werden, mit fast ebenso großer Prachtentfaltung wie damals, als die Capulets und die Montagues in Veronas Palästen residierten. Und auch wenn ihre Freunde nicht Romeo und Julia sind, hat dieses verliebte junge Paar dieselbe blendende Heftigkeit und Entschlossenheit. »Stell dir vor, zu heiraten, nur wenige Monate nachdem sie sich kennengelernt haben!«, hatte Tante Svanhild gesagt, mit einem entzückten Gurren, an dem Abend, als er sie zu ihrer Wohnung in der Gabels gate begleitet hatte.

Es ist so schnell gegangen. Kristin und Trond-Viggo saßen im vorigen Sommer bei ihnen auf dem Balkon, frisch verliebt, schön, unwiderstehlich. Sie waren alle vier gleichermaßen miteinander befreundet, nicht die einen oder anderen untereinander und die beiden anderen als Lebensgefährtin oder Partner, sondern auf gleicher Ebene, wie unter Nachbarn, ein Quartett mit vier verschiedenen Stimmen. Das war neu und spannend. Alles ist neu und spannend, denkt er, auch wenn sich alles in ihm verkrampft, wenn er allein seine Touren nach Hauketangen zurücklegt oder in die andere Richtung und sich fragt, ob diese Heirat einen Erwartungsdruck aufbauen kann, in ihm selbst und überhaupt im Freundeskreis, ob es Grenzen dafür gibt, wie lange man in selbstgestrickten Wollpullovern und ausgewaschenen Jeans herumlaufen und ein sogenanntes freies Leben führen kann. Ob dieses ganze Zusammenleben rein prinzipiell ein Dreck ist, jedenfalls praktisch gesehen, dass alles schwieriger werden würde, falls sie Kinder bekämen. Aber sie bekommen ja keine Kinder, und da nutzt er lieber die tägliche Beängstigungszeit, um sich zu fragen, was in aller Welt sie den beiden schenken sollen. Zu der Anderen hat er gesagt, dass er sich darum kümmern wird, dass er in die Stadt will, nicht nach Arendal, sondern nach Oslo. Wenn so prominente Menschen heiraten, geht man nicht ins Kaufhaus Glassmagasinet in Arendal, sondern zu Steen & Strøm. Das hatte die Andere verstanden und ihm freie Wahl gelassen. Hatte er dabei ein schlecht verhohlenes Lächeln erspäht? Was wusste wohl er über Kerzenleuchter, chinesische Porzellanvasen, Tischdecken aus Damast oder Grafik von Weidemann? Diesmal musste es etwas Richtiges sein. Nicht diese Tobiasse-Drucke, die Damen von Holmenkollen mit Davy Crockett-Mützen in der Stadt für billiges Geld aufkauften und mit denen sie dann später ihre Häuser tapezierten. Théo Tobiasse und Kelims waren der neue Trend. Oder der Provencekram von Anne-Ma Burum. Außerdem lieferte der Laden Flid & Uflid in Majorstuen seine exklusiven Missoni-Stoffe an die neue junge Bourgeoisie, die auf den allerletzten Treppenstufen vor dem »Yuppie-Zeit« genannten Wirtschaftsboom angefangen hatte. Er hat schon vergessen, was er Anne-Marie und Ole zur Hochzeit geschenkt hat. Vielleicht eine Vase? Eine Schüssel? Eine Keramikschale? Einen Spargelkochtopf? Er erinnert sich nur an den Cordanzug zwischen allen Ballkleidern und Smokings. Das soll sich nicht wiederholen. Großer Gott, er ist total fertig beim bloßen Gedanken an dieses Geschenk. Er liegt nachts wach und streichelt Movitz. Er weiß, dass er nur wegen dieses Geschenks nach Oslo fahren muss. Im Moment ist Trond-Viggo der beliebteste Mann in Norwegen, das verdankt er Liedern wie Hjalmar und Tenke sjæl, und bald kommt Kroppen im Fernsehen, die Serie über den menschlichen Körper, von der er ihnen so lebendig erzählt hat, wenn sie sich in letzter Zeit getroffen haben. Die Presse wird zugegen sein, ganz sicher und jedes einzelne Geschenk von Se & Hør fotografieren.

Das Ereignis wird zwei Tage nach dem 56. Geburtstag seiner Mutter stattfinden, da kommt es doch wie gerufen, sie zu feiern und dann, am Tag danach, das richtige Geschenk für die Frischverliebten aufzutun. Seine Mutter war nicht anspruchsvoll. Sie wusste, dass sie am letzten Tag der Abgabefrist für die Steuererklärung Geburtstag hatte, wenn die gestressten Steuerzahler mit krummem Rücken vor dem Finanzamt Schlange standen. An einem grauen Tag im Zeichen von Finanzen und Besorgnissen, weit entfernt vom grenzenlosen Wassermanngemüt der Mutter, wo Würstchen mit gebratenen Zwiebeln und Krabbensalat schon ein Festmahl bedeuten. Aber diesmal wird zu Hause im Frognervei gefeiert, fast wie in alten Zeiten. Tante Svanhild, bleicher als früher, aber mit einem neuen, verführerischen Parfüm. Sowie sie ihren Neffen erblickt, legt sie sich den Zeigefinger vor die Lippen. Natürlich, nickt er zurück. Er wird niemandem etwas von dem Sturz und ihrer Begegnung in der Bygdøy allé erzählen.

Es gibt Fischpudding in Krabbensoße, serviert in großen Muschelschalen aus Blätterteig, genau wie in alten Zeiten, und deutschen Rheinwein, der so süß ist, dass er ihn fast nicht hinunterbekommen hätte, wenn der Alkoholgehalt nicht wäre. Die schönen Kusinen der Mutter sind auch gekommen, mit einem Duft von Ausland und Bildung. Die sorgfältig ausgewählten Rattanmöbel der Mutter würden niemals in eine Botschafterresidenz passen. Aber alle sind begeistert von der Mutter, der lieben Alfhild, die einen Hang zu brennenden Stearinkerzen hat, auch wenn sie davon niesen muss. Billige Ziergegenstände, die weihnachtlichen Messingengel, die sich noch immer im Kreis drehen. Johan Svendsens Festpolonaise strömt aus den Tandberg-Lautsprechern im Esszimmer. Tormod ist mit seiner Familie aus Nesodden gekommen. Alles ist fast wie früher. Und er verspürt einen Stich Sehnsucht nach der Kindheit, die er nicht mehr hat, als ob er vor einer kleinen Spielhütte steht, für die er jetzt zu groß ist, obwohl er gern hineinkriechen würde. Außerdem war seine Kindheit nicht klein, sie war groß, größer als das, was jetzt ist, ohne dass sich das erklären ließe.

»Was wollt ihr den Frischvermählten denn schenken, Ketil?«, fragte Tante Svanhild, als Sherry, Moltebeerlikör und Eierlikör schon eine ganze Weile auf dem Tisch stehen.

Er hat von allem getrunken und antwortet, dass er sich noch nicht entschieden hat.

»Eine Badezimmerwaage kann nützlich sein«, sagt die Mutter.

»Nicht unbedingt romantisch, Alfhild«, sagt der Vater.

»Die Ehe ist nicht romantisch«, sagt die Mutter, dankt ihrem Gatten aber trotzdem mit einer Art Lächeln. Es ist versöhnlich und resigniert zugleich.

Er sieht diese Badezimmerwaage vor sich, mitten auf dem Gabentisch, zwischen edlem Cognac und der Encyclopedia Britannica, während er sich die gutgemeinten Vorschläge anhört, die von allen Seiten über ihn hereinbrechen. Die weltgewandten Kusinen empfehlen ihm Boutiquen, von denen er noch nie gehört hat. Designerläden für Fortgeschrittene, Buddhafiguren, indische Elefanten, Geschlechtsverkehrsskulpturen aus purem Jade, Wandlampen in venezianischem Stil und maurische Spiegel. Aber die Mutter bleibt bei der Badezimmerwaage.

»In der Ehe braucht man praktische Gegenstände. Eine Badezimmerwaage verankert dich im Alltag.«

»Aber du wiegst dich doch nie selbst, Mutter.«

»Spielt keine Rolle. Jedes Haus hat eine Badezimmerwaage.«

Die Mutter zuckt mit den Schultern, will sich deshalb mit niemandem streiten.

»Dann kauf eine feuerfeste Form«, sagt sie nach kurzem Überlegen. Für sie sind die eleganten Vorschläge der Kusinen wie exotische Romane, die sie niemals lesen wird.

»Eine feuerfeste Form, Mutter?« Er hört, dass die Kusinen jetzt lachen.

»Ja, etwas, das nicht platzt, nicht zerbricht. Etwas, aus dem man Kretins servieren kann.«

»Ich liebe Kretins«, sagt der Vater.

Der Sohn schaut sich um. Will niemand sie korrigieren? Nach all den Jahren?

Nein. Hier in diesem Haus heißt es weiterhin Kretin. Fischkretin. Als ob er auf taube Ohren gestoßen ist, wann immer er Gratin gesagt hat, in der Hoffnung, dass die Berichtigung diesmal registriert wird, ohne weitere Kommentare. Er macht noch einen Versuch.

»Ja, Fischgratin schmeckt gut«, sagt er.

»Mutter macht das beste Fischkretin der Welt«, erklärt der Vater, als sitze er eigentlich in einer entscheidenden Vorstandssitzung des Ingenieursverbands, wo jemand ein Misstrauensvotum eingebracht hat. Natürlich weiß er, dass es Gratin heißt. Aber er hat nicht vor, seine geliebte Frau zu korrigieren. Nicht jetzt. Nicht nach so vielen Jahren.

»Feuerfeste Form ist eine gute Idee«, meint schließlich der Bjørnstad-Junge. Er liebt seine Eltern nach solchen Episoden nur noch mehr, als seien es die Schwächen, seine und die der anderen, die die Person ausmachen. Als könne man die Fehler eines Menschen mehr lieben als seine Vorzüge, als erzeuge diese Art von Unbeholfenheit dauerhaftere Gefühle, die man, während die Jahre vergehen, fast nicht mehr korrigieren möchte, so wie er wünscht, dass der alte Eisenwarenhändler in Tvedestand bis zu seinem Tod weiterhin »zum Bleistift« sagt, statt im Alter von achtzig noch lernen zu müssen, dass es zum Beispiel heißt. »Wer weiß, ob nicht alle Dialekte als Sprachfehler angefangen haben?«, wie einer seiner arrogantesten Freunde von Holmenkollåsen gern sagte, entzückt von seinem eigenen Witz. Als er an diesem letzten Januartag des Jahres 1980 hier im Wohnzimmer sitzt, denkt er jedenfalls, dass ihm etwas fehlen würde, wenn diese winzigen Abweichungen von der Normalität aufhörten. Was weiß er von seinen eigenen Abweichungen und Fehlleistungen? Wann lachen sie hinter seinem Rücken? Im Traum macht er immer Fehler, versagt, schafft es nicht. Und es ist fast wie einer seiner ärgsten Versagensträume, als er am nächsten Tag sein Versprechen an die Andere erfüllt, das hier allein zu schaffen, damit sie sich mit ihrer Freundin treffen kann, während er zu Steen & Strøm geht und sieht, welche enormen Entscheidungsmöglichkeiten er wirklich hat, Daunendecken, Wolldecken, Kerzenleuchter aus Silber, Gold und Doublé, Servierlöffel, Gabeln, Kaffeemaschinen. Er spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht, das erinnert ihn an seinen Zustand vor großen Konzerten, und er denkt, dass es trotz allem nur um eine Hochzeit geht, aber dass das Geschenk mehr hermachen muss als eine Badezimmerwaage oder eine feuerfeste Form. Es darf zudem nicht zu billig sein. Auch wenn seine Mutter der am wenigsten geizige Mensch ist, den er kennt, ist sie automatisch Gegnerin von teuren Gegenständen. Doch hier bei Steen & Strøm ist einfach alles exklusiv. Ole Paus müsste hier sein, nicht er. Aber er schaut sich um und erregt die Aufmerksamkeit des Verkaufspersonals. Später sollte er an die Filme von Vibeke Løkkeberg denken, den genialen Verrat und den ebenso genialen Die Offenbarung, den schleimigen Vertreter, gespielt von Klaus Hagerup, an dessen seltene Fähigkeit, diese Figur zeitlos, hilflos, unendlich trist zu gestalten, dieselbe Tristesse, die ihn überkommt, wenn er das Wort Kretin hört, der Mensch in seiner ganzen Verletzlichkeit, verstärkt von Marie Tavkam in Die Offenbarung, die herzzerreißenden Szenen, wenn sie versucht, in dem Geschäft, wo sie arbeitet, etwas zu verkaufen. Er lässt sich von seinen eigenen Gedanken ablenken, dem Auffälligen daran, dass die Regisseurin Løkkeberg diese miteinander verwandten Rollen mit einem Schriftsteller und einer Schriftstellerin besetzt hat. Hagerup war zwar auch professioneller Schauspieler, aber beide dichteten, sie war älter, er jünger, aber sie kamen aus demselben linken Milieu, lehnten den Kapitalismus ab. Zeigten sie deshalb, wie ihre Personen in ihrem Netz gefangen waren, in den Dingen, die sie zu verkaufen versuchten, ohne an deren Verkaufswert zu glauben. Sie glaubten ja selbst nicht, dass Lux die beste Seife ist oder dass Omo weißer wäscht. In diesen Filmen sind sie in hilflose Bedienstete des Großkapitals verwandelt. Er wandert an diesem ersten Tag im Februar durch Steen & Strøm, es schneit ein wenig, und die Stadt ist noch immer in Weihnachtsstimmung, obwohl alle Waren auf halben Preis gesetzt sind. Alle hier, die ihm etwas zu verkaufen versuchen, kommen ihm vor wie Rollenfiguren aus Filmen, die er noch nicht gesehen hat. Millionen von ihnen, die um ihre Existenz und Würde kämpfen, dort draußen im Geschäftsgewimmel, genau wie er in seiner kleinen Schöpferwelt, wo es im Grunde auch darum geht, etwas zu verkaufen. Und als in der Küchenabteilung eine reizende ältere Frau auf ihn zukommt, sicher eine mit erwachsenen Kindern, eine, die ihr Leben lang Hausfrau war, die jetzt aber ein Bedürfnis nach selbstständiger Arbeit verspürt, und ihn fragt, ob er etwas Bestimmtes sucht, antwortet er: »Zum Bleistift eine feuerfeste Form!« Ja, er ruft es fast, wie um die Teufel in seiner säkularisierten, infizierten Seele zu besiegen. Die wollen ihn ins tiefe Wasser locken, wo die Gegenstände, die er zu kaufen versucht, aus Gold und Porzellan sind und mehr als zehntausend Kronen kosten, während die Kreditkarten schon in seiner Brieftasche klappern.

»Wir haben feuerfeste Formen im Angebot«, sagt die Frau freudestrahlend. Trügt ihn seine Erinnerung, oder hat sie wirklich seinen Arm gepackt und ihn in die richtige Ecke geführt? Jedenfalls steht er da und sieht sich die letzten sensationellen Produkte von Pillivuyt und Rosenthal an, auf lächerliche Preise herabgesetzt, 39,50 oder noch weniger. Aber das Hochzeitsgeschenk für zwei der besten Freunde kauft man doch nicht im Sonderangebot, denkt er, während die Dame freundlich, leise und pädagogisch auf ihn einredet, dass er jetzt wirklich etwas unwahrscheinlich Günstiges kaufen kann, und sie kann es einpacken und mit einer Schleife versehen und überhaupt. Er redet jetzt schon so lange mit ihr, dass er unbedingt etwas kaufen muss, aber er ist trotzdem noch zurechnungsfähig genug, um zu denken, dass er nicht das Teuerste kaufen will, denn diese weiße feuerfeste Form wird er Kristin und Trond-Viggo auf keinen Fall schenken, auch wenn sie Pillivuyt heißt und französisches Qualitätsporzellan seit 1818 ist, wie es in der Broschüre heißt, die die Frau ihm überreicht. »Ja«, sagt er, nur um hier wegzukommen. »Ich nehme die Kleinste, die mit nur 30 Zentimeter Durchmesser.« Die Frau sieht ihn unsicher an, und ihm geht auf, dass in diesem Moment vielleicht erkannt worden ist, dass hier der Pianist oder Autor, den sie einmal im Fernsehen gesehen hat, im Laden steht und nicht weiß, was sich gehört. »Ist das alles?«, fragt sie ein wenig verkniffen. Und er hört, was sie eigentlich sagt: »Sind Sie wirklich so geizig?« In ihm krampft sich alles zusammen, aber er kann nicht erklären, dass er diese feuerfeste Form sowieso nicht als Hochzeitsgeschenk nehmen kann. Er will noch weiter nach oben im Haus und das Allerschönste suchen. Kronleuchter! Spiegel! Spargelkochtöpfe! Seidenlaken!

Aber als er das Warenhaus verlässt, hat er noch immer nichts anderes gefunden. Diese kleine feuerfeste Form ist das Resultat aller Anstrengungen. Ist das wirklich möglich? Soll dieses Billiggeschenk aus dem Ausverkauf am nächsten Tag in Gabelshus auf dem Gabentisch liegen? Was wird die Andere sagen? Und Kristin und Trond-Viggo? Er geht in Richtung Parlament und fragt sich, ob er vielleicht doch eine Badezimmerwaage kaufen sollte.

Am nächsten Montag ist er wieder in Oslo. Jetzt ist Tidevann angesagt. Die unbehaglichen Texte. Die beim letzten Mal durchgekommen sind. Die übrig blieben. Die Stimmen, die mit dem Nachtwind verschwanden. Ibsen irgendwo in der kühlen Brise. Unruhe, Misstrauen und Eifersucht. Alex und Ole, die sangen. Die Loyalität der beiden. Als ob sie die Texte auf dieselbe Weise lesen könnten, wie er sich das vorgestellt hat, als er sie schrieb. Das meiste liegt doch im Ungesagten.

»Damit kenne ich mich doch aus«, sagt Ole.

Er selbst erleidet einen Schock, als er begreift, wie sehr die Polygram sich engagiert. Für das, was so privat war, dass es fast nicht veröffentlicht werden dürfte. Jetzt bringen sie überall Plakate an. Er sieht sich in natürlicher Größe im Narvesen-Kiosk an der Ecke beim Hotel Continental. Sie wollen ihn auf der Bestsellerliste von VG haben. Aber das Foto wurde vor zwei Monaten gemacht. Da war er zwei Kilo schwerer. Er bringt es nicht über sich, es anzusehen. Ein dicklicher, skeptischer Mann, ohne deutliche Botschaft. Ein Verräter und Lügner.

Und dennoch ist er begeistert davon, was Musiker und Sänger aus diesem Doppelalbum gemacht haben.

Anne Lise von der Polygram, Auduns rechte Hand, wartet in der Suite im Hotel Ambassadør. Sie ist groß und schön. Sie umarmen einander, als wäre es ihre erste Begegnung nach dem nur mit Mühe und Not überlebten Schiffbruch.

Aber es war kein Schiffbruch. Es war nur Erwartung.

»Wie geht’s dir denn da unten auf Sandøya?«, fragt sie.

»Gut.«

»Angelst du? Wirklich?«

»Es kommt vor, dass ich die Angelrute auswerfe.«

»Fängst du etwas?«

»Ab und zu.«

»Was machst du dann? Schneidest du ihnen die Kehle durch?«

»Ich schlage ihnen zuerst auf den Kopf.«

»Hast du nie ein schlechtes Gewissen? Denkst du nie daran, dass du ein Mörder bist?«

Bald wird die Presse anrücken.

»Du hast einen sexy Hintern«, sagt sie neckend und holt Mineralwasser für sie beide.

7.

Robert Mugabe kehrt nach fünfjährigem Exil nach Rhodesien zurück. Ich sitze zusammen mit Tore Olsen im Frognervei. Im großen Wohnzimmer im ersten Stock. Tore kommt von nirgendwo und wird in viel zu wenigen Jahren in dieselbe Richtung verschwinden, auf einer kurvenreichen Winterstraße zwischen Schweden und Norwegen. Alle haben ihn geliebt. Er ist ein sogenannter Loner unter den Musikjournalisten. Deshalb scharen die sich um ihn. Er ist Redakteur der Musikzeitschrift Puls. Dort schreiben die Leute mit den jungen, starken Meinungen. Für kurze Zeit glaubte ich, einer von ihnen zu sein, aber ich stand zu sehr auf der anderen Seite. Ich war nicht der, der zuhörte. Ich war der, der spielte. Dennoch wurden wir aufeinander zugetrieben, als sich die Zeitungen für Rock und Pop öffneten. Ich schrieb für Aftenposten. Tore wollte für Blikk schreiben, die neue Zeitung von Trygve Hegnar. Er wollte mich mit ins Boot holen. Ich zögerte. Ich wollte eigentlich nicht schreiben. Nicht so. Als Pionier. Für den neuen, unabhängigen Musikjournalismus kämpfen. Wie kann man unter Trygve Hegnar unabhängig sein. Bei Puls ist das anders. Alle neuen Generationen entwickeln ein dichtes Netz von mehr oder weniger Intellektuellen, die die Prämissen setzen. So war es zu Hans Jægers Zeit, zu Johan Borgens Zeit, zur Zeit der Studentenbewegung. Diese selbstsicheren jungen Journalisten machten eine Musikzeitschrift, wie sie in Norwegen bisher noch niemand gesehen hatte. Bisher hatten wir Melody Maker, Down Beat und New Musical Express gelesen. Jetzt lasen wir Puls und die fähige Konkurrentin Nye Takter. Die Botschaft von beiden war klar: Don’t bore us. Come to the chorus. Für mich, der sich mit Klavierkonzerten und Symphonien beschäftigt hatte, die niemals weniger als dreißig Minuten dauerten, war es noch immer seltsam, eine Welt zu betreten, in der jedes Lied nach höchstens vier Minuten zu Ende war. Ich hatte die Methode für Leve Patagonia und Och människor ser igjen und teilweise auch bei Tidevann angewandt. Strophe und Refrain. Strophe und Refrain. Aber das war nicht genug. Was zählte, war der Inhalt. Diese jungen und begabten Journalisten wussten, wie die Musik zu klingen hatte, was gut war und was schlecht. Das Arroganzniveau war so hoch und oft so erschreckend, dass es mir unvorstellbar erschien, jemals mit einer dieser Meinungstrompeten gemeinsame Sache zu machen, ja, sie sogar in den neunziger Jahren heiraten zu sollen. Diese Mischung aus Faye Dunaway, Kim Novak, Jane Fonda und Catherine Deneuve. Die Allererste, die genauso war wie eben sie. Die blonde Bombe an sich, C., die ich später Cruella de Vil nennen sollte, das war in scherzender Stimmung, zugleich aber kam ich mir vor wie ein ängstlicher, schwanzwedelnder Dalmatiner. Bewunderung und Ehrfurcht. Denn ich hatte schon angefangen, um diese Menschen herumzuscharwenzeln, versuchte, mich hip und urban zu machen. Hatte angefangen, mich von den selbstgestrickten Pullovern zu verabschieden, war in meine erste Matinique-Boutique gegangen und hatte Hose und Hemd aus mercerisierter Baumwolle erstanden. Immer, wenn ich in Oslo war, wollte ich mit diesen Menschen zusammen sein, wollte ein Teil der guten Gesellschaft werden, der neuen Profilgruppe, diesmal in der Welt der Musik. Sie ließen das aber nicht einfach zu. Sie konnten einen Speichellecker schon auf meilenweite Entfernung entlarven. »Aal in einem Eimer voll Rotz«, wie einer von ihnen sagte. Sie standen nicht auf der Bühne. Sie saßen im Dunkeln und hörten zu. Wenn wir auf dem Podium standen, wussten wir nie, wo im Saal sie waren. Sie blieben für sich. Hatten ihren Geheimcode und waren auch keine Modelöwen der oberflächlichen Sorte. Wenn sie sich dazu herabließen, etwas zu kaufen von dem Geld, das sie vermutlich nicht hatten, dann etwas Teures. Sie waren eine eng verwobene, rauchende Clique mit Büro irgendwo in der Nähe von Bankplassen. Sie waren der neue Wein und die stinkenden Socken zugleich. Sie befanden sich irgendwo zwischen Sexbombe und Brillennerd, mit dem brutalen und zugleich so unwiderstehlichen Tore Olsen und seinem Freund Tom Stiklesæther, dem es gelang, Grünerløkka aussehen zu lassen wie die Lower East Side, wenn er nur durch die Thorvald Meyers gate ging. Mit dem filmstardunklen Jan Omdahl, der wie eine Kreuzung aus Elvis Presley und Robert de Niro wirkte. Wenn ich gewusst hätte, dass der Bluesprofessor Øyvind Pharo mein Verlagslektor werden sollte, hätte ich mich gefragt, ob mir jemand LSD untergeschoben hatte. Was sie miteinander verband, war die Liebe zur Musik. Die Verachtung des Mittelmäßigen, des Pompösen und des Lächerlichen. Alles, was ich nicht wusste, rettete mich. Deshalb sitzt Tore Olsen an einem Vormittag im Februar bei mir zu Hause und zögert. Er mochte nicht als einer von vielen ins Hotel Ambassadør kommen, zusammen mit verachtenswerten Publikationen wie Dagbladet und VG. Er musste trotz allem mit einem Minimum an Respekt behandelt werden, wie er mit einem Lächeln sagte. Dieser seltsame und melancholische Mann, der mich bisweilen an Humphrey Bogart erinnerte. Ich habe ihm soeben das Titelstück vorgespielt, Tidevann.

»Doch, das ist gut. Natürlich ist das gut.« Er zieht eine fast unsichtbare Grimasse. Als ob er sich darauf vorbereitet, eine faule Tomate runterzuschlucken.

»Ja, sind die Musiker nicht hervorragend? Die Begleitung durch Venaas und Thowsen? Riisnæs und Eberson, die sich gegenseitig hochspielen?«

Noch heute kann ich meine junge, naive Stimme hören. Die Teetassen auf dem weißen IKEA-Tisch. Tore, der ein Nicken andeutet, auch wenn er eigentlich den Kopf schüttelt.

»Das gefällt dir wirklich?«, fragt er freundlich. Ich bemerke den Spott nicht sofort. Ich tappe nichtsahnend in die Falle. Er ist genau wie Rowan Atkinson und Griff Rhys Jones in Not the Nine O’Clock News, wo dem armen Mel Smith, der ein Grammofon kaufen will, am Ende Ketchup ins Gesicht gespritzt wird.

»Als wir diese Spur gemischt haben, habe ich gedacht, alles andere hätte ungeschehen bleiben können«, sage ich und schlucke eilig. Ein sicheres Anzeichen für plötzliche Unsicherheit.

»Du bist nicht auf den Gedanken gekommen, es könnte zu gut sein?« Tore Olsen zieht wieder diese unheilverkündende Grimasse.

»Wie kann irgendwas zu gut sein?«