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Was ist der Sinn des Lebens und wie kann man weiterleben wenn man ein Trauma erlebt hat? Der Protagonist hat alles verloren. Der Krieg hat sein gesamtes Leben ausgebrannt, jede Hoffnung dahin, jeder Sinn dahin, alle Menschen dahin. Wie kann man da in den Frieden zurückkehren, in ein Leben?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Die vergessene Melodie
Kommt zu mir. Setzt euch zu mir in den Schatten der Eiche. Soll ich euch eine Geschichte erzählen? Wollt ihr sie hören meine Geschichte? Sie ist wahr und doch erdacht. Sie spielt in der Vergangenheit und in der Zukunft. Jenseits der Grenzen eures Geistes und doch darin. Das hört sich ja ziemlich kompliziert an, denkt ihr euch sicherlich jetzt, aber das ist sie gar nicht.
Sie ist sogar sehr einfach. Vielleicht einfacher als jede andere Geschichte, die ich euch bisher erzählt habe. Meine Geschichte handelt von einem Baum. Es ist nicht etwa ein verzauberter Baum und er besitzt auch keine magischen Kräfte. Es ist ein ganz gewöhnlicher Baum. Er ist noch nicht einmal ein besonders schöner Baum, sondern ein alter, gebeugter, halb vertrockneter Baum, der nur noch wenige Blätter besitzt. Und doch war etwas Besonderes an ihm, denn er war der letzte Baum auf der Welt. Er war alt. Er war der erste gewesen und nun war er der letzte.
Er stand inmitten eines weiten Graslandes und so war es nicht verwunderlich, daß die wenigen Menschen, die dort lebten, nicht wußten, daß er der letzte war. Die Menschen hatten von riesigen Wäldern jenseits der Grenzen ihres Landes gehört und warum sollten sie annehmen, daß diese einfach verschwunden sein sollten?
Nur der Baum wußte, daß er der letzte war. Die Erde, die alle Bäume verband, hatte ihm Nachricht vom Sterben seiner Brüder gebracht. Nach und nach waren sie alle verstummt und nun war es still, bis auf das Wispern des Grases. Er wußte nicht warum sie alle gestorben waren.
So stand er da in der Stille und wartete, denn mehr konnte er nicht tun. Denn ein Baum kann nicht sprechen, kann sich nicht fortbewegen um zu fliehen. Er muß ausharren und erleiden, was das Schicksal ihm bringt.
Es war ein heißer Sommertag, die Gräser bewegten sich nicht, denn kein Lüftchen regte sich und so brachte nichts Erleichterung in der flirrenden Hitze. Trotzdem spürte der Baum tief in der Erde das Scharren von Maulwurf und Regenwurm, das leise Rascheln von Mäusen und Käfern im Schatten der Grashalme, das Summen von Insekten in der Luft und weit entfernt im stahlblauen Himmel hin und wieder den trägen Flügelschlag eines Adlers. Darüber hinaus aber war da noch etwas, weit weg, was nicht so oft vorkam, der schlurfende, müde Schritt eines Menschen. Die Schritte näherten sich.
Ein Mann bewegte sich dort über das Grasland. Seine Gestalt war mager und gebeugt und jeder Schritt schien ihm Mühe zu bereiten. Alles an ihm wirkte struppig, schmutzig und zerschlissen. Haar und Bart wirr, das Gesicht grau, die Augen umschattet, die Wangen eingefallen. Die Kleider schlotterten ihm am Leib und schienen nur noch von Dreck und Blut zusammengehalten zu werden, es war kaum zu erkennen, daß sie einmal eine Uniform dargestellt hatten. Auch die Stiefel waren rissig und löchrig, die Sohle hatte sich an einem gelöst und in der Spalte sammelten sich Grashalme, die abgerissen wurden, während er die Füße müde durchs Gras schleifte. Auf seinem Rücken hing ein kleiner Ranzen, ebenso löchrig und zerschlissen und schmutzig wie alles andere. Viel mochte nicht darin sein. Am Gürtel ein Holster, etwas steckte darin, doch es war keine Waffe. In der schlaffen Hand hielt er aufgerollt ein ausgefranstes Stück Seil. Er hatte es einfach in der Hand behalten, als er das Pferd freiließ. Es war ein elendes, dürres Vieh gewesen, dem Tode geweiht, denn der Strick hatte sich verfangen und es hatte nicht mehr geschafft sich zu befreien. Vielleicht hatte es auch einfach keine Kraft mehr dazu gehabt oder auch nur den Willen dazu. Zitternd mit leerem Blick hatte es schwankend dort gestanden, das Fell verdreckt und zerzaust, übersät mit Narben und Wunden, inmitten einer leeren Mondlandschaft geschaffen vom Krieg. Der Strick hatte sich an einem großen Trümmerteil aus Metall verhakt, das aus der Erde ragte. Überall lagen diese Trümmer, er wußte nicht, was sie einmal gewesen waren, im Grunde war es ihm auch völlig egal. Er wollte nur weg von diesem Ort. Trotzdem hatte er angehalten und den Strick mühsam gelöst. Gerade als es ihm gelungen war, versagten die Beine des Pferdes und es stürzte zu Boden. Das Tier hatte dabei keinen Laut von sich gegeben. Lange hatte er auf das Pferd hinuntergesehen, das nicht einmal den Versuch unternahm wieder aufzustehen, sondern nur mit stumpfen Augen in die Ewigkeit zu blicken schien.
Letztlich kniete er sich an den Kopf des Tieres und legte die Hand auf den bebenden Hals. Er begann beruhigend auf das Tier einzureden. Die großen Ohren schienen sich auf seine Stimme zu richten. Ihm war nicht recht klar, was er tun konnte. Mit Pferden kannte er sich nicht im geringsten aus. Er streifte seinen Ranzen von den Schultern und holte seine Wasserflasche heraus. Vorsichtig benetzte er das Maul des Pferdes. Die Lippen des Tieres bewegten sich und es schnaubte leise. Noch einmal befeuchtete er das Maul, dann legte er die Wasserflasche beiseite und hob den Kopf des Pferdes an. Irgendwie schien es zu spüren, daß er ihm helfen wollte und mit seiner Hilfe gelang es ihm tatsächlich sich erst aufzusetzen und dann mit einer letzten Kraftanstrengung wieder auf die Hufe zu kommen. Es schwankte, die Beine zitterten aber es stand wieder. Er flößte ihm noch einmal Wasser ein, bis seine Flasche leer war. Danach holte er einen Großteil der Notrationen aus seinem Ranzen und begann sie an das Pferd zu verfüttern. Dieses wenige an Wasser und Futter brachte die Lebensgeister ein wenig zurück, gerade so viel, daß er es ein Stück weiter führen konnte zu einem Granattrichter in dem sich ein Rest Regenwasser gehalten hatte. Dort trank es gierig. Zusammen schlurften sie dann weiter und ließen die Ödnis langsam hinter sich. Schließlich gelangten sie zu einem Tümpel, an dessen Rand ein wenig mattes Gras wuchs. Dort rasteten sie. Das Pferd begann das Gras abzuweiden. Er selbst füllte seine Flasche und nickte ein. Wie immer währte sein Schlaf nicht lange, denn er war erfüllt von Bildern der Gewalt und des Schreckens, der Angst und des Grauens. Sie zogen irgendwann weiter bis sie dieses weite Grasland betreten hatten. Hier war der richtige Ort das Pferd freizulassen, dachte er, denn frei sollte es sein solange sein Leben noch währen mochte. Jedes Leben sollte frei sein, fand er, jedes. Er hatte das Seilhalfter vom Kopf des Tieres gestriffen. Zuerst hatte es nur dagestanden und nicht verstanden was es nun tun sollte. Noch einmal hatte er den Hals des Pferdes berührt, bevor er es wegdrückte und ihm einen Schlag auf die Flanke gab. Das Tier hatte ein paar Schritte gemacht, um dann stehen zu bleiben und zu ihm zurückzublicken. Er selbst hatte sich abgewandt und war weitergegangen. Einige Schritte war das Pferd ihm gefolgt, schließlich aber blieb es zurück und begann das saftige Gras zu fressen.
Während der Soldat weiterwanderte hatte er das Seilhalfter aufgeknüpft, das Seil aufgerollt und es einfach in der Hand behalten. Zuerst ging er ohne Ziel gedankenlos vor sich hin, zu müde und zu leer. In der Ferne hatte er dann den Baum entdeckt und in der Weite des Graslandes schien es ihm ein verlockendes Ziel. Schon seit sehr langer Zeit hatte er keinen Baum mehr gesehen.