Die Vereinten - Caroline Brinkmann - E-Book
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Die Vereinten E-Book

Caroline Brinkmann

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Beschreibung

Sie ist Rain. Der Regen. Der Neuanfang. Er ist Lark. Der Verräter. Das Ende.
Gemeinsam werden sie dem Land Hope Frieden bringen - oder seinen Untergang besiegeln.


Rain und Lark haben während der Rebellion schwere Verluste erlitten, doch der Kampf um die Vorherrschaft in Hope ist noch nicht vorbei. Ein Kampf, bei dem sie auf unterschiedlichen Seiten stehen. Und ausgerechnet Lark, der sie damals an die Spines verraten hat, ist der Einzige, dem Rain jetzt trauen kann. Aber wird er wirklich hinter ihr stehen, wenn es darauf ankommt?

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Seitenzahl: 577

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungDAS LAND HOPETEIL 1Einleitung1.2.3.4.5.6.7.8.9.11.8.9.10.11.12.TEIL 2Einleitung13.14.15.16.17.18.19.20.21.22.24.25.26.27.28.27.TEIL 3Einleitung28.29.30.31.32.33.34.35.36.37.38.37.38.39.40.TEIL 4Einleitung41.42.43.44.45.46.47.48.49.50.51.EPILOG

Über dieses Buch

Sie ist Rain. Der Regen. Der Neuanfang. Er ist Lark. Der Verräter. Das Ende. Gemeinsam werden sie dem Land Hope Frieden bringen – oder seinen Untergang besiegeln.

Rain und Lark haben während der Rebellion schwere Verluste erlitten, doch der Kampf um die Vorherrschaft in Hope ist noch nicht vorbei. Ein Kampf, bei dem sie auf unterschiedlichen Seiten stehen. Und ausgerechnet Lark, der sie damals an die Spines verraten hat, ist der Einzige, dem Rain jetzt trauen kann. Aber wird er wirklich hinter ihr stehen, wenn es darauf ankommt?

Über die Autorin

Caroline Brinkmann wurde 1987 im hohen Norden geboren. Heute ist sie als Ärztin tätig und schreibt, wann immer sie Zeit dafür findet. 2013 gründete sie das Tintenfeder-Autorenportal, das angehende Autoren über die Verlagsbranche aufklärt. Mit ihrem Debüt belegte sie den ersten Platz in der Kategorie »Beste Debütautorin 2014« bei Lovelybooks. Sie liest regelmäßig auf Buchmessen, Conventions, in Schulen und Buchhandlungen und ist in verschiedenen Internet-Gruppen und -Foren aktiv. 2017 erschien »Die Perfekten«, der Auftakt ihrer Dilogie um Protagonistin Rain, im ONE-Verlag. »Die Vereinten« ist der glorreiche Abschluss.

CAROLINE BRINKMANN

DIE VEREINTEN

BASTEI ENTERTAINMENT

Originalausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf

Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Copyright © 2018 by Caroline Brinkmann und Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung eines Motivs von © shutterstock/Aleshyn_Andrei

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6163-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für O. und O.Weil uns die schönsten Erinnerungen verbinden

DAS LAND HOPE

DIE STADTZIRKEL:

Aventin

ist der Regierungssitz des Landes; eine gigantische Stadt im Zentrum von Hope. Sie ist der Hauptwohnort der Gesegneten und vieler Menschen, deren Gene einer Eins oder besser entsprechen. Diejenigen, die dort als Zwei geboren werden, haben die Wahl, den Zirkel zu verlassen oder in die Dienerschaft einzutreten.

Ruby

ein schillernder, bunter Ort voller Kunst und Kultur. Händler, Sammler und Künstler aus allen Ecken des Landes haben sich dort niedergelassen.

Silver

ist im Gegensatz zu den anderen Zirkeln eine vergleichsweise kleine Stadt, dafür aber ungemein wohlhabend. Von hier aus wird das Politik- und Unterhaltungsprogramm, welches über TecDecs im ganzen Land ausgestrahlt wird, geplant.

DIE INDUSTRIEZIRKEL:

Grey

stellt das Herz des Industriezirkels dar. Es besteht hauptsächlich aus Fabriken und Wohnhäusern für deren Arbeiter. Die vielen Fabriken stoßen Schadstoffe aus und sorgen für ein Smogproblem, das eine enorme Gesundheitsbelastung in Grey darstellt. In einigen Gebieten sind spezielle Schutzkleidung und Gasmasken erforderlich.

Yellow

durchkreuzt die anderen Zirkel ober- und unterirdisch, denn er umfasst alle Kraftwerke und Stromleitungen, die das Land versorgen. Seine Bewohner sind größtenteils Drohnen.

Black Shell

dient als Ausbildungsort der Sentinal, welche die Armee von Hope stellen. Black Shell ist die Hauptfestung, es gibt aber im ganzen Land viele kleinere Stützpunkte, die »Shells« genannt werden.

White Pearl

ist das Zentrum der Wissenschaft und mit Aventin über öffentliche Schnellzüge und den Gleiterverkehr verbunden. Hier gibt es zahlreiche kuppelförmig aufgebaute Sektoren, in denen an medizinischen, biologischen und technischen Innovationen geforscht wird.

Pitch

liegt in den Bergen im Westen nahe der Mauer und ist ein relativ kleiner Sektor. Hier liegen die Kohleminen, in denen Straftäter und deren Familien arbeiten, die zu Zwangsarbeit verurteilt wurden. Außerdem leben dort Drohnen und Sentinal, die die Gefangenen überwachen.

DIE LANDZIRKEL:

Green

nimmt als landwirtschaftlich orientierter Zirkel beinahe das gesamte Land ein und reicht im Süden bis zum Meer. Er besteht aus Feldern, Wäldern, Bauernhöfen und kleinen Dörfern. Der Großteil der Bewohner ist als G2 eingestuft. Menschen mit besseren Genen versuchen oft, in den Stadtzirkeln Arbeit zu finden.

Azure

werden die Seenplatten im Norden des Landes genannt. Große Sümpfe, Moore, Salzseen und alle größeren Flüsse zählen ebenfalls zu Azure. Hier leben überwiegend Fischer auf Booten, Flößen und in schwimmenden Dörfern.

TEIL 1

DIE VERLORENEN

»DU WIRST DEINEN JOBLIEBEN«, hatten sie gesagt.

Dass dieser Job beinhaltete, auf einem einsamen Wachturm zu stehen, sich den Hintern abzufrieren und eine Nebeldecke anzustarren, das hatten sie ihm natürlich nicht erzählt.

Und das alles nur, um eine Mauer zu bewachen. Eine Mauer, die niemals nachgegeben hatte und, wenn es nach Mur ging, auch niemals nachgeben würde. Sie beschützte das Land Hope vor dem, was auch immer da draußen sein mochte. Und da waren, soweit Mur von seinem Posten aus sehen konnte, nur Dreck, Nebel und ein paar verirrte Mutanten.

»Der Nebel ist tödlich«, hatten die anderen Sentinal gesagt. Aber Mur war sich sicher, dass das bloß Gerede war, um die neuen Rekruten zu beeindrucken. Für ihn war das stinknormaler, todlangweiliger Nebel, der dort zwischen den Bäumen entlangzog.

Auch die Geschichte, dass die letzte Forschungsgruppe, deren Expedition hinter die Wälle der Mauer geführt hatte, durch ätzende Säureregen und resistente Erreger innerhalb von Tagen gestorben war, konnte Mur nicht überzeugen.

Er hatte den langweiligsten Job in ganz Hope. Seiner Meinung nach wurden seine Fähigkeiten als Sentinal vollkommen unterschätzt. Warum sonst war er nach Lonely Shell abkommandiert worden, zum westlichsten Punkt des Landes?

Mur seufzte, verlagerte die Waffe auf seiner Schulter und beugte sich über den Rand des Geländers. Seinen Helm hatte er abgesetzt und auf den Boden gestellt. Wenn ihn sein Vorgesetzter so sehen würde, würde es Ärger geben. Aber sein Vorgesetzter war nirgends zu sehen.

Er fischte eine Flasche von seinem Gürtel, in der sich eigentlich Wasser befinden sollte. Klares Wasser für einen klaren Kopf.

In Murs Fall war es allerdings Siruptee. Er setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen Schluck. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus, und er spürte, wie seine Gedanken leicht wurden. Er lehnte den Kopf in den Nacken und beobachtete den grauen Himmel über sich, über den der Sturm jagte und die Wolken vor sich hertrieb.

Noch ein paar Stunden, dann würde endlich die Ablösung kommen.

Die Mauer war seit Jahren nicht angegriffen worden, und erst recht nicht in Lonely Shell, denn hinter dem Nebel verbargen sich zu beiden Seiten die scharfkantigen Felsen und tiefen Schluchten der Namenlosen Berge. Sie mauerten die Kohleminen von Pitch ein und machten eine Flucht aus dem dunkelsten Zirkel des Landes unmöglich. Gerade wenn es regnete, wurden die Felsen zu rutschigen Todesfallen. Ein falscher Schritt genügte, und man stürzte in eine der vielen Risse und Schluchten. Und es regnete nahezu immer in Pitch.

Mur schielte zum Himmel in der Hoffnung, dass zwischen den dicken Wolken endlich der Gleiter auftauchen würde, um ihn abzuholen. Er sehnte sich nach seinem beheizten Apartment, trockener Kleidung und einer lustigen Show auf dem TecDec.

»Lonely Shell an Posten 341 Delta.«

Das war er.

Mur seufzte und setzte seinen Helm auf, um zu antworten.

»Statusbericht«, verlangte der Sprecher.

»Alles ruhig. Keine besonderen Vorkommnisse. Posten 341 Delta Ende.«

Für einen »ewigen Krieg« gab es hier verdammt wenig Krieg. Nicht mal die Mutanten und alten Maschinen, die jenseits der Mauer leben sollten, schafften es über die Gebirgsketten.

Mur wollte seinen Helm gerade wieder absetzen, als die Sprechanlage erneut surrte.

»Löwenbär an Spatztaube.«

Mur seufzte vor Erleichterung, als er die Stimme erkannte.

»Warum bin ich die Spatztaube?«, fragte er amüsiert.

»Weil du so aussiehst«, lautete die Antwort seines Kameraden, Cem.

»Ach ja?«, fragte er mit gespielter Empörung.

»Na ja, deine spitze Nase, deine verschreckten runden Kulleräugelchen …«

»Von wegen.« Er musste lachen.

»Und? Was macht die Mauer?«

»Steht noch.«

»Hast du mich vermisst?« Es war keine Frage. Die Stimme von Cem klang äußerst zuversichtlich, dass Mur ihn nicht aus dem Kopf kriegen konnte.

»Neee«, antwortete er gelassen. »Ich hatte so viel um die Ohren. Du weißt schon. Es ist ein ewiger Kampf hier draußen.«

»Ein ewiger Kampf gegen die Langeweile«, ergänzte Cem wissend.

»Na gut. Du hast recht. Ich hab an dich gedacht …«

In diesem Moment bewegte sich der Nebel jenseits der Mauer. Zuerst dachte Mur, dass seine Ablösung gekommen sei und sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Es war unter Sentinal eine beliebte Mutprobe, mit dem Gleiter über die Mauer zu fliegen. Nicht zu weit, nur weit genug, um sich mutig zu fühlen. Denn hinter dem stählernen Wall gab es einen weiteren Ring aus Drohnen und Sensoren, der Eindringlinge von außen frühzeitig meldete.

»Wie oft hast du an mich gedacht?«, fragte Cem.

»Psst!«, flüsterte Mur in den Helm, woraufhin sein Kamerad ungläubig lachte.

»Psst du mich etwa? Genau dann, wenn ich dir mein Herz ausschütten will …«

»Da ist etwas.« Nur zur Sicherheit zog Mur sein TecDec heraus, das achtlos in der Tasche auf dem Boden lag, um festzustellen, ob eine Überschreitung der Sensorenzone gemeldet worden war.

»Was soll da denn sein?«, hakte Cem nach. »Sicher bloß eine technische Störung …«

»Sei kurz still.« Mur klappte das Visier seines Helmes hoch. Kallisto! Er hatte das TecDec nicht einmal hochgefahren, da er nicht damit gerechnet hatte, es zu brauchen.

»Du machst mir Angst, Mur«, hörte er Cems Stimme. Er ignorierte ihn und strich mit zittrigen Fingern über den Bildschirm.

Endlich.

Das TecDec war hochgefahren, doch die Sensoren meldeten keine Störung. Sie meldeten überhaupt nichts. Als wären sie ausgefallen. Oder zerstört …

»Was zum …?«

»Mur? Wenn das ein Scherz sein soll«, schimpfte Cem. »Du hast doch nicht wieder zu viel Siruptee getrunken?«

Doch Mur antwortete nicht. Er tippte auf sein TecDec, um die Statusberichte der Drohnen des äußeren Rings einzeln abzufragen. Genau in diesem Moment flog eine dieser Drohnen auf ihn zu, zusammen mit einem beachtlichen Teil der Sensorstation.

»Kallisto!« Er ging in Deckung, als beides unterhalb seiner Position gegen die Mauer krachte.

»Was ist da los?« Angesichts Murs Panik in der Stimme war nun auch Cem alarmiert. »Du hast doch nicht wieder deine Waffe fallen gelassen? Dieses Mal decke ich dich nicht.«

»Nein.« Mur wünschte sich, es wäre bloß das, aber er fand keine Worte für das, was sich dort aus dem Nebel schälte.

Kein Wort außer: »Kallisto.«

1.

NORMALE UNTRAINIERTE MENSCHEN konnten ungefähr eine Minute die Luft anhalten. Nach zwei Minuten verloren sie dann das Bewusstsein. Rain hielt dreizehn Minuten aus, ohne zu atmen.

Sie saß inmitten der kalten Wasserblase und hatte die Augen geschlossen. Es war so still hier drin, und man hatte das Gefühl, die Zeit würde stillstehen. Die Welt hinter der Blase aus Wasser schien so weit entfernt. Und mit ihr all die Sorgen, die auf Rains Herzen lasteten. Hier fühlte sie sich sicher. Hier in der stillen Einsamkeit.

Sie öffnete die Augen und sah einen Schatten, der unruhig um die Wasserblase patrouillierte. Es war Rains Leibwächter Nife, der von Tiberius den Auftrag bekommen hatte, Rains Leben zu schützen. Vor allem vor sich selbst.

Rain spürte, wie ihre Lungen anfingen zu brennen, doch sie verharrte unter Wasser. Ihre langen Haare umgaben sie wie ein roter Schleier. Wenn sie den Kopf bewegte, lief ein Ruck durch die Strähnen, beinahe so als würden sie leben. Normale Menschen erkannten nur Schemen unter Wasser, aber Rain war kein normaler Mensch. Sie war eine Gesegnete. In genetischer Hinsicht perfekt.

Es gab so viel, was sie über sich selbst nicht wusste. So viele besondere Fähigkeiten, von denen sie nicht einmal geahnt hatte, dass sie besonders waren, weil sie sie ihr Leben lang für selbstverständlich gehalten hatte. Immunität gegen Bakterien und Viren war eine der Besonderheiten der Gesegneten. Die Unfähigkeit, Kinder zu gebären, eine andere, denn perfekt zu sein lag offenbar nicht im Sinne der Natur. Das waren einige der Eigenschaften, die die Gesegneten von den gewöhnlichen Menschen unterschieden.

Rain konnte darüber nur lachen. Sie war als normaler Mensch aufgewachsen. Genau genommen weniger als das. Sie war ein Ghost gewesen, eine vom System Ausgestoßene, ohne jede Rechte. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie zu jenen mächtigen Wesen gehören würde, die das Land regierten. Und jetzt, wo sie die Gesegneten kennengelernt hatte, erschienen sie ihr nicht viel anders als die Menschen.

Sie sah, wie Nife unter der Schwimmblase patrouillierte, stehen blieb und die Stirn runzelte. Er schien darüber nachzudenken, in die Blase zu springen, um sie herauszuholen.

Keine Sorge. Ich will mich nicht umbringen, dachte Rain, doch sie bewegte sich nicht. Sie hatte darüber nachgedacht, nachdem ihr das Wichtigste auf dieser Welt entrissen worden und der Schmerz unerträglich gewesen war. Noch war sie hier. Noch.

Sie öffnete ihren Mund und sprach den Namen: »Storm.«

Kleine Bläschen stiegen aus ihrem Mund und verfingen sich in ihren Haaren.

»Storm.« Ihr Herz brach, und sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, die direkt mit dem Wasser davonschwammen. Sie krümmte sich zusammen und flüsterte in den Raum zwischen ihren Knien.

»Mom.«

Sie vermisste ihre Wärme, ihre Nähe und ihre Liebe. Von all dem bekam man in Aventin nicht viel.

Nife hatte sich offenbar entschieden, sie zu retten. Er setzte seine Atemmaske auf und streckte seine Arme empor, um in die Blase hineinzutauchen, doch Rain brauchte keine Rettung. Sie riss sich aus ihrer Starre, schoss wie ein Pfeil durch das Wasser in die entgegengesetzte Richtung. Ihr Kopf brach durch die Oberfläche, und ihr Körper glitt aus der Kaltblase. Sie landete auf dem Boden, der aus grünen und blauen Mosaiken bestand, ebenso wie die hohen Wände und die Decke, welche die drei schwebenden Schwimmblasen umgaben.

Kaum war Rain auf dem Boden gelandet, fühlte sie sich schwer und träge, jetzt, wo die Schwerkraft wieder ganz auf ihren Körper wirkte. Sie wischte sich die wirren Strähnen aus dem Gesicht und eilte mit schnellen Schritten auf den Fahrstuhl zu, ohne sich noch einmal nach ihrem Leibwächter umzusehen. Sie wusste auch so, dass er ihr folgte. Das tat er immer. Nur dass er sich dieses Mal umsonst nass gemacht hatte.

Sie erreichte den Fahrstuhl und trat ein. Während der Fahrt hielt sie die Luft an. Die Enge behagte ihr nicht, also lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Tropfen, die ihre Haut hinunterrannen und um ihre nackten Füße eine Pfütze bildeten. Eigentlich gab es auf der Schwimmebene neben den fliegenden Becken eine Trockenvorrichtung, ebenso wie Glee, ein Programm, das als Home-Assistent fungierte und einem Kleidung vorschlagen und bereitstellen konnte.

Rain hatte dazu jedoch keine Lust gehabt und klammerte sich an ihren Badeanzug aus wasserabweisendem Stoff, der im Gegensatz zu ihr noch immer trocken war.

Die Fahrstuhltüren glitten auseinander, und Rain schritt durch das Wohnzimmer, das ungewohnt leer wirkte. Früher hatte sie sich hier oft mit Andromeda oder Bishop getroffen. Sie blieb stehen, und wie immer, wenn sie der beiden gedachte, entstand ein Kloß in ihrem Hals. Bei Andromeda war es Trauer. Bei Bishop Wut, denn ihr Cabman hatte sie verraten. Sie hatte ihm vertraut, und er hatte sie an die Spines ausgeliefert. Bei der Erinnerung formte sie ihre Hände zu Fäusten. Ihre Mutter hatte recht gehabt: Vertrauen war etwas, das sie sich nicht leisten konnte.

Da waren Storm und Tiberius sich einig. Ihr Vater sagte schließlich auch immer: »Du kannst niemandem trauen.«

»Was ist mit dir?«, hatte sie ihn einmal gefragt.

»Du kannst darauf vertrauen, dass ich nur dein Bestes will, denn ich bin dein Vater. Meine Gene sind deine Gene.«

Doch Tiberius wollte vor allem eins: sein Bestes. Denn er hatte den ehrgeizigen Plan, der nächste Herrscher von Hope zu werden. Jetzt, nachdem der ehemalige König dem Anschlag der Spines zum Opfer gefallen war, herrschte Königin Palenope allein über Aventin. Sie weigerte sich, die Lücke, die ihr Herrscherpartner gerissen hatte, zu füllen, indem sie einen neuen König ernannte.

»Ein König lässt sich nur durch Wahlen entscheiden. Es gibt keine Abkürzungen, um dieses ehrenwerte Amt zu erreichen, und auch wenn es die Situation noch nie zuvor gegeben hat, müssen wir unsere Traditionen wahren.«

Es war eine angespannte, komplizierte Lage, und die Menschen hatten Angst. Die Rebellen hatten ihre heilige Sicherheit durchbrochen und ihnen ihre Verwundbarkeit vorgeführt. Erst durch den Anschlag beim Zirkelfest und dann durch ihren Angriff auf den Palast. Der Wunsch nach Frieden, Wohlstand und Sicherheit war nun bedroht, und die Bewohner verlangten nach einer Lösung. Einer schnellen Lösung, die Tiberius als Earl von Black Shell ihnen bot. Mehr Drohnen, mehr Soldaten und Festnahmen von vermeidlich gefährlichen Menschen mit niederen Genen. Es klang simpel, und Tiberius tat alles, diesen simplen Plan in die Tat umzusetzen.

»Die Menschen brauchen nun jemanden, der handelt. Und ich handele«, rechtfertigte er sich. »Es ist das Richtige, Tochter. Wir können nicht zulassen, dass unser System dem Chaos zum Opfer fällt. Vertraue mir.«

Nein, die Einzige, die je Rains Herz und ihr blindes Vertrauen verdient gehabt hatte, war Storm gewesen. Ihre Mutter.

»Nicht deine Mutter. Sie hat dich entführt und belogen, dein Leben lang. Sie hat dich um dein Erbrecht betrogen und wollte dich für sich«, würde Tiberius nun sagen. »Ihr kannst du am wenigsten vertrauen.«

Das stimmte nicht. Storm mochte ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt haben. Sie mochte ihr verschwiegen haben, dass sie bloß ihre Leihmutter gewesen war, aber ihre Liebe war echt gewesen. Echter als alles, was sie in Aventin je finden würde, und daran würde Rain sich klammern, um nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Denn Einsamkeit konnte wahnsinnig machen.

Rain eilte in ihr Zimmer, warf sich auf ihr Bett und ignorierte den Home-Assistenten Glee, der ihr besorgt mitteilte, dass sie noch nass war. Glee war nicht mehr als eine Stimme. Als sie nach Aventin gekommen war, hatte sie sich furchtbar erschrocken, als der Spiegel ihr das erste Mal Kosmetiktipps gegeben hatte. Jetzt wusste sie, dass es bloß ein Programm war.

»Soll ich den Trockner im Badezimmer aktivieren?«, fragte Glee. Als sie nicht reagierte, regelte er die Temperatur im Zimmer hoch.

»Sonst erkältest du dich«, verkündete er. Als ob sie sich erkälten könnte.

»Du wirkst etwas durcheinander. Soll ich dir eine Dienerin rufen? Oder lieber einen MedBot?«

»Nein.« Rain presste ihr Gesicht in die Matratze und atmete in den Stoff, der sich sofort anpasste. So blieb sie regungslos liegen, bis ein stechender Schmerz sie hochfahren ließ. Die Mutanten-Fuchsmanguste Cassiopaio war aufs Bett gesprungen und zwickte Rain in die Schulter, um sicherzustellen, dass sie noch lebte.

»Aua.«

»Hast du dich verletzt?«, erkundigte sich Glee.

»Nein!«, rief Rain. Sie hatte keine Lust auf einen hysterisch piependen MedBot. »Alles gut. Lass mich in Ruhe.«

»Gern. Ruf mich, wenn du mich brauchst.«

»Rarrr?«, erkundigte sich das Tier.

»Nein. Ich will nicht spielen«, murmelte Rain. Unter Spielen verstand Pi vor allem Kabbeln, Beißen und Kratzen. Oder er präsentierte Rain seine neusten Errungenschaften, die meistens tote Tiere oder glitzernde Schmuckstücke umfassten, und erwartete Bewunderung. Heute hatte sich die Manguste offenbar für Letzteres entschieden, denn sie verschwand unter dem Bett, nur um kurze Zeit darauf wieder aufzutauchen und ein Diamantendiadem zu präsentieren.

»Rarrr!« Pi stellte sich auf die Hinterbeine und streckte seine Schnauze stolz in die Höhe, aber nicht einmal ihr alter Begleiter vermochte es, Rain aufzuheitern.

»Behalt es ruhig, du kleiner Dieb«, sagte sie und ließ ihren Kopf wieder auf die Matratze fallen. All der Luxus und Prunk waren ihr egal, ebenso wie die Tatsache, dass sie die Tochter eines der mächtigsten Gesegneten von Hope war. Sie selbst mochte Prinzessin sein, aber sie war eine Prinzessin ohne Macht und ein Earl ohne Zirkel. Denn Grey lag in Schutt und Asche.

2.

LARK SAß AUF DEMBODEN seines Zimmers und drückte seine Stirn an die Fensterscheibe. Unter ihm lag Aventin – so weit das Auge reichte. Die goldene Stadt. Sie schien nie zu schlafen, selbst nachts nicht. Glühende Lichter und Werbetafeln blinkten um die Wette. Und Drohnen. WatchBots, die fliegenden Augen der Sentinal, und in der letzten Zeit auch zahlreiche, schwer bewaffnete WarBots, die das Gefühl von Sicherheit vermitteln sollten.

Doch sicher fühlte sich Lark schon lange nicht mehr. Er konnte nicht schlafen, denn im Schlaf kehrten die Bilder zurück. Die Bilder der Toten, die er auf dem Gewissen hatte. Der Schmerz, den sie verursachten, verschwand nie. Er war immer präsent. Auch jetzt spürte er ihn an sich nagen.

Lark schlug mit der Stirn gegen das Glas. Wieder und wieder. Dabei bemerkte er nicht, dass der MedBot zum Leben erwacht war und durch das Zimmer auf ihn zu schwebte. Es waren zwei ineinandergreifende Kugeln. Die größere war weiß, die kleinere obere konnte die Farbe ändern. Im Moment leuchtete sie rot, wie immer, wenn sie alarmiert war. Die Drohne war über einen Sensor mit ihm verbunden und konnte seine Vitalfunktionen überwachen.

Seine Schwester Rose hatte ihr den Namen Fufu gegeben, weil sie jedes Mal ein »Fufu« von sich gab, wenn sie Lark versorgte. Aktuell schien sie Larks Blutdruck zu beunruhigen, ebenso wie sein Schmerz. Neben den Bildern war das etwas, das ihn täglich begleitete. Er hatte immer Schmerzen, seitdem ihm von den Spines die Beine gebrochen worden waren. Und er wusste nicht, welcher schlimmer wog. Der körperliche Schmerz oder der seelische.

Fufu verabreichte ihm ein Schmerzmittel, dann schwebte die Drohne auf den Temperaturregler des Raumes zu, um sich in das System zu schalten. Es dauerte nur Minuten, und Lark spürte, wie sich der Raum erwärmte.

Mit einem weiteren, beinahe tadelnd klingenden »Fufuuuuu« erinnerte der MedBot Lark daran, endlich ins Bett zu gehen, das aus einer Matratze bestand, die sich perfekt dem Körper anpasste. Doch Lark fehlte der Komfort einer Bettdecke und eines Kissens, in denen man sich vergraben konnte. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass er jemals etwas aus Grey vermissen würde. Immerhin war sein ganzes Leben darauf ausgerichtet gewesen, den Smogzirkel hinter sich zu lassen, und er hatte wirklich alles dafür getan. Er dachte immer, wenn er es hierherschaffen würde, würde alles gut werden. Und jetzt? Er war kein Sentinal mehr, hatte keine Arbeit, war eine Belastung für seine Familie, und das Schlimmste war, er hatte Hail verloren. Seine Hail. Zusammen hatten sie davon geträumt, es nach Aventin zu schaffen, doch dann hatte die Mondaugenkrankheit Hails Träume zunichtegemacht, und sie hatte sich in ihrer Verzweiflung den Spines angeschlossen. Eine Entscheidung, die sie das Leben gekostet hatte.

»Fufuuu?«

Lark ignorierte Fufu und sah wieder aus dem Fenster. In Aventin konnte man den Himmel sehen. In den ersten Tagen hatte er ständig emporgesehen und gestaunt, wie klar die Luft hier war und wie weit man sehen konnte. Jetzt war es fast schon Gewohnheit.

Irgendwann musste Lark doch eingenickt sein, denn ein »Bruderherz!« ließ ihn aufschrecken. Er drehte sich um und sah, wie seine Schwester Rose in das Zimmer geschlüpft kam.

»Was machst du da?«, fragte sie besorgt und deutete auf das leere Bett. »Schläfst du nicht?«

»Ich habe nachgedacht«, antwortete Lark. Hinter den Lichtern der Stadt war der Himmel noch immer schwarz. Keine Sonne in Sicht, die ihn endlich von einer weiteren Nacht voller schmerzender Erinnerungen erlöste!

»Ich kann auch nicht schlafen.« Rose kam oft in sein Zimmer geschlichen, um sich in sein Bett zu legen wie damals, als sie noch in Grey gelebt hatten.

Hier waren sie in einer Dienerwohnung untergebracht, die aus vier Zimmern bestand: drei Schlafzimmern und einem Wohnbereich. Es war für Aventiner Verhältnisse einfach eingerichtet, aber für Larks Familie war es Luxus. Vor allem das Badezimmer, in dem jeden Tag Seife und warmes Wasser auf sie warteten. Zudem erhielten sie frisch gewaschene Kleidung, sowohl Tageskleidung als auch Nachtbekleidung. Dass die fein aussehenden weißen Hemden und Hosen ausschließlich für das Schlafengehen gedacht waren, hatten sie zuerst nicht gewusst. Sie waren damit vor die Tür gegangen, in dem Glauben, es handele sich um normale Kleidung. Erst die Blicke der Aventiner hatten sie darauf aufmerksam gemacht, dass etwas nicht stimmte.

»Warum tragen die Nachthemden?«, wurde getuschelt.

»Menschen aus Grey sind einfach unzivilisiert.«

»Guck mal, sie haben sogar eine Drei dabei. Und einen Jungen, der nicht laufen kann? Dass hier so etwas gestattet ist …«

»Komm ins Bett, Bruderherz.« Rose igelte sich auf seiner Matratze zusammen.

»Na gut.« Er fuhr mit seinem MedChair an das Bett heran und hievte sich darauf. Rose half ihm mit seinen Beinen, wobei sie ganz vorsichtig war, um ihn nicht zu verletzen.

»Sie sehen schon viel besser aus«, verkündete sie, als sie seine Unterschenkel inspizierte.

Rose hatte sich verändert. Aventin tat ihr gut. Ihre Wangen sahen nicht mehr ganz so knochig und eingefallen aus, und ihre Augen leuchteten. Ihre Haut war nicht mehr grau, sondern rosig, und ihre Haare umgaben ihren Kopf wie ein helles Meer aus festen Locken. Sie sah gesünder aus, und das war sie auch. Seitdem sie hier waren, hatte Rose noch keinen Anfall gehabt.

Trotzdem schmerzte Lark es, sie zu sehen, denn sie musste eine kleine »3« auf der Stirn tragen, direkt am Haaransatz. Es sollte eine Warnung für andere sein. Wichtig für die Sicherheit der Aventiner, hatte ihm ein Sentinal erklärt.

Lark nannte es Diskriminierung.

»Vermisst du sie sehr?«, flüsterte Rose, als er auf dem Bett lag. Auch wenn sie ihren Namen nicht sagte, wusste Lark, wen sie meinte, und sein Herz zog sich zusammen.

Hail. Seine beste Freundin. Mehr als das. Sie war … Ja, was war sie eigentlich? Er wusste es nicht genau, denn sie hatten keine Zeit gehabt, ihre Gefühle füreinander zu ergründen. Der Krieg war ihnen dazwischengekommen. Und mit ihm der Tod. Ihr Tod.

»Sehr«, flüsterte er mit erstickter Stimme. In seiner Erinnerung saß sie neben ihm auf einer Betonmauer, ihre Locken flogen im Wind, und sie strahlte ihn an. Er versuchte sich ihr Gesicht vorzustellen, aber es schien mit jedem Tag mehr zu verblassen.

»In den Geschichten, die ich gelesen habe, haben die Helden gegen das Böse gekämpft. Und sie haben gewonnen, und alle waren glücklich«, erzählte Rose und bettete ihren Kopf auf der Brust ihres Bruders. »Ich habe immer davon geträumt, ein Held zu sein, stark zu sein, Abenteuer zu erleben, aber jetzt nicht mehr …«

»Warum nicht?«

»Krieg ist kein Abenteuer …«, sagte Rose nach einiger Zeit, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er macht mir Angst.«

»Ich werde dich beschützen, Rose.« Er strich ihr übers Haar.

»Ich will immer bei dir bleiben, ja?«

»Natürlich.« Er drückte ihren Körper an sich, der immer noch zu dünn war, aber sich mittlerweile weniger zerbrechlich anfühlte.

»Lark? Ich glaube, die Menschen hier mögen mich nicht«, gestand Rose und strich über ihren Zahlencode am Unterarm. »Ich glaube, sie haben Angst vor mir.«

»Wie könnte man denn vor dir Angst haben?«

»Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Sie sehen mich an, als wäre ich gefährlich … Ich mag gar nicht mehr rausgehen.«

»Oh, Rose. Mach dir keine Sorgen.« Es zeriss Lark das Herz.

»Glaubst du, sie holen mich ab?« Sie hob ihren Kopf und sah ihn mit ihren großen Augen an. »Ich habe es im TecDec gesehen … Sie haben Zweien aus der Stadt gebracht. Und Dreien, die werden eigentlich gar nicht geduldet. Was, wenn sie mich wegbringen?«

»Das werde ich verhindern … Und Rain. Sie mag dich sehr, schon vergessen?«

»Ich weiß … Ich mag sie auch sehr.« Rose klammerte sich fester an ihn, und er strich ihr behutsam durchs Haar.

»Wohin du gehst, gehe auch ich. Ich lass dich nicht allein.« Er drückte die Finger erst auf sein Herz, dann auf ihres. Das war ein Versprechen, und Rose nickte erleichtert.

»Außerdem bin ich jetzt auch eine Drei.« Er zeigte auf seinen Zahlencode, auf dem »F3« ergänzt worden war. Dieselbe Zahl, die er, wie seine Schwester, unter dem Haaransatz auf der Stirn tragen musste, wenn er sein Zuhause verließ. Damit ja jeder, der ihm ins Gesicht sah, wusste, dass seine Beine nutzlos waren und er somit keinen Wert hatte.

»Dann bleiben wir für immer zusammen.« Rose kuschelte sich an ihn und schloss ihre Augen.

»Ja.« Koste es, was es wolle.

3.

»DIE LAGE IN AVENTIN beunruhigt viele Bewohner«, sagte der Reporter im TecDec. »Was könnt Ihr sagen, um sie zu beruhigen?«

Ihm gegenüber stand Palenope, die wunderschöne Königin von Hope, in einer Uniform aus weißem und goldenem Stoff, der beinahe schlicht wirkte. Auf ihrem Haupt thronte ihre Krone, die wie heiße Lava glühte.

»Ich kann nur sagen, dass Frieden für alle Menschen mein oberstes Ziel ist. Die Spines wurden in Grey zerschlagen, zu einem hohen Preis. Viele potenzielle Sympathisanten in anderen Zirkeln wurden festgenommen.«

»Den Sentinal sei Dank.«

»Nicht nur den Sentinal gilt unser Dank. Auch den Menschen, die zusammenhalten und nicht zulassen, dass die Spines uns spalten.« Palenopes Blick war fest in die Kamera gerichtet. »Ich bitte das Volk von Hope, sich nicht von Angst leiten zu lassen, auch wenn die Stunden dunkel sind. Wir müssen vereint Seite an Seite stehen, um den Rebellen Einheit zu demonstrieren.«

»Wie viele von ihnen gibt es denn noch?« Der Reporter schien nicht beruhigt. »Wie viele warten auf ihre Chance, erneut zuzuschlagen, und wie viele verstecken sich unter den Flüchtlingen aus Grey, die auch hier vor unseren Toren und sogar in unserer Stadt Zuflucht gefunden haben? Wäre es nicht besser, den Vorschlag von Earl Eustachius zu erhören und die Mauern um die Hauptstädte Aventin, Ruby und Silver zu verstärken? Warum nehmen wir überhaupt Graue auf? Sie sollen in Grey bleiben.«

»Die Lage in Grey ist schwierig. Durch die Spines und unsere Gegenmaßnahmen haben viele Unschuldige ihr Zuhause verloren.«

»Wir helfen bereits beim Wiederaufbau, oder nicht? Viele besorgte Aventiner sind der Meinung, dass das reichen muss.«

»Soweit es geht, ja. Leider machen die Terroristen es uns nicht ganz leicht. Wir sind ein Land, und wir stehen alle auf derselben Seite. Wir wollen Frieden und Sicherheit. Jeder, der die entsprechenden Gene hat, darf in unsere Stadt kommen, und jeder, der hineinmöchte, wird genauestens überprüft und überwacht, das kann ich versichern.«

»Viele Aventiner können die Not der Einsen nachvollziehen, die in unserem Zirkel Arbeit suchen, aber es wurde sogar von Zweien berichtet, die nach Aventin gekommen sind. Sollten wir die nicht strikt ausschließen?«

»Es gibt in der Tat einige Bewohner Hopes mit weniger guten Genen, die zurzeit in den Dienergebäuden in Aventin untergekommen sind, auch wenn wir bemüht sind, andere Zirkel für sie zu finden. Trotzdem gilt, dass nach Möglichkeit alle eingegliedert werden sollen, damit sie weiterhin ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten können.«

»Warum nehmen Ruby und Silver dann keine Grauen auf?«

»Ich bin wegen dieser Angelegenheit bereits mit den Earls Eustachius und Eustenia im Gespräch.«

»Wir sind sehr besorgt, welche Änderungen die vielen Neuankömmlinge bringen werden. Vereinzelt sind sie ja in Ordnung, aber man muss nur einen Blick vor unsere Tore werfen, wo ihre Camps mitten in den Feldern von Green aufgeschlagen sind. Es sind so viele. Steckt nicht in jedem von ihnen ein potenzieller Spine? Gerade in den Zweien …«

»Unseren Ermittlungen nach gibt es Spines in jeder Genstufe.«

»Das macht es nicht besser. Das heißt doch, jeder aus Grey ist eine potenzielle Gefahr …«

»Wir müssen uns an Fakten halten. Bitte. Es ist nicht die Zeit, kopflos und in Angst zu handeln.«

Palenope blickte fest in die Kamera. Sie und der König Maximus waren für ihre Besonnenheit bekannt gewesen. Sie hatten unnötige Gewalt stets abgelehnt und waren ein beliebtes Königspaar gewesen. Doch nun sanken Palenopes Umfragewerte. Die Menschen trauten ihr nicht mehr zu, die Lage im Griff zu haben, und hielten sie für schwach.

Eine ideale Chance für Tiberius und seine Sentinal.

»Herrin?« Die Dienerin J war eingetreten. Sie trug wie alle Diener in Aventin weite senfgelbe Kleidung und einen kahl geschorenen Kopf.

»Mhm?« Rain starrte gerade an die Decke ihres Zimmers. Nachts funkelte dort ein Sternenhimmel, so klar, dass man die Milchstraße sehen konnte. Wie schön ihr Gefängnis war. Ein Gefängnis aus Glas und Luxus.

»Dein Vater möchte dich sehen. Er lädt zu einer Morgenveranstaltung ein. Soll ich dir beim Anziehen helfen?«

Rain hatte nicht gut geschlafen. Sie war bereits vor dem Aufgang der Sonne aufgewacht. Schuld daran war dieses Mal jedoch nicht Cassiopaio, der ihr neues Haustier durch das Zimmer jagte, sondern ein Albtraum.

Ihr neuer Mitbewohner war ein Seidenhäschen. Es hatte einmal Daphne gehört, doch nun lebte es bei Rain, die sich für das Tier in gewisser Weise verantwortlich fühlte. Immerhin hatte es nach Daphnes Tod niemanden mehr, der sich um es kümmern wollte.

Rain war sich nicht einmal sicher, wie es hieß, aber auf dem kleinen pinken Halsband, das es trug, hatte der Name »Silk« gestanden, der angesichts des langen weißen Fells gut passte.

Um das beklemmende Gefühl abzuschütteln, das der Albtraum hinterlassen hatte, war Rain durch ihr Zimmer gejoggt, wie sie es immer tat, um den Kopf frei zu kriegen.

Jetzt lag sie durchgeschwitzt und ausgestreckt auf dem Boden vor dem TecDec und starrte an die Decke. Silk lag auf ihrem Bauch, in der Hoffnung, Streicheleinheiten zu erhaschen, während Cassiopaio ihn vom Bett aus anknurrte. Das Häschen schien entweder ziemlich selbstsicher oder ziemlich dumm zu sein, denn es schien von den Drohungen der Manguste unbeeindruckt und gähnte ausgiebig.

»Herrin?«, rief sich die Dienerin in Erinnerung.

»Wenn mein Vater das wünscht.« Rain schob das Seidenhäschen von ihrem Bauch, stand auf und folgte J mit starrer Miene ins Bad. Sofort stürzte sich Cassiopaio auf seinen seidigen Erzfeind.

»Pi!«, mahnte Rain. »Hier wird niemand gefressen.«

Die Fuchsmanguste sah sie enttäuscht an, bevor sie sich mit einem beleidigten »Rarrr« unters Bett zurückzog.

Nachdem Rain geduscht war, folgte sie der Dienerin in den Kunstsalon, wo sie zurechtgemacht wurde.

Schönheit ist eine Kunst!, stand in goldenen Buchstaben an der Wand.

»Deine Haare sind wunderschön«, schwärmte eine Dienerin, während sie Rains dichtes rotes Haar auf einem Handtuch ausbreitete. »Sie sind so lang geworden, seit du hier lebst.«

Rain hasste ihre Haare. Sie fielen ihr weit über die Schultern, was sie als äußerst unpraktisch empfand. Wenn sie schlief, musste sie die Haare mittlerweile zu einem Zopf zusammenbinden, um nicht ständig auf ihnen zu liegen. Ihr Vater hatte ihr verboten, sie abzuschneiden, da lange gesunde Haare ein Erkennungszeichen der Gesegneten waren.

Mit geschickten Händen woben die Diener kleine goldene Schmucksteine hinein. Rain ließ es geschehen, bis sie Anstalten machten, die vorderen Strähnen zu flechten.

»Nein. Nicht diese Frisur«, sagte sie entschieden. Es war ihr alter Cabman Bishop gewesen, der dies zu ihrem Markenzeichen gemacht hatte, und sie wollte nicht an ihn erinnert werden.

»Aber Herrin«, widersprach die Dienerin entschuldigend. »Dein Vater hat uns konkrete Anweisungen gegeben.«

Nicht mal über meine Haare kann ich selbst bestimmen, dachte Rain verbittert, aber sie ließ die Dienerin gewähren.

Ein Krieger muss einschätzen können, wann sich ein Kampf lohnt und wann er bloß seine Energie verschwendet. Das war eine von vielen Weisheiten, die sie von Storm gelernt hatte, und sie beschloss, auf ihre Mutter zu hören. Ihr Vater saß im Moment am längeren Hebel, und Rain wusste, dass er ihre sowieso schon geringen Freiheiten jederzeit noch weiter einschränken konnte, wenn sie sich nicht fügte. Und noch viel mehr. Er hatte dafür gesorgt, dass Lark und seine Familie hier in Aventin leben durften, in Sicherheit. Und diese Entscheidung konnte er jederzeit wieder rückgängig machen. Aus diesem Grund hielt sie die Füße still, kam, wenn er nach ihr rief, und stand an seiner Seite, wenn er in den pompösen Shows von Gott Balthasar auftrat. Er hatte sie in der Hand, und er wusste es.

»Hat er mir auch rausgesucht, was ich anziehen soll?«, brummte sie, während eine andere Dienerin ihre Augenbrauen mit einem Miniaturkamm in Form brachte. Vor Aventin wäre Rain nie auf die Idee gekommen, dass man seine Augenbrauen stylen könnte, aber hier war man erfinderisch. Alles, wirklich alles konnte im Kunstsalon noch perfekter gemacht werden.

»Nein. Das war ich«, sagte eine unbekannte Stimme. Die Dienerinnen traten beiseite und machten Platz für den Neuankömmling. Einen jungen Mann, dessen hochtoupierte bunte Haare als Erstes ins Auge sprangen. Es war unmöglich zu sagen, welche natürliche Haarfarbe er haben mochte, denn sie waren durchsetzt von pastellfarbenen Strähnen. Es sah so aus, als wäre er in einen Farbeimer gefallen.

»Und wer bist du?« Rain hob misstrauisch eine Augenbraue, auch wenn sie die Antwort bereits ahnte.

»Ich bin Eros, dein neuer Cabman.«

Natürlich. Der Ersatz für Bishop.

Der Mann drückte seine Finger zuerst an seine Stirn und schließlich an sein Herz.

Rain war froh, dass Eros rein äußerlich nichts mit ihrem alten Cabman gemeinsam hatte. Er war deutlich kleiner als Bishop und gut einen halben Kopf kleiner als sie selbst. Schlank, aber trainiert. Er hatte weiche, fast feminine Gesichtszüge. Seine Augen waren mandelförmig und von dunklem Braun, beinahe schwarz. Während Bishop sich mit Schmuck und Accessoires zurückgehalten hatte, war Eros ein klimpernder Paradiesvogel. Seine Ohren waren unter silbernem verschnörkeltem Schmuck versteckt, seine Finger mit Ringen besetzt, die klimperten, wenn sie gegeneinanderschlugen.

»Ich muss sagen, es ist mir eine Freude, eine wahre Freude, dein neuer Cabman zu sein.« Seine Augen leuchteten, als er Rain musterte. »Bishop hat dein Image total ruiniert. Total! Das passiert, wenn man einen Zugezogenen aus Pitch mit dem wichtigen Amt eines Cabmans beauftragt. Ich war schockiert, sag ich dir, schockiert, als ich dich in dem grässlichen Zirkelfestoutfit gesehen habe. Wie eine einfache Dienerin verkleidet? Wo war da der Glamour?«

»Es sollte nicht glamourös sein«, korrigierte Rain, doch Eros war kaum zu bremsen.

»Jaja, es ist in Erinnerung geblieben. Kein Zweifel«, fuhr er fort. »Aber will man als schockierendes und peinlichstes Outfit in der Geschichte von Hope in Erinnerung bleiben? Nein, sicher nicht. Ich werde dich einkleiden, so wie es sich gehört. Als Tochter des Helden von Aventin. Als Prinzessin der Herzen. Als Earl von …«

»Einem zerstörten Zirkel voller Blut und Asche.«

»Mmh … Wir bleiben lieber beim Prinzessinnen-Image.« Summend schob er Rain zu den Umkleideräumen des Salons, wo bereits einige lebensgroße Puppen auf sie warteten, die diverse farbenfrohe Outfits zur Schau trugen. Auf dem Weg dorthin hörte er nicht auf zu reden. »Ich liebe Tiberius. Ja. Er sieht so gut aus, findest du nicht? Nun, als Tochter ist das immer schwer zu beurteilen, aber er strahlt einfach etwas aus. Stärke, Wille und … Versuchung. Ja. Ja, das ist es. Ihn umgibt ein Schleier der Versuchung. Ein Schleier, den ich nur zu gern lüften würde.«

Bäh! Rain beäugte ihren neuen Cabman von der Seite. Er mochte kein Verräter sein, aber er war definitiv verrückt.

»Du bist größer, als ich dachte, und muskulöser … Nun, ich hoffe, das Outfit passt trotzdem. Es handelt sich hierbei um den neusten Trend aus Ruby und nennt sich vogeladaptierte Kleidung. Ich habe es selbst kreiert, und ich bin mir sicher, es wird dir die Sprache verschlagen.«

Das Kleid, vor dem sie stehen blieben, raubte Rain in der Tat die Sprache, aber nicht im positiven Sinne. Die Dienerinnen eilten herbei, um ihr bei der Anprobe zu helfen.

»Ist dieses Kleid nicht unglaublich?« Eros war außer sich vor Begeisterung, als sie umgezogen war. »Es drückt Verspieltheit und Romantik aus, während du Stärke und Härte ausstrahlst. Die liebliche Kriegerin. Ein wunderbares Spiel der Gegensätze.«

»Ich seh darin aus wie ein Kanarienvogel.« Sie zupfte an dem Kleid, das aus gelben Federn bestand, die bei jeder Bewegung mitwippten.

»Tieradaptierte Kleidung, Schätzchen. Das ist der letzte Schrei. In Ruby waren beim Sommerfest Hunderte Echsenableger in den schillerndsten Facetten zu sehen, aber jetzt sind die Vögel im Kommen. Und sieh dich an. Jaja. Ein unglaublich edler, atemberaubender Kanarienvogel«, trällerte Eros, während er Goldstaub über ihren Schultern verteilte. »Dreh dich für mich.«

Rain vollführte eine unmotivierte Drehung, und die Federn bauschten sich angesichts des Luftzuges auf, als würden sie in die Luft abheben wollen. Ihr Cabman stülpte ihr breite, klimpernde Goldreifen über die Arme und seufzte vor Entzückung, als eine Dienerin Rains Haare ebenfalls mit Federn verzierte.

»Das muss dir doch gefallen!«

»Nein.« Rain schüttelte bestimmt ihren Kopf. Sie hatte sich einen Cabman gewünscht, der etwas weniger … wie Eros war. Er musterte seine Gesegnete und runzelte die Stirn. Offenbar beruhte die Enttäuschung auf Gegenseitigkeit.

»Guck nicht so grimmig, Prinzessin.« Ihr Cabman verteilte eine weitere Ladung Goldstaub über ihren Schultern und den Oberarmen und verlangte nach einem Lippenstift in derselben Farbe. »Du siehst atemberaubend aus. Ganz entzückend.«

Missmutig begutachtete Rain sich im Spiegel. Schade, dass der entzückende Kanarienvogel keine Flügel hatte, sonst würde sie in die Luft steigen und davonfliegen.

Tiberius nutzte jedes Treffen für seine Zwecke, und so war Rain nicht verwundert, dass ihr Weg zu Tiberius von Kameradrohnen und Reportern begleitet wurde. Nife gab sein Bestes, um Rain abzuschirmen, als sie aus dem Gleiter stiegen.

»Du scheinst nicht gerade begeistert von deinem neuen Cabman«, bemerkte der Soldat trocken. »Kann ich verstehen.«

»Immerhin versucht er nicht, einen von uns zu töten«, entgegnete Rain und entlockte ihrem Beschützer ein Grinsen.

»Wer weiß. Vielleicht steckt auch ein Rebell in ihm.«

»Dann wäre er der beste Schauspieler, den ich kenne.« Rain lachte trocken.

»Das war Bishop auch«, murmelte Nife nach einer kurzen Pause.

Die schwarzen Augen der Kameradrohnen umkreisten sie von allen Seiten. Seitdem sie der Gefangenschaft der Spines entkommen war, war sie noch mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.

»Wird es weitere Festnahmen geben?«

»Was will der Protektor unternehmen?«

Protektor.

Es war so viel mehr als eine Bezeichnung, so viel mehr als ein Titel des Dankes, den das Volk Tiberius verliehen hatte, nachdem er und seine Sentinal die Rebellen in Aventin aufgehalten hatten.

Es war Macht. Tiberius erhob sich mit dem Titel über die anderen Earls und wurde zu einem Helden. Einer lebenden Legende.

»Wie steht es wirklich um die Sicherheit unseres Landes?«

»Sind wir in Gefahr?«

»Wann gehst du eine Bindung ein, Prinzessin? Hast du schon einen Liebhaber in Aussicht?«

»Woher kommt dieses unglaubliche Kleid?«

Sie versuchte grimmig auszusehen, stellte aber fest, dass man mit langen goldgelben Wimpern und einem Federkleid unmöglich autoritär genug auftreten konnte, um die Reporter abzuschrecken. Also versuchte sie, sich an Nife gedrückt so schnell wie möglich an den Reportern und Kameradrohnen vorbeizuschieben.

Das war ihr neues Leben. Niemals allein und doch so allein wie nie zuvor.

Ohne auf die Fragen der Reporter einzugehen, stieg sie an Nifes Seite in einen Gleiter, der sie zum Wohnturm ihres Vaters brachte.

Tiberius hatte sie nicht zu einem familiären Vater-Tochter-Frühstück geladen, vielmehr zu einer politischen Zurschaustellung. Nife und Rain fuhren auf die Ebene, die Tiberius gern für offizielle Anlässe benutzte. Es war ein geräumiges Stockwerk, in dem fliegende Lampions, die aussahen, als wären sie aus Papier gefaltet, für eine angenehme Atmosphäre sorgten. Die rauen Wände wirkten, als wären sie aus goldgelbem Sand, ebenso wie die geschwungenen Säulen, die die Decke stützten.

Als Rain die Räumlichkeiten betrat, sah sie schon die anderen Gäste, die sich zwischen dem üppigen Frühstücksbuffet versammelt hatten, und in der Mitte von ihnen Tiberius. Er trug die dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, der ihm über den Rücken fiel. Auf seinem Kopf thronte ein stählernes Diadem. Sein rötlicher Bart war kurz getrimmt und umrahmte die Lippen, die es verstanden, einnehmend zu lächeln.

Mit seiner Ausstrahlung nahm Tiberius den ganzen Raum ein, wie ein Magnet, der alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Rain erkannte die Geschwister Eustachius und Eustenia, Earls der zwei Stadtzirkel Ruby und Silver, die zu den reichsten Gesegneten gehörten und an Tiberius klebten wie zwei Fruchtfliegen an einem Apfel. Zu ihnen wollte sich Rain auf keinen Fall gesellen, also betrachtete sie die Szene aus sicherer Entfernung.

Es waren noch andere Gesegnete anwesend, ebenso wie verdächtig viele Reporter. Königin Palenope fehlte, und Rain war sich sicher, dass ihr Vater sie nicht eingeladen hatte. Amygdala war ebenfalls abwesend, aber das überraschte Rain nicht. Nach dem Tod ihrer Tochter hatte sich der ehemalige Earl von Grey zurückgezogen und war nicht mehr bei öffentlichen Veranstaltungen anzutreffen. Angeblich stürzte sie sich in White Pearl in wissenschaftliche Studien.

Rain entdeckte ihren Halbbruder Morpheus auf dem Balkon. Sie griff sich ein gefülltes warmes Brötchen und einen Kaffee vom Buffet und gesellte sich zu ihm.

»Dein neuer Cabman ist ein richtiges Farbwunder«, bemerkte Morpheus und deutete auf Eros, der sich vor den Kameradrohnen positioniert hatte, vermutlich um den Zuschauern die sicherlich aufgeblasenen Hintergründe zu Rains Outfit zu erzählen.

»Ich würde ihn gern in einen Eimer Asche tunken und ertränken«, knurrte Rain und biss von ihrem Brötchen ab. »Und mich gleich mit.«

»Ich weiß nicht, was du hast«, bemerkte Morpheus und strich sich durch sein honigblondes Haar. »Du siehst aus wie diese flauschigen Mutanten-Küken, die mal gezüchtet wurden, weil irgendwer auf die Idee gekommen war, ewig junge Küken wären unglaublich niedlich. Waren sie auch, aber mindestens genauso nutzlos.«

Genauso wie ich, schoss es Rain durch den Kopf. »Was ist mit ihnen passiert?«

»Sie wurden verfüttert.«

»Ich lasse mich nicht verfüttern.« Rain biss erneut in ihr Frühstück. Leider schien der goldene Lippenstift nicht dafür gemacht zu sein, dass man etwas aß, denn nach einem weiteren Bissen befand er sich auf dem Rest des Brötchens.

»Du hast da was.« Morpheus’ kristallblaue Augen leuchteten amüsiert, während er ihr half, einen Krümel aus ihren künstlichen Wimpern zu fischen.

Seine Anwesenheit tat Rain gut, doch trotz ihres holprigen Starts – er hatte sie hinrichten wollen – hatte sie ihn in ihr Herz geschlossen.

»Die Eust-Zwillinge tun so, als wäre dein Vater schon der nächste Herrscher.« Morpheus stützte sich auf das Geländer. »Folgt dem Earl von Black Pearl! Folgt dem Beschützer!«

»Wie stehen seine Chancen?«

»Die Menschen lieben ihren Protektor. Sie brauchen Sicherheit, und er strahlt jede Menge davon aus. Aber die Gesegneten … die sind sich uneinig, wie sie bei der Wahl der nächsten Herrscher abstimmen sollen.«

»Mein Vater findet immer einen Weg, sein Ziel zu erreichen.« Rain knirschte mit den Zähnen.

»Meine Stimme bekommt er nicht.« Morpheus zog die Stirn in Falten. »Tut mir leid. Ich weiß, er ist dein Vater und so …«

»Genetisch gesehen«, korrigierte Rain. »Wie stehen seine Chancen?«

»Ich habe keine Ahnung. Es ist kein Geheimnis, dass Palenope versucht, deinen Vater in die Schranken zu weisen. Er unterwandert durch sein eigenständiges Handeln ihre Macht und damit unser ganzes System. Selbst unsere Mutter, die Palenope nie mochte, stellt sich hinter die Königin. Wahrscheinlich, weil sie Tiberius noch mehr hasst.«

»Mmh.« Rain schloss ihre Hände um die warme Tasse und ließ ihren Blick über Aventin schweifen. »Was ist mit dir? Willst du kandidieren?«

»Ich?« Morpheus lachte amüsiert. »Wenn die Politik eine Party wäre, dann würde ich darüber nachdenken.«

Sein Blick wurde mit einem Schlag ernst und wanderte in die Ferne, als er leise hinzufügte. »Nein, mir fehlt das Talent meines Vaters.«

Rain griff nach seiner Hand. Auch wenn Körperkontakt nicht gerne gesehen war, erschien es ihr richtig. Immerhin hatten sie beide ein Elternteil verloren.

»Tochter.« Tiberius kam mit schnellen Schritten auf sie zu. »Ich freue mich so, dass du hergekommen bist. Du siehst bezaubernd aus.«

Rain erwiderte seinen Gruß, indem sie ihre Finger an die Stirn drückte.

»Ich würde dir gern jemanden vorstellen«, verkündete ihr Vater strahlend und winkte einen jungen Mann herbei.

Er sah gut aus. Perfekt.

»Das ist Cassian.«

Cassian hatte schöne milchkaffeebraune Haut und breite Schultern, die für regelmäßiges Training sprachen. Sein welliges kohleschwarzes Haar wurde durch ein silbernes Band zusammengehalten. Dies und eine silberne Anstecknadel, eine Spirale, zeigten seine Loyalität gegenüber Silver. Die Spirale fächerte sich in ein spiegelndes Blatt auf, das eher an Green denken ließ. Vielleicht war es Zufall, aber Rain glaubte nicht, dass jemand so ein aufälliges Schmuckstück ohne Zweck trug. Nicht hier in Aventin. »Er ist der Sohn von Eustachius.«

Rain war überrascht, denn für einen Verwandten vom Earl von Silver wirkte das Gesicht nahezu freundlich. In seinen dunkelbraunen, fast schwarzen Augen lag eine gewisse Wärme, die man bei Eustachius lange suchen konnte. Aber Augen konnten lügen, und in Cassians Fall führte sein freundliches Aussehen dazu, dass Rain noch misstrauischer wurde.

»Sei gegrüßt.« Sie drückte erneut Zeige- und Mittelfinger an die Stirn, wie es die Höflichkeit gebot.

»Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen«, sagte er, ohne den Blick von Rain abzuwenden. Seine Stimme war angenehm tief und melodisch. Man wollte ihr einfach lauschen.

»Ich bin Morpheus«, schaltete sich Rains Bruder ein und trat vor.

Eine unangenehme Stille entstand, die Morpheus mit einem Lachen, was er nicht länger unterdrücken konnte, beendete. »Weshalb bist du den langen Weg aus Ruby gekommen? Doch nicht etwa, um eine meiner legendären Partys zu besuchen?«

Tiberius runzelte die Stirn, als Morpheus den Neuankömmling mit einem herzallerliebsten Augenaufschlag bedachte.

»Ich bedauere«, erwiderte Cassian höflich. »Auch wenn deine Partys in Ruby bekannt sind, bin ich nicht deswegen hier.«

»Sehr schade.« Morpheus war nicht überrascht. »Und weswegen dann?«

Sein Tonfall ließ vermuten, dass er die Antwort bereits kannte.

»Nun, ich habe ihn eingeladen«, antwortete Tiberius an Cassians Stelle.

Kallisto! Wollte ihr Vater sie etwa verkuppeln? Sie tauschte einen Blick mit ihrem Bruder aus, der ihr verriet, dass er dasselbe vermutete.

»Ach wirklich?«, fragte Morpheus mit gespielter Überraschung. »Und warum?«

»Cassian ist schon lange nicht mehr in Aventin gewesen, und ich fand, es wird mal wieder Zeit.«

»Ich dachte, alle Gesegneten leben in Aventin«, schaltete Rain sich dazwischen. »Wie kommt es dann, dass du in Ruby wohnst?«

»Ich wohne in Aventin, aber wir haben einen Zweitwohnsitz in Ruby, da meine Mutter dort geboren wurde. Sie verlässt Ruby nur ungern, weshalb ich dort viel Zeit verbringe.«

»Ruby und Silver sind beliebte Wohnorte für Gesegnete«, erklärte Tiberius. »Sie sind nahe an Aventin gelegen mit allen Annehmlichkeiten und Sicherheitsstandards, die wir auch an unserer Hauptstadt schätzen.«

»Ruby ist ein Ort der Kunst und Kultur. Wenn man sein Herz an diesen Zirkel verliert, will man kaum in die Hauptstadt zurückkehren«, ergänzte Cassian, und seine Augen leuchteten.

»Ich war schon viel zu lange nicht mehr dort.« Tiberius lachte.

»Wir würden uns über einen Besuch immer freuen. Dank dir und deinen Sentinal ist es dort sicher. Wir verdanken dir sehr viel, Protektor.« Cassian drückte seinen Zeige- und Mittelfinger auf die Brust, um dem Earl von Black Shell seine Dankbarkeit auszudrücken.

Morpheus verdrehte die Augen und sah aus, als müsste er sich übergeben.

Tiberius ignorierte ihn und wandte sich an seine Tochter. »Cassian interessiert sich sehr für die alte Welt. Genau wie du.«

»Was für ein unglaublich glücklicher Zufall,« rief Morpheus aus.

Listo Kallisto! Ihr Vater wollte sie wirklich verkuppeln!

»Ich habe in Ruby eine kleine Sammlung«, gestand Cassian, doch Rain dachte nicht daran, auf den offensichtlichen Köder anzuspringen. Für ihren Halbbruder war das allerdings ein gefundenes Fressen.

»Das klingt unglaublich aufregend«, verkündete er und hakte den überraschten Cassian unter. »Warum erzählst du mir nicht davon? Ich will alles über diesen Alte-Welt-Kram wissen. Alles. Lass ja kein Detail aus.«

Er führte Eustachius’ Sohn mit sich, und Rain dankte ihm für die Rettung. Ja, eigentlich fand sie Cassians verzweifelten Blick sogar sehr amüsant.

»Dein Bruder liebt es, mich zu ärgern, wie mir scheint«, sagte Tiberius, als er den beiden nachsah. Er schien allerdings nicht verärgert. Wie immer hatte er seine Emotionen gut im Griff, versteckt hinter der professionellen Maske eines Politikers. »Aber ich freue mich wirklich sehr, dass du gekommen bist.«

»Hatte ich denn eine Wahl?« Rain zupfte die Federn ihres Kleides zurecht.

»Ich weiß, dir gefallen solche Veranstaltungen nicht.« Ihr Vater setzte sein verständnisvolles Lächeln auf, das er gut beherrschte. »Aber ich freue mich trotzdem. Ich habe mir in den letzten Tagen Sorgen gemacht.«

»Nicht nötig.« Rain musste schlucken. »Ich komme klar.«

In Wirklichkeit kostete es sie mehr Kraft, hier zu stehen, als sie erwartet hätte. Sie gab vor, jemand zu sein, der sie nicht war, ohne wirklich zu wissen, wer sie war. Wenn sie unter Leute ging, wollte sie allein sein. Und wenn sie allein war, wollte sie unter Leute. Sie wollte eine Aufgabe, etwas zu tun haben, ihrem Leben einen Sinn geben, und gleichzeitig fühlte sie sich schon bei der Vorstellung, morgens aufstehen zu müssen, überfordert.

»Wenn ich irgendetwas tun kann, um dich aufzumuntern. Etwas, was dir helfen könnte …«

Bring Storm zu mir zurück, dachte Rain, aber sagte nichts. Niemand konnte ungeschehen machen, was passiert war. Niemand konnte ihr den Schmerz nehmen, der tief in ihrem Inneren lag und sich durch ihre Seele fraß.

»Cassian ist ein netter Kerl. Ganz anders als Eustachius«, erklärte Tiberius, während der besagte nette Kerl versuchte, Morpheus höflich loszuwerden. Aber Rains Bruder verstand »höflich« nur, wenn er wollte, und im Moment wollte er nicht.

»Ich habe kein Interesse, ihn näher kennenzulernen«, gab Rain entschieden zurück.

»Und ich versuche nicht, dich zu überreden.« Ihr Vater hielt inne, bevor er mit einem verschmitzten Lächeln fortfuhr. »Er hat viele Bücher aus der alten Welt. Und eine beeindruckende Sammlung alter Fundstücke, die sich sehen lassen kann. Ich meine ja nur …«

»Nun«, sagte Rain ungerührt. »Ich glaube, Morpheus würde diese Sammlung gern in Augenschein nehmen.«

»Ich meine es ernst, Tochter. Er hat einen freien Geist und dieselbe Neugierde und Abenteuerlust wie du. Ich würde dir ein wenig Glück gönnen.«

»Ich finde, die beiden passen hervorragend zusammen.« Rain schmunzelte, als ihr Bruder dem Gast aus Ruby ins Gesäß kniff, woraufhin dieser erschrocken zusammenzuckte.

»Dein Bruder wird diesen armen Jungen in den Wahnsinn treiben. Wenn du auch nur einen Funken Mitgefühl hast, rettest du ihn«, sagte Tiberius. Zu Cassians Bedauern hatte Rain das nicht vor.

4.

LARKS VATER WAR EINRUHIGER MANN, der selten seine Meinung äußerte. Er nahm die kleine Zwei auf seiner Stirn mit erlernter Demut hin. Das Einzige, was ihn beunruhigte, war, dass er bisher keine Arbeit gefunden hatte. In Grey war er jeden Morgen aufgestanden, um zur Fabrik zu gehen. Es war seine tägliche Mission gewesen, seine Lebensaufgabe. Jetzt schien er beinahe neben sich zu stehen, wie eine Hülle, die eine neue Füllung brauchte. Er kümmerte sich um die Reparaturen, die in ihrem neuen Zuhause anstanden. Manchmal hatte Lark das Gefühl, sein Vater machte sogar absichtlich Dinge kaputt, nur um sie dann wieder zusammenbauen zu können.

Jeden Morgen stand er früh auf und zog los, um Arbeit zu suchen, doch er musste schnell feststellen, dass es hier anders zuging als in Grey. Während man dort einfach zu einer Fabrik ging und den Vorarbeiter fragte, was man tun könne, war man in Aventin als Zwei auf Empfehlungen angewiesen. Beinahe unmöglich, wenn man nicht hier geboren war. Die Aventiner vertrauten Zweien von außerhalb nicht. Und erst recht nicht, wenn sie aus Grey kamen. Aus dem Zirkel, in dem die Rebellion begonnen hatte.

Ein paar Mal hatte sein Vater dennoch das fragwürdige Glück, einen Job in der Kanalisation zu ergattern. Wie heute. Trotz der unangenehmen Aufgabe, die vor ihm lag, pfiff er fröhlich, als er sich an den Frühstückstisch setzte.

»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, erkundigte sich Larks Mutter Knot und stellte eine Kanne mit heißem Kaffee auf den Tisch.

»Es ist ehrliche Arbeit«, erwiderte Ant.

»Ist das gefährlich, Pa?«, erkundigte sich Rose und biss von ihrem Brötchen ab.

»Nein, Kleines. Es ist eine wichtige Arbeit.«

»Was machst du da?«

»Ich klettere in einen tiefen Schacht und hole defekte Reinigungsdrohnen und Reparaturdrohnen hoch, die dort feststecken. Dann können sie repariert werden und ihre Arbeit fortsetzen.«

»Kann ich mal mitkommen?« Rose strahlte über das ganze Gesicht, als hätte ihr Vater die tollste Aufgabe der Welt. »Vielleicht kann ich euch helfen.«

»Nun, dafür muss man ganz spezielle Ansprüche erfüllen«, erklärte Ant. »Man muss klein genug sein, um in den Schacht zu passen.«

»Das ist kein Problem, denke ich.«

»Und stark sein.«

»Ich bin stark.« Rose präsentierte zum Beweis ihre dünnen Arme und spannte die Muskeln an.

»Ja, kein Zweifel.« Ant schenkte ihr ein Lächeln. »Aber man muss im Dunkeln sehen können und biegsam sein wie eine Katze, wenn man sich die engen Rohre hinunterschwingt. Nur der Geruchssinn. Der sollte idealerweise nicht vorhanden sein. Enge Räume sollten einem nichts ausmachen, sonst bekommt man dort unten eine Panikattacke, und das wäre gefährlich. Möglicherweise tödlich.«

»Und das alles kannst du?« Roses Augen leuchteten vor Bewunderung.

»Ich gebe mein Bestes.« Ant trank seinen Kaffee aus, bevor er sich seinen Mantel überwarf, um sich auf den Weg zu machen. »Ich will nicht zu spät kommen.«

Er umarmte seine Familie zum Abschied, nur um sich daraufhin umzusehen, als hätte er etwas Verbotenes gemacht. Verboten waren enge Berührungen zwar nicht, aber sie wurden auch nicht gern in der Öffentlichkeit gesehen, da zwischenmenschliche Kontakte die Verbreitung von Keimen förderten.

»Ich muss auch gleich los.« Als Eins hatte Knot Glück gehabt und wurde von einer Familie als Aushilfe in der Küche angestellt. Solche Jobs wurden normalerweise von Zweien bekleidet, aber Knot war stolz auf ihre Aufgabe. »Was habt ihr beide heute vor?«

»Nichts«, brummte Lark. Er hasste es, das Haus zu verlassen und sich den Blicken der Aventiner auszusetzen.

»Vielleicht könntet ihr einkaufen gehen«, schlug seine Mutter vor. »Das wäre ganz wunderbar.«

»Ja!«, rief Rose begeistert. »Natürlich!«

In diesem Moment schaltete sich das TecDec automatisch ein, und ein Mann erschien auf dem Bildschirm, um dessen breite Schultern sich ein silbernes Wesen schlängelte, das aussah wie die Kreuzung aus einer Schlange und einer Echse. Lark erkannte ihn als Eustachius, den Earl von Silver.

»Liebes Volk von Hope. Es ist mir eine ganz besondere Ehre, heute dem Mann zu danken, der unser Land sicher macht und uns in den schweren Zeiten Halt gegeben hat. Dem Mann, an dessen Schultern wir uns ausruhen durften, da wir wissen, dass er und seine Sentinal auf uns aufpassen. Dem Mann, der für Ordnung und Sicherheit steht. Für Beständigkeit und Traditionen. Tiberius, der Earl von Black Shell. Lob dem Protektor!«

Ein weiterer Mann erschien auf dem TecDec. Es war Tiberius.

Er hob die Hände zum Gruß. Wenn man diesen starken Mann mit dem freundlichen Lächeln ansah, wollte man ihm nur zu gern sein Leben anvertrauen.

»Ich danke dir, mein Freund, auch wenn du maßlos übertreibst. Der Dank gilt vielmehr dem Volk, das sich nicht durch die Rebellen spalten lässt und stark und einheitlich hinter uns steht.«

»Lob unserem Protektor!«

An seiner Seite entdeckte Lark Rain in einem gelben Kleid und Spuren von Goldstaub und Krümeln auf dem Kinn. Sie war kaum wiederzuerkennen mit all dem Make-up und den langen, gelben Wimpern, die aussahen, als hätte man einen Zitronenfalter in zwei Teile geschnitten und ihr an die Augen geklebt.

Sie starrte auf einen unsichtbaren Punkt. Ihre Lippen waren aufeinandergepresst und ihre Arme hinter dem Rücken versteckt. Lark musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Ihre Anspannung war ihr anzusehen, denn sowohl die Muskulatur der Schultern als auch der Arme trat deutlich hervor. Fast so, als wolle sie das fürchterliche Kleid von sich sprengen. Sie war Storm ähnlicher als ihrem Vater, an dessen Heldentat nun noch einmal erinnert wurde. Er und seine Sentinal hatten die Rebellen, die in den Palast von Aventin eingedrungen waren, aufgehalten und gefangen genommen. Dank ihm verrottete Bolt, der Anführer der Spines, nun in einer einsamen Zelle.

Und seine Spines? Gerüchten zufolge hatte sie der Verlust ihres Anführers geteilt. Einige hielten sich in den Ruinen von Grey versteckt, andere hatten sich zu neuen Gruppierungen zusammengeschlossen. Unter neuen Anführern.

Lark wusste nichts Genaues. Nur dass er nichts mit ihnen zu tun haben wollte, denn wo sie waren, lauerte Gefahr.

5.

ICH BIN KEIN NEUANFANG, dachte Rain, als sie aus dem Fahrstuhl trat und Nife hinausfolgte. Ich bin kein Unwetter, das wütet und die Welt anschließend in neuen Farben erstrahlen lässt.

Die Spines waren das Unwetter. Und Tiberius der Neuanfang. Aber die Welt erstrahlte nicht in Farben, sondern im Schwarz der Sentinal, die an jeder Ecke patrouillierten.

Gegen Tiberius erschien die amtierende Herrscherin Palenope beinahe unscheinbar. Sie predigte von einer Rückkehr zur Welt, wie sie vor dem Anschlag war. Aber das wollte niemand mehr. Die Aventiner wollten Sicherheit und Ordnung. Sie wollten Tiberius.

»Rajana?«, meldete sich Nife zu Wort. »Steig in den Gleiter.«

Doch sie rührte sich nicht und blieb auf der Straße stehen. Sie wirkten wie Schluchten zwischen den gigantischen Hochhäusern, gerade, saubere Schluchten. Der Wind, der durch sie hindurchpeitschte, kitzelte in Rains Nacken und zog an ihrem Haar. Er war das letzte bisschen Wildheit in einer gezähmten Stadt, und er versprach Freiheit. Ehe Nife etwas tun konnte, gab Rain dem Klang des Windes nach und sprintete los.

»Rajana! Bleib stehen!«

Sie hielt es nicht mehr aus. Also rannte sie davon, und niemand war schnell genug, sich ihr in den Weg zu stellen, um sie in ihren goldenen Käfig zurückzuziehen.

»Rajana! Komm zurück!«