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Der wichtigste Tag im Leben des jungen Jon Chakorian war jener, an dem er die Diamanten entdeckte, die im Schlafzimmer seines Vaters versteckt waren. Die wichtigste Nacht in Jons Leben war die, in der er beobachtete, wie sein Vater mit einem Fremden das Haus verließ – und niemals wiedergesehen wurde.
Jon ist überzeugt, dass sein Vater ermordet wurde. Unentwegt ist er auf der Suche nach dem Mörder. Dabei ist er nicht allein. Andere schließen sich ihm an – auf der Suche nach den Diamanten, die eine Million Dollar wert sind.
Je näher Jon der Wahrheit über das Schicksal seines Vaters kommt und je deutlicher er den Mörder erkennt, desto größer wird die Gefahr, selbst ein Opfer zu werden...
Der Roman Die Venusfalle von J. M. Ullmann (* 1925; † 1997) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968.
Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
J. M. ULLMAN
Die Venusfalle
Roman
Die Mitternachtskrimis, Band 1
Der Romankiosk
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE VENUSFALLE
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Der wichtigste Tag im Leben des jungen Jon Chakorian war jener, an dem er die Diamanten entdeckte, die im Schlafzimmer seines Vaters versteckt waren. Die wichtigste Nacht in Jons Leben war die, in der er beobachtete, wie sein Vater mit einem Fremden das Haus verließ – und niemals wiedergesehen wurde.
Jon ist überzeugt, dass sein Vater ermordet wurde. Unentwegt ist er auf der Suche nach dem Mörder. Dabei ist er nicht allein. Andere schließen sich ihm an – auf der Suche nach den Diamanten, die eine Million Dollar wert sind.
Je näher Jon der Wahrheit über das Schicksal seines Vaters kommt und je deutlicher er den Mörder erkennt, desto größer wird die Gefahr, selbst ein Opfer zu werden...
Der Roman Die Venusfalle von J. M. Ullmann (* 1925; † 1997) erschien erstmals im Jahr 1966; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1968.
Der Verlag DER ROMANKIOSK veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Thriller-Klassikers in seiner Reihe DIE MITTERNACHTSKRIMIS.
Schatz fuhr los, um in Chicago zu rekognoszieren. Nach ein paar Wochen schickte er Rudy einen Brief, in welchem er ihm mitteilte, die Dinge könnten schlimmer stehen, es gäbe einen See dort und ein paar gute Restaurants und er habe sich das Vorkaufsrecht auf ein nettes altes, aus Sandstein erbautes Haus in einer Gegend gesichert, welche die Einwohner als die Near North Side bezeichneten, ein Stück weit von der LaSalle Street entfernt, wo die Makler hausten. Und jedenfalls, so fuhr Schatz fort, können wir, wenn Hitler aufgegeben hat und der Krieg zu Ende ist, zwischen New York und hier hin- und herfliegen, sooft wir wollen. Die Bankiers hier sind erfreut. Sie halten es für hoch an der Zeit, dass Venus unter die Leitung eines jungen und tatendurstigen Mannes kommt, wie du ihrer Ansicht nach einer bist, aber - so fuhr Schatz fort - ich möchte dich warnen. Dieser Lord, Adam Lord, der Präsident der Lord-Lumber-Gesellschaft, ist möglicherweise nicht so leicht an der Nase herumzuführen. Er hat bereits Verdacht geschöpft. Ich würde mich wohler fühlen, wenn er nicht auf der Aktionärsliste stünde, ein Jammer, dass wir ihn nicht auch auszahlen können. Er hat eine Menge Einfluss in dieser Stadt...
Rudy las den Brief laut vor, grinste, zündete sich eine Zigarre an, hob den kleinen Jon hoch und warf ihn in die Luft.
»Hast du gehört, Jon? Schatz hat ein Haus in Chicago gefunden. Für dich, mich und Bess.« Sein Vater hielt ihn an den Fersen fest und wirbelte ihn herum, um ihn dann neben Bess auf dem Sofa abzuladen, die ihn nahm und gegen ihren Busen drückte, der warm war und gut roch.
»Müssen wir New York verlassen?«, fragte Bess.
»Natürlich. Aus geschäftlichen Gründen. Die Venus-Corporation hat ihre Zentrale in Chicago. Ich bin der neue Präsident, Aufsichtsratsvorsitzende und Hauptaktionär von Venus. Wo sollte ich mich sonst aufhalten? Und außerdem«, fügte Rudy hinzu, »möchte ich aus diesem Staat verschwinden, bevor Schatz unsere Versicherungsgesellschaften zum Bankrott treibt.«
»Poppa«, fragte Jon, »gibt’s dort Indianer?«
»In Chicago? Nein, jetzt nicht mehr.« Rudy zwinkerte ihm zu. »Aber Gangster gibt es. Aber mach dir keine Sorgen. Uns werden sie nicht behelligen.«
Das Sandsteinhaus war zweistöckig. Jon lernte es recht gut kennen, weil er dort während des Tages mit Bess und der Kinderschwester Verstecken spielte und sich nachts im Pyjama aus seinem Zimmer schlich, um Rudy oder seine Gäste zu beobachten. Am Anfang kamen uferlos Gäste, Geschäftsleute und andere wichtige Personen, die tranken und aßen und redeten. Rudy, der Gastgeber, war überall, vergaß nie einen Namen, bot frischgefüllte Gläser an - selbst jetzt, mitten im Krieg, gab es immer das Beste - und verteilte Witze und Komplimente an die Ladys. Er war ein schwarzhaariger kleiner Mann, selbst in seinen Maßschuhen mit den erhöhten Absätzen nur knapp ein Meter fünfundsechzig groß. Rudy hatte das Gesicht eines Barockengels mit rosigen Wangen, einer Stupsnase und einem eigensinnigen Kinn. Es konnte geschehen, dass er einen ihn um Haupteslänge überragenden Mann am Revers packte, grinste und sagte: »Hör mal zu, Ed, da sind noch ein paar Fusionen fällig. Ich kann dir keine Einzelheiten sagen, aber wenn du klug bist, dann kaufst du jetzt alle Venus-Aktien, die du ergattern kannst. Die Bombe, die sie heute in Japan fallen ließen, bedeutet das Ende des Krieges, und in einem oder zwei Jahren werden wir auf Massenproduktion der Dinge umschalten, die die Leute dann haben wollen - nämlich millionenweise Fernsehgeräte. Hübsche Bilder aus kleinen schwarzen Kästen. Wir sind sehr vielseitig wir befassen uns mit Öl, Land, Kartoffelchips, Textilien, haben eine Brauerei in Mexiko. Wir sind gegen jede zeitweilige Arbeitsunterbrechung der elektronischen Abteilung gesichert, wenn die militärische Produktion ausläuft. Im Vertrauen gesagt, werden wir - vorsichtig geschätzt, sehr vorsichtig - bis neunzehnhundertneunundvierzig die dreifache Ausdehnung haben...«
Rudy redete und ließ seinen Charme spielen und verteilte weitere angeblich vertrauliche Informationen, während Bess zusah und lächelte oder ruhig, fast schüchtern, Rudy die tragende Rolle überlassend, gelegentlich etwas sagte. Sie war groß und dunkelhaarig, hatte eine schmale Taille, runde Hüften und große Brüste. Wie eine Statue überragte sie Rudy, wenn sie nebeneinanderstanden, ein Mädchen von Anfang Zwanzig mit einem runden, leicht fliehenden Kinn und großen schwarzen Augen. Wenn jemandem ein Irrtum unterlief und er sie Mrs. Chakorian nannte, überhörte sie das und war sich auch anscheinend des Geflüsters anderer Frauen nicht bewusst, das einsetzte, sobald sie ihnen den Rücken wandte, und ebenso wenig der gierigen Blicke, mit denen Männer sie betrachteten. Bess pflegte den ganzen Abend mit einem Drink auszukommen, an dem sie von Zeit zu Zeit nippte, während sie von Gruppe zu Gruppe ging und sich anscheinend amüsierte, obwohl das im Grund nicht stimmte. Sie sagte das zwar nie, aber Jon spürte es.
Bess schien während des Tages glücklicher zu sein, wenn sie mit Jon, der Kinderschwester, der Köchin und dem Hausmädchen allein war. Rudy war ebenfalls oft zu Hause. Er schlief lange, und an manchen Tagen ging er überhaupt nicht ins Büro - er sprach nur am Telefon oder spielte mit Bess Mama und Papa, wobei sich die beiden in Bess’ Schlafzimmer einschlossen. Jon wusste, dass sie Papa und Mama spielten, denn einmal hatte er sich unter dem Bett versteckt, als sich die beiden einschlossen. Rudy begann, Bess zu küssen, und als Jon hervorgekrochen kam und fragte, was sie da täten, hatte Rudy gesagt: »Papa und Mama spielen.«
»Um Himmels willen«, hatte Bess gesagt, »schaff ihn hier hinaus!« Rudy hatte Jon vor die Tür gesetzt, gelacht und ihm einen Klaps aufs Hinterteil gegeben, und Jon war mit großen Augen weggerannt, denn er hatte noch nie zuvor Bess so wenig bekleidet gesehen.
Danach hatte sich eine neue Beziehung zwischen Jon und Bess entwickelt. Keiner von beiden erwähnte diesen Nachmittag je wieder, aber Bess verbrachte nun mehr Zeit mit ihm zusammen und kündigte schließlich der Kinderschwester, weil sie fand, Jon sei nun zu alt dazu. An einem Sommertag, als Rudy in Washington war, um mit Kongressleuten zu sprechen, nahm Bess Jon mit in den Lincoln Park. Sie setzte sich auf eine Bank, und er kletterte auf ihren Schoß und fragte: »Wie war meine Mutter?«
»Ich habe sie nicht gekannt. Aber sie muss eine schöne Lady gewesen sein.«
»So nett wie du?«
»Viel netter. Die Mutter kleiner Jungs ist immer netter als irgendjemand sonst.«
»Sie kann nicht netter als du gewesen sein. Vielleicht genauso nett, aber nicht netter.« Aus irgendeinem Grund hatte Bess auf dem ganzen Heimweg geweint.
Gelegentlich war Rudy, wenn er während des Tages zu Hause war, weniger charmant, als er es abends mit seinen Gästen war. Für gewöhnlich war es Schatz, der seine schlechten Seiten weckte - Schatz, der mit vollem Namen Felix Schatzmüller hieß, den aber jeder Schatz nannte. Schatz war Rudys einziger wirklicher Vertrauter. Sie hatten schon in früheren Tagen zusammen gearbeitet, in Paris, Wien, London, Rom und Berlin, Jahre bevor Jon geboren war. Manchmal redeten sie darüber und lachten. Aber neuerdings passierte es öfter, dass Schatz, der vorsichtigere der beiden, sich in pessimistischer Weise über die Venus-Corporation ereiferte, immer die brennende Zigarette zwischen den gelben Fingern.
»Bei dieser letzten Fusion«, sagte Schatz eines Tages, »bist du zu weit gegangen. Ich glaube, dass Lord jetzt über uns Bescheid weiß, und es wird nicht lange dauern, bis er genügend Aktienbesitzer zusammenbringt, um uns Scherereien machen zu können. Und Scherereien können wir uns hier nicht leisten, weil ich glaube, dass wir in New York wegen der Versicherungsgesellschaften welche kriegen. Natürlich ist in New York alles unter meinem Namen getan worden, aber wenn ich angeklagt werde, wirst du ebenfalls in die Sache hineingezogen.«
»Hör auf, dir Sorgen zu machen. Mit diesem Schreinermeister Lord werden wir allemal noch fertig.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Ein Mann, der sich für einen besseren Schuttabladeplatz zwanzig Millionen unter den Nagel reißt, ist kein gewöhnlicher Hinterwäldler.«
»Na gut«, sagte Rudy gereizt, »Ich werde ihn einwickeln, ihn hierher zum Essen einladen und ihn von Mann zu Mann - natürlich höflich - fragen, warum er Gerüchte ausstreut, während ich nichts anderes versuche, als ihn reicher zu machen, ihn und alle anderen, die Anteile an der Venus haben, einschließlich mich selbst. Und mach dir keine Gedanken wegen New York. Es war alles völlig legal, oder doch beinahe; die Anwälte haben uns das gesagt, und außerdem haben wir wichtige Verbindungen in Washington; man wird in New York nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen.«
Und so kam Adam Lord zum Abendessen. Er war Witwer und hatte eine Tochter, die acht Jahre alt war, genau wie Jon. Rudy dehnte die Einladung auf einen Sonntagnachmittag aus. Das kleine Mädchen konnte mitkommen und mit Jon spielen, während sich die Erwachsenen anderweitig tummelten. Es handelte sich, wie Rudy Lord telefonisch mitteilte, um eine relativ intime Sache, vielleicht dreißig oder vierzig Leute. Ein Zauberkünstler war engagiert, und ob Lord Filet mignon vorzöge oder Dover sole - beides stünde zur Verfügung.
Lord, ein untersetzter weißhaariger Mann von Anfang Vierzig, sagte wenig. Nach dem Essen ließ er sich in einem Sessel nieder, nippte an einem Highball und sah mit stoischer Miene zu, wie der Zauberkünstler Seidenschals verschwinden ließ und Golfbälle aus der Luft holte. Später unterhielten sich Rudy und Lord privatim in einer Ecke, wobei Rudy mit einer Hand Lords Revers umklammerte und mit der anderen gestikulierte. Was immer gesagt wurde, Rudy war nicht beglückt. Er ging mit finsterem Gesicht weg, nahm ein Glas und goss sich einen steifen Whisky ein.
Lords Tochter Dinah war ein seltsam aussehendes Mädchen. Rothaarig und grünäugig, sehr mager, mit knochigen Knien und einem merkwürdigen Gesicht. Ihre Nase war zu groß und ihr Kinn zu scharf, und sie ging auf eine ungelenke Weise, aber trotzdem ging etwas Gebieterisches von ihr aus, als wäre sie eine Königliche Hoheit, die entsprechend behandelt zu werden wünschte. Ihr Benehmen überwältigte Jon ziemlich. Und da Rudy ihn angewiesen hatte, nett zu Dinah zu sein, nahm Jon sie mit hinauf in sein Zimmer und zeigte ihr seine Spielsachen.
Sie interessierten sie jedoch nicht. Nichts interessierte sie, was Jon wütend machte. Schließlich, nachdem sie eine Weile in seinen Besitztümern herumgestochert hatte, sagte Jon: »Wenn du’s niemandem weiterverrätst, zeige ich dir den geheimen Schatz meines Vaters.«
»Wo ist er?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Eigentlich darf ich es selber gar nicht wissen. Du musst warten und die Hände über die Augen halten, während ich ihn hole.«
»Ach, das ist blöde.« Dinah ging zur Tür. »Ich will den alten Schatz deines Vaters gar nicht sehen. Ich werde jetzt fernsehen gehen.«
»Willst du nicht mit mir spielen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil«, sagte Dinah, »du eine Promenadenmischung bist. Ich habe es von meinem Vater gehört. Er hat gesagt, du seist eine Promenadenmischung.«
Dinah ging die Treppe hinab und sah niemals den Schatz. Jon trollte sich mürrisch ins Schlafzimmer seines Vaters und stöberte im Kleiderschrank nach den braunen Schuhen. Sein Vater besaß so viele schwarze Schuhe, die zu seinen blauen und grauen Anzügen passten, aber er hatte nur ein Paar braune Schuhe, weil er nur zwei braune Anzüge hatte.
Jon drückte auf den geheimen Knopf, und der erhöhte Absatz in einem der braunen Schuhe öffnete sich. Jon nahm den Ledersack aus dem geheimen Versteck, kletterte auf das Bett seines Vaters, und schüttete den Inhalt darauf - blauweiße Steine, die glitzerten und funkelten, genau wie die Steine in Bess’ Schmuck, nur waren die meisten hier größer. Man nannte sie Diamanten.
Entzückt starrte Jon auf die Diamanten und fragte sich vage, was wohl eine Promenadenmischung sein mochte.
Der Misserfolg seines Versuchs, mit Lord Frieden zu schließen, ärgerte Rudy, entmutigte ihn aber vorerst nicht. Er erwarb sogar mit großem Tamtam das Vorkaufsrecht auf ein großes Stück öden Waldlands auf dem Land draußen, das er zu seinem Retiro ernannte. Schließlich teilte er jedem, der es hören wollte, mit, dass er dort ein Haus bauen wolle. Es sollte die architektonische Sensation des Mittelwestens werden, eine von einem Privatpark umgebene Villa, ein Monument für Rudys Glauben an die unbegrenzten Zukunftsmöglichkeiten der Venus-Corporation.
An den Wochenenden lud Rudy Jon und Bess oft in den Cadillac und fuhr sie zum Retiro hinaus. Das waren die glücklichsten Tage in Jons Kindheit. Die drei tollten durch den Wald, und Rudy wurde von seiner eigenen Begeisterung überwältigt. Hier sollte die Villa hinkommen, hier der Garten, dort das Wildgehege und dahinter der kleine Zoo. Und war nicht alles ganz herrlich?
Natürlich, alles worüber Rudy in Wirklichkeit verfügte, war ein kurzfristiges Vorkaufsrecht, und das einzige Gebäude, das schließlich auf dem Stück Land stand, war eine baufällige Holzhütte auf einer Lichtung, wo die schmale, von der Fernstraße herüberführende Zufahrtsstraße endete. Aber Rudy installierte neben der Hütte einen Grill, und zum Lunch wurden dann Wiener Würstchen auf offenem Feuer gebraten. Auf dem Heimweg nach Chicago sagte Jon einmal; »Das Retiro ist mein Lieblingsort. Ich bin dort lieber als sonst irgendwo. Wann bauen wir die Villa?«
»Ganz bald«, erwiderte Rudy. »Sobald ein paar geschäftliche Einzelheiten geregelt sind.«
Jon eröffnete ein eigenes Geschäft. Er verlieh Comic-Hefte an die Schüler in seiner Privatschule und an die Kinder in seiner Nachbarschaft für je zwei Cent. Auf diese Weise konnte jedes Kind, anstatt sich im Laden für zehn Cent ein Comic-Heft zu kaufen, zu Jon gehen und sich dort für dasselbe Geld fünf leihen. Allerdings waren die Hefte nicht mehr besonders schön, nachdem sie gelesen worden waren, /on erstand ein paar neue Hefte, erstand aber den größten Teil seines Bestandes aus einem Laden mit gebrauchten Zeitschriften an der North Clark Street. Er finanzierte das Unternehmen durch eine Jahresanleihe bei seinem Vater von zehn Dollar, die er zu zehn Prozent zu verzinsen versprach. Als der Stichtag gekommen war, zahlte Jon die elf Dollar zurück und errechnete sich einen Reingewinn von einundfünfzig Dollar achtzehn für das Jahr aus. Zusätzlich hatte er nun einen Lagerbestand von nahezu fünfhundert Comic-Heften.
Rudys Geschäfte jedoch nahmen eine Wendung zum Schlechten. Er und Schatz hatten viel mehr Zeit, um darüber zu diskutieren. Viele wichtige Leute hatten begonnen, seine Einladungen abzulehnen, und so schränkte Rudy seine gesellschaftlichen Unternehmungen ein. Immer öfter war das Sandsteinhaus abends seltsam still.
Später, als Jon viel älter war, begann er zu begreifen, was geschehen war. Seit Rudy die Leitung von Venus übernommen hatte, hatte er sich schlicht Vermögenswerte der Firma angeeignet und wertvolle Aktien dazu verwandt, praktisch wertlose kleine Firmen aufzukaufen, die er vermittels Strohmännern in seinen Besitz brachte. Diese Diebstähle, genannt »Fusionen«, sollten angeblich Venus dadurch nützen, dass die Einnahmen gesteigert wurden, aber in Wirklichkeit nützten sie lediglich Rudy und natürlich Schatz, der in allem seine Finger stecken hatte. Rudy hoffte, dass diese Diebstähle, verschleiert durch einen allgemeinen Absatzanstieg der Venus-Fernsehgeräte, nicht geahndet werden würden. Rudy war in diesem Punkt aufrichtig. »Wir verdienen diesmal alle«, hatte er Schatz erklärt, als sie nach Chicago gezogen waren. »Natürlich legen wir uns ein kleines Extra beiseite, aber das wird niemandem auffallen. Wir werden Venus zum größten Fernsehgerätehersteller von Amerika machen. Die Aktienbesitzer werden ihr Geld verdreifacht bekommen; sie werden keinen Grund haben, sich zu beschweren.«
Aber der Plan misslang, denn während Rudy und Schatz zweifellos in finanziellen Manipulationen die reinen Hexenmeister waren, hatten sie nicht die geringste Ahnung von der Leitung einer elektronisch arbeitenden Firma - eine unangenehme Tatsache, die sie sich schließlich selbst eingestehen mussten. Unter ihrer wohlmeinenden, aber unzulänglichen Leitung wurde die veraltete Venus-Fabrik in Chicago zu einem völligen Fiasko. Leute in Schlüsselpositionen kündigten massenweise; der Umsatz ging zurück. Die verschwommenen Bilder auf dem Schirm der Venus-Fernsehgeräte flackerten beständig, und die Geräte waren so miserabel konstruiert, dass sie gelegentlich in Flammen aufgingen.
Die Nachricht von diesen Schwierigkeiten verbreitete sich schnell. Trotz aller redlichen und unredlichen Bemühungen
Rudys sank der Wert der Venus-Aktien. Das Resultat war, dass Adam Lord und seine unzufriedene Aktionärsgruppe immer stärker und stärker wurden.
Das war schon schlimm genug, aber es gab noch andere Komplikationen. Erstens ließen Rudys wichtige Verbindungen ihn im Stich. Im Herbst neunzehnhundertachtundvierzig wurde Schatz in der Tat wegen dieser Affäre mit den Versicherungsgesellschaften angeklagt. Schatz flog nach New York, um eine Kaution zu hinterlegen und heftig seine Unschuld zu beteuern, aber die Publicity schadete den beiden. Und unter vier Augen ließen die Anwälte durchblicken, dass Schatz keine Chance hatte. Sie konnten das Ganze ein paar Jahre hinauszögern, aber letzten Endes bestand seine beste Chance darin, sich schuldig zu bekennen und sich der Gnade des Gerichts auszuliefern. Schatz, der nicht an die Gnade irgendeines Gerichts glaubte, nahm die Nachricht schlecht auf und verfiel in ein Stadium nervöser Depression, trank mehr Martinis als ihm gut war und zündete eine Zigarette an der anderen an.
Aber das schlimmste war, dass Rudy das Geld ausging. Sicher, er hatte Millionen aus der Venus-Corporation herausgezogen, aber bei seiner Suche nach einer neuen Möglichkeit, sich Adam Lord vom Halse zu halten, hatte er das Geld in die falschen Anlagen gesteckt. Sein neuer Plan war, die Hand auf eine kleine Firma zu legen, die an der New Yorker Börse geführt war. Auf irgendeine kleine Firma mit einigem Buchwert, eben so viel, dass sie über das Prestige, an der New Yorker Börse geführt zu sein, verfügte. Wenn er sie einmal unter Kontrolle hatte, wollte er diese Firma mit Venus verschmelzen und dann in größerem Stil denselben Prozess wiederholen, hier ein paar Firmen erwerben, dort eine abstoßen, Abteilungen Zusammenlegen und Inventare frisieren, um dadurch die Aktionäre so zu verwirren, dass die Tatsache, wie er Venus seit neunzehnhundertvierundvierzig ausgeplündert hatte, niemals bekanntwerden würde. Und natürlich wollte er diesmal erstklassige Manager engagieren, Männer, die sich in ihrem Fach auskannten und die Produktion, Einkauf und Verkauf mit Geschick handhabten. Dann würde die neue Corporation florieren und die Aktionäre würden glücklich sein.
Das ideale Unternehmen hierfür, entschied Rudy schließlich, war Wunder-Elektronik, die Fabriken in Kalifornien und Texas hatte. Eine ihrer Abteilungen stellte ebenfalls Fernsehgeräte her, aber ihre Apparate funktionierten wirklich. Und wäre es nicht hübsch, in Beverly Hills zu leben, weit weg von diesen scheußlichen Wintern in Chicago? Wir lassen einfach dieses Vorkaufsrecht auf das Retiro auslaufen.
Rudy steckte sein Geld in Wunder-Elektronik, jeden gestohlenen Penny plus alles, was er sich borgen konnte, und natürlich kaufte er mit Profit. Die Nachricht, dass er bei Wunder einstieg, verbreitete sich rasch. Die Aktien stiegen alarmierend, da Wunders bedeutendste Aktionäre, Mitglieder einer alten kalifornischen Familie, Erkundigungen über Rudy eingeholt hatten und zu dem Schluss gekommen waren, dass er nicht ihr Typ sei. Wenn Rudy fünfzig Dollar für einen Anteil der Wunder-Aktien bot, boten sie einundfünfzig. Rudy merkte bald, dass er einen Tiger am Schwanz gepackt hielt. Der finanzielle Rückhalt der Kalifornier war zumindest so groß wie sein eigener, und zu guter Letzt war er nicht in der Lage gewesen, weitere Kredite zu bekommen.
Was Rudy zudem nicht wusste, war, dass der Kampf um die Vorherrschaft bei Wunder im Pentagon hinfällig gemacht wurde. Ein Ausschuss von Generälen kam eines Tages zu der Ansicht, dass ein gewisser Bomber, dessen Leitungs- und Nachrichtensystem sechsundzwanzig Prozent der Wunder'schen Bruttoeinnahmen ausmachten, veraltet sei. Die Produktion wurde sofort eingestellt, und alle Kontrakte wurden storniert.
Die Bedeutung dieses Entscheids war für alle Interessierten sonnenklar. In der darauffolgenden Woche sank Wunder um zwanzig Punkte, und die Börsenmakler begannen, Rudy anzurufen und größere Sicherheitsleistungen gegen Kursverluste zu verlangen, andernfalls müssten sie abstoßen. Bald hatte Rudy nichts mehr, was er als Sicherheit aufbringen konnte.
Rudy schüttelte den Kopf. »Ein Debakel«, sagte er. Er saß hinter seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Ihm gegenüber räkelte sich Schatz auf einem Stuhl. Es war ein Vorfrühlingstag im Jahr neunzehnhundertneunundvierzig. »Wie ich es auch wende und drehe, meine Verpflichtungen übersteigen meine Aktivposten um vier Millionen. Und meine Aktivposten bestehen im Wesentlichen aus Venus-Aktien, die ich zurückgehalten habe, um zu verhindern, dass Lord den größeren Aktienanteil bekommt; und du weißt, was mir das nützt - praktisch gar nichts. Aber ich wage nicht, mich davon zu trennen - noch nicht.«
»Wieviel Bargeld kannst du bis morgen auf den Tisch des Hauses legen?«, fragte Schatz.
»Fünfzig-, sechzigtausend.«
»Das reicht bei weitem nicht, um dein Sicherheits-Deposit aufzubringen. Du brauchtest eine Viertelmillion dazu. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass die Makler deine Aktien abstoßen.«
»Unmöglich! Wenn das geschieht, wird man im ganzen Land wissen, dass ich bankrott bin. Dann werden alle meine Gläubiger anrücken, einschließlich der Geldgeber, denen ich die Venus-Aktien aus den Fusionen sicherheitsübereignet habe, um die Wertpapier- und Börsenkommission hinsichtlich der Vorschriften über die Aktienausgabe zu umgehen. Wenn alle diese Jungs ihre Venus-Aktien auf einmal abstoßen, bricht uns der Boden unter den Füßen zusammen. Adam Lord wird das Ganze innerhalb einer Woche übernehmen; und gegen die daraus resultierenden neuen Strafanzeigen werden sich die Scherereien mit den Versicherungsgesellschaften wie kleine Fische ausnehmen.« Rudy griff nach einer Zigarre. »Nein, die Leute halten die Venus-Aktien vorläufig noch für ein Wertobjekt. Nicht einmal Lord ahnt, wie verwässert sie sind. Ich muss die nötigen Sicherheiten für die Makler aufbringen, um den Eindruck der Solvenz zu erwecken; und dann werde ich, ohne das Gesicht zu verlieren, meine Wunder-Aktien loswerden, ganz egal, wieviel ich dabei einbüße.«
»Du schiebst das Unvermeidliche lediglich hinaus, Rudy. Du bist bankrott.«
»Sicher! Aber wenn ich die Sicherheiten für die Makler aufbringe, werden die Leute glauben, ich sei solvent. Das ist die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass Venus in den nächsten paar Tagen völlig im Eimer ist. Wir müssen die Sache noch etwa ein Jahr lang im Fluss halten.« Er blickte Schatz an und zwinkerte mit den Augen. »Danach können wir andere Arrangements treffen. Wir können einen strategischen Rückzug antreten. Soviel ich gehört habe, gibt es fabelhafte Investierungsmöglichkeiten in Brasilien.«
»Sehr hübsch. Aber woher willst du die Viertelmillion für die Sicherheiten nehmen? Wenn alle regulären Geldquellen ausgetrocknet sind...«
»Ich«, verkündete Rudy, »habe eine neue Quelle aufgetan. Leute mit phantastischen, zu ihrer Verfügung stehenden Summen. Sie vermeiden Publicity, und so wird alles ganz vertraulich behandelt werden. In unserer speziellen Branche sind sie zudem nicht besonders bewandert, also werden sie sich bei einer Menge Dinge auf mein Wort verlassen. Aber natürlich sind bei solchem jederzeit zur Verfügung stehenden Geld die Zinssätze sehr hoch.«
Der neunjährige Jon, der auf dem Boden lag und versuchte, das Wall Street Journal zu lesen, blickte auf und sagte: »Gehört dir jetzt Wunder nicht mehr? Werden wir nicht in Kalifornien wohnen?«
»Nein, aber sag es vorläufig niemandem.«
»Dann können wir das Retiro behalten? Und...«
»Rudy«, sagte Schatz misstrauisch, »ich möchte mehr über diese neue Geldquelle hören.«
»Jon«, sagte Rudy, »lauf zu Bess, solange Schatz und ich über Geschäfte reden.«
Vierzehn Tage später erwarb Rudy eine Beteiligung an einem Profi-Rugbyteam. Schatz hielt es für einen Irrtum, gutes Geld in eine mit Schutzhelmen und Knickers ausgestattete Horde von Lümmeln zu stecken, aber Rudy erklärte seine Entscheidung logisch. Er, Rudy, besaß nur ganz geringfügige Anteile, zwei Prozent, aber damit erschien sein Name auf den Sportseiten der Zeitungen. Seine Geldgeber mussten daraus schließen, dass dieser Chakorian, von dem jeder dachte, er sei pleite, doch noch eine Menge Geld haben müsste, wenn er sich leisten könne, Anteile eines Rugbyteams zu erwerben, also konnte man ihm ruhig noch mehr leihen.
Das Team, die Wölfe, hatte ihr Standquartier in einer anderen Stadt. Im August flogen Rudy, Jon und Bess ins Trainingslager, so dass Rudy dort Fotos von sich und den anderen Teilhabern machen lassen konnte. Von dort aus folgten sie der Mannschaft nach Houston in Texas zu einem Freundschaftsspiel, das an Jons zehntem Geburtstag stattfand. Nach dem Spiel warteten Jon und Bess in der Hotelhalle, während Rudy und ein paar Ölleute aus Texas in die Bar gingen, wo Rudy ihnen vertraulich nahelegte, sie möchten doch Venus-Aktien kaufen, sie seien vorübergehend gefallen, und das wäre doch eine Sache.
Die Spieler versammelten sich in der Halle, und ein paar von ihnen kamen herüber, um mit Bess zu liebäugeln und Jon auf Wiedersehen zu sagen, der von der Tribüne aus das Spiel mit angesehen und eine Menge neuer Flüche gelernt hatte. Dann bestieg die Mannschaft den Bus, der sie zu der Maschine brachte, mit der sie in das Trainingslager zurückflogen. Nachdem sie gegangen waren, betrat ein anderer Spieler die Halle, seinen Koffer in der Hand. Er war gut ein Meter dreiundachtzig groß, breitschultrig und hatte eine schmale Taille und einen flachen Bauch, war aber älter als die anderen. Er hatte lockiges braunes Haar. Über seiner dicken Nase klebte ein Verband. Er hieß Skipper Molloy. Neunzehnhundertsiebenunddreißig war er Halfback in der Nationalmannschaft gewesen, aber an diesem Nachmittag hatte er nur an ein paar Spielen teilgenommen. Das einzige Mal, als er den Ball in der Mache hatte, hatte er die Sache vermasselt.
Molloy stellte seinen Koller ab und zauste Jons Haar. Im Trainingslager war er Jons bester Freund unter den Spielern gewesen. »Na, Kleiner, wenn ich dich das nächstemal sehe, wirst du vermutlich Millionär sein wie dein Vater.«
»Ich sehe Sie im nächsten Monat wieder«, sagte Jon. »Beim Saisoneröffnungsspiel in New York.«
»Leider nicht. Sie haben mich gerade rausgeschmissen.«
»Das ist ja schrecklich!«, sagte Bess mitfühlend.
Rudy kam von der Bar hereingeschlendert »Hallo, Skipper. Sie müssen sich beeilen, wenn Sie die Maschine noch kriegen wollen. Und was ist denn so schrecklich?«
»Der blöde Trainer«, sagte Jon zornig, »hat Skipper aus der Mannschaft rausgeschmissen.«
Rudy runzelte die Stirn. »Das gibt’s nicht. Ich werde mit dem Trainer reden.«
»Vielen Dank, Mr. Chakorian.« Molloy lächelte verkrampft. »Aber er hat recht gehabt. Ich hätte letztes Jahr schon Schluss machen sollen. Ich kann mit den Jungen nicht mehr mithalten.«
»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Bess.
»Weiß nicht. Zu Hause in Wyoming bin ich Teilhaber an einer Tankstelle, aber die müssen dort zusetzen. Ich habe einen Onkel in Wisconsin. Vielleicht kann ich mit dem ins Geschäft kommen. Ich mag das Land dort.«
Rudy wurde nachdenklich. »Sind Sie verheiratet?«
»Teufel, nein!«
»Was haben Sie im Krieg gemacht?«
»Meistens Rugby gespielt. Für einen Marinestützpunkt in Virginia.«
»Hat man Ihnen bei der Marine das Schießen beigebracht?«
»Das war nicht nötig. Ich bin mein Leben lang ein prima Schütze gewesen. Als ich so alt war wie Ihr Sohn, konnte ich auf fünfzig Meter mit einem einzigen Schuss aus einer Zweiundzwanziger ein Eichhörnchen in den Kopf treffen. Bei der Marine habe ich zwischen den Rugbysaisons in einem Bootslager Schießunterricht gegeben.«
»Ja, dann...«, sagte Rudy. »Wenn Sie schon an Ihre Zukunft denken, überlegen Sie sich vielleicht, ob Sie nicht mit uns nach Chicago zurückkommen wollen. Sie wissen, wie das so mit wohlhabenden Leuten ist. Wir haben alle möglichen Feinde - Verrückte, Leute, die neidisch sind -, und im Augenblick möchte ich einen Leibwächter für mich und Jon haben, vor allem für Jon. Ich stelle Sie für ein halbes Jahr um tausend Dollar im Monat an.«
Molloy blickte auf Rudy. Dann blickte er auf Jon und schließlich auf Bess, besonders auf Bess; und dabei verschleierten sich seine Augen leicht, etwas, was Rudy möglicherweise entging, da er sich gerade eine neue Zigarre anzündete. »Okay«, sagte Molloy. »Abgemacht!«
In ihrem Appartement angekommen, sagte Bess: »Rudy, das verstehe ich nicht. Du hast noch nie zuvor etwas von einem Leibwächter gesagt. Wieso brauchst du denn plötzlich einen?«