Chaos Witches – Die falsche Auserwählte - Caroline Brinkmann - E-Book

Chaos Witches – Die falsche Auserwählte E-Book

Caroline Brinkmann

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Beschreibung

Wenn eine Prophezeiung so richtig danebenliegt ... Moderne humorvolle Fantasy mit frischem Erzählton und starken Mädchenfiguren im Top-Setting Oxford. Adelina Lighttower ist keine normale Jugendliche, sondern eine Hexe. Laut Prophezeiung ist sie sogar so mächtig, dass sie den verwaisten Hexenthron wieder besetzen wird. Nur fühlt Adelina sich erschreckend normal. Keine explodierenden Kräfte. Nicht mal ein Kribbeln. Echoline Everglade ist eine Waise, die das Unglück für sich gepachtet hat. Sie wird von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als normal zu sein, aber irgendwie unterscheidet sie sich von anderen. Und dann kommt eine Blutelfe, die behauptet, dass alles bloß eine Verwechslung war, dass keine der beiden die ist, für die sie sich hält – und das Leben beider Mädchen gerät gewaltig durcheinander. Designierte Thronfolgerin ohne magische Kräfte trifft Außenseiterin mit unerkannter Hexenpower. Weitere Bücher der Autorin: Zimmer gesucht, Liebe gefunden Die Clans von Tokito – Lotus und Tiger

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Über das Buch

Moderne humorvolle Fantasy mit frischem Erzählton und starken Mädchenfiguren im Top-Setting Oxford.

 

Adelina Lighttower ist keine normale Jugendliche, sondern eine Hexe. Laut Prophezeiung ist sie sogar so mächtig, dass sie den verwaisten Hexenthron wieder besetzen wird. Nur fühlt Adelina sich erschreckend normal. Keine explodierenden Kräfte. Nicht mal ein Kribbeln. Echoline Everglade ist eine Waise, die das Unglück für sich gepachtet hat. Sie wird von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als normal zu sein, aber irgendwie unterscheidet sie sich von anderen. Und dann kommt eine Blutelfe, die behauptet, dass alles bloß eine Verwechslung war, dass keine der beiden die ist, für die sie sich hält – und das Leben beider Mädchen gerät gewaltig durcheinander.

 

Designierte Thronfolgerin ohne magische Kräfte trifft Außenseiterin mit unerkannter Hexenpower.

 

 

Von Caroline Brinkmann ist bei dtv außerdem lieferbar:

Die Clans von Tokito. Lotus und Tiger

Zimmer gesucht, Liebe gefunden. Emmas Disaster-Diary

Caroline Brinkmann

Chaos Witches

Die falsche Auserwählte

Für diejenigen, die ein bisschen Magie in ihrem Leben suchen.

 

Manchmal ist sie schwer auszumachen, aber sie ist immer da.

Teil 1

Verflixt und verflucht

1 – Das Mädchen mit dem Feuerlöscher

Adelina Lighttower

Heute Morgen hatte Tante Corentine mal wieder die lästige Idee, mich umzubringen. Selbstverständlich geschah das nur in meinem besten Interesse. Und im besten Interesse der Familie Lighttower.

Ihr Plan sah ursprünglich vor, mich auf den Bahngleisen einer viel befahrenen Zugstrecke festzubinden, was meine Mutter verhinderte, weil ihr das zu tödlich vorkam.

»Aber das ist doch Sinn und Zweck des Ganzen. Adelina muss richtig Panik haben. Nur wenn sie dem sicheren Tod gegenübersteht, zeigen sich ihre Kräfte. Sonst ist das alles sinnlos.«

Meine Tante fand, es sei eine gute Idee, mich regelmäßig in Lebensgefahr zu bringen, um meine Magie hervorzukitzeln. Aus diesem Grund hatte sie mich bereits im Moor versenkt, ins Meer geworfen und in einem Schneesturm ausgesetzt. Barfuß.

Meine Magie hatte sich bisher nicht gezeigt, aber immerhin hatte ich mich als erstaunlich einfallsreich dabei herausgestellt, dem Tod von der Schippe zu springen. Vielleicht war ich auch einfach nur ein Glückspilz, aber ich redete mir gerne ein, dass es an meinem genialen Verstand lag.

Nun saßen wir im Auto, auf dem Weg zum Howling Oak Park. Mir war zugegebenermaßen mulmig zumute, auch wenn ich dankbar war, den Zugschienen entkommen zu sein. Nervös klammerte ich mich an den Saum meines Rockes und blickte in die Dunkelheit, die sich jenseits des Autos erstreckte.

Die Finger meiner Mutter klopften unruhig auf dem Lenkrad, ihr Blick war konzentriert geradeaus gerichtet. Meine Tante, die auf dem Beifahrersitz saß, nippte an ihrem Pfefferminztee. Sie war die einzige Person, die ich kannte, die mit einer Porzellantasse vor die Tür ging. Und dabei dachte sie nicht etwa an die Umwelt. Nein. Sie meinte, das hätte deutlich mehr Stil als ein schnöder Pappbecher. Und als Tante der zukünftigen Hexenkönigin musste man ein gewisses Niveau wahren.

Ja. Ich war die nächste Hexenkönigin.

Wenn ich Corentines neuen Plan, mich umzubringen, überlebte. Und wenn sich meine Kräfte endlich zeigten. Zwei ziemlich große »Wenns«, aber ich arbeitete an einer positiveren Grundeinstellung.

»Wir sind gleich da«, verkündete Mum, die angeboten hatte uns zu fahren. Vermutlich, um sicherzugehen, dass Tante Corentine mich nicht doch auf die Bahngleise kettete. »Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«

»Natürlich. Warum denn nicht?« Tante Corentine nahm schlürfend einen Schluck aus ihrer Tasse. »Adelina ist ja kein normales Kind. Sie ist eine Königin.«

Ich meinte die Missbilligung in ihrem Schlürfen zu hören.

»Auch Königinnen können den Verstand verlieren«, brummte meine Mutter.

Die letzte Königin war als »Rita der Drache« in die Geschichte eingegangen, nachdem sie versucht hatte London niederzubrennen. Aber das war lange her und seitdem stand der Thron leer.

Wir hielten auf einem kleinen Parkplatz direkt vor dem Schild mit dem Namen des Parks. Darunter war nachträglich ein kleineres Schild befestigt worden, auf dem »Privatgelände« gekritzelt stand.

Hinter einem halb offenen Tor schlängelte sich ein kleiner Weg an dürren Eichen vorbei. Laternen gab es keine. Nicht einmal der Schein des Mondes schien hierher vorzudringen, als würde der Park selbst jegliches Licht verschlucken.

Mit klopfendem Herzen versank ich tiefer im Rücksitz.

»Bist du bereit, Adel?«, fragte meine Mutter. Sie drehte sich um und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Keine Sorge. Du schaffst das schon.«

»Besser wäre es. Die letzten Male waren äußerst enttäuschend«, ertönte die scharfe Stimme meiner Tante vom Beifahrersitz.

»Corentine! Das ist nicht hilfreich.«

»Ist doch wahr. Die Hexen verlieren ihren Glauben an die Prophezeiung und ihren Respekt. Frida Salem hat mich gestern nicht einmal mehr gegrüßt.«

»Frida Salem ist über neunzig und halb blind …«

»Sie nehmen uns nicht mehr ernst. Selbst die Alchemisten machen sich über uns lustig. Adelina muss ihre Rolle als Retterin einnehmen, sonst werden wir den Kampf verlieren!«

»Wir haben bereits verloren. Vor gut dreihundertfünfzig Jahren …«

Denn vor dreihundertfünfzig Jahren hatte Rita der Drache einen echt schlechten Tag. Und nachdem sie London in Brand gesetzt hatte, entschieden die Alchemisten, dass die Hexen zu gefährlich waren, um weiterzuexistieren.

Der Oberalchemist aus dem Hause Blackheart, ein Name, bei dem jeder Hexe eine Gänsehaut über den Rücken lief, entwickelte »den Fluch«, ein Elixier, das die Magie der Hexen blockierte.

Sie mischten es ins Trinkwasser aller großen Städte von England und innerhalb kurzer Zeit verlor die Mehrheit meines Volkes seine Magie. Als sie verstanden, was da gerade passierte, war es bereits zu spät. Das einstige Volk der Hexen existierte nicht länger und stattdessen regierten die Alchemisten, selbst ernannte Beschützer der Menschen, England.

Bis zu jenem Tag meiner Geburt.

Eine Prophezeiung hatte angekündigt, dass eine Königin geboren werden würde, die den Fluch brechen und den Thron der Hexen neu besetzen würde.

Als sechs Blitze gleichzeitig in das Krankenhaus einschlugen, in dem ich soeben geboren worden war, bestand für die meisten Hexen kein Zweifel, dass ich diese Königin war.

Leider hatten sich, trotz Blitzspektakel, meine Kräfte bisher nicht gezeigt. Hinzu kam, dass Weissagungen schrecklich vage waren. Auch wenn fraglos ich diese Retterin war, sagte die Prophezeiung nicht, wann meine glorreiche Stunde kommen würde, und ich hoffte, dass es nicht erst in sechzig Jahren so weit war.

»Meine Schwester will es nicht zugeben, aber sie glaubt an dich. Genau wie ich«, flüsterte meine Mutter. »Dieses Mal wirst du es schaffen. Ganz sicher.« Liebevoll zupfte sie meine Bluse zurecht. »Bist du bereit?«

»Ich denke schon.«

»Du denkst schon? Als unsere Königin solltest du dir sicher sein«, tadelte mich Corentine.

Ich schluckte und straffte die Schultern. »Ich bin bereit, Tante.«

Ich warf erneut einen Blick in die Dunkelheit, die alles zu verschlucken schien, das sich in sie hineinwagte.

Der Howling Oak Park war berüchtigt in Oxford. Angeblich sollte es hier spuken, aber in Wahrheit waren es nicht die Geister, die man fürchten musste.

Bevor ich es mir anders überlegen konnte, öffnete ich die Tür. Kühle Nachtluft schlug mir entgegen. Ich ignorierte mein Frösteln und schwang entschlossen ein Bein aus dem Auto. Meine Overknee-Stiefel versanken mit schmatzendem Geräusch im aufgeweichten Boden.

Vor mir ragten die Bäume wie knochige Hände empor, die Finger gen Nachthimmel gestreckt. Immer wenn der Wind durch die Baumkronen jagte, ertönte ein schauriges Heulen und Knarren. Ich verstand, warum viele Menschen glaubten, es würde hier spuken, und widerstand dem Drang, die Arme um meinen Körper zu schlingen. Schwäche verzieh meine Tante nicht, erst recht nicht bei mir. Also zog ich betont lässig ein Lipgloss aus meiner Jackentasche und frischte mein Make-up auf.

Wenn ich schon draufgehen sollte, dann wenigstens mit Stil!

»Na schön. Und was jetzt?«, fragte ich Tante Corentine, die mit Teetasse in der Hand neben mir stand. Sie war einen Kopf kleiner als ich. Ihr Haar war zu einem strengen Dutt gebunden, in dem eine Haarspange aus Lapislazuli steckte, der Edelstein unserer Familie.

»Nimm das.« Sie öffnete den Kofferraum und deutete auf eine pinke Sporttasche mit goldenen Krönchen darauf. Ich warf sie mir über die Schulter und sah Corentine erwartungsvoll an.

»Du folgst dem Pfad, bis du zum Platz der Geister kommst. Dort wird ein Feuer brennen. Das wirst du löschen.«

Ich hob die Augenbraue. »Was ist das für ein Feuer?«

»Lass dich überraschen.« Sie nahm einen Schluck Tee und lächelte selbstzufrieden. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass sie es genoss, diese tödlichen Pläne zu schmieden.

»Das ist nicht zufällig ein Nest von Glutpixies, oder?«

Ihr Lächeln entgleiste für den Bruchteil einer Sekunde.

Bingo! Da hatte ich wohl ins Schwarze getroffen.

Ich mochte vielleicht keine Überfliegerin sein, was Magie anging, aber ich war clever. Das musste ich auch sein. Wenn sich die Prophezeiung bewahrheitete, würden alle Alchemisten von England hinter mir her sein. Fehler konnte ich mir nicht erlauben.

Tante Corentine packte mich am Arm. Dann zischte sie, so leise, dass meine Mutter uns nicht hören konnte: »Du musst bis zum Äußersten gehen, Adel. Nur wenn du wirklich glaubst dein Leben zu verlieren, brechen deine Kräfte hervor. Solange du versuchst alle Probleme mit deinem Verstand zu lösen, wirst du deine Magie nicht finden.«

Ich nickte.

»Du bist unsere letzte Hoffnung gegen diese verdammten Alchemisten und du darfst nicht scheitern.«

»Ich weiß.« Ich wusste nur allzu gut, welche Hoffnungen auf mir ruhten. Meine Familie wurde nicht müde mich die letzten fünfzehn Jahre meines Lebens täglich daran zu erinnern.

»Gut. Dann enttäusche uns nicht wieder.«

»Natürlich nicht.« Ich spürte einen Stich im Herzen. Es musste einfach klappen. Ich verbrachte jede Sekunde damit, mich auf meine Rolle als Königin vorzubereiten. Mein Erscheinen, mein Training … Ich hatte so hart gearbeitet und die Kristallkrone der Hexen würde mir verdammt gut stehen. In meinen Träumen sah ich mich oft auf dem Thron sitzen, gehüllt in ein Kleid aus Lapislazuliblau, während meine Sturmkräfte um mich fegten.

Ohne mich umzudrehen, betrat ich den Park und folgte dem schmalen Pfad. Die Äste der Bäume warfen verzerrte Schatten, die sich mir entgegenstreckten.

Das Gewicht der Sporttasche drückte schwer auf meine Schulter. Ich schob die Hände in die Taschen meiner roten Lederjacke mit der Aufschrift ›True Queen‹ und spielte mit dem Lipgloss darin, während ich versuchte mich an alles zu erinnern, was ich über Glutpixies wusste.

Sie waren friedlich, solange man ihr Nest in Ruhe ließ. Andernfalls konnten sie verdammt wütend werden. Versengte Haare waren dann das geringste Problem. Und sie waren clever. Viele dachten, sie seien instinktgesteuert, aber das stimmte nicht.

Als ich ein knorriges Weißdorngebüsch passierte, hörte ich plötzlich Geräusche. Stimmen. Gelächter. Das klang nicht nach dem Zischen von Glutpixies, eher nach … Menschen?

Ich stöhnte.

Was hatte meine Tante vor?

Ich holte tief Luft und ging auf das Licht zu, das zwischen den Bäumen aufflackerte. Die Stimmen schwollen an. Sie klangen laut und aggressiv, so als würde sich wer streiten.

Auf einer kleinen Lichtung entdeckte ich eine verlassene Hütte, die nur noch zur Hälfte stand. Vor Jahren war sie als Spukhaus an Leute vermietet worden, die hier nach Abenteuer und Gänsehaut suchten. Die letzten Touristen trafen allerdings nicht auf Geister, sondern fielen einer Schar Glutpixies zum Opfer, die sie mit Haut und Haar verschlungen hatte. Seither fehlte von ihnen jede Spur.

Jetzt flackerte vor der Hütte ein Feuer, um das einige Gestalten lungerten, die lebhaft miteinander diskutierten. Nicht weit entfernt stand ein ziemlich windschiefes Zelt. Eigentlich war es verboten im Park zu campen, aber das war den Männern offensichtlich egal. Der Geruch von Holzkohle, gegrilltem Fleisch und Zigaretten drang mir in die Nase.

Okay, Adel! Keine halben Sachen mehr.

Ich straffte die Schultern und ging auf die Gruppe zu, auch wenn alles in mir schrie, dass ich verdammt noch mal abhauen sollte. Ich musste keine Orakelhexe sein, um zu wissen, dass etwas mit diesen Kerlen nicht stimmte. Sie wirkten nicht wie friedliche Camper, eher wie streitlustige Mitglieder einer Motorradgang.

Einer der Typen kam auf mich zu. Er packte mich am Arm, sodass ich fluchend stehen blieb. Dabei rutschte mir die Sporttasche von der Schulter und landete mit einem Scheppern auf dem Weg.

»Das ist unser Revier, Kleine«, knurrte er mir ins Ohr. Seine Basecap saß schief auf den langen, blonden Haaren.

»Ich bin nicht deine Kleine.« Ich schüttelte seine Hand ab. »Und komm mir bitte nicht zu nahe. Danke.« Ich deutete auf die Hütte. »Wisst ihr nicht, dass dieser Platz verflucht ist?«

Die Kerle lachten. Offenbar glaubten sie nicht an Geister. Ich bückte mich, um nach meiner Sporttasche zu greifen. »Tut mir leid, euch den Spaß verderben zu müssen, aber ihr müsst gehen.«

»Was bist du denn für eine?«, fragte einer mit zu vielen Goldketten um den Hals.

»Ich arbeite für das Ordnungsamt«, antwortete ich trocken. »Und verweise euch hiermit des Platzes.«

»Warum?«, fragte er irritiert.

»Das Zündeln in diesem Park ist verboten, weshalb ich euer Feuer leider löschen muss.«

»Moment. Moment, Kleine!«, sagte der mit der Basecap. Er war offenbar nicht der Schnellste. »Willst du uns verarschen? Wir werden nicht gerne verarscht.«

»Würde mir nicht im Traum einfallen.«

»Du bist keine Ordnungsamttussi. Bist zu hübsch für so ’nen Job«, lallte ein anderer.

So ein Charmeur!

Ich wusste, welche Wirkung ich auf andere hatte. Ich hatte in den letzten zwei Jahren einen ordentlichen Wachstumsschub gemacht und war jetzt größer als der Rest meiner Familie. Ich hatte lange Beine, die durch die Overknee-Stiefel noch betont wurden. Außerdem hatte ich langes, rotes Haar. Kein Rotblond, sondern ein dunkles, herbstliches Kastanienrot. Mum und Corentine hatten blonde Haare und graue Regenwetteraugen. Aus diesem Grund nannte mich meine Tante auch den »Feuersturm«.

Ich war halt durch und durch etwas Besonderes.

»Ich bitte euch noch einmal höflich, eure Sachen zu packen und das Feuer zu löschen«, sagte ich nun, um Autorität bemüht.

»Tja. Pech für dich. Wir lieben unser Lagerfeuer und gehen hier nicht weg.« Der Typ verschränkte die Arme. »Und jetzt sag uns, verdammt noch mal, wer du bist.«

»Ich bin Adelina Lighttower aus dem Hause der Sturmhexen. Laut einer Prophezeiung bin ich die nächste Königin der Hexen. Meine Magie wird den Fluch brechen, mit dem uns die Alchemisten unterdrücken. Ich werde ihnen den Kampf ansagen, sie vernichten und auf den roten Kristallthron steigen. Und ich werde umwerfend aussehen, wenn ich mir die Kristallkrone auf den Kopf setze …« Das Geständnis sorgte dafür, dass die Truppe in Gelächter ausbrach.

Ja, die Wahrheit war manchmal schwer zu schlucken.

Der Kerl mit der Basecap fing sich als Erster wieder.

»Du bist absolut irre!«

»Ich habe geahnt, dass Höflichkeit bei euch nichts bringt.« Ich öffnete die Tasche und holte einen Feuerlöscher heraus.

Dieses Mal würde ich es durchziehen!

Mit klopfendem Herzen marschierte ich auf das Lagerfeuer zu. Hinter mir ertönten überraschte Rufe, als die Jungs kapierten, was ich vorhatte.

Jetzt oder nie!

Ich betätigte den Hebel und eine Ladung Schaum schoss aus dem Schlauch auf das Feuer, das innerhalb von Sekunden zusammen mit Würstchen und Stockbrot in weißer Masse versank.

»Ihr solltet jetzt gehen«, sagte ich ruhig. »Die Party ist vorbei.«

»Du kannst was erleben!«, rief einer, groß wie ein Schrank, während die anderen versuchten ihre Flaschen in Sicherheit zu bringen.

Mit kühlem Lächeln richtete ich meinen Löschschlauch auf sein Gesicht und blies ihm die Zigarette aus.

Zusammen mit seinem letzten Fünkchen Beherrschung.

»Na warte!« Er hechtete nach vorne, um mich zu packen, aber ich wich ihm aus, was nicht weiter schwierig war, da der arme Kerl Schaum im Auge hatte. Er stolperte und fiel über seine eigenen Füße.

»Jetzt ist aber Schluss mit lustig«, verkündete sein Kettchen-Kumpel, bevor ich auch seinem hitzigen Gemüt eine Abkühlung verpasste.

So langsam fing es an mir Spaß zu machen. Ich sollte öfter Gangs aufmischen.

Um uns herum erstreckte sich ein Schlachtfeld aus Schaum, aus dem sich die Jungs wie ein Rudel begossener Pudel erhoben.

»Packt euch die Verrückte!«

Einer der Typen erreichte mich und griff nach meinem Mantel. Ich holte mit dem Feuerlöscher aus und traf ihn an der Schulter.

Verflixt und verflucht!

Eigentlich hatte ich auf seine Schläfe gezielt, mich aber im Winkel vertan. Im gleichen Moment wurde ich von hinten gepackt und herumgewirbelt.

»Ich muss doch sehr bitten«, sagte ich. »Etwas mehr Respekt vor einer Königin.«

»Du bist ganz bestimmt keine.«

»Wollen wir wetten?«, fragte ich und rammte ihm mein Knie zwischen die Beine. Stöhnend sackte er zusammen.

Als zukünftige Herrscherin war ich im Nahkampf geübt.

»Hey! Was soll das überhaupt?«, rief der Schrankkerl. »Willst du Stress?«

»Haben wir den nicht schon? Bedankt euch bei meiner Tante. Sie will ständig, dass mich jemand umbringt.«

Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich so fest, dass ich Sterne sah. Ich biss die Zähne zusammen und riss meine rechte Hand hoch, um ihm die Faust von unten gegen die Nase zu schmettern. Stöhnend fiel er nach hinten.

Autsch!

Meine Knöchel pochten vor Schmerz und ein Fingernagel war eingerissen. Dabei war ich gestern erst bei der Maniküre gewesen.

Ab diesem Punkt bereitete mir die Sache deutlich weniger Freude.

Der Riese erholte sich überraschend schnell und rappelte sich grunzend auf. Seine kleinen, runden Augen blitzten gefährlich, als er vorlangte. Er wischte meine Arme zur Seite und stieß mich zu Boden. Seine Lippen waren zu einem triumphierenden Lächeln verzogen, als er sich zu mir herunterbeugte. »Ist das alles, was du zu bieten hast? Warum hext du uns nicht was vor?«

Tatsächlich wäre jetzt ein guter Moment für meine Magie, sich zu zeigen, nur leider spürte ich weiterhin kein Kribbeln und kein Jucken, geschweige denn explodierende Kräfte.

Der Schrank packte mich unter den anfeuernden Zurufen seiner Kumpel am Kragen, aber ich wartete nicht auf seinen nächsten Angriff. Mit meinem rechten Fuß trat ich ihm in die Kniescheibe. Kniescheiben waren ein herrliches Ziel. Wenn man sie richtig traf, knackten sie wie die Nuss im Mund des Nussknackers.

Treffer. Versenkt.

Der Schrankkerl jaulte auf und stolperte zurück. In dem Moment stürzten sich seine Kumpel auf mich und rammten mich zu Boden. Der Kerl mit der Basecap kniete sich auf mich.

Okay, so langsam kriegte ich Panik. Mein Herz flatterte und ich bekam keine Luft, weil das Knie des Mistkerls auf meinen Brustkorb drückte.

Verdammt, Magie! Wo bleibst du denn?

»Wir werden dir eine Lektion erteilen, die du nicht so schnell vergisst, Kleine«, versprach er mit fiesem Grinsen. »Los. Sperren wir sie in die Grube.«

Jemand packte mich an meinen sündhaft teuren Wildleder-stiefeln und schleifte mich über die feuchte Erde. Ich drehte den Kopf. Sie steuerten die verfallene Hütte an. Schon trugen sie mich die morschen Holzstufen hoch in den Rest dessen, was mal ein Wohnzimmer gewesen war. Basecap-Brutalo riss eine Falltür auf, aus der ein muffiger Geruch stieg.

»Rein mit ihr«, befahl er. »Die Ratten werden ihr Respekt beibringen.«

»Nein!« Das ging zu weit!

Ich trat um mich, aber gegen die vereinten Kräfte der fünf Kerle hatte ich keine Chance. Unaufhaltsam zogen sie mich auf das Loch zu.

»Lasst mich!« Ich ballte meine Hände und schrie, so laut ich konnte, als sie mich in die Dunkelheit stießen. Ein paar Meter fiel ich in die Tiefe, bevor ich auf harten Grund krachte. Für einen Moment drehte sich die Welt und ich blieb benommen liegen.

Das musste er doch sein!

Der Moment, auf den wir fünfzehn Jahre gewartet hatte. Ich versuchte das Gefühl der Panik willkommen zu heißen, aber es brach kein tosendes Chaos aus mir hervor. Stattdessen war mir übel, jeder Knochen meines Körpers brannte vor Schmerz und Punkte tanzten vor meinen Augen. Die Umrisse der Kerle, die zu mir heruntergrinsten, verschwammen.

Ich flehe dich an, Magie! Hilf mir!

Und als hätte sie mich endlich erhört, spürte ich einen heißen Windzug, der meine Wange streifte. Eine faustgroße Flamme zischte durch die Luft und setzte die Basecap meines Angreifers in Brand.

»Ja!«, rief ich. Ein weiterer Feuerball schwirrte herbei und versengte die Augenbrauen des Schrankkerls. »Endlich.«

Mit zitternden Beinen rappelte ich mich auf, als Hitze auf uns niederprasselte. Jetzt waren die Jungs dran, in Panik zu geraten. Schreiend flohen sie in alle Richtungen, während ich jubelnd meine Fäuste hochriss.

Der Anblick meines kleinen Feuersturms war atemberaubend. Wenn Tante Corentine das sehen könnte! Nie wieder würde sie mich eine Enttäuschung nennen.

Mit zitternden Händen kramte ich mein Handy aus der Tasche, um ein Foto zu machen, aber eh ich die Chance dazu bekam, schoss eine Flamme zu mir herunter und schlug es mir mit einem wütenden Zischen aus der Hand.

»Hey! Was zum …«

Erst jetzt sah ich, dass es kein Flammenball war, der vor mir schwebte, sondern ein brennendes Wesen mit spitzen Ohren, scharfen Zähnen und orangen Flügeln.

»Oh. Shit!«

Das Glutpixie schoss über die Balken der Hütte, dabei streckte es seine kleine Hand aus und hinterließ eine Feuerspur. Innerhalb von Sekunden stand der Rest der Hütte in Flammen.

»Nein! Stopp!«

Es kicherte. Zumindest glaubte ich, dass es das tat, denn die Laute klangen für mich wie ein brennendes Holzscheit.

Ich kauerte auf dem Boden und meine Finger bohrten sich in den Dreck, während ich auf das Feuer über mir starrte.

Sie wird kommen,

geboren aus Feuer und Sturm.

Setzt ihr die Krone auf.

Sie bricht unseren Fluch.

Geboren aus Feuer und Sturm. Feuer. Vielleicht war es nun so weit. Die Stunde der Prophezeiung.

Schon gaben die morschen Holzbalken knarrend nach und krachten zusammen. Ich riss die Hände hoch, um mich zu schützen. Die Hitze trieb mir die Tränen in die Augen. Fieberhaft sah ich mich nach einem Ausweg um, aber es gab keinen.

Die Grube, in der ich mich befand, war ein in den Boden gegrabener Keller, der bis auf ein paar vergessene Plastikverpackungen und Schotter vollkommen leer war. Ich konnte nichts entdecken, das mir helfen würde hier herauszukommen.

Die Zeit rann mir wie Sand durch die Finger. Das Feuer fraß sich innerhalb von Sekunden durch die hölzernen Dielen. Jeden Moment würde die Hütte zusammenbrechen und mich unter sich begraben.

Kalte Fingerspitzen tippten über meinen Nacken.

Angst.

Dieses Mal war es wirklich ernst. Weder Verstand noch Training würden mich retten können, und wenn jetzt nicht meine Sturmkräfte erwachten, würde ich nicht alt genug werden, um die Prophezeiung zu erfüllen.

Das Herz sprang mir vor Panik fast aus der Brust. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Sturm und Wind waren immer schon Begleiter der Lighttowers gewesen. Sie lagen uns im Blut. Ich musste nur nach der Magie greifen. Ein mächtiger Sturm, der durch die Flammen brauste und mich aus ihren gierigen Klauen rettete.

Ich spürte, wie die Flammen nach mir griffen. Ihre Zähne bohrten sich in mein Fleisch.

Du wirst nicht sterben, Adel!

Du bist die Auserwählte.

Du. Wirst. Nicht. Sterben.

Heißer Rauch quoll in meine Lungen und ich hatte das Gefühl zu ersticken. Keuchend brach ich zusammen.

Sie wird kommen,

geboren aus Feuer und Sturm.

2 – Der Junge mit den Fluchegeln

Adelina Lighttower

Das Erste, was ich spürte, war Schmerz. Brennender Schmerz, der mir das Gefühl gab, meine Haut würde vom Körper platzen.

Moment!

Schmerz bedeutete, dass ich noch lebte, oder nicht? Aber wie? Waren endlich meine Sturmkräfte erwacht und hatten mich aus der brennenden Hütte gerettet?

Stöhnend bewegte ich die Finger und ertastete feuchtes Gras. Es war überall, drückte sich in mein Ohr und kitzelte in meiner Nase.

Vorsichtig drehte ich mich um und öffnete die Augen. Über mir war der Nachthimmel voller Sterne. Ich blinzelte, denn etwas schob sich zwischen den unendlichen Himmel und mich.

Oh.

Der schönste Junge, den ich je gesehen hatte.

Ich war anspruchsvoll, was Schönheit anging. Die meisten Zeitschriften-Models und gefeierten Superstars fand ich langweilig. Sie sahen so perfekt aus, dass ich sie im nächsten Moment bereits wieder vergessen hatte. Bei diesem Jungen musste ich jedoch zweimal hinschauen, denn er hatte etwas, das ihn für mich absolut unvergesslich machte.

Seine Augen waren meeresblau. Aber nicht dieses helle Blau, das an Karibik und Tropenstrand denken ließ, sondern viel mehr ein Blau wie der stürmische, wilde Atlantik mit Flecken von Grau darin.

Dunkle Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Sie waren so lang, dass sie sich über den Ohren und im Nacken lockten. Haar- und Augenfarbe standen im Kontrast zu seiner blassen Haut.

Im Moment sah er voller Misstrauen auf mich herunter.

»Bin ich tot?«, fragte ich.

Meine Mutter meinte, der Tod würde in der Gestalt erscheinen, die wir uns wünschen, und na ja … von so einem attraktiven Kerl abgeholt zu werden wäre definitiv besser als von einem Skelett mit Kapuze.

»Nein. Ich hab dich gerettet«, sagte er knapp. Wie hatte er das angestellt? Die Hütte hatte doch lichterloh gebrannt.

Verwirrt stützte ich mich auf meine Unterarme und hievte meinen Oberkörper hoch. In dem Moment sah ich es. Der Kerl war ganz in Schwarz gekleidet und auf seiner Brust prangte ein silbernes Wappen. Eine Raute mit verschnörkelten Seiten.

Verflixt und verflucht!

Das Zeichen der Alchemisten.

War ja klar, dass dieser gut aussehende Typ zu unseren Todfeinden gehören musste.

Okay, denk nach, Adel!

»Was ist deine schärfste Waffe als zukünftige Königin?«, fragte mich meine Mutter immer.

»Meine Sturmkräfte?«

»Nein, dein Charme.«

Ich hasste es, charmant zu sein, aber sie hatte recht. Wenn ich wollte, konnte ich reizend sein. Manchmal gewann man Kriege mit einem Lächeln.

»Danke für die Rettung«, hauchte ich und bedachte ihn mit einem Augenaufschlag, der Herzen zum Schmelzen bringen konnte. Seines jedoch war tiefgefroren, denn das Misstrauen in seinen Meeresaugen wuchs nur noch.

»Du musst dich nicht bedanken. Hätte ich gewusst, was du bist, hätte ich dich den Flammen überlassen.«

»Was ich bin?«

Er antwortete nicht. Stattdessen pflückte er etwas aus der Tasche, das wie eine Nacktschnecke mit mehreren Saugrüsseln aussah, und machte Anstalten, mir das Ding auf den Arm zu setzen. Mit einem entsetzten Schrei fegte ich es zur Seite.

»Was soll das?«

Seine Augen verengten sich. »Ich muss dich überprüfen.«

»Überprüfen?«

»Du bist doch eine Hexe, oder nicht?« Er deutete auf meine goldene Kette, an der mein Lapislazuli befestigt war. Hexen liebten Steine und es gehörte zu unserer Tradition, dass jede Hexe zu ihrem sechsten Geburtstag einen Schutzkristall von ihrer Familie bekam. Ob er wirklich Schutzkräfte hatte, bezweifelte ich allerdings.

Ich umschloss den Anhänger und reckte das Kinn. »Ja. Ich bin eine.«

»Dann muss ich mithilfe eines Fluchegels testen, ob deine Kräfte gebannt sind oder du eine wilde Hexe bist, die sich den Gesetzen des Ordens wiedersetzt«, sagte der Alchemist.

»Wenn ich Magie hätte, glaubst du nicht, dass ich sie in dieser misslichen Lage eingesetzt hätte?«

Er schien darüber nachzudenken, aber sein Misstrauen schwand nicht. »Was machst du dann hier? Ganz allein mitten in der Nacht?«

»Darf man keine nächtlichen Spaziergänge machen?«

»Du bist eine Hexe und Hexen führen immer etwas im Schilde.« Er nickte in Richtung Hütte, die wenige Minuten vorher noch lichterloh gebrannt hatte. Nun stand sie in einem See aus Wasser. »Was hast du da getrieben? Eine illegale Beschwörung?«

»Ich wurde von fünf betrunkenen Grobianen eingesperrt. Und da meine Kräfte von einer Gruppe kleingeistiger Wichtigtuer gebannt wurden, konnte ich mich nicht wehren.« Der Kerl sollte ruhig wissen, was die Alchemisten mir mit dem verdammten Fluch antaten. »Was ist deine Entschuldigung? Warum bist du hier?«

»Ich spüre wilde Magie auf, um sie unschädlich zu machen.« Er sah mir direkt in die Augen, aber ich ließ mich nicht einschüchtern.

»Magie ist nicht gefährlich. Diese Menschen waren es.«

»Ach ja? Dann haben sie die Hütte angezündet und dich beinahe verbrannt?«

»Das nicht, aber …«

»Das hab ich mir gedacht. Glutpixies sind äußerst gefährlich. Stell dir vor, sie lassen ihre Kräfte mitten in Oxford frei.«

»Sie meiden Städte, weil sie viel zu scheu sind!«

»Diese hier wirken alles andere als scheu. Darum musste ich mich um sie kümmern.«

»Kümmern? Was ist mit den Pixies passiert?«

Er nickte knapp in Richtung eines Motorrades, das offenbar ihm gehörte, denn ich konnte niemand anderen sehen. Neben der schwarzen Maschine mit silberner Verzierung standen Boxen, deren Halterungen mit hitzeabweisenden Folien umwickelt waren. In ihnen rumorte und ratterte es.

Mir klappte die Kinnlade herunter. »Sind sie da etwa drin?«

»Ganz recht. Und jetzt bist du dran.« Er griff abermals in seine Tasche, um einen weiteren Fluchegel herauszuholen.

Verflixt!

Er durfte mich auf keinen Fall überprüfen, denn wenn er mich daraufhin gefangen nahm, war ich in größeren Schwierigkeiten als bei den Glutpixies.

»Du wirst mir mit diesem ekligen Ding nicht zu nahe kommen, sonst …«

Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Sonst was?«

»Sonst brech ich dir die Nase.« Ich rappelte mich auf und versuchte gerade zu stehen, obgleich meine Knie immer noch zitterten. Meine Jacke und mein Rock waren angesengt, meine Lippe war aufgeplatzt und meine Haare standen wirr vom Kopf ab. Ich fürchtete, dass ich mittlerweile nicht mehr so umwerfend wie gewohnt aussah, und sicherlich nicht halb so erschreckend war wie die Glutpixies, die er offensichtlich mit Leichtigkeit eingesperrt hatte.

Meine Chancen standen also schlecht, aber auf Charme hatte ich keine Lust mehr.

»Willst du dich wirklich widersetzen? Du hast keine Chance, Hexe!« Der Alchemist ließ die Utensilien an seinem Gürtel bedrohlich klimpern. Ich wagte einen schnellen Blick. Er war mit einem Dolch bewaffnet, aber das Säckchen mit Murmeln, der Silberspiegel und die Gläser und Phiolen voll Salze und Pulver bereiteten mir größere Sorgen. Alchemisten hatten keinen Tropfen Magie im Blut, aber sie benutzten die Magie, die sie anderen stahlen.

Sie waren Diebe, die sich der Zauber unserer Welt bedienten.

»Auch ohne Magie bin ich nicht wehrlos.«

»Ach tatsächlich?« Seine Stimme klang gelangweilt, so als würde er mich nicht ernst nehmen, aber seine Finger glitten zum Silberspiegel, der an seinem Gürtel baumelte.

Ich hatte einen Klappspiegel in der Tasche, einen mit Glitzersteinchen, die eine Krone bildeten. Er war schön, aber nicht gefährlich. Im Gegensatz zu diesem Ding.

Ich wettete, dass das ein Medusenauge war.

Mit unerträglicher Überheblichkeit sah mich der Kerl an. »Nur zu. Ich warte. Was willst du tun? Mich beißen? Zu Tode quatschen?«

Ich blickte zurück zu den Kästen, in denen die Pixies tobten, und riss erschrocken meinen Mund auf.

»Oh verflucht! Sie haben sich befreit«, quiekte ich mit schriller Stimme und wankte zurück.

Es funktionierte!

Alarmiert wirbelte er herum. Dummkopf!

Ich schnellte vor und nutzte seine Unaufmerksamkeit, um mir das Medusenauge zu schnappen. Ich riss den Spiegel aus der Hülle, sorgfältig darauf bedacht, die silberne Fläche dem Mistkerl zuzudrehen.

»Du bist auf den ältesten Trick der Welt reingefallen«, verkündete ich zufrieden. »Kämpfe gewinnt man mit List und nicht mit Arroganz. Merk dir das, Klugscheißer!«

Er fuhr zu mir herum und sah direkt in das Auge hinein. Für einen Moment zuckte er angesichts dessen, was er sah, zusammen. Dann verzog er verärgert seine Mundwinkel und wandte sich wieder mir zu.

»Gib mir das zurück, bevor noch jemand verletzt wird.«

»Ist das kein Medusenauge?«

»Doch.« Seine Augen blitzten gefährlich.

»Warum bist du dann nicht versteinert?« Misstrauisch begutachtete ich den kleinen Spiegel in meiner Hand, wagte aber nicht, hineinzusehen.

»Ein Blackheart lässt sich doch nicht von einer Hexe austricksen.«

»Ein Blackheart?«

Verflixt und verflucht!

Heute war mein Pechtag.

Die Blackhearts waren die Schlimmsten von allen. Sie waren es, die vor dreihundertfünfzig Jahren den Fluch entwickelt hatten, und das war nicht alles. Sie waren die Todfeinde der Lighttowers, nachdem sie etwas absolut Unverzeihliches getan hatten.

»Ein Blackheart«, wiederholte ich langsam.

»Ja. Tristan Blackheart. Aber für Hexen gibt es kein Autogramm.«

»Pah! Daran wäre ich auch nicht interessiert. Weißt du, was eine Hexe dafür geben würde, deinesgleichen in die Hände zu kriegen?«

»Wie gut, dass wir uns zu wehren wissen.«

»Alles, was atmet, kann man töten …« Ein Zitat von Rita dem Drachen. Sie war nicht wirklich ein Vorbild, aber sie hat einige epische Zitate rausgehauen.

Die Augen des Alchemisten verengten sich. »Wer bist du? Du kommst mir bekannt vor.«

Ich schluckte. Auf keinen Fall wollte ich, dass er erfuhr, wer ich war.

»Sophie Smith.«

»Smith? Ich kenne keine Hexenfamilie mit diesem Namen.«

»Meine Mutter ist eine Evergarden, aber sie hat geheiratet.«

»Also eine Kräuterhexe?«

»Genau. Ich kann tolle Tees machen, wenn du mal Bauchschmerzen hast.«

»Nein danke.«

Er griff an seinen Gürtel, aber ich war schneller und trat zu. Direkt gegen mein Lieblingsziel. Seine Kniescheibe. Als er stöhnend zurückwich, sprintete ich los.

»Du kannst nicht weglaufen«, rief er mir hinterher.

»Du siehst doch, dass ich kann.« Ich beschleunigte meine Schritte in Richtung seines Motorrads, aber in dem Moment hörte ich ein Surren. Ich spürte einen Windzug, bevor etwas, das aussah wie ein Spinnennetz, mich zu Boden riss. Mein Gesicht landete im Schlamm und ich fluchte, als ich Gras und Erde ausspuckte.

Wieso musste ich ausgerechnet auf einen Blackheart treffen? Wenn ich von jemandem keine Aufmerksamkeit wollte, dann von ihnen.

Seine Stiefel erschienen in meinem Gesichtsfeld. Kurz darauf ließ er sich lächelnd neben mir nieder. Ich hob den Blick, um ihn wütend anzufunkeln.

»Lass mich frei!«

»Ich werde dich jetzt mit einem Fluchegel testen, Sophie Smith. Und zwar auf die sanfte oder auf die harte Tour.«

Während er in seinem Beutel nach dem Tierchen suchte, quetschte ich meine Hand durch das Spinnennetz, bis ich auf warmes Metall traf. Grinsend sah ich zu ihm auf.

»Ich wähle immer die harte Tour.« Noch so ein Zitat von Rita dem Drachen. »Immer. Besser, du merkst dir das.«

In diesem Moment ließ ich die Sicherung der Box hochschnappen, die Klappe öffnete sich und ein Schwarm wütender Feuerbälle platzte heraus. Während der Alchemist fluchend zurückwankte, öffnete ich die zweite und dritte Kiste. Glutpixies schossen heraus und füllten die Luft mit bedrohlichem Knistern. Für einen kurzen Moment konnte ich Rita den Drachen verstehen. Die Macht des Feuers war berauschend, und wenn ich sie lenken könnte, um die Alchemisten zu vernichten, ich würde es tun.

Ein letztes Pixie blieb in der Luft stehen, um mich anzusehen. Es war groß wie eine Hornisse und hatte vier Flügel. Seine runden Augen ruhten auf mir, bevor es plötzlich zu mir herunterschoss.

»Warte!«, rief ich erschrocken, aber seine winzigen Finger schlossen sich um das Netz, das unter seiner Berührung zu Asche zerfiel. Es stieß einen klackernden, zischenden Laut aus, bevor es seinen Freunden nacheilte.

Hatte es mich gerade gerettet?

Verdutzt befreite ich mich aus den Überresten des Netzes und stolperte, so schnell es meine Overknee-Stiefel erlaubten, davon.

Ich mochte immer noch keine Fluchbrecherin sein, aber diesem Alchemisten hatte ich es auch ohne Magie gezeigt!

3 – Das, was Niemand sieht

Echoline Everglade

»Wollen Sie noch Marmelade zu den Scones?«

Ich kauerte vor der Tür, hinter der die Browns mit Ms Murphy, der Leiterin des Waisenheims, sprachen.

Zu dritt hatten sie im Wohnzimmer am gedeckten Tisch Platz genommen. Meine Adoptivmutter, Sylvia Brown, hatte die gute Tischdecke herausgeholt, die Stoffservietten und das teure Porzellan, das ich nicht anfassen durfte, weil sie fürchtete, ich könnte es fallen lassen.

Kein so abwegiger Gedanke …

Gerade servierte sie Kaffee, während sie mit Ms Murphy über Nichtigkeiten plauderten. Das Wetter, den Garten und natürlich das schöne Porzellan.

»Was für ein hübsches Geschirr …«

»Danke. Das habe ich von meiner Schwester Hilda bekommen. Sie war ein guter Mensch. Eine Inspiration. Und sie hat Kinder geliebt«, sagte Sylvia und zeigte auf eine weiße Urne mit goldenem Rand, die einen Ehrenplatz in der Vitrine genoss.

»Um Himmels willen. Was redet sie da? Ich hasse Kinder. Genau wie dieses Porzellan. Wer will denn seinen Tee aus Tassen trinken, in die nicht mehr passt als ein Furz?«, schnaubte besagte Hilda, eine Frau mit Föhnfrisur, die sie gut zwei Köpfe größer machte. Sie schwebte mit gewohnt missmutigem Gesicht neben mir in der Luft.

Ich zog meine Augenbraue hoch. »Dafür, dass du Kinder hasst, bist du bei mir recht anhänglich.«

»Bei dir ist das was anderes. Dich mag ich.«

»Im Gegensatz zu meiner Mutter. Die hat mich einfach im Krankenhaus zurückgelassen.«

»Weil sie offensichtlich einen schrecklichen Geschmack hatte, Emma, Liebes.«

»Mein Name ist Echo.«

»Siehst du? Sie hatte einen schrecklichen Geschmack. Wer nennt denn sein Kind Echo?«

»Ich mag meinen Namen.«

Ich biss von dem Scone ab, den ich mir vom Tablett aus der Küche geklaut hatte. Dann presste ich meine Nase wieder an den Türspalt, um keine Sekunde von dem Theater dort drinnen zu verpassen.

»Vielen Dank für Ihre Mühe. Ein Frühstück wäre wirklich nicht nötig gewesen«, sagte Ms Murphy. »Ich wollte mich nur nach Echoline erkundigen.«

»Ja. Nun. Sie ist noch in ihrem Zimmer. Wir wollten erst einmal ungestört mit Ihnen reden.«

Ms Murphy hob die Augenbraue. »Ungestört?«

»Wir hoffen, das ist in Ordnung. Das Mädchen muss ja nicht alles mitbekommen.«

Gregory Brown räusperte sich. Das tat er öfter, wenn er eine unangenehme Situation befürchtete.

»Was ist denn mit Echoline? Gibt es Probleme?«

»Nun ja. Sie … Sie ist nicht so, wie wir dachten.«

»So?« Ms Murphys Augenbraue wanderte höher.

»Sie ist …« Hilfe suchend sah sich Sylvia zu ihrem Mann um.

»Seltsam«, sagte der kurzerhand. »Sie ist einfach seltsam.«

»Tja, sie ist ein Teenager. Die haben alle ihre Eigenheiten.«

»Es ist mehr als das«, murmelte Gregory. »Sie ist zu seltsam.«

»Ach, Gregory«, seufzte Hilda. »Du bist einfach viel zu langweilig.« Sie richtete ihre Föhnfrisur, die ein bisschen wie Pudding hin- und herwabberte. »Mach dir nichts draus, Kind. Mit dir ist alles in Ordnung.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, flüsterte ich.

»Klar! Du bist wie ich. Exzentrisch.« Sie deutete auf meine blauen und rosafarbenen Haarsträhnen und mein buntes Outfit. Einen violetten Pullover und eine dunkelgrüne Latzhose. »Wir sind die Paradiesvögel in einer Welt voller langweiliger Tauben.«

»Wenn es nur das wäre.« Ich wandte mich wieder dem Türschlitz zu.

»Echoline ist ein sehr umgängliches Mädchen. Darum bin ich verwundert«, sagte Ms Murphy und nippte an ihrem Kaffee.

»Sicher. Sicher. Aber sie … sie passt nicht zu uns.« Sylvia wand sich wie ein Aal. »Sehen Sie, wir haben hohe Ansprüche an uns. Wir achten auf unsere Gesundheit, sind sehr sportlich und sie …«

»… nicht«, ergänzte Gregory. »Sie sagt, ihr Lieblingsessen sei Fish und Chips.«

»Skandalös«, bemerkte Ms Murphy.

»Außerdem lieben wir Gesellschaft, Theaterbesuche und sie …«

»… ist immer allein, hat keine Freunde. Welches Kind in diesem Alter hat denn keine Freunde?«

»Ich kann nichts dafür, dass ihr meine Freunde einfach nicht seht«, brummte ich mit vollem Mund und auch Ms Murphy schien von den Entschuldigungen nicht überzeugt.

»Kinder sind keine Onlinebestellung, die man nach Belieben umtauschen kann, wenn man kleine Mängel entdeckt. Sie haben einen eigenen Kopf.«

»Das wissen wir, Ms Murphy. Aber das ist nicht alles.« Sylvia rang die Hände und sah Gregory an.

Der räusperte sich erneut. »Wir machen uns Sorgen um ihren Geisteszustand. Sie hat einen Waschbären in ihr Zimmer geschmuggelt«, sagte er. »Ich wollte ihn rauswerfen, aber er hat mich gebissen.«

»Gekratzt«, korrigierte ich leise.

Zum Beweis hielt er seinen Finger hoch, um den er dramatisch einen viel zu dicken Verband gewunden hatte.

»Und einmal, als sie sich geärgert hat, war ihr komplettes Zimmer verwüstet und ich meine damit nicht, dass sie ein paar Dinge aus dem Regal geworfen hat. Nein … Sie …« Sylvia senkte die Stimme. »Sie hat das Regal umgeworfen.«

»Wir haben langsam Angst vor ihr und fragen uns, was als Nächstes passiert.«

Ich verschluckte mich an meinem Scone.

Angst vor mir?

Diese Karte hatte noch keine Pflegefamilie gezogen, aber die Browns waren offenbar besonders einfallsreich. Mittlerweile waren sie gar nicht mehr zu bremsen.

»Außerdem redet sie mit sich selbst. Sogar die Nachbarn haben uns schon darauf angesprochen. Wir sind mit diesem Mädchen einfach vollkommen überfordert.«

Seufzend zog ich mich von der Tür zurück. Auch dieser Zug war mal wieder abgefahren. Es war offensichtlich, dass sie mich loswerden wollten, denn am Ende des Tages waren wir Heimkinder doch wie eine Onlinebestellung. Wenn wir die Erwartungen nicht erfüllten, wurden wir umgetauscht.

»Seit wann führst du denn Selbstgespräche?«, fragte Tante Hilda verwirrt.

»Er meint, wenn ich mit dir rede.« Ich stand auf und klopfte mir die Krümmel von der Hose.

»Mit mir?«

»Bedauerlicherweise bist du tot und niemand außer mir kann dich sehen und hören. Für Außenstehende wirkt das wie ein Selbstgespräch.«

»Tot? Was redest du da?« Aufgebracht schwebte Hilda hinter mir her. Ihre Föhnfrisur waberte von einer Schulter zur anderen.

»Du bist betrunken mit dem Wagen gegen einen Baum gerast und jetzt bist du eine transparente Nebelerscheinung, die durch Wände gehen kann. Tut mir leid, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du ein Geist bist, Tante Hilda.«

»So ein Unsinn. Geister gibt es nicht.«

Ich warf einen vielsagenden Blick auf ihre kräftigen, aber durchsichtigen Unterschenkel, die soeben in der Treppe stecken blieben.

»Ich gebe zu, das sieht verdächtig aus. Aber tot? Tot klingt wahnsinnig deprimierend, meinst du nicht?«

»Immerhin kannst du machen, was du willst.« Ich ging in mein Zimmer. Kurz darauf schwebte Hilda durch die geschlossene Tür herein.

Es war nicht wirklich mein Zimmer, denn es fühlte sich mehr wie ein Gästezimmer als nach meinem eigenen Zuhause an. Die Möbel waren weiß, Bettbezug, Gardinen und Teppich cremefarben. An den Wänden hingen Blumenbilder in goldenen Rahmen.

Es sah perfekt aus, aber seelenlos, wie aus einem Katalog. Das hatte Unfug, besagter Waschbär und mein einziger Freund, ebenso gesehen und den Gardinen ein spezielles Lochmuster verpasst. Leider teilten die Browns seinen Geschmack nicht.

»Unfug?«, rief ich. »Es ist wieder so weit. Wir ziehen aus.«

Er lag zusammengerollt auf dem Bett. Sein Kopf zuckte kurz hoch und er sah mich an, als wollte er sagen: »Überrascht mich nicht im Geringsten.«

Ich ging zum Schrank, zerrte den alten verbeulten Lederkoffer heraus und fing an die wenigen Dinge, die mir gehörten, hineinzuwerfen. Ich hatte nicht viel außer Kleidung. Das Packen würde schnell gehen und morgen würden sich die Browns nicht einmal mehr an mich erinnern.

»Du kannst nicht gehen«, rief Tante Hilda. »Nach all der Zeit finde ich endlich jemanden, mit dem ich reden kann, und dann willst du abhauen?«

»Tut mir leid, aber die Browns haben recht. Ich passe kein Stück zu ihnen.«

Eigentlich passe ich nirgendwohin …

Hilda schniefte.

»Hast du dich mal draußen umgesehen? Vielleicht findest du andere Geister, mit denen du quatschen kannst?«

»Ich will keine toten Freunde.« Sie seufzte theatralisch. »Aber hier bleiben will ich auch nicht. Hast du gesehen, was meine Schwester und ihr langweiliger Ehemann mit mir gemacht haben? Sie haben mich in ein Deko-Ei gepfercht.«

»Eine Urne …«

»Fürchterlich!«

»Tante Hilda. Vergiss deine Schwester. Vergiss die Urne. Du kannst gehen und diesen Ort hinter dir lassen. Ich bin sicher, da draußen warten eine Menge cooler Geister. Ich glaube fest daran, dass das Glück auch auf dich wartet.«

»Ja?« Tante Hildas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wollte immer die Welt sehen. Etwas erleben. Aber … so tot macht das doch keinen Spaß.«

Sie schluchzte und ich bereitete mich auf das Schlimmste vor, denn wenn Hilda weinte, zerlief sie. Wortwörtlich.

»Ich bin ein Geist! Was kann ich schon tun? Niemand sieht mich. Niemand hört mich. Ich bin bloß Luft. Unwichtig.« Wie ein Eis in der Sonne tropfte ihr Körper auf den Boden, wo sich eine silberne Pfütze bildete. Das war so eine Sache mit Geistern. Sie waren leicht gefühls-inkontinent.

»Wenn du eins ganz sicher nicht bist, dann ist das unwichtig.«

»Ach ja?« In ihren Überresten tauchten wässrige Augen auf, die voller Zweifel zu mir emporsahen.

»Du bist unglaublich. Du kannst durch Wände gehen und fliegen! Das sind die Superkräfte, die sich jeder wünscht!«

So langsam nahm der zerlaufene Geist wieder Form an. »Tatsächlich?«

»Ja.« Ich ging zum Fenster und öffnete es. »Du solltest das alles als Zeichen sehen. Heute gehen wir beide und versuchen unser Glück da draußen.«

Hilda zögerte. Sie schwebte neben mich und sah skeptisch auf die kleine Straße hinunter. »Nun, ich könnte ja mal zum Biomarkt um die Ecke fliegen und gucken, ob die alte Martha noch da ist.«

Ich nickte eifrig.

»Na schön. Auf deine Verantwortung. Wenn mir etwas passiert oder mich ein anderer Geist erschreckt, kannst du was erleben.« Hilda krempelte die Ärmel hoch und machte einen Schritt aus dem Fenster.

Ich sah ihr hinterher, wie sie durch den Garten schwebte. Manche mochten Tote für unheimlich halten, dabei hatten sie die gleichen Ängste und Sorgen wie die Lebenden. Manchmal sogar mehr.

Im selben Moment öffnete sich die Tür und Ms Murphy kam herein. Unter ihrem Arm trug sie einen dicken Ordner. Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht.

»Guten Morgen, Echoline. Störe ich?«

Schnell schloss ich das Fenster wieder. »Nein. Ich musste nur einem Geist zu seinem Glück verhelfen.«

»Mhm. Ich nehme an, du hast bereits alles gehört?«

»Die Highlights.«

»Fünf Tage. Das nenne ich einen neuen Rekord.« Sie setzte sich aufs Bett und deutete auf mein T-Shirt. Darauf stand ›Ghosts need hugs too‹. »Das geht so nicht weiter. Das weißt du, oder?«

»Ich habe dieses Mal wirklich versucht diskret zu sein, was die Toten angeht.«

»Die Browns meinten auch, du hättest wieder einen Ausraster gehabt und dein Zimmer verwüstet. Möchtest du mir sagen, was da los war?«

»Ich schwöre, das war keine Absicht. Mister Brown war so sauer. Er hat an der Tür gerüttelt und da hab ich Angst bekommen und das Chaos-Gen ist aus mir rausgebrochen.«

Ich nannte es Chaos-Gen. In meiner Akte stand »Aggressionsprobleme«, direkt neben anderen Verhaltensauffälligkeiten. Ms Murphy hatte mich dafür nie getadelt. Sie hatte sowieso eine unendliche Geduld bei allem, was mich betraf.

Ihr Blick fiel auf den Waschbären, der für einen weiteren Kommentar in meiner Akte gesorgt hatte. »Sucht Kontakt zu Wildtieren«. Das war nicht ganz korrekt. Ich hatte nur Kontakt mit einem Wildtier.

Unfug.

Ms Murphy seufzte. »Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass Waschbären keine passenden Haustiere sind.«

»Er ist mein Freund.«

Mein einziger Freund.

»Echoline, er gehört in den Wald, nicht ins Bett.«

»Ich hab ja versucht ihn auszusetzen, aber er will nicht alleine sein. Genauso wenig wie ich.«

»Ach, Liebes. Du bist nicht allein.«

»Niemand will mich.«

»Viele würden dich wollen, aber das mit den Geistern ist zugegebenermaßen etwas beunruhigend. Bist du nicht mittlerweile zu alt für unsichtbare Freunde?«

»Das sage ich auch immer, beeindruckt sie aber wenig.«

Ms Murphy seufzte und nahm ihre Brille ab. »Und wer ist es dieses Mal?«

»Sylvias Schwester Hilda.«

»Die mit dem schönen Porzellan?«

»Sie hasst es.«

»Verstehe.« Ms Murphy wusste von der Sache mit den Geistern. Zumindest ein wenig. Ich war mir sicher, dass sie nicht wirklich daran glaubte, verurteilen tat sie es aber auch nicht. Noch etwas, das ich an ihr mochte. Sie hielt alles für möglich.

Ich schnappte mir den alten Lederkoffer und meinen Rucksack. »Fertig.«

Die Browns erwarteten uns bereits im Wohnzimmer. Gregory räusperte sich, als er mich sah. Sylvia ging einen steifen Schritt vor. »Ms Murphy hat dir bestimmt alles erklärt«, sagte sie. »Ich bin sicher, du findest eine tolle Familie. Eine, die … besser mit dir klarkommt.« Sie klopfte mir auf die Schulter.

Gregory reichte mir die Hand. »Viel Glück mit dem nächsten Zuhause.«

»Viel Glück mit dem nächsten Waisenkind«, entgegnete ich.

Gerade wandten wir uns zur Tür, als eine silberne Gestalt durch das Fenster gesaust kam und im Sofa stecken blieb. Sie sah etwas verweht aus und fuchtelte wie wild mit den Armen, die waberten, als bestünden sie aus Gummi.

»Hilda?«, fragte ich.

»Ich wollte gerade gehen. Ich war sogar schon beim Gartentor und dann … Aus die Maus! Vorbei! Es ging einfach nicht mehr weiter.«

»Was meinst du?«

»Ich kann nicht weg! Irgendwas stimmt nicht.« Tränen kullerten ihre Wangen herunter und ihr Gesicht zerlief. »Ich kann nicht raus! Dieses Haus ist ein Gefängnis.«

Sie schlug die Finger in ihre Wangen und schrie so laut, dass mein Trommelfell wehtat. Dabei schmolz und wuchs sie zur selben Zeit. Innerhalb weniger Sekunden tränkte sie den Boden und die Wände, aber dieses Mal war es anders als zuvor. Ihr Hilferuf brachte alles in mir zum Vibrieren.

Oh nein! Das war schlecht!

»Hilf mir! HILF MIIIRRR!«

»Beruhig dich, Hilda!«

»Sehen Sie?«, sagte Gregory zu Ms Murphy gewandt. »Das Mädchen ist verrückt.«

Ja. In diesen Momenten begann sogar ich, meinen Geisteszustand anzuzweifeln. Wie sonst konnte es sein, dass niemand bemerkte, dass das Haus gerade zu versinken drohte?

Ich hatte Geister schon mein Leben lang gesehen. Doch so etwas hatte ich noch nie erlebt.

Fieberhaft dachte ich nach. Hilda wollte nicht länger in diesem Haus sein. Sie wollte weg und doch hatte man ihre sterblichen Überreste ausgerechnet hier untergebracht.

Die Urne!

Es war eigentlich ziemlich eindeutig.

Ich presste mir die Hände auf die Ohren und marschierte durch den silbernen, schreienden Geistersee, der mir mittlerweile bis zu den Knien reichte, auf die Vitrine zu, auf der das weiße Gefäß mit dem goldenen Rand thronte.

»Hilf mir!« Ich spürte, wie eine Welle der Verzweiflung mich überrollte und mir die Luft zum Atmen nahm. »Ich will nicht meinen Tod lang hierbleiben!«

»Echo! Was tust du denn da?«, rief Ms Murphy, als sich meine Finger um die Urne schlossen.

»Ich befreie Hilda!«

Die Browns setzten sich zeitgleich in Bewegung, während ich den Deckel abdrehte.

Gregory erreichte mich als Erster. Er riss mir das Gefäß aus der Hand, aber es war schon zu spät. Eine graue Wolke stob aus der Öffnung und ihm ins Gesicht.

Schlagartig verstummte Hilda und die Verzweiflung, die eben noch wie ein stickiges Gift den Raum getränkt hatte, war verflogen.

Gregory starrte fassungslos auf seine grauen Hände. Dann räusperte er sich ein letztes Mal, bevor er in Ohnmacht fiel.

»Hildi!!!! Mein Gott! Hildi!!!!«, kreischte Sylvia.

»Tut mir leid, aber sie wollte frei sein«, versuchte ich zu erklären und betete, dass die Browns nicht sahen, dass Unfug in diesem Moment anfing Hildas Überreste von der Wand zu lecken.

»Nehmen Sie dieses Mädchen mit, Ms Murphy!«, schrie Sylvia hysterisch. »Ich will sie nie wieder sehen.«

Nun, das konnte ich verstehen, wenngleich ich mir sicher war, dass Hilda nun an einem besseren Ort weilte.

4 – Königin mit Hausarrest

Adelina Lighttower

Meine Tante saß mir gegenüber und funkelte mich über den Esstisch hinweg an. Jedes Mal, wenn sie mich so ansah, zog sich mein Herz zusammen und ich musste dem Drang widerstehen, mich klein zu machen. Als zukünftige Königin sollte ich mich vor nichts und niemandem fürchten, aber die Wahrheit war: Tante Corentine machte mir Angst.

»Ich verstehe das nicht. Der Plan mit den Pixies war absolut perfekt. Wie konnte das schiefgehen?«

»Perfekt?« Meine Mutter kochte. Immer wenn sie aufgebracht war, standen ihr die Haare zu Berge. Wortwörtlich. Ich war fest davon überzeugt, dass das ein Überbleibsel unserer Sturmkräfte war. »Hast du dir Adelina mal angesehen?«

»Was soll mit ihr sein?«

Meine Mutter stand so ruckartig auf, dass ihr Stuhl umkippte. Gleichzeitig hoben ihre Haare noch ein paar Zentimeter mehr ab. Sie wirkte, als hätte sie in eine Steckdose gefasst. »Sie sieht verkohlt aus. Würdest du nicht sagen, dass sie verkohlt aussieht?«

Tante Corentine verdrehte die Augen. »Ihre Kleidung ist ein wenig mit Ruß beschmiert und sie hat Brandblasen. Kein Grund, sich aufzuregen.«

»Du bist zu weit gegangen. Sie hätte sterben können.«

»Sie kann nicht sterben, bevor sie nicht ihre Prophezeiung erfüllt hat, denn sonst wäre sie nicht die Auserwählte. Also beruhig dich, Schwester. Solange die Alchemisten nicht vernichtet sind, kann ihr nichts passieren. Das ist ja der Witz.« Corentine wandte sich mir zu. »Hast du dich wirklich ganz auf die Gefahr eingelassen?«

»Das habe ich, Tante.«

Ihre Augen verengten sich. »Wie bist du dann aus dem brennenden Schuppen entkommen?«

»Die Pixies waren plötzlich … weg.«

»Es sieht ihnen aber gar nicht ähnlich aufzugeben.« Sie erhob sich. Eigentlich war ich geschickt mit Worten und redete gerne, aber in der Gegenwart meiner Tante war mein Kopf wie leer gefegt.

»Adelina?« Ihre Stimme nahm einen drohenden Unterton an. »Sag mir die Wahrheit.«

»Ich … Also … Da war dieser Alchemist.«

»Bitte was?«

»Er hat …« Ich brachte nicht über die Lippen, dass er mich gerettet hatte. Die Schmach war bereits groß genug. »Er hat die Pixies eingefangen und mitgenommen, bevor ich eine Chance hatte, meine Sturmkräfte einzusetzen.«

Meine Tante packte mich am Handgelenk. »Du hast dich von einem Alchemisten retten lassen? Willst du uns zum Gespött machen?«

»Nun ja. Er konnte mich zu dem Zeitpunkt nicht mehr wirklich um Erlaubnis fragen …«

Weil ich quasi halb tot war.

Ihre Finger schlossen sich fester um meinen Arm. Drohend rückte sie näher. »Weiß er, wer du bist?«

»Nein, ich denke nicht.«

»Du denkst?«, wiederholte Tante Corentine, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vor meinem. »Weißt du, was passiert, wenn er es weiß? Was auf dem Spiel steht?«

»Klar. Du erinnerst mich täglich daran.«

Ruckartig ließ sie mich los und holte tief Luft. Einmal. Zweimal. »Morgen fessle ich dich an die Bahngleise.«

»Muss das sein? Ich …«

»Es muss und bis dahin hast du Hausarrest.«

Als ich frisch geduscht im Schlafanzug mein Zimmer betrat, um mich den Rest der Nacht in Selbstmitleid zu suhlen, saß dort ein Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren auf meinem Bett. Tilly. Eigentlich Theodora. Eine Hexe von nebenan. So gut wie nie ohne Handy anzutreffen. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und hatte einen schrecklichen Modegeschmack. In ihrem rechten Ohr baumelte ein Turmalin-Totenkopf, der Edelstein der Familie Chatterly.

»Guten Morgen. Was läuft bei dir? Will dich deine Tante mal wieder umbringen?«

»Wie bist du hier reingekommen, Tilly?«

»Durchs Fenster.« Sie tippte gelangweilt auf ihrem Handy herum.

»Und warum bist du hier?«

»Hab ein paar Clips für WITCHIN gedreht, weil dein Zimmer größer ist als meins.«

WITCHIN war das soziale Netzwerk für Hexen, in das man nur mit einer Einladung hereinkam. Meine Tante hatte mir einen Account angelegt, aber ich war nicht mehr aktiv, denn jedes Mal, wenn ich etwas postete, kam die Frage auf, ob ich den Fluch bereits gebrochen hätte. Das war auf Dauer einfach zu entwürdigend, weshalb ich plante erst als Königin zurückkehren.

»Schön, dass dir mein Zimmer gefällt, aber könntest du jetzt gehen? Ich war die ganze Nacht wach und muss schlafen.«

»Tu dir keinen Zwang an.«

»Du liegst auf meinem Bett«, erinnerte ich sie.

Sie ignorierte mich und tippte wieder auf ihrer Tastatur herum. »Hast du mitbekommen, dass die Alchemisten eine Hexe suchen?«

Ich erstarrte. »Nein … Weshalb?«

»Beleidigungen und Diebstahl. Sie haben ein Phantombild rausgegeben. Erinnert dich das an wen?«

Sie hielt mir ihr Handy unter die Nase und meine Innereien zogen sich zusammen. Herzförmiges Gesicht, kleine Nase, volle Lippen und langes rotes Haar.

Das war eindeutig ich. Auch wenn ich in Wirklichkeit viel hübscher war.