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Beschreibung

Die Upanischaden sind die Quellentexte schlechthin für das Verständnis indischer Spiritualität – in ihrer Bedeutung vergleichbar der Bibel und dem Koran. Herausgeber Eknath Easwaran hat die wichtigsten Texte in einem Band vereinigt. Hier geht es um die großen existenziellen Fragen nach Gott, der Seele, dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen. Easwarans erstaunlich leicht verständliche, unserem Sprachempfinden entgegenkommende Übersetzung ist durch Kommentare sowie Vergleiche mit dem Gedankengut anderer Kulturkreise auch für Einsteiger optimal.

• Der Philosoph Arthur Schopenhauer bezeichnete Die Upanischaden als „belohnendste und erhebendste Lektüre, die auf der Welt möglich ist“.

• Herausgeber Eknath Easwaran hat die wichtigsten Upanischaden-Texte gesammelt und ebenso einfühlsam wie verständlich übersetzt.

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Seitenzahl: 411

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Eknath Easwaran (Hrsg.)

Die

Upanischaden

Eingeleitet und übersetzt

von Eknath Easwaran

Aus dem Englischen

von Peter Kobbe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »The Upanishads« bei Nilgiri Press, Tomales, Kalifornien.
© 2008 der deutschsprachigen Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbHNeumarkter Straße 28, 81673 München © 1987 The Blue Mountain Center of Meditation By arrangement with Nilgiri Press, P. O. Box 256, Tomales, California 94971, www.easwaran.org. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Corbis/SophieBassouls Redaktion: Julia Eisele WL · Herstellung: CZ Satz: Greiner & Reichel, Köln ISBN 978-3-641-23233-7V003www.arkana-verlag.de

Buch

Die Upanischaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften, niedergeschrieben zwischen 700 und 200 v. Chr. Sie werden dem Hinduismus zugerechnet, sind aber vor dessen Ausformung als organisierter Religion entstanden. Es gibt ca. 150 dieser Texte, von denen Herausgeber Eknath Easwaran hier die wichtigsten in einem Band vereinigt hat. Im Gegensatz zu den Veden, die detaillierte Anweisungen zur Durchführung von Opferritualen geben, befassen sich die Upanischaden ausschließlich mit wesentlichen Fragen nach Gott, der Seele, dem Ursprung und der Bestimmung des Menschen. Dies macht sie auch für moderne westliche Leser zu einer überaus lohnenden Lektüre. Der Philosoph Arthur Schopenhauer etwa bezeichnete die Upanischaden als »belohnendste und erhebendste Lektüre, die auf der Welt möglich ist«. Grundthese aller Schriften ist die Einheit der Weltseele (Brahman) mit dem Einzelselbst (Atman), durch deren Realisation der Mensch Erlösung erfahren kann. Eknath Easwaran hat eine erstaunlich leicht verständliche, unserem Sprachempfinden entgegenkommende Übersetzung abgeliefert. Kommentare zu jedem Einzeltext und zum historischen Umfeld sowie Vergleiche mit dem Gedankengut anderer Kulturkreise erleichtern die Einordnung des Gelesenen.

Autor

Sri Eknath Easwaran wurde 1910 in Kerala in Südindien geboren. Nach einem Studium der Englischen Literatur wurde er Professor in Nagpur/Zentralindien. 1959 kam er als Universitätslehrer nach Kalifornien. Dort wurde er bald als Buchautor, Übersetzer, als spiritueller Lehrer und vor allem als Meditationslehrer bekannt. 1961 gründete er das Blue Mountain Center of Meditation. Während er als Lehrer kleine Gruppen und den unmittelbaren Kontakt mit seinen Zuhörern bevorzugte, erreichten seine mehr als zwei Dutzend Buchveröffentlichungen weltweit ein riesiges Publikum. Er starb 1999.

Auch ein weiterer indischer Quellentext, herausgegeben von Eknath Easwaran, ist bei Arkana erschienen:

Dhammapada (21 764)

Du bist, was dein tiefes, treibendes Begehren ist. Wie dein Begehren ist, so ist dein Wille. Wie dein Wille ist, so ist dein Tun. Wie dein Tun ist, so ist dein Schicksal.

BRIHADARANYAKA IV.5

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightEinführung
I. Der Waldrand
Der Wald der Weisheit: Brihadaranyaka-Upanischad
Das Bewusstsein und seine Phasen: Mandukya-Upanischad
II. Themen des spirituellen Lebens
Wer ist der Fragesteller?
Wer bewegt die Welt? Kena-UpanischadDer Tod als Lehrer: Katha-UpanischadZwei Erkenntnisformen: Mundaka-Upanischad
Das Leben als Energie
Der Mikrokosmos des Menschen: Aitareya-UpanischadVon der Nahrung zur Freude: Taittiriya-Upanischad
Das Leben als Bewusstsein
Der Lebensatem: Prashna-Upanischad
Das Leben als Opfer
Gesang und Opfer: Chandogya-UpanischadDer innere Herrscher: Isha-Upanischad
III. Eine Religion für unser Zeitalter
Die Gesichter Gottes: Shvetashvatara-Upanischad
Weisheitströpfchen (vier kleinere Upanischaden): Tejobindu, Atma, Amritabindu, Paramahamsa
Nachwort: Zur Lektüre der Upanischaden Von Michael N. Nagler
Anleitung zur Aussprache des SanskritGlossar

Einführung

»Auf halbem Weg des Menschenlebens«, wie Dante sagt, gelangte ich in eine Situation, die sich als Krise erwies. Alles, wofür ich gelebt hatte – Literatur, Musik, das Schreiben, gute Freunde, die Freuden der Lehrtätigkeit –, befriedigte nicht mehr. Nicht, dass mein Vergnügen an diesen Dingen geringer war; tatsächlich hatte ich jede unschuldige Freudenquelle, die die Welt bot. Aber ich dürstete, mit einem Mal und unwillkürlich, nach noch etwas mehr, viel mehr, ohne zu wissen, wonach oder weshalb.

Ich lebte damals auf einem College-Campus inmitten der Welt der Bücher. Wenn ich also wissen wollte, was die Menschen über das Leben und den Tod in Erfahrung gebracht hatten, ging ich natürlich in die Bibliothek. Dort durchforstete ich systematisch Bereiche, für die ich mich bislang nie interessiert hatte: Philosophie, Psychologie, Religion, sogar Naturwissenschaften. Indien war seinerzeit noch britisch, und die verfügbaren Bücher bestätigten, was mein Bildungshintergrund als selbstverständlich voraussetzte: Alles Wissenswerte war in den Zeugnissen der westlichen Zivilisation bestens vertreten.

Ein Kollege im Fachbereich Psychologie entdeckte meinen Namen auf der Ausleihkarte eines Bandes von William James und wurde misstrauisch. Eine Gelegenheit, Sherlock Holmes zu spielen, nimmt jeder gern wahr; er stellte einige Nachforschungen an und konfrontierte mich. »Schauen Sie mal«, sagte er, »Ihr Fach ist englische Literatur, aber ich sehe, dass Sie jeden bedeutsamen Beitrag zu meinem Gebiet mit nach Hause nehmen. Worauf sind Sie da bloß aus?«

Wie konnte ich einem angesehenen Professor sagen, dass ich nach dem Sinn des Lebens suchte? Ich zwinkerte ihm verschwörerisch zu und entgegnete nur: »Auf etwas Großes!« Aber nichts von dem, was ich fand, stillte den Hunger in meinem Herzen.

Etwa um diese Zeit stieß ich – wie, weiß ich nicht mehr – auf eine Ausgabe der Upanischaden. Ich hatte natürlich gewusst, dass sie existierten, aber es war mir nie in den Sinn gekommen, einen Blick hineinzuwerfen. Mein Gebiet war viktorianische Literatur; von viertausendjährigen Texten erwartete ich mir nicht mehr Relevanz als von Alice im Wunderland.

»Nimm das Beispiel eines Mannes, der alles hat«, las ich und dachte dabei sofort an mich: »jung, gesund, stark, tüchtig und gebildet, mit all dem Reichtum, den die Erde bieten kann; nehmen wir dies als eine Maßeinheit weltlicher Freude.« Der Vergleich war direkt aus meinem Leben gegriffen. »Das Hundertfache dieser Freude entspricht der Freude der Gandharvas; aber nicht weniger Freude erleben jene, die erleuchtet sind.«

Die Gandharvas waren nichts weiter als ein mythologischer Begriff für mich, und ich hatte keine Ahnung, was Erleuchtung bedeutete. Aber die grandiose Zuversicht dieser Stimme, die Gewissheit von etwas wesentlich Größerem als das, was die Welt bietet, strömte wie Sonnenlicht in einen lange dunkel gewesenen Raum:

Vernehmt es, o Kinder ewiger Seligkeit!

Ihr seid geboren, mit dem Herrn vereinigt zu werden. Folgt dem Weg der Erleuchteten, und werdet vereinigt mit dem Herrn des Lebens.

Ich las weiter. Bild um Bild nahm mich gefangen. Das waren ehrfurchtgebietende Bilder, die ich zwar kaum verstand, die mir aber Sinn verhießen und nach meinem Herzen griffen, wie eine vertraute Stimme am Saum des Gewahrseins zerrt, wenn man sich müht aufzuwachen:

Wie ein großer Fisch zwischen den Ufergrenzen eines Flusses nach Belieben schwimmt, so bewegt sich das strahlende Selbst zwischen dem Traum- und dem Wachzustand. Wie ein Adler, der vom Höhenflug am Himmel müde geworden ist, die Flügel zusammenlegt und herabfliegt, um in seinem Nest auszuruhen, so tritt das strahlende Selbst in den Zustand traumlosen Schlafs ein, wo man von allen Begierden befreit ist. Das Selbst ist frei von Begehren, frei von Übel, frei von Furcht …

Wie Fremde in einem unvertrauten Land jeden Tag über einen vergrabenen Schatz hinwegschreiten, gehen wir tagtäglich während des Tiefschlafs in jenes Selbst ein, erkennen es aber nie, da wir vom Unwahren fortgerissen werden.

Das Selbst ist eine Brücke zwischen dieser Welt und dem wahren Wirklichen. Tag und Nacht können diese Brücke nicht überqueren, auch das Alter nicht, auch nicht der Tod, auch nicht der Gram, noch auch böse oder gute Taten. Alle Übel machen dort kehrt, außerstande, hinüberzugehen; das Übel gelangt nicht in das Reich der wahren Wirklichkeit. Jemand, der über diese Brücke hinübergeht, wird, falls er blind sein sollte, die Blindheit los; falls er verletzt sein sollte, die Verletztheit los; falls er in Sorge sein sollte, das Sichsorgen los. An dieser Grenze wird die Nacht selbst Tag: Die Nacht gelangt nicht zur Welt der wahren Wirklichkeit …

Und schließlich einfache Worte, die in meinem Bewusstsein explodierten und Licht rings um sich verbreiteten wie eine Leuchtbombe: »Es gibt keine Freude im Endlichen; Freude gibt es nur im Unendlichen.«

Auch ich war bislang jeden Tag über einen vergrabenen Schatz hinweggeschritten, ohne dies je zu ahnen. Wie der Mann in der chassidischen Parabel suchte ich allerorts nach dem, was in meinem eigenen Zuhause lag.

Auf diese Weise entdeckte ich die Upanischaden – und sah mich dann sehr bald zum Ausüben der Meditation verpflichtet.

Heute, nach über vierzig Jahren des Studiums, sind mir diese Texte ins Herz geschrieben; ich bin mit jedem Wort vertraut. Und doch überraschen sie mich immer wieder von neuem. Bei jeder einzelnen Lektüre habe ich das Gefühl, auf ein Meer hinauszufahren, das so tief und ausgedehnt ist, dass man nie sein Ende erreichen kann. In den Jahren seitdem habe ich ausgiebig im mystischen Schrifttum der Welt gelesen und dabei oft festgestellt, dass andere Religionen, ihrer jeweiligen Ausdrucksweise gemäß, die Gedanken der Upanischaden wiederholen. Ich habe auch praktischere Leitfäden gefunden; mein eigener wurde – wobei ich der Anregung von Mahatma Gandhi folgte – die Bhagavad Gita. Aber nirgendwo sonst habe ich eine so reine, erhabene, berauschende Destillation spiritueller Weisheit gesehen wie in den Upanischaden, die aus dem ersten Anfang der Zeit zu uns zu kommen scheinen.

Die Veden und die Upanischaden

Der Forschung zufolge begannen etwa um 2000 v. Chr. Gruppen Indoeuropäisch sprechender Völker, die sich selbst arya, also »edel«, nannten, über den Hindukusch in den indischen Subkontinent einzudringen. Dort, im Flusstal des Indus, fanden sie eine blühende, fast tausendjährige Zivilisation vor, die in Bezug auf Technologie und Handel hoch entwickelt war. Aus der Verschmelzung dieser beiden Kulturen, der arischen und der des Industales, ging die indische Zivilisation hervor.

Die Arier brachten ihre Götter und eine Religion mit, die auf rituellen Opferhandlungen und beschwörenden lyrischen, lebensbejahenden Hymnen in einer frühen Form des Sanskrit basierte. Diese Hymnen, die ungefähr 1500 v. Chr. entstanden sind, lassen eine innige, fast mystische Bindung zwischen Anbeter und Umwelt erkennen, ein Gefühl heiliger Scheu vor dem allen Dingen innewohnenden Geist und zugleich der Verwandtschaft mit diesem. Noch in der Übersetzung besitzen sie eine zwingende Schönheit. Sie beten Naturkräfte und die elementaren Lebensmächte an: die Sonne und den Wind, das Unwetter und den Regen, die Morgendämmerung und die Nacht, die Erde und den Himmel, das Feuer und die Opfergabe.

Diese Mächte sind die Devas, Götter und Göttinnen, die hie und da in weiteren Religionen arischen Ursprungs wiedererkennbar sind. In den Hymnen scheinen sie uns ganz nah zu sein, als wären sie in den Erscheinungsformen und Kräften der natürlichen Welt anwesend. Das Feuer ist Agni, verehrt als das tatsächliche Feuer auf dem Herd oder Altar und als der göttliche Priester, der Opfergaben zu den Göttern trägt. Das Unwetter ist Indra, Anführer der Götter und Herr des Krieges und Donners, der auf seinem schnellen Streitwagen in die Schlacht fährt, um gegen den Drachendämon des Himmels oder die Feinde der arischen Heerscharen zu kämpfen. Der Wind ist Vayu. Die Nacht ist Ratri und die Morgendämmerung ist Usha, die anmutigste und leuchtendste der Göttinnen. Die Sonne ist Surya, der seinen Wagen über das Firmament lenkt, oder Savitri, der Spender des Lebens. Und der Tod ist Yama, das erste Wesen, das sterben musste, und dadurch der Erste in der Unterwelt.

Angst spielt in diesen frühen Hymnen nur eine kleine bis gar keine Rolle. Den Kräften des Lebens näherte man sich mit liebevoller Verehrung, sie waren Verbündete des Menschen in einer Welt, die im Wesentlichen freundlich ist, sofern man ihre Geheimnisse begreift. Und obwohl die Devas sich von Anfang an in ein Pantheon gesonderter Gottheiten aufgliederten, machen schon die frühesten Hymnen deutlich, dass sie doch nur verschiedene Aspekte eines einzigen Höchsten Wesens sind. »Die Wahrheit ist eine«, verkündet eine Hymne, »obgleich die Weisen sie mit vielen Namen bezeichnen.«

Diese poetischen Anbetungen dienten als Liturgie in einer komplizierten, sich um symbolische Opferung zentrierenden Religion: Die heiligen Worte der Hymnen wurden psalmodiert, während die Opfergaben ins Feuer gegossen wurden. Solche Zeremonien wurden für die Kshatriyas, die Krieger und Sippenherrscher, durchgeführt, von als »Brahmanen« bezeichneten Priestern, deren gesellschaftliche Funktion darin bestand, Riten zu bewahren, die bereits zu alt waren, um noch verstanden werden zu können.

Im Lauf der Zeit erstellten Brahmanen Kommentare, die den Sinn dieser uralten Riten erhellen sollten. Hymnen und Kommentare zusammen wurden ein von Generation zu Generation weitergegebenes heiliges Erbe. Das sind die Veden, Indiens heilige Schriften. Veda kommt von dem Wortstamm vid, »wissen«: Die Veden sind offenbartes Wissen, das der Menschheit mitgeteilt wurde; der orthodoxen Ansicht nach erfolgte dies ganz am Anfang der Zeit. Sie existieren in vier Sammlungen, von denen jede mit ihrer je eigenen Familientradition verknüpft ist: Rig, Sama, Yajur und Atharva, wobei der Rig-Veda die weitaus älteste Sammlung darstellt. Der erste und umfangreichste, als Karmakanda bezeichnete Teil jeder Sammlung bewahrt die Hymnen und philosophischen Ritualauslegungen, die im hinduistischen Kultus bis zum heutigen Tag gebraucht werden.

Doch dies ist nur ein Teil des Hinduismus, und der am wenigsten universale. Der zweite, als Jnanakanda bezeichnete Teil jedes Veda betrifft nicht das Ritual, sondern Weisheit: Was es mit dem Leben auf sich hat; was der Tod bedeutet; was der Mensch ist und das Wesen der Gottheit, die uns erhält; kurzum: die brennenden Fragen, die Männer und Frauen in jedem Zeitalter gestellt haben. Die ritualbezogenen Abschnitte der Veden definieren die Religion einer bestimmten Kultur; aber der zweite Teil, die Upanischaden, ist universal, für die heutige Welt so bedeutsam wie vor fünftausend Jahren für Indien.

Was ist eine Upanischad? Etymologisch hergeleitet bedeutet upanishad »sich nahe hinsetzen« – das heißt, zu Füßen eines erleuchteten Lehrers in einer vertraulichen Sitzung spiritueller Unterweisung, wie es spirituell Strebende heute in Indien noch immer tun. Häufig ist der Lehrer jemand, der sich aus dem weltlichen Leben in einen Ashram – eine »Waldakademie« – längs der Ufer des oberen Ganges zurückgezogen hat, um mit Schülern (und häufig mit einer Ehefrau) wie eine Familie zusammenzuleben und ebendort zu lehren, in Frage-und-Antwort-Sitzungen sowie durch sein Beispiel im täglichen Leben. Andere Szenarien sind augenfällig dramatisch: Eine Ehefrau fragt ihren Mann nach der Unsterblichkeit, ein König erbittet Belehrung von einem erleuchteten Weisen; ein Junge im Teenageralter wird vom Tod selbst unterrichtet, ein weiterer vom Feuer, von Vögeln und anderen Tieren. Mitunter sind die Weisen Frauen, und einige der Männer, die kommen, um sich spirituell unterweisen zu lassen, sind Könige.

Die Upanischaden zeichnen solche Sitzungen auf, aber sie haben wenig gemein mit dem philosophischen Dialog eines Plato. Sie halten die inspirierten Lehren von Männern und Frauen fest, für die die »Gott« genannte transzendente Wirklichkeit realer war als die ihnen von ihren Sinnen gemeldete Welt. Die Zweckbestimmung der Upanischaden ist nicht so sehr Unterweisung als vielmehr Inspiration: Sie sollen von einem erleuchteten Lehrer auf der Grundlage persönlicher Erfahrung dargelegt werden. Und obwohl wir von ihnen insgesamt als einem Korpus sprechen, bilden die Upanischaden nicht, wie etwa Kapitel in einem Buch, Teile eines Ganzen. Jede einzelne ist in sich geschlossen, eine ekstatische Momentaufnahme der transzendenten Wirklichkeit.

Wann diese Texte verfasst wurden, oder wer sie verfasste, weiß niemand. Den Weisen, die sie uns schenkten, lag nichts daran, den eigenen Namen zu hinterlassen: Die Wahrheiten, die sie niederschrieben, waren ewig, und die Identität derer, die die Worte zusammenstellten, irrelevant. Wir wissen nicht einmal, wie viele Upanischaden einst vorhanden waren. Seit gut tausend Jahren jedoch gelten zehn als die »Hauptupanischaden«, nach Maßgabe von Shankara, einem überragenden Mystiker des achten Jahrhunderts, der der indischen Nation ihr spirituelles Erbe wieder bewusst machte. Diese zehn Upanischaden werden in dem vorliegenden Buch dargeboten, zusammen mit einer weiteren von gleicher Bedeutsamkeit und großer Schönheit, der Shvetashvatara-Upanischad. Vier der so genannten Yoga-Upanischaden wurden hinzugefügt, um spätere Traditionen zu repräsentieren.

Faszinierenderweise scheinen die Upanischaden, obwohl sie an die Veden angehängt sind, aus einer gänzlich anderen Welt zu kommen. Wenngleich sie sich harmonisch in ihren vedischen Kontext einfügen, brauchen sie ihn nicht und nehmen erstaunlich wenig Bezug darauf; sie fußen auf ihrer eigenen Autorität. Rituale, die Grundlage der vedischen Religion, werden praktisch ignoriert. Und obwohl die vedischen Götter durchgehend vorkommen, sind sie nicht so sehr numinose Wesen als vielmehr Aspekte einer einzigen zugrunde liegenden, »Brahman« genannten Kraft, die die Schöpfung durchdringt und sie doch vollständig transzendiert. Diese Vorstellung einer höchsten Göttlichkeit, eines göttlichen Urgrunds, ist die eigentliche Essenz der Upanischaden; doch bemerkenswerterweise taucht die Bezeichnung brahman in diesem Wortsinn im Hymnenteil des Rig-Veda überhaupt nicht auf.

Das deutet auf einen entscheidenden Unterschied in der Perspektive. Der Rest der Veden blickt wie andere große heilige Schriften auch nach außen, in Verehrung und Ehrfurcht gegenüber der Erscheinungswelt. Die Upanischaden blicken nach innen – und sehen in den Kräften der Natur nur einen Ausdruck der noch ehrfurchtgebietenderen Kräfte des menschlichen Bewusstseins.

Wenn Mystik in jedem Zeitalter auftreten kann, besteht kein Grund zu der Annahme, die Upanischaden seien eine späte Blüte vedischen Denkens. Sie stellen möglicherweise einen unabhängigen Nebenfluss des breiten Stroms der Veden dar. Einige uralte Elemente des hinduistischen Glaubens lassen sich eher von der vor-arischen Industal-Zivilisation herleiten als vom vedischen Ritual, und Archäologen haben dort ein verblüffendes Steinbildnis freigelegt, das ein hinduistischer Dorfbewohner heute, ohne zu zögern, für eine Darstellung des meditierenden Shiva, des Herrn des Yoga, halten würde, was darauf hindeutet, dass in Indien vielleicht schon vor dem Erscheinen der Arier die Disziplinen der Mystik ausgeübt wurden.

All dies ist freilich Spekulation. Es bleibt aber Fakt, dass die Upanischaden zwar in den Veden völlig zu Hause sind, aber eine ganz andere Sicht dessen bieten, was Religion bedeutet. Sie sagen uns, dass es eine dem Leben zugrunde liegende Wirklichkeit gibt, die Rituale nicht erreichen können, neben der die Dinge, die wir im Alltag sehen und berühren, bloße Schatten sind. Sie unterrichten uns, dass diese Wirklichkeit die Essenz jedes erschaffenen Dings oder Wesens und unser wahres Selbst ist, sodass jeder/jede von uns eins ist mit der Kraft, die das Universum erschuf und es erhält. Und schließlich bezeugen sie, dass dieses Einssein unmittelbar realisiert werden kann, ohne die Vermittlung von Priestern oder Ritualen oder organisierter Religion, und zwar nicht nach dem Tode, sondern in diesem Leben, und dass dies der Zweck ist, zu dem jeder/jede Einzelne von uns geboren wurde – und das Ziel, auf das sich die Evolution zubewegt. Sie lehren letztlich die Grundprinzipien dessen, was Aldous Huxley als die »immerwährende Philosophie« (Philosophia perennis) bezeichnete, die der Quell allen religiösen Glaubens ist.

Die höchste Wissenschaft

Dennoch sind die Upanischaden keine Philosophie. Sie erklären nicht und entwickeln auch keine Beweisführung. Sie sind Darshana, »etwas Geschautes«, und von dem Schüler, an den man sie unterweisend weitergab, wurde erwartet, dass er die Worte nicht nur anhörte, sondern sie realisierte, das heißt: ihre jeweilige Wahrheit zu einem integralen Bestandteil der Persönlichkeit, des Verhaltens und des Bewusstseins machte.

Diese vertraulichen Sitzungen waren also, trotz ihres idyllischen Rahmens, keine informellen Elite-Uni-Seminare. Die Studierenden waren da, weil sie gewillt waren, eine beträchtliche Spanne ihres Lebens – der traditionelle Zeitraum umfasste zwölf Jahre – dieser ganz besonderen Art höherer Ausbildung zu widmen, wo »Studium« nicht Bücherlesen bedeutete, sondern das vollständige, energische Neuordnen des eigenen Lebens, das Schulen des Geistes und der Sinne mit der Hingabe, wie ein olympischer Athlet sie aufbringen muss.

In diesem Zusammenhang ist es klar, dass die von den Upanischaden aufgezeichneten Fragen – »Was geschieht beim Tod? Was lässt meine Hand sich bewegen, meine Augen sehen, meinen Geist denken? Hat das Leben eine Zweckbestimmung, oder wird es vom Zufall regiert?« – nicht aus reiner Neugier gestellt wurden. Sie zeigen ein brennendes Verlangen, zu erkennen, zentrale Prinzipien zu entdecken, die die Welt, in der wir leben, verstehbar machen, ihr einen Sinn verleihen. Die in diesen Waldakademien versammelten Studierenden waren von einem gigantischen Wagnis in Anspruch genommen: dass sie eine jenseits des gewöhnlichen Wissens liegende Wirklichkeit unmittelbar zu erfassen, wahrzunehmen lernen könnten, von deren bloßem Vorhandensein sie keine Gewissheit hatten außer dem Beispiel ihres Lehrers und der Verheißung der heiligen Schriften. Es ist kein Wunder, dass solche Studierende streng geprüft wurden, bevor man sie gegebenenfalls aufnahm – geprüft nicht nur auf Intelligenz, sondern auf Zielstrebigkeit und Willensstärke. Es ist durchaus bemerkenswert, dass überhaupt Anwärter gefunden wurden. Wie es in der Katha-Upanischad heißt: Nur wenige vernehmen überhaupt diese Wahrheiten; von den Vernehmenden verstehen nur wenige, und von diesen gelangt nur eine Handvoll ans Ziel.

Dieses glühende Verlangen, zu erkennen, ist die Motivation hinter aller Wissenschaft; daher brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir im vedischen Indien die Anfänge einer potenten wissenschaftlichen Tradition vorfinden. In der christlichen Ära sollte sie dann in voller Blüte stehen: Indische Mathematiker hatten mittlerweile moderne Ziffern, das Dezimalsystem, die Null und die Grundlagen der Algebra und Trigonometrie entwickelt; Chirurgen führten so diffizile Operationen durch wie Kataraktchirurgie und Kaiserschnitt. Aber die Wurzeln dieser wissenschaftlichen Gesinnung liegen in den Veden. »Alle Wissenschaft«, schrieb Aldous Huxley, »… besteht in der Reduzierung von Mannigfaltigkeiten auf Einheiten.« Nichts ist für das indische Denken kennzeichnender. Die Veden sind erfüllt von der festen Gewissheit des Rita, einer Ordnung, die die Schöpfung durchdringt und sich in jedem einzelnen Teil widerspiegelt – einer Einheit, auf die sich alle Vielfalt beziehen lässt.

Aus dieser Überzeugung folgt ein sehr hoch entwickelter Gedanke: Ein Naturgesetz muss ohne Ausnahme und universell anwendbar sein. Im Europa der Renaissance führte diese Erkenntnis zur Entstehung der klassischen Physik. Im alten Indien hatte sie ebenso große Konsequenzen. Während das restliche, vedische Indien die natürliche Welt studierte, mehr oder minder in einer Linie mit anderen wissenschaftlich frühreifen Zivilisationen wie etwa Griechenland und China, nahm die Waldzivilisation der Upanischaden eine in der Wissenschaftsgeschichte beispiellose Wendung. Sie konzentrierte sich auf das Medium des Erkennens, Wissens: den Geist.

Die Weisen der Upanischaden zeigen eine einzigartige intensive Beschäftigung mit Bewusstseinszuständen. Sie beobachteten Träume und den Zustand traumlosen Schlafs und fragten, was darin jeweils »gewusst« wird und von welchem Vermögen man behaupten könne, dass es der Wissende sei. Worin genau besteht der Unterschied zwischen einer Traum- und einer Wacherfahrung? Was passiert mit dem »Ich«-Gefühl in traumlosem Schlaf? Und sie suchten Invarianten: Gibt es in dem sich ständig wandelnden Fluss der menschlichen Erfahrung irgendetwas, das unverändert gleich bleibt? Gibt es in dem sich ständig wandelnden Fluss des Denkens einen Beobachter, der unverändert gleich bleibt? Gibt es irgendeinen Kontinuitätsfaden, irgendeine dem Wachen übergeordnete Wirklichkeitsebene, auf der diese Geisteszustände zusammenhängen?

Das ist die Art von Fragen, die die Weisen stellten, aber aus irgendeinem Grund blieben sie nicht dabei stehen, sie zu diskutieren. Sie vertieften sich in die Entdeckung, dass der Geist beim Stärkerwerden der Konzentration tatsächlich durch die in Erkundung befindlichen Bewusstseinszustände hindurchgeht. Und indem sie sich auf das Bewusstsein selbst konzentrierten – »Wer ist der Wissende?« –, fanden sie heraus, dass sie Schichten des Geistes separieren und seine Funktionsweisen so objektiv beobachten konnten, wie ein Botaniker eine Blüte beobachtet.

Die Bedeutsamkeit dieser Entdeckung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Da das Bewusstsein das Gebiet aller menschlichen Aktivität ist, sowohl der äußeren als auch der inneren – des Erlebens, Handelns, der Vorstellung, Erkenntnis, Liebe –, stellt eine Wissenschaft vom Bewusstsein zentrale Prinzipien in Aussicht, die alles Leben zusammenschließen. »Durch das Erkennen eines einzigen Stücks Gold«, stellten die Upanischaden fest, »sind alle aus Gold gefertigten Dinge erkannt: Sie unterscheiden sich nur in der jeweiligen Bezeichnung und Erscheinungsform, wohingegen das Material, aus dem sie alle gefertigt sind, Gold ist.« Und sie fragten: »Was ist dasjenige, durch dessen Erkennen wir das Wesen alles Übrigen erkennen können?« Sie fanden die Antwort im Bewusstsein. Seine Erforschung, sein Studium, wurde Brahma-Vidya genannt, was sowohl »die höchste Wissenschaft« als auch »die Wissenschaft vom Höchsten« bedeutet.

Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass die Brahmavidya keine intellektuelle Erforschung ist. Der Intellekt erhielt eine umfassende Schulung in diesen Waldakademien, aber die Brahmavidya ist keine Psychologie oder Philosophie. Sie ist gewissermaßen eine Laborwissenschaft: Der Geist ist sowohl Objekt als auch Laboratorium. Die Aufmerksamkeit wird nach innen gerichtet, auf sie selbst, durch eine Disziplin, die die Upanischaden Nididhyasana nennen: Meditation.

Das Wort »Meditation« wird auf so vielerlei Weise verwendet, dass ich mich unmissverständlich ausdrücken möchte, bevor ich weiter fortfahre. Meditation ist hier keine Betrachtung oder irgendeine andere Art diskursiven Denkens. Sie ist reine Konzentration: das Schulen des Geistes, auf einem inneren Fokus ohne Abschweifen zu verweilen, bis er in den Gegenstand seiner Kontemplation einsinkt. Aber Versunkenheit bedeutet nicht Bewusstlosigkeit. Die Außenwelt mag ausgeblendet, vergessen sein, doch Meditation ist ein Zustand angespannter innerer Wachheit.

Sie ist keine exotische Erfahrung. Sogar an der Universität hatte ich Studenten, deren Konzentration so gut war, dass sie beim Studieren irgendeiner bestimmten Sache gar nicht mehr wahrnahmen, was rings um sie vorging. Hätte ich sie namentlich aufgerufen, so hätten sie das womöglich nicht einmal gehört. Meditation ist eng verknüpft mit dieser Art von Versunkenheit, aber der Fokus ist nicht irgendetwas Äußeres, das man ansieht oder anhört, wie etwa ein Mikroskopdia oder eine Vorlesung. Im Fokus steht das Bewusstsein selbst; das heißt, dass alle Sinne ihre Aktivität einstellen.

Ebenso ist Meditation zwar kein diskursives Denken, aber doch nicht dasselbe wie Intuition oder Imagination. Wir lesen über die Konzentration großer Künstler, Schriftsteller und Dichter, die, indem sie sich auf die ihnen von der Welt dargebotenen Eindrücke oder auf einen noch ungeformten Steinblock konzentrieren, erfassen, was einer zusammenschließenden, vereinheitlichenden Vision in ihrem Geist entspricht, und irgendeine Methode gestalten, diese mit anderen zu teilen. Brahmavidya hat auch zu dieser Erkenntnisweise, die sich nicht sonderlich von der Intuition eines großen Wissenschaftlers unterscheidet, Affinitäten. Aber die Brahmavidya befasst sich nicht mit den Einsichten, die aus der Konzentration auf einen bestimmten Teil des Lebens hervorgehen; sie befasst sich damit, wie Konzentration überhaupt Einsicht hervorbringt. Indem sie beobachteten, was beim Stärkerwerden der Konzentration geschieht, lernten die Weisen der Upanischaden, aus der Einsicht eine Wissenschaft und Kunst und Fertigkeit zu machen – etwas, das man meistern, beherrschen und dann anderen beibringen konnte, so wie in der Renaissance ein Meister der Malerei einen begabten Schüler auswählen mochte, der dann als ein Familienmitglied bei ihm wohnte und seine Kunst in sich aufnahm.

Kürzlich las ich eine scharfsinnige Bemerkung von William James, dem großen amerikanischen Psychologen, die die Bedeutsamkeit dieses Könnens klar darlegt: »Die Fähigkeit, eine abschweifende Aufmerksamkeit immer und immer wieder aus eigenem Antrieb zurückzubringen, ist die eigentliche Wurzel des Urteilsvermögens, der Charakterstärke und der Willenskraft. Eine Bildung, die diese Fähigkeit mit einschließen sollte, wäre die Bildung par excellence.« James äußerte da keine vage Vermutung. Er versuchte, sich dieses Können selbst beizubringen, zumindest, wie es sich auf Alltagsangelegenheiten anwenden lässt, und das gelang ihm immerhin so gut, dass er sich aus einer lebensbedrohlichen Depression selbst heraushieven konnte. In dieser kardinalen Leistung begriff er den Zusammenhang zwischen dem Schulen des Geistes und dem Meistern des Lebens. Er hätte die Waldakademien der Upanischaden begrüßt, deren Studienpläne auf diesem Zusammenhang gründeten: »Bildung par excellence« ist eine fast wörtliche Übersetzung von Brahmavidya.

Brahmavidya und herkömmliche Wissenschaft beginnen beide, wenn ein Mensch feststellt, dass die Welt der so flüchtigen und oberflächlichen Sinneseindrücke an sich nicht hinreicht, um das Verlangen nach Sinn zu befriedigen. Dann beginnt man, von den Sinnen ein bisschen zurückzutreten und, auf der Suche nach zugrunde liegenden Zusammenhängen, unter das Oberflächenschauspiel des Lebens zu blicken. Aber die Weisen der Upanischaden wollten mehr als nur Erklärungen der Außenwelt. Sie suchten Prinzipien, die das Ganze der menschlichen Erfahrung zusammenschließen und erklären würden – und dabei die Welt im Innern des Geistes mit umfassen würden. Wenn der Beobachter durch das Medium des Bewusstseins beobachtet und die Welt gleichfalls im Bewusstsein beobachtet wird, sollten dann nicht dieselben Gesetze für beide gelten?

In der Brihadaranyaka-Upanischad gibt es eine lange, eindringliche Darstellung der Geisteszustände, die die Weisen erforschten. Sie nannten sie »Wachen«, »Träumen« und »traumloser Schlaf«, aber irgendwie hatten sie die brillante Beobachtung gemacht, dass das nicht bloß abwechselnde Zustände sind, in denen sich ein Mensch tagtäglich jeweils übergangsweise befindet, sondern auch Schichten des Gewahrseins, nebeneinander bestehende Schichten, die in jeweils verschiedener Tiefe im bewussten und im unbewussten Geist liegen.

Beim Träumen, bemerkt die Upanischad, verlassen wir eine Welt und betreten eine andere. »In dieser Traumwelt gibt es keine Wagen, keine Zugtiere, keine Straßen, sondern man macht selbst Wagen und Tiere und Straßen aus den Eindrücken vergangener Erfahrung.« Und dann der Einsichtsschub: »Jedermann erlebt dies, aber niemand kennt den Erlebenden.« Was ist dasselbe in beiden Welten, der Beobachter sowohl der Wacherfahrung als auch der Träume? Es kann nicht der Körper sein, denn in Träumen löst es sich vom Körper und den Sinnen los und erschafft selbst seine Erfahrungen – Erfahrungen, die hinsichtlich der physiologischen Reaktionen so real sein können wie die des Wachlebens. »Wenn ein Mann träumt, dass man ihn tötet oder dass ein Elefant ihn verfolgt oder dass er in einen Brunnen fällt, macht er die gleiche Angst durch, die er im Wachzustand empfinden würde«: Sein Herz rast, der Blutdruck steigt, Stresshormone ergießen sich in den Körper, genauso, als ob das Ereignis real wäre. Traum und Wachen sind aus demselben Stoff, und für das Nervensystem sind beide Arten von Erfahrung real.

Wenn wir aus einem Traum erwachen, gehen wir also nicht von der Unwirklichkeit zur Wirklichkeit über; wir gehen von einer niedrigeren Wirklichkeitsebene zu einer höheren über. Havelock Ellis, der Psychologe, der sein Leben dem Studium des Sex widmete, bemerkte: »Träume sind real, solange sie dauern. Können wir vom Leben mehr behaupten?«

Falls die Wacherfahrung unbeständig ist – sollte es dann nicht etwas Bleibendes, etwas Reales geben, das sie stützt? Könnte es nicht vielleicht möglich sein, in einem höheren Zustand zu erwachen, eine Wirklichkeitsebene über dieser Welt sich ständig verändernder Sinneseindrücke? Die Weisen fanden einen Anhaltspunkt: Im traumlosen Schlaf löst sich das beobachtende Selbst nicht nur vom Körper, sondern auch vom Geist los. »Wie ein angebundener Vogel es müde wird, vergeblich umherzufliegen, um einen Ruheplatz zu finden, und sich schließlich auf seiner eigenen Sitzstange niederlässt, so lässt sich der Geist«, gleichwie der Körper, »nieder, um auszuruhen« in traumlosem Schlaf – eine Beobachtung, die mit gegenwärtiger Forschung übereinstimmt, nach deren Ansicht in diesem Zustand das vegetative Nervensystem repariert wird.

Diese stille Welt ist in den Tiefen des Geistes immer vorhanden. Sie ist die tiefste, universalste Schicht des Unbewussten. Erwache in diesem Zustand, sagen die Upanischaden, und du wirst sein, wer du wirklich bist, frei von der Konditionierung durch Körper und Geist, in einer Welt, die nicht begrenzt ist von den Einschränkungen durch Zeit, Raum und Kausalität.

Erwachen in den tiefsten Tiefen des Unbewussten, wo selbst das Denken aufgehört hat? Die Sprache ergibt nicht mehr Sinn als eine Karte von irgendeiner anderen Dimension. Hier gleichen die Upanischaden uralten Logbüchern, die Erkundungsreisen in die auf keiner Karte verzeichneten Gewässer der im Innern liegenden Welt festhalten. Wenn schon Freuds beschränkte, flüchtige Einblicke in das Unbewusste einen derart starken Einfluss auf die Zivilisation haben konnten, müssen die Weisen, die den Geist dreitausend Jahre zuvor kartografisch erfassten, unter den größten Erforschern in der Historie rangieren.

Doch das ist ein gefährliches Terrain. Wir wissen, welche Kräfte uns in der Traumwelt hin und her werfen können, und die ist nur das Vorland der dunklen Bergketten des Geistes, wo Angst, Leidenschaft, Egoismus und Begierde den Willen so leicht beiseitefegen. Eines von Gerard Manley Hopkins’ »dunklen Sonetten« deutet die Gefahren dieser Bereiche an:

O der Geist, Geist hat Berge; Klippen des Sturzes Grass, jach, von keinem erlotet. Sie gering achten Mag, wer niemals dort hing …

Die Katha-Upanischad würde zustimmen. In berühmten Worten warnt sie davor, dass der Aufstieg zum Gipfel des Bewusstseins nichts für Furchtsame ist: »Scharf wie eine Rasiermesserschneide, sagen die Weisen, ist der Pfad zur wahren Wirklichkeit, schwierig zu durchschreiten.« Nichts in den Upanischaden ist wichtiger als die Beziehung zwischen Schüler und Führer. Der spirituelle Lehrer muss jede Handbreit des Weges, jede Gefahr und Fußangel kennen, und dies nicht aus Büchern oder Karten oder vom Hörensagen. Er muss die Strecke selbst zurückgelegt haben, vom Vorland bis zu den höchsten Gipfeln. Und er muss es geschafft haben, wieder herunterzugelangen, um auf Schüler menschlich und mitfühlend eingehen zu können. Nicht jeder, der die Selbst-Verwirklichung erlangt, kann einen verlässlichen Führer abgeben. Ich sage da »er«, aber das ist keine ausschließlich Männern vorbehaltene Rolle. Mein eigener Lehrer ist die Mutter meiner Mutter.

Dieser spirituelle Aufstieg ist eine solche Herausforderung, dass wir verstehen, warum die Weisen ihre Schüler ganz jung annahmen. Zum Erforschen des Unbewussten bedarf es des Wagemuts der Jahre zwischen zwölf und zwanzig, wo man, wenn jemand sagt: »Versuch nicht, auf diesen Gipfel zu klettern, da verletzt du dich nur«, sofort loszieht und mit dem Klettern beginnt. Während wir älter werden, ändert sich etwas; wir fangen an, auf solche warnenden Stimmen zu hören, und sagen, dass wir nun Besonnenheit lernen. Und so ist es denn kein Zufall, dass der Held der Katha-Upanischad ein Teenager ist. Die Botschaft der Katha, die überall in den Upanischaden widerhallt, lautet, sich zu trauen wie ein Teenager: nach dem Höchsten zu greifen, das man sich denken kann, mit allem, was man hat, und nie die Kosten zu berechnen.

Was bringt einen Menschen dazu, das Unmögliche zu wagen? Was befeuert den Willen, wenn wir etwas noch nie zuvor Getanes flüchtig zu sehen bekommen und ein unbändiger Drang aufwallt zu schreien: »Dann tun wir’s doch!«? Hier in San Francisco beschließt eine junge, von Geburt an blinde Frau, allein über den Pazifik zu segeln, und es gelingt ihr; ich kann mir nicht einmal vorstellen, es bis nach Alcatraz zu schaffen. Bergsteiger kommen zu der Überzeugung, dass es nicht reicht, einfach nur den Mount Everest zu besteigen; sie müssen ihn allein besteigen, nehmen keinen Sauerstoff mit und wählen den schwierigsten Aufstieg. Und erst vor ein paar Monaten verpfändeten ein Mann und eine Frau ihre Zukunft, um ein fragiles Flugzeug zusammenzubauen, mit einem Cockpit, das kleiner ist als eine Telefonzelle; so konnten sie ohne Zwischenlandung die Welt umfliegen. Wir fragen: »Warum habt ihr das gemacht?« Und der Pilot des Voyager kann nur achselzuckend erwidern: »Einfach nur des höllischen Kicks wegen.« Er kann keinen triftigeren Grund angeben, und doch versteht es jeder.

Die Weisen würden sich da ähnlich ausdrücken: »Einfach nur des göttlichen Kicks wegen.« Einfach nur, um nach dem Höchsten zu greifen. Menschen können nicht ohne Herausforderung leben. Wir können nicht ohne Sinnhaftigkeit leben. Alles jemals Erreichte schulden wir diesem unerklärlichen Drang, über unsere Fassungskraft hinauszugreifen, das Unmögliche zu vollbringen, das Unbekannte zu erkennen. Die Upanischaden würden sagen, dass dieser Drang zu unserem evolutionären Erbe gehört, dass er uns für das ultimative Abenteuer gegeben ist: mit voller Gewissheit zu entdecken, wer wir sind, was das Universum ist und worin die Bedeutsamkeit des kurzen Dramas von Leben und Tod besteht, das wir vor dem Hintergrund der Ewigkeit spielen.

In eindringlichen Worten erklärt die Brihadaranyaka:

Du bist, was dein tiefes, treibendes Begehren ist. Wie dein Begehren ist, so ist dein Wille. Wie dein Wille ist, so ist dein Tun. Wie dein Tun ist, so ist dein Schicksal.

Brihad. IV.4.5

Letztendlich ist alles Erringen von Begierde angetrieben. Jeder/jede von uns hat Millionen einzelner Begehren, von groß bis banal, die einen bestimmten Anteil an Willen enthalten, zur Erfüllung des jeweiligen Begehrens zu gelangen. Stellen Sie sich vor, wie viel latente Kraft in der menschlichen Persönlichkeit vorhanden ist! Mit nur einem Bruchteil dieses Potenzials eroberte der junge Alexander Kontinente, umrundeten Dick Rutan und Deana Yaeger mit Voyager die Welt, drang Einstein zum Herz des Universums vor. Könnte ein Mensch alle menschlichen Begehren verschmelzen, sie wie einen Laser lenken – was wäre dann unerreichbar?

Diese gewaltige Zielsetzung ist die Basis der Brahmavidya. Jedes Begehren nach Erfüllung in der Welt draußen wird zurückgerufen – nicht abgewürgt oder unterdrückt, sondern in einem einzigen vorrangigen Begehren nach der Selbst-Verwirklichung zusammengeschlossen. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis hat diese augenscheinliche Umkehrung der menschlichen Natur nichts Tristes oder Lebensverneinendes an sich. Die dafür erforderliche Leidenschaft unterscheidet sich nicht von dem, was ein großer Balletttänzer, Turner oder Musiker beansprucht. Im Sanskrit wird diese glühende, einsgerichtete, das Ego transzendierende Leidenschaft als Tapas bezeichnet, und die Veden ehren sie als eine unübertreffliche schöpferische Kraft. Aus dem Tapas Gottes, heißt es im Rig-Veda, entstand der Kosmos selbst.

Welchen Wagemut halten die Weisen der Upanischaden in ihrer Anonymität verborgen! Es ist kein Wunder, dass so viele aus der Kriegerkaste stammten. Es hatte nichts Weltverneinendes an sich, wenn diese zukünftigen Weisen Hof und Stadt verließen, um zu den Wäldern am Ganges fortzureisen. Weltverdrossenheit kann kein Tapas hervorrufen. Sie sehnten sich danach, das Leben in seinem Innersten zu erkennen, es zu erkennen und es zu meistern, und das bedeutete: jede Strömung des Geistes zu bemeistern.

Natürlich ist Sex, jedenfalls bei den meisten Leuten, das stärkste Begehren und daher die ergiebigste Quelle der menschlichen Energie. Brahmacharya, Selbstbeherrschung im Denken wie im Handeln, war eine Grundvoraussetzung in diesen Waldakademien. Aber das war keine Unterdrückung oder Verdrängung. Sexuelles Begehren ist, wie alles andere in den Upanischaden, nur zum Teil physisch. Im Wesentlichen ist es eine spirituelle Kraft – reine, hochoktanige schöpferische Energie –, und Brahmacharya ist gleichbedeutend mit ihrer Umwandlung. Tapas, sagen die Weisen, wird zu Tejas: dem strahlenden Glanz der Persönlichkeit, der sich in Liebe, Mitgefühl, schöpferischem Handeln und einer zutiefst anrührenden, alle Herzen anziehenden Güte zeigt.

Nichts geht bei dieser Umwandlung verloren. Es ist in den Upanischaden ganz offensichtlich, dass der Sexus heilig ist, und häufig gingen Ashramabsolventen in die Welt zurück, um die Pflichten des Familienlebens aufzunehmen. Aber das taten sie in Freiheit. Befreit von Konditionierung, hatten sie bei allem, was sie taten, ja sogar bei allem, was sie dachten, freie Wahl. Ihr Ideal bestand nicht darin, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern uneigennützig in ihr zu leben, bei vollständiger Beherrschung der eigenen Sinne und Leidenschaften. Diese Freiheit ist das Kennzeichen der Upanischaden, und nichts passt besser zum lebensbejahenden Geist der Veden.

Atman und Brahman

Während der Meditation verweilt der Geist auf einem einzigen Gegenstand der Konzentration. Dabei fließt die Aufmerksamkeit in ruhigem, ununterbrochenem Strom wie Öl, das aus einem Behälter in einen anderen gegossen wird. Während dies geschieht, zieht sich die Aufmerksamkeit natürlich aus anderen Kanälen zurück. Die Ohren beispielsweise funktionieren immer noch, aber der Meditierende hört dann nichts; die Aufmerksamkeit ist nicht mehr mit den Hörorganen verbunden.

Wenn die Konzentration tief ist, gibt es Momente, wo man den Körper völlig vergisst. Dieses Erleben löst die physische Identifikation friedlich auf. Der Körper wird wie eine bequeme Jacke: Man trägt ihn mühelos, und in der Meditation kann man ihn aufknöpfen und lockern, bis er kaum noch auf einem lastet.

Schließlich kommt dann ein Zeitpunkt, wo man aus der Meditation aufsteht und weiß, dass man nicht sein Körper ist. Das ist keine verstandesmäßige Einsicht. Auch im Unbewussten ist die Verknüpfung durchtrennt, dafür gibt es sichere Anzeichen im Befinden und im Verhalten: Kein physisches Verlangen kommandiert einen mehr herum, und jeder Zwang, seelische Bedürfnisse mittels physischer Tätigkeiten zu erfüllen, verschwindet. Und was am wichtigsten ist: Man verliert die Angst vor dem Tod. Denn man weiß mit Sicherheit, dass der Tod nicht das Ende ist und man nicht sterben wird, wenn der Körper stirbt.

Die Taittiriya-Upanischad sagt, dass der Körper die erste von mehrerlei Schichten ist, die die menschliche Persönlichkeit umgeben, wobei jede einzelne jeweils weniger physisch-materiell ist als die davorliegende. Diese entsprechen in etwa Komponenten von dem, was wir »Geist« oder »Gemüt« nennen: den Sinnen, Emotionen, dem Intellekt, dem Willen. Als sie ihr Gewahrsein sukzessive aus diesen einzelnen Schichten des Bewusstseins zurückzogen, machten die Weisen nach und nach eine weitere erstaunliche Entdeckung: Die Kräfte des Geistes haben kein eigenes Leben. Der Geist ist nicht bewusst; er ist nur ein Instrument des Bewusstseins – oder anders gesagt: ein Prozess, ein komplexes Kräftefeld. Doch wenn wir das Gewahrsein aus dem Geist zurückziehen, bleiben wir bewusst gewahr. Wenn dies geschieht, wird klar, dass wir nicht der Geist sind, ebenso wenig wie wir der physische Körper sind.

Sobald das Gewahrsein auch jenseits des Geistes gefestigt ist, bleibt außer dem »Ich«-Gewahrsein wenig übrig. Die Konzentration ist dann so tief, dass der Geist-Prozess beinahe zum Stillstand gekommen ist. Der Raum ist weg und die Zeit so abgeschwächt, dass sie kaum real zu sein scheint. Das ist ein Vorgeschmack von Shanti, dem »Frieden, der das Verständnis übersteigt« und am Ende jeder Upanischad namentlich zitiert wird, um so an diesen erhabenen Zustand zu erinnern. Der Mensch ruht in der Meditation in dem, was die Taittiriya-Upanischad als den »Körper der Freude« bezeichnet, einem stillen, ätherischen Innenbereich an der Schwelle reinen Seins.

Da mag es eine geraume Zeit lang den Anschein haben, dass sich in dieser stillen Welt nichts regt, in derart großer Bewusstseinstiefe, dass die Phänomene der Oberfläche so fern anmuten wie ein Traum aus der Kindheit. Aber nach und nach wird der Meditierende der Präsenz von etwas weit Ausgedehntem gewahr, das ihm innig zu eigen, aber keineswegs das endliche, begrenzte Selbst ist, das er bislang als »Ich« bezeichnete.

An diesem Punkt trennt ihn vom Meer des unendlichen Bewusstseins nur noch eine dünne Hülle persönlicher Identität. Diese Hülle lässt sich durch keinerlei Willensaufwand entfernen; das »Ich« kann sich nicht selbst tilgen. Doch dann, ganz unvermittelt, verflüchtigt es sich tatsächlich. Beim Höhepunkt der Meditation verschwindet die Barriere der Individualität, indem sie sich in einem Meer reinen, undifferenzierten Gewahrseins auflöst.

Diesen Zustand nennen die Upanischaden Turiya – wörtlich: »der/die/das Vierte«, weil er jenseits von Wachen, Träumen und traumlosem Schlaf liegt. Turiya, sagen die Upanischaden, bedeutet das Aufwachen im traumlosen Schlaf: in den tiefsten Tiefen des Unbewussten, wo man weder des Körpers noch des Geistes gewahr ist. Im späteren hinduistischen Denken wird dieses Erwachen vertrautere Namen erhalten: Samadhi, »vollständige Vertiefung«; Moksha, »Befreiung« oder »Erlösung«, weil dieser Zustand das Freisein von aller Konditionierung und den Begrenzungen durch Raum und Zeit mit sich bringt.

Was bleibt noch bestehen, wenn jede Spur von Individualität entfernt ist? Wir können es als reines Sein bezeichnen, denn eben durch das Differenzieren dieser Einheit bekommen erschaffene Dinge/Wesen ihren Namen und ihre Gestalt. Die Weisen nannten es Brahman, abgeleitet aus dem Wortstamm brih: »sich ausdehnen«. Brahman ist der irreduzible Seinsgrund, die Essenz jedweden Dings/Wesens – der Erde und der Sonne und sämtlicher Geschöpfe, der Götter und Menschen, jedweder Kraft des Lebens.

Gleichzeitig mit dieser Entdeckung erfolgt eine weitere: Dieses einheitliche Gewahrsein ist auch der Grund des je eigenen Seins und Wesens, das Innerste der Persönlichkeit. Diesen göttlichen Grund nennen die Upanischaden einfach Atman, »das Selbst« – nicht zu verwechseln mit der Einzelpersönlichkeit, dem individuellen Selbst oder Ich. Im Vereinigungszustand wird innewerdend erschaut, dass das Selbst eines ist, ein und dasselbe in allen. Das ist keine logisch aufgebaute Schlussfolgerung; es ist etwas mitten im Zentrum des eigenen Seins und Wesens Erlebtes, Erfahrenes, eine unveräußerliche Tatsache. In allen Personen, allen Geschöpfen ist das Selbst die innerste Essenz. Und es ist identisch mit Brahman: Unser wahres Selbst unterscheidet sich nicht von der als »Gott« bezeichneten letztgültigen Wirklichkeit.

Diese ungeheure Gleichung – »das Selbst ist Brahman« – ist die zentrale Entdeckung der Upanischaden. Sie wird in einem der Mahavakyas, also einer der »großen Formeln« ausgedrückt, die da lautet: Tat tvam asi, »Das bist du.« Mit dem Demonstrativum »Das« deuten die Upanischaden auf eine Wirklichkeit hin, die sich nicht beschreiben lässt; und mit »du« ist natürlich nicht die belanglose, endliche Persönlichkeit gemeint, sondern jenes reine Bewusstsein, »das die Augen sehen und den Geist denken lässt«: das Selbst.

In dieser Versunkenheit gibt es keine Zeit, keinen Raum, keine Kausalität. Das sind vom Geist aufgedrängte Formen, und der Geist ist ja still. Es gibt auch kein Gewahrsein irgendeines Gegenstandes; sogar der Gedanke »ich« hat sich aufgelöst. Doch das Gewahrsein bleibt: Chit, reines, undifferenziertes Bewusstsein, jenseits der Aufspaltung in Beobachter und Beobachtetes. Sobald der Geist-Prozess wieder startet, wie er dies ja muss, und wir in den Körper und die Persönlichkeit zurückgleiten, wird sich der Formenreichtum der Wahrnehmungswelt entfalten wie ein Same, der explosionsartig zu einem Baum aufgeht.

Astrophysiker verwenden eine ähnliche Ausdrucksweise, wenn sie über die Erschaffung der Welt reden. Die gesamte Materie im Universum muss in jenem »Uratom« vorhanden gewesen sein, überverdichtet bis zu einem unfasslichen Grad. In solch einem Zustand wäre Materie nicht mehr als Materie möglich. Sie wäre zu reiner Energie zerlegt, und die Energie selbst wäre roh und undifferenziert; Varianten wie die Schwerkraft oder das Licht lägen irgendwo in der Zukunft. Die Zeit wäre noch nicht real, denn es kann vor dem Nullpunkt keine Zeit geben; ebenso wenig ergäbe im Rahmen einer Frage wie: »Was war vor dem Urknall da?« die Raumkomponente einen Sinn. Physiker erwidern, mit Gertrude Stein: »Es gibt dort kein ›dort‹. Es gibt da kein ›dann‹.« Raum und Zeit, Materie und Energie entstanden schlagartig im Augenblick der Welterschaffung; »vor« jenem Moment finden die Begriffe keine Anwendung.

Die Weisen fänden dies alles eine perfekte Metapher für den Zustand der Einheit. In Samadhi wird die Wirklichkeit zu reinem Potenzial, ohne Dimensionen, ohne Zeit, ohne irgendeine Differenzierung, verdichtet. Die Physiker sagen nicht, dass vor dem Urknall nichts existierte; sie sagen, dass alles daraus hervorging und dass keinerlei anderweitige Aussagen möglich sind. Ebenso ist Samadhi nicht Leere, sondern Purnata, Ganzheit, vollständige Fülle. Die ganze Wirklichkeit ist da vorhanden, sowohl die innere als auch die äußere: nicht nur Materie und Energie, sondern alle Zeit, aller Raum, alle Kausalität und sämtliche Bewusstseinszustände.

Diese Fülle bezeichnen die Upanischaden als Sat: absolute Seinsrealität, in der die ganze Schöpfung eingeschlossen, inbegriffen ist, wie ein Organismus in der DNA oder ein Baum in einem winzigen Samen inbegriffen ist.

Die Freude in diesem Zustand lässt sich nicht beschreiben. Sie ist Ananda: reine, grenzenlose, unkonditionierte Freude. Die individuelle Persönlichkeit löst sich auf wie Salz in einem Meer der Freude, geht wie ein Fluss in ihm auf, erfreut sich wie ein Fisch in einem Ozean der Glückseligkeit. »Wie ein Mann in den Armen seiner Geliebten«, formuliert die Brihadaranyaka kühn, »kein Gewahrsein hat von dem, was außen, und dem, was innen ist, so hat man in der Vereinigung mit dem Selbst kein Gewahrsein von dem, was außen, und dem, was innen ist, denn in diesem Zustand sind alle Begehren erfüllt.« Und welche sonstige heilige Schrift würde solch ein Bild mit einem Wortspiel krönen? »Apta-kamam atma-kamam a-kamam rupam: Das ist seine wahre Form, in der er frei ist von allen Begehren, weil all seine Begehren erfüllt sind; denn das Selbst ist all unser Begehren.«

Nichts Geringeres kann das menschliche Herz befriedigen. »Es gibt keine Freude im Endlichen; Freude gibt es nur im Unendlichen.« Das ist die Botschaft der Upanischaden. Das Unendliche – frei, unbegrenzt, voller Freude – ist unser angeborener Zustand. Wir sind aus diesem Zustand herausgefallen und suchen ihn überall: Jede Menschentätigkeit ist eine Bemühung, diese Leere zu füllen. Aber solange wir sie von außerhalb unserer selbst her zu füllen versuchen, stellen wir Ansprüche an das Leben, denen es nicht gerecht werden kann. Endliche Dinge können nie einen unendlichen Hunger stillen. Nichts kann uns befriedigen als eben nur die Wiedervereinigung mit unserem wahren Selbst, das, wie die Upanischaden sagen, Sat-Chit-Ananda ist: absolute Wirklichkeit, reines Gewahrsein, unkonditionierte Freude.

Die Entdeckungen

Was kann über einen Seinszustand ausgesagt werden, in dem sogar der gesonderte Beobachter verschwindet? »Worte kehren eingeschüchtert um«, heißt es in den Upanischaden: Jeder Erklärungsversuch bringt Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten hervor. Aber die Weisen der Upanischaden haben sich offensichtlich so heftig danach gesehnt, Mitteilung zu machen, dass sie es einfach versuchen mussten, selbst wenn die Darstellung dazu verdammt war, unzulänglich zu sein.

In dem Zusammenhang fällt mir ein, dass ich mir vor einiger Zeit Filmmaterial darüber ansah, wie die Titanicaufgefunden wurde – knapp viertausend Meter unter der Oberfläche des Ozeans, weit jenseits von Tiefen, in die Licht dringen kann, wo das bloße Gewicht des Meeres einen Menschen zerdrücken würde. Wissenschaftler konstruierten einen gut dreieinhalb Meter großen Roboter namens Argo und ließen ihn peu à peu durch diese schwarzen Wasser direkt auf den Ozeanboden herunter. Mit Kameras und Sonar sondierend begannen sie, in diesen verborgensten Tiefen ein lebendiges Bild von einer Welt zusammenzustückeln, die niemand je zuvor gesehen haben konnte. Das Video schien uns durch Türen mitzunehmen, die seit siebzig Jahren nicht geöffnet worden waren, jenen berühmten Treppenaufgang hinunter in einen lautlosen, von der Zeit nicht entstellten Kristall-Ballsaal – unheimliche, unzusammenhängende Aufnahmen einer lichtlosen Landschaft. Genauso denke ich mir die Upanischaden – dass sie sondierend Tiefen erforschen, wo die Individualität selbst sich auflöst, und Bilder von im Meeresboden des Unbewussten eingesunkenen Schätzen heraufschicken.

Was berichten sie? Als Erstes teilen sie uns mit, dass es, was immer wir auch sind, was immer wir auch geleistet haben mögen, in jedem/jeder von uns ein unveräußerliches Selbst gibt, das göttlich ist:

Wie die Sonne, die das Auge der Welt ist,

nicht durch die Fehler an unseren Augen befleckt werden kann,

auch nicht durch die Gegenstände, die sie ansieht,

so kann das eine, allen Wesen innewohnende Selbst nicht

durch die Übel der Welt befleckt werden.

Denn dieses Selbst transzendiert alles!

Katha II.2.11

Sie erinnern uns daran, dass Liebe das erste und letzte Gebot dieser Realisierung ist, denn ein und dasselbe Selbst wohnt allen Wesen inne:

Wie ein und dasselbe Feuer verschiedene Gestalten annimmt,

wenn es Gegenstände verzehrt, die in der Gestalt sich unterscheiden,

so nimmt tatsächlich das eine Selbst, der Atman, die Gestalt

eines jeden Geschöpfs an, in dem er vorhanden ist.

Katha II.2.9

Sie rufen uns auf zur Entdeckung eines Bereichs tief im Innern unserer selbst, der unser angeborener Zustand ist:

In der Brahmanstadt ist ein verschwiegener Wohnsitz, der Lotos des Herzens. Im Innern dieser Wohnung ist ein Raum, und dieser Raum birgt die Erfüllung unserer Begehren in sich …

Befürchte nie, dass das Alter in diese Stadt vordringen wird; befürchte nie, dass dieser innere Schatz aller Wirklichkeit dahinschwinden und verfallen wird. Dieser kennt kein Altern, wenn der Körper altert; dieser kennt kein Sterben, wenn der Körper stirbt.

Chand. VIII.1.1,5

Sie machen uns heimisch in einem mitfühlenden Universum, wo nichts »anders« ist als wir selbst – und sie drängen uns, dieses Universum ehrfürchtig zu behandeln, denn es gibt nichts auf der Welt außer Gott:

Das Selbst, der Atman, ist die am Himmel scheinende Sonne,

der im freien Raum wehende Wind; er ist das Feuer

auf dem Altar und in der Heimstatt der Gast;

er wohnt in Menschen, in Göttern, in der Wahrheit

und im weiten Himmelsgewölb; er ist der Fisch,

der wassergebürtige, die in der Erde wachsende Pflanze,