Die Vampirschwestern (Band 6) – Bissige Gäste im Anflug - Franziska Gehm - E-Book

Die Vampirschwestern (Band 6) – Bissige Gäste im Anflug E-Book

Franziska Gehm

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Beschreibung

Ein Mondschein-Gruselpicknick auf dem Knochenhügel – etwas Aufregenderes hätten sich die Vampirschwestern Daka und Silvania und ihre beiden Freunde nicht einfallen lassen können. Doch gerade wollen sie es sich so richtig gemütlich machen, da tauchen ein paar schreckliche Riesenfledermäuse am Nachthimmel auf und kreisen sie ein. Wie unhöflich, denn eine Einladung haben diese stinkenden Bestien bestimmt nicht bekommen. Und sie sehen auch nicht so aus, als wollten sie nur auf ein Stück Spinnenwackelpudding bleiben. Franziska Gehms lustige Reihe für Mädchen ab 10 Jahren begleitet die halb-vampirischen Teenie-Schwestern Daka und Silvania durch ihren Alltag mit Eltern und Schule, aber auch durch Abenteuer mit bissigen Fledermäusen und der ersten Liebe. Unterstützt werden die paranormalen Heldinnen von Helene, deren Freundschaft allen Unterschieden, Hindernissen und Gefahren trotzt. Mehr Infos rund um die Vampirschwestern unter: www.vampirschwestern.de

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Zurück in Bindburg

Daka hing kopfüber an der Metallleine, die sie durch das Zimmer gespannt hatte, das sie sich mit ihrer sieben Minuten älteren Zwillingsschwester Silvania teilte. Sie hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und schaukelte vor und zurück. Die Metallleine quietschte. Daka lutschte genüsslich an einer marinierten Schweineborste. Sie hatte sich vom Blutmarkt in ihrer unterirdischen Heimatstadt Bistrien einen Vorrat dieser köstlichen Knabbereien mitgebracht.

„Das ist echt sushpektoi“, sagte sie. Ein Borstenkrümel fiel ihr dabei aus dem Mund.

Sushpektoi war Vampwanisch und hieß „komisch“ oder „seltsam“.

Silvania saß unter ihrer Schwester im Schneidersitz auf dem Bett. Auf ihrem Schoß lag ein dickes Buch. Silvania starrte auf den Schweineborstenkrümel, der mitten auf der aufgeschlagenen Buchseite gelandet war. „Was ist sushpektoi?“ Dass Schweineborsten nach unten und nicht nach oben flogen, war es jedenfalls nicht. Zumindest nicht für Silvania.

Daka schielte nach unten zu ihrer Schwester. „Dass ich das Gefühl habe, ich bin wieder zu Hause, wenn ich hier so abhänge. Wo wir doch erst vor ein paar Wochen nach Bindburg gezogen sind …“

„… und du damals am liebsten sofort zurück nach Bistrien wolltest.“

Silvania und Dakaria Tepes waren vor zwölf Jahren in Bistrien zur Welt gekommen. Sie waren sehr süße Babys gewesen. Mit süßen kleinen Nasen. Mit süßen roten Popos. Und mit süßen spitzen Eckzähnen. Silvania und Dakaria waren Halbvampire. Ihrem Papa, Mihai Tepes, gefielen die süßen spitzen Eckzähne besonders. Er war ein blutechter Vampir. Ihre Mama, Elvira Tepes, mochte die süßen kleinen Nasen mehr. Sie war ein Mensch.

Silvania und Daka Tepes hatten zwölf Jahre in Transsilvanien gelebt. Elvira Tepes 15Jahre. Und Mihai Tepes 2676Jahre. Vor ein paar Wochen waren sie alle nach Deutschland gezogen. Elvira Tepes freute sich sehr, endlich wieder in ihrer Heimat zu sein. Mihai Tepes freute sich, dass seine Frau sich freute. Ansonsten, fand er, hatte der Umzug wenig Erfreuliches.

In den Herbstferien war die ganze Familie Tepes samt Helene Steinbrück, der allerbesten und allereinzigsten Freundin der Vampirschwestern, nach Transsilvanien geflogen und hatte ihre Blutsverwandtschaft in Bistrien besucht. Nachdem Mihai es seiner Frau zuliebe schon mehrere Wochen im blutarmen Deutschland ausgehalten hatte, war der Besuch bitternötig gewesen.

Silvania schnipste den Schweineborstenkrümel vom Buch. „Siehst du, unter Menschen ist es gar nicht so fürchterlich, wie du immer dachtest.“

Daka steckte sich die nächste marinierte Schweineborste in den Mund. Sie lutschte ein paar Sekunden daran herum. Dann zerknackte sie die Borste. „Ich weiß nicht …“ Ihr Blick fiel auf das Aquarium, in dem Karlheinz gerade an der Scheibe entlangschrubbte. Karlheinz war Dakas liebstes Haustier. Er war ein Blutegel. „Vielleicht liegt es nur an Karlheinz. Wie heißt es so schön: Rodna oista gdo inima oista. Die Heimat ist dort, wo das Herz ist.“

Silvania sah mit gerunzelter Stirn hoch zu ihrer Schwester. „Und dein Herz ist bei Karlheinz?“

„Besser als in irgendeinem albernen, dicken Buch.“

„Meine Bücher sind nicht albern. Darin geht es um Liebe, Sehnsucht, Treue und all solche Sachen.“

„Sag ich doch. Albern.“

Silvania schüttelte den Kopf. Sie leckte kurz den Zeigefinger an und blätterte die Buchseite um. Allerdings verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen wie Straßenschilder im Nebel. Seit dem Besuch in Bistrien war sie durcheinander. Ihr Herz reagierte offenbar sehr empfindlich auf Ortswechsel und Luftveränderungen. Immer, wenn sie sich jetzt die winterhimmelgrauen Augen von ihrem Nachhilfelehrer Jacob Barton vorstellte, verfärbten sie sich nach einer Weile. Sie wurden dunkel und bekamen grasgrüne Striche, die wie Strahlen um eine schwarze Sonne funkelten. Es gab nur einen, der solche Augen hatte: Bogdan Moldovan. Silvanias Schlammkastenfreund aus Bistrien. Und immer, wenn sie sich Jacobs wirre rotblonde Haare vorstellen wollte, legten sie sich nach einem Augenblick zum Mittelscheitel, von dem nur am Hinterkopf ein hellbraunes Büschel abstand. Genau wie bei Bogdan.

Silvania verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Bogdan war ihr Freund aus der Kindheit. Jacob ihre erste große Liebe. Eigentlich war alles klar. Es fühlte sich gerade nur sehr unklar an. Silvania schielte zu Daka und zögerte. Sollte sie ihrer Schwester von ihrem Gefühlsirrgarten erzählen?

Daka streckte gerade die Zunge nach einer Obstfliege aus, die unvorsichtigerweise sehr nah vorbeigeflogen kam.

Silvania sah, wie Daka die Obstfliege auf der Zunge einrollte. Dann schlürfte sie genüsslich. Wahrscheinlich war es besser, dachte Silvania, mit Helene über so eine delikate Angelegenheit zu reden. Helene kannte sich aus. Immerhin hatte sie sich vor ein paar Tagen selbst verliebt. Halsschlagader über Kopf. Die Liebe an sich konnte eine sehr gefährliche Sache sein. Das wusste Silvania aus den 564Liebesromanen, die sie gelesen hatte. Helenes Liebe aber war besonders gefährlich. Wäre sie ein Gefahrguttransport gewesen, hätte sie die Warnschilder explosiv, ätzend, erstickend, giftig, brandfördernd, radioaktiv und leicht entzündlich tragen müssen.

Es war in der Vampwanischen Nationalfeiernacht geschehen. Beim Auftritt von Krypton Krax (der unterirdisch besten Band der Welt, fanden zumindest Daka und Karlheinz). Helene hatte sich verliebt. Unglücklicherweise in einen Vampir. Noch unglücklichererweise in einen Vampir, der einer besonders aggressiven und blutrünstigen Vampirart angehörte: den Transgiganten. Wo die Liebe eben so hinfliegt …

Der Vampir hieß Murdo Dako-Apusenu und war der Sänger von Krypton Krax. In einer Mondnacht im Wald war es beinahe zum Kuss – oder zum Biss – gekommen. Das war bis jetzt noch unklar.

Silvania seufzte. Dann schlug sie das Buch auf einmal mit einem lauten Knall zu. Sie wollte nicht mehr an Küsse, Bisse und andere Sachen denken, die sie nur durcheinanderbrachten.

Daka rutschte beinahe von der Leine. „Schlotz zoppo!“, rief sie und sah erstaunt auf das Buch in Silvanias Hand. „Hast du eine Schmeißfliege zerquetscht?“

„Du denkst immer nur ans Essen.“

„Und du nur an die Liebe.“ Daka rümpfte die Nase. Schmeißfliege oder Liebe – was davon besser war, war ja wohl klar.

„Gumox. Ich denke an morgen“, verkündete Silvania. „Ich finde, wir sollten Ludo zum Wiedersehen eine zensatoi futzi Überraschung bereiten.“

Ludo Schwarzer war der allerbeste und allereinzigste Freund der Vampirschwestern. Erst fanden die Zwillinge ihn sehr sushpektoi. Aber mittlerweile verstanden sie sich boibine. Was wahrscheinlich daran lag, dass Ludo auch nicht ganz normal war. Ludo konnte in die Zukunft sehen (leider immer etwas unscharf) und mit Geistern reden. Das hatte er vermutlich die ganzen Ferien über gemacht, denn er war nicht mit den Mädchen nach Bistrien geflogen.

„Du meinst, weil wir ihn die letzten Tage hier in Bindburg mit seinen Geistern allein gelassen haben?“, fragte Daka von der Zimmerdecke.

„Genau. Eine Überraschung als Entschädigung sozusagen.“

Auf Dakas Gesicht erschien ein Grinsen, so breit wie Karlheinz an der Auqariumscheibe. „Ich habe eine prima Idee. Eine wunderschön schaurig, modrige Idee …“

Hinter rumänischen Gardinen

Zur gleichen Zeit, ungefähr 1 500Kilometer von Bindburg entfernt, war jemandem überhaupt nicht zum Grinsen zumute. Der Mann, der nichts zu grinsen hatte, war Dirk van Kombast.

Dabei lächelte er sonst häufig und ausdauernd und sehr professionell. Wenn Dirk van Kombast nicht gerade in einer rumänischen Gefängniszelle saß wie jetzt, arbeitete er als Pharmavertreter. Ein offenes, herzliches Lächeln gehörte da neben dem gepflegten Äußeren zur Grundausstattung. Das Lächeln war Dirk van Kombast nach drei Tagen Aufenthalt in einer rumänischen Gefängniszelle allerdings gründlich vergangen. Vom gepflegten Äußeren war ebenfalls nicht mehr viel zu sehen. Er war nahezu berufsunfähig.

Dirk van Kombast schritt durch die kleine Zelle. Sie war kaum größer als sein Badezimmer zu Hause in Deutschland in der Reihenhaussiedlung am nördlichen Rand von Bindburg. Nach drei Soldatenschritten hatte Dirk van Kombast die hintere Zellenwand mit dem kleinen quadratischen Fenster erreicht. Er sah kurz durch die Gitterstäbe nach draußen auf den Himmel über Transsilvanien, über den die Abenddämmerung bereits ihren dunkelblauen Vorhang zog. Sehnsüchtig blickte er gen Norden. Gen Heimat. Er seufzte. Mit einem Ruck drehte er sich um und schritt zurück zur gegenüberliegenden Zellenwand mit der stählernen Tür.

Bei jedem Schritt stieß er voller Abscheu ein Wort aus.

„Widerwärtiges.“

Schritt.

„Heimtückisches.“

Schritt.

„Menschenverachtendes.“

Schritt.

„Vampirgesocks.“

Drehung.

„Aufstöbern.“

Schritt.

„Aufspießen.“

Schritt.

„Und auf Knoblauchknollen werde ich euch rösten!“

Dirk van Kombast war wieder am Zellenfenster angelangt. Er umfasste die Gitterstäbe mit den Händen. Sie waren aus Stahl und so dick, dass seine Daumen die Fingerspitzen nicht berührten. Er rüttelte mehrmals kräftig am Gitter. Es bewegte sich keinen Millimeter. Dirk van Kombast stieß mit der Stirn gegen das Gitter, dann ließ er den Kopf hängen. Als er ihn wieder hob und zum Mond sah, waren seine Augen wässrig. Das kam sonst nur vor, wenn eine seiner Kontaktlinsen verrutscht war.

„Mutti!“, rief Dirk van Kombast. „Hol mich hier raus!“

Unter normalen Umständen hätte Dirk van Kombast nie nach seiner Mutti gerufen. Er war ein erwachsener Mann. Er hatte einen silbernen Sportwagen, ein Wasserbett und ein Abonnement für eine Gesundheitszeitschrift. Außerdem wusste er, dass seine Mutti ihn nicht hören konnte. Nicht, weil sie alt war und es mit den Ohren hatte, sondern weil sie etliche Kilometer entfernt in Deutschland in einer geschlossenen Anstalt saß.

Nun hatte man also beide, Mutter und Sohn, weggesperrt. Und wer war schuld daran? Dirk van Kombast schlug mit der Faust gegen die Zellenwand. „Vermaledeite Vampire!“, rief er. Dann verzog er das Gesicht und schüttelte die Hand aus, als könne er die Schmerzen aus den Fingerspitzen schleudern.

Seine Mutter hatte bereits vor Jahren, als Dirk noch zur Schule ging, ein einschneidendes Vampirerlebnis gehabt. Seit diesem Erlebnis war Irene van Kombast in der normalen, geordneten deutschen Gesellschaft nicht mehr funktionsfähig. Sie wurde auf Raten der Ärzte in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dort freundete sie sich mit einem Mann an, der behauptete, er käme vom Mars. Mit ihm spielte sie Poker. Ihre andere große Freude war, wenn ihr Sohn sie besuchte.

Dirk van Kombast besuchte seine Mutti sehr oft. Bei jedem Besuch wurde er in seinem Beschluss, den er vor Jahren gefasst hatte, bestärkt: Er würde seine Mutter rächen. Er würde die Vampire – die weltweit besser organisiert waren als jede Mafia, da war sich Dirk van Kombast mittlerweile sicher – entlarven, an den Pranger stellen und vernichten.

Seit Jahren arbeitete er im blutigen Untergrund als Vampirjäger, gut getarnt als solariumgebräunter Pharmavertreter. Vor ein paar Wochen hatte sich bestätigt, was Dirk van Kombast schon immer geahnt hatte: Die Vampire sind mitten unter uns! In das Reihenhaus direkt neben ihn war Familie Tepes aus Transsilvanien eingezogen. Es dauerte nicht lange, bis Dirk van Kombasts Beobachtungen ergaben, dass seine neuen Nachbarn nicht ganz normal waren. Auch den anderen Bewohnern der Reihenhaussiedlung dürfte das nicht entgangen sein. Doch nur Dirk van Kombast wusste, dass er es bei Herrn Tepes mit einem Vampir und bei den Töchtern mit zwei Halbvampiren zu tun hatte.

Ihretwegen war er vor einer Woche nach Rumänien gereist. Ihretwegen hatte er sich mitten in einem undurchdringlichen Wald vor den Toren der unterirdischen Stadt Bistrien auf die Lauer gelegt. Ihretwegen saß er jetzt hinter rumänischen Gardinen aus Stahl.

Das alles war ein einziges transsilvanisches Missverständnis. Er hatte Helene Steinbrück vor einem Biss von einem blutrünstigen Jungvampir der gefährlichsten Sorte bewahrt. Heldenhaft hatte er sich in den Kampf gestürzt und mit seiner Garlic Gun dreihundert Knoblauchzehen auf den Vampir abgefeuert. Wie er später erfuhr, hatte selbst diese Ladung nicht ausgereicht, um den Vampir in die ewigen Abgründe zu befördern, sondern ihn nur in ein Koma fallen lassen.

Statt dem Vampir hatte die rumänische Polizei den Vampirjäger festgenommen. Dirk van Kombast konnte es noch immer nicht fassen. Es war eine verkehrte Welt! Er würde sich beim Innenministerium beschweren. Er wollte eine Entschädigung. Aber zunächst wäre er erst einmal froh, wenn er etwas von Herrn Dr.Gödeke-Schnitzlein hören würde.

Herr Dr.Gödeke-Schnitzlein war Dirk van Kombasts Anwalt. Er war sehr gewissenhaft und konnte knallhart sein. Nur im Moment nicht. Da war er kokosbutterweich. Herr Dr.Gödeke-Schnitzlein erholte sich gerade von all den Paragrafen. Drei Wochen lang. In der Karibik. Mit seiner zweiten Frau. Der Anrufbeantworter in seiner Kanzlei in Bindburg blinkte. Der Hilferuf des Vampirjägers aus Rumänien blieb ungehört.

Dirk van Kombast sah zum Himmel, auf dem bereits die ersten Sterne zu sehen waren. Er fragte sich, ob seine Mutti jetzt in Bindburg auch aus dem Fenster blickte und genau diese Sterne sah. Oder spielte sie mit dem Marsmann Poker? „Ich gebe nicht auf“, flüsterte Dirk van Kombast. „Mein Anwalt holt mich hier raus. Spätestens morgen sitze ich im Flieger zurück nach Deutschland. Ich habe dich nicht vergessen, Mutti.“ Der Vampirjäger holte tief Luft. „Vertrau mir. Du kannst dich auf dein Puschelbärchen verlassen.“

Auf einmal schob sich draußen etwas vor das Fenster, nur wenige Zentimeter vom Vampirjäger entfernt.

Dirk van Kombast blieb ein Schrei im Halse stecken. Er wich zu Tode erschrocken zurück. Die Hose schlackerte ihm um die Beine, als er im Mondlicht eine gewaltige dunkle Gestalt erkannte. Das Gesicht füllte das gesamte Fenster aus. Die Augen waren feuerrot und schienen von innen zu leuchten. Aber noch etwas war seltsam an dem Gesicht. Sehr seltsam. Erst jetzt bemerkte Dirk van Kombast, dass die Nase und der Mund über den Augen lagen. Im ersten Moment dachte er, das Gesicht wäre grausam entstellt. Dann wurde ihm bewusst, dass es verkehrt herum war.

„Boi noap, Puschelbärchen!“, sagte die Gestalt. Es klang, als käme die Stimme aus einer tiefen schwarzen Höhle voller Würmer und Egel.

„Be… Be… Be… Bitte“, Dirk van Kombast hielt sich mit beiden Händen an der Hosennaht fest. Er hatte die Augen weit aufgerissen. Sein Mund war trocken. „Nennen Sie mich doch einfach D… D… D… Dirk van Kombast.“

„WAS?“ Die Gestalt hielt eine riesige, behaarte Hand an ihr Ohr. „Würg den Kompost? Gumox. Das klingt doch nicht. Puschel ist gut. Und fertig.“

Dirk van Kombast nickte. Wenn die Gestalt vor dem Fenster es wollte, würde er auch eine karierte Gummigurke sein. „Und … äh … mit wem habe ich das Vergnügen?“ Mit Erleichterung fiel Dirk van Kombast ein, dass ihn mehrere dicke Mauern und ein Gitter aus Stahl von der Gestalt trennten. Er entspannte sich etwas. Zum ersten Mal, seit er die Zelle betreten hatte, fühlte er sich darin wohl.

Die Gestalt schnaufte und zwei dunkelblaue Wolken kamen aus den Nasenlöchern, die so groß wie Zweieuromünzen und so behaart wie ein Gorillarücken waren. Ein unangenehm modriger Geruch breitete sich in der Zelle aus. „Du hast das Verhängnis mit mir, URIO TRANSGOLIATO.“

„Aufs Höchste erfreut, Herr Transgoliato.“ Dirk van Kombast schaffte es trotz des modrigen Geruchs, kurz sein Pharmavertreterlächeln aufzusetzen.

Urio Transgoliato lächelte nicht. Gut möglich, dass dieser Gesichtsausdruck nicht zu seinem Repertoire gehörte.

Trotzdem konnte Dirk van Kombast auf den bläulichen Lippen lange weiße, spitze Eckzähne erkennen. Jedes Mammut wäre vor Neid ausgestorben. An einem Eckzahn lief eine dunkelrote Flüssigkeit herab. Dirk van Kombast war sich sicher, dass kein Zahnfleischbluten die Ursache dafür war. Urio Transgoliatos Haut schimmerte weiß wie Ziegenkäse im Mondlicht. Auf der rechten Wange hatte er eine Narbe. Sie sah aus, als hätte ihm ein Tier drei kräftige Krallen ins Gesicht gebohrt. Die dichten schwarzen Augenbrauen waren zusammengewachsen und bildeten einen strengen Strich. Die langen Haare hingen wie Pechspaghetti nach unten.

Dirk van Kombast hatte keinen Zweifel: Was da kopfüber vor seinem Gefängnisfenster hing, war nichts anderes als ein Vampir. Nicht irgendein Otto-Normal-Vampir. Es war das größte, angsteinflößenste und ausgewachsenste Exemplar, das der Vampirjäger jemals gesehen hatte.

„Was guckst du, Puschel? Keine Angst, ich will dich nicht aussaugen“, dröhnte Urio Transgoliato. „Na, zumindest jetzt nicht.“

„Das ist … äh … sehr freundlich von Ihnen, Herr Transgoliato.“ Dirk van Kombast klammerte sich noch immer mit den Händen an die Hosennaht. Dort, wo er sich festhielt, entstand ein feuchter Fleck.

„Aber etwas werde ich aus dir heraussaugen: dein Wissen!“, sagte Urio Transgoliato mit grollender Stimme.

„Mein Wissen?“ Dirk van Kombast zog die Augenbrauen zusammen. „O-kay. Aber ich sag es Ihnen gleich: In Geschichte bin ich ganz schlecht.“

Urio Transgoliato ließ sich von dieser Neuigkeit nicht abschrecken. „Ich will nur eins wissen: Wo ist sie? Wo ist Helene Steinbrück?“

„Was?“, erwiderte Dirk van Kombast. Es klang wie ein Hicks, so überrascht war er.

„Du kennst sie doch, oder?“

„Ähm … ja … nein … ein wenig … kaum … vom Sehen.“ Dirk van Kombast wusste nicht, was die richtige Antwort war. War es gut, wenn er Helene Steinbrück kannte? Oder besiegelte er damit sein Schicksal?

„WO IST SIE?“ Zwei dunkelblaue Wolken stießen aus den Nasenlöchern des Vampirs.

Dirk van Kombast war sich sicher, dass Helene Steinbrück mittlerweile dort war, wo er selbst gerne gewesen wäre: in Deutschland. In Bindburg. Vielleicht war sie sogar gerade in der Reihenhaussiedlung im Lindenweg und besuchte ihre bissigen Freundinnen. Vielleicht erzählte sie ihnen gerade, wie er von der rumänischen Polizei abgeführt worden war. Sie hatte ihn vor ein paar Tagen im Wald wie einen Vollidioten aussehen lassen. Sie hatte einfach behauptet, es gäbe keine Vampire. Dabei war sie erst ein paar Minuten zuvor Hand in Hand mit einem Vampir durch den Wald spaziert. Helene Steinbrück war ihm in den Rücken gefallen. Obwohl er ihr das Leben gerettet hatte. Dirk van Kombast hatte keine Skrupel, ihr den Verrat heimzuzahlen.

„WO IST SIE?“, rief Urio Transgoliato abermals.

Dirk van Kombast holte tief Luft. Konnte er das tun? Einen Menschen an einen Vampir verraten? Wahrscheinlich würde Urio Transgoliato Helene aussaugen. Was sollte ein Vampir sonst mit einem Menschen tun? Mikado spielen? Und so, wie dieser Herr Transgoliato aussah, war Helene nur ein kleines Appetithäppchen.

Aber konnte ihm nicht egal sein, was dieser Riesenvampir mit Helene anstellte? Sie hatte ihn im Stich gelassen. Sie hatte sich auf die Seite der Vampire gestellt. Sie war eine gefährliche Vampirsympathisantin. Ein Besuch von Urio Transgoliato würde ihr nur recht geschehen. Dirk van Kombast nickte, um sich davon zu überzeugen, dass er das Richtige tat.

„Helene Steinbrück ist …“ Dirk van Kombast hielt inne. Er erinnerte sich auf einmal an einen Agentenroman, den er vor Jahren bei einem Wellnessurlaub in der Schweiz gelesen hatte. Ein Merksatz war dort immer wieder gefallen: Jede Information hat ihren Preis. Für den Geheimagenten im Buch war eine Information eine Ware, mit der er handelte. Eine hervorragende Idee, fand Dirk van Kombast. Bei dem Agenten im Roman hatte der Handel sehr gut geklappt. Allerdings hatte er mit Menschen verhandelt. Nicht mit einem Vampir in Übergröße. Trotzdem wollte es Dirk van Kombast versuchen. Er räusperte sich. „Sie ist an einem Ort, zu dem ich Sie gerne persönlich führen würde. Da wäre nur eine Kleinigkeit, Herr Transgoliato, Sie müssten mich vorher hier rausholen.“

Urio Transgoliato riss die Augen auf. Die feuerrote Iris schien sich um die Pupille zu drehen. „WAS? Du willst handeln? Mit MIR?“

„Nennen wir es doch einen Austausch im gegenseitigen Interesse.“ Dirk van Kombast wedelte unauffällig die dunkelblaue Wolke vor seinem Gesicht weg, die ihm aus der Nase des Vampirs zusammen mit einer Portion Empörung entgegengeströmt kam.

„Dass ihr Menschen immer spielen müsst. Kein Wunder, dass aus euch nichts wird“, murmelte Urio Transgoliato. „Na gut, Puschel, du hast es nicht anders gewollt.“

Alles ging so schnell, dass es Dirk van Kombast wie eine einzige Bewegung vorkam.

Urio Transgoliato umklammerte einen Gitterstab des Fensters mit dem kleinen Finger, zog kurz daran, hatte in der nächsten Sekunde das gesamte Gitter in der Hand, schleuderte es wie einen lästigen Krümel hinter sich, langte mit dem anderen Arm in die Zelle, schnappte sich Dirk van Kombast am Kragen, zog ihn aus der Gefängniszelle, warf ihn sich auf den Rücken wie eine dünne Schlenkerpuppe und erhob sich in den tiefblauen Nachthimmel.

„HILFE – HILFE – HILEEEEE!“, schrie Dirk van Kombast.

„Klappe, Puschel“, bellte Urio Transgoliato nach hinten. „Du wolltest mich doch höchstpersönlich zu Helene Steinbrück führen. Wo liegt jetzt das Problem?“

„Ich … äh … bin nur nicht angeschnallt.“ Dirk van Kombast krallte sich an den Schultern des Vampirs fest und starrte nach unten. Das Gefängnis wurde immer kleiner. Bald war es nur noch so groß wie eine Streichholzschachtel. Die Autos sahen aus wie Käfer, ihre Scheinwerfer wie Fühler, die über die Erde tasteten. Die Nachtluft knisterte vor Kälte und Gefahr. Mit jedem Höhenmeter, den sie dem Mond entgegenstiegen, wurde sie immer kühler.

Dirk van Kombast zitterte. Nicht vor Kälte. Vor Angst. Er befand sich mehrere Hundert Meter über der Erde. Lag flach wie eine Kellerassel auf dem Rücken eines Vampirs, der doppelt so breit war wie er und ihn um mindestens zwei Kopflängen überragte. Noch nie war er seinem Feind so nah gewesen. Doch er konnte nichts gegen ihn ausrichten. Er hatte keinerlei Waffen bei sich und hätte zu seiner Verteidigung noch nicht einmal einen Knoblauchrülpser hervorbringen können.

Natürlich – er könnte versuchen, den Vampir mit den bloßen Händen zu würgen, ihn ins Ohr zu beißen oder ihm sein Knie in die Seite zu rammen. Doch das schien Dirk van Kombast unklug, wenn er an die momentane luftige Lage dachte und sich daran erinnerte, wie Urio Transgoliato mit dem kleinen Finger das stählerne Gitter vom Fenster gerissen hatte.

„Also, was ist? In welche Richtung müssen wir?“, fragte Urio Transgoliato.

Dirk van Kombast schlang die Beine um die Hüften des Vampirs, richtete sich ein wenig auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger in die Nacht. „Nach Norden!“