Die Vergessenen Schriften 10 - Markus Heitz - E-Book

Die Vergessenen Schriften 10 E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

SPIEGEL-Bestsellerautor Markus Heitz führt alle Fans der Albae in neue Abenteuer und enthüllt die Geschichten, die in den Romanen noch nicht erzählt wurden - Geheimnisse werden gelüftet, Schicksale geklärt und von legendären, vergessenen Taten der dunklen Geschöpfe berichtet.

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Vollständige E-Book-Ausgabe 1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96250-6

© Piper Verlag GmbH 2013 © 2013 Markus Heitz vertreten durch: AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur www.ava-international.de Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Albae-Anthologie

DIE LEGENDEN DER ALBAE

– Die Vergessenen Schriften –

X

Dies sind die Vergessenen Schriften.

Sie erzählen von den bekannten und unbekannten Helden meines Volkes.

Von den größten Geschichtenwebern, den herausragendsten Künstlern.

Aber auch von den schrecklichsten Feinden und den innigsten Freunden.

Legenden, Geschichten, Märchen, Gedichte, Lieder

– sie wurden von mir gesammelt, dem Untergang entrissen und bewahrt, damit sie nicht gänzlich verloren gehen.

Wir Albae mögen unsterblich sein, und doch können wir vergessen werden.

Du, der diese Werke liest, schließe sie in dein Herz und halte sie. Halte sie sicher, trage sie weiter.

Verkünde sie und lasse sie erklingen.

DAS ist wahre Unsterblichkeit!

aus den Vergessenen Schriften,

gesammelt und aufgezeichnet von

Carmondai

dem Meister in Bildnis und Wort

Von Elben, Botoikern und einem Ghaist

der Geschichte zweiter Teil

Die Erwähnung ihrer Namen löst epische Bilderfluten aus, monumentale Geschichten entfalten sich ungefragt in den Köpfen derer, die den Klang vernehmen:

Sinthoras und Caphalor.

Auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein konnten, so hielten die beiden Albae meist zusammen wie Geschwister.

Sie erlebten Höhen und Triumphe wie die wenigsten unseres Volkes, und sie durchlitten Tiefen, die man sich kaum vorzustellen vermag. Der Verlust von Ansehen und Titel mag dabei noch das geringste aller Schrecknisse gewesen sein.

Doch endete ihr Schicksal nicht mit dem ersten Einfall nach Tark Draan.

Vieles, was später geschah, geriet in Vergessenheit, da ihre Zeit als Nostàroi alles überstrahlte.

Anderes wiederum wird gelegentlich erzählt, da auch manch kleineres Abenteuer von Bedeutung ist.

Wie dieses, von dem ich nun berichte.

Den ersten Teil durftet ihr bereits erfahren.

Nun vernehmt, welchen Verlauf diese Unternehmung der beiden nahm, was sie über das Ghaist, die Botoiker und jenen Fleck im Grauen Gebirge in Erfahrung brachten, den die Zehn viele Teile der Unendlichkeit nach ihnen erneut betraten.

Zumindest nehme ich das an …

Carmondai

Meister in Bildnis und Wort

Tark Draan (Geborgenes Land), Graues Gebirge, Steinerner Torweg, 4372. Teil der Unendlichkeit (5202. Sonnenzyklus), Frühwinter

Caphalor fluchte und schob sich noch näher an die Bergwand, um dem schneidenden Wind zu entgehen, der ihm und Sinthoras entgegenschlug. Welch Unterfangen, zu Beginn des Winters.

Er hatte zwei Lagen Kleidung unter der Rüstung und über dem schwarzen Tionium einen dicken Mantel und das schwarze Wolfsfell. Dennoch brachte ihn die Kälte an den Rand des Ertragbaren. Wie konnte Sinthoras diesen Irrsinn in Angriff nehmen? Er richtete die Haube aus vierfacher Drî-Seide und Schafwolle, die er unter dem Helm trug. Wie konnte ich ihm folgen?

Zwei Schritte vor ihm kämpfte sich der blonde Alb durch den Sturm, stützte sich auf seinen Speer und hielt den Kopf gesenkt, damit die eisigen Böen nicht unmittelbar in sein Antlitz bliesen. Sein grauweißer Mantel mit den schwarzen Stickereien flatterte und wand sich hektisch, als steckte dämonisches Leben darin. »Wir gehen zu dem Dorf«, schrie er gegen das grelle, allgegenwärtige Surren an und wies nach Norden. »Der Wind wird uns sonst das Blut in den Adern gefrieren lassen.«

Caphalor blickte in die angegebene Richtung und machte in der Mischung aus Dunkelheit und dahinjagendem Schnee schwache Lichter aus. »Wir sind im Norden von Tark Draan«, rief er zurück. »Sie wissen, dass wir keine Elben sind. Wir werden die Barbaren töten müssen, um uns an ihren Feuern zu wärmen, und ich spüre meine Finger kaum vor …«

»Was?«, brüllte Sinthoras und deutete auf sein Ohr zum Zeichen, dass er ihn nicht verstand.

Caphalor verzog den Mund und gab mit einer Hand das Zeichen, sein Freund möge den Weg fortsetzen. Dann töten wir sie eben, auch wenn Eis in meinen Adern knirscht und mich langsamer als einen fetten Óarco werden lässt.

Die Albae wichen von dem schmalen Pfad ab, den sie mit Mühe gefunden hatten, und hielten auf die Siedlung zu.

»Wo schlagen wir unser Nachtlager auf?« Sinthoras ließ seinem Begleiter die Wahl.

Caphalor betrachtete die gedrungenen Steinhütten, denen der Wind nichts anhaben und von denen der Alb sich genau ausmalen konnte, wie es darin aussah: karg, verqualmt, dreckig und keinerlei Annehmlichkeiten, wie er es gewohnt war. Fast wäre er bereit gewesen, eine einfache Höhle diesem Dorf vorzuziehen, aber ohne Brennholz würden sie die Nacht nicht überstehen.

Weder gab es Wachen noch Bewohner auf der verschneiten Straße, ihre Ankunft blieb vollkommen unbemerkt. Er konnte es sich sparen, den Bogen von der Schulter zu nehmen.

Sein Blick fiel auf das kleinste Häuschen, in dem höchstens ein halbes Dutzend Barbaren lebten. Das verlangt am wenigsten Arbeit. »Das da.«

»Wieso denn ausgerechnet diese winzige Behausung?«, wunderte sich Sinthoras. »Wir werden uns darin kaum umdrehen können.«

Caphalor übernahm die Führung. »Weil ich keine Lust auf Schlachterei verspüre. Und bitte vermeide es, viel Blut zu vergießen. Wir müssen noch darin schlafen. Der Geruch von vergossenem Barbarenblut ist nicht das, womit ich einschlafen und aufwachen möchte.«

Der blonde Alb folgte ihm leise lachend.

Sie gingen auf das Haus zu, spähten durch die Läden ins Innere und sahen im Schein des Feuers, das in der Mitte des Bodens loderte, eine Barbarin und einen Barbaren in sehr schlichter Wollkleidung sitzen, die sich unterhielten und dabei schäumendes, dampfendes Bier tranken.

Caphalor deutete auf die Leiter, die hinauf in eine niedrige Etage führte; der Fellvorhang war vor der letzten Sprosse zugezogen. »Da oben schläft ihre Brut.«

Sinthoras grinste. »Sollen wir den Bewohnern ein Rätsel hinterlassen?« Er legte eine Hand auf die grob geschmiedete Klinke und drückte sie ruckartig hinab, während gleichzeitig der Feuerschein im Innern der Hütte durch seine albische Kraft erlosch.

Caphalor sah ihn noch hineinhuschen, dann erklangen zwei pfeifende, dunkle Geräusche, gefolgt von einem trockenen Knacken. Gleich darauf flackerten die Flämmchen wieder höher und sorgten für Licht.

Barbarin und Barbar lagen halb übereinander, die Bierkrüge waren ihnen aus den kraftlosen Händen gefallen; der Inhalt ergoss sich auf den Steinboden und versickerte in den breiten Fugen.

Sinthoras stand hinter den Leichen und stützte sich auf seinen Speer. »Ganz ohne Blutvergießen, wie du es wünschtest«, sagte er leise und deutete mit der freien Hand darbietend auf die Toten.

»Du brachst ihnen das Genick«, mutmaßte Caphalor.

»Ganz recht. Zwei schnelle, harte Schläge des Speerschafts in den Nacken der Ahnungslosen, und da war es vorbei mit ihren armseligen Leben.« Er zeigte zur Koje hinauf. »Später schreibe ich noch eine Botschaft in den Dreck, damit die Bewohner grübeln können, warum die Nachkommen ihre Eltern töteten.« Er lachte düster. »Den Prozess würde ich zu gerne verfolgen.«

Caphalor war es ganz recht, dass sein Begleiter nicht anfing, die Brut ebenso umzubringen. Das können wir tun, falls sie wach werden. Er war müde und wollte sich an den Flammen wärmen. Dass er seine Zehen und Finger nicht mehr spürte, entsprach der Wahrheit. »Halten wir Wache?« Er schaute sich um und warf zwei Scheite mehr ins Feuer, dann setzte er sich daneben und reckte die Hände nach vorne.

»Ich verlasse mich auf meine Kriegersinne«, gab Sinthoras zurück und ließ sich ebenso nieder, um sich hinzulegen und die Lider zu schließen. Er streifte sich noch Helm, Haube und Handschuhe ab. Das blonde Haar war verknotet, sodass es nicht mit der Erde in Berührung kam. »Kinder fürchte ich nur, wenn sie mit mir spielen möchten.«

Caphalor grinste. Das Kribbeln in Zehen und Fingern zeigte ihm, dass Leben in seine eisigen Gliedmaßen zurückkehrte.

Er zog ebenso seinen Kopf- und Wärmeschutz aus, lauschte nach Geräuschen, die von der Barbarenbrut stammten, vernahm aber nichts. Gut. Dann kann ich beruhigt sitzen bleiben. Mit einer kurzen Bewegung schüttelte er die schwarzen Haare auf, die Kopfhaut juckte.

Er dachte an seine Gefährtin Imàndaris, die als Befehlshaberin im neu entstehenden Dsôn Anweisungen gab, Truppen aufteilte und die Eroberungen der Elbengebiete unerbittlich anging, unterstützt von Kriegern und Meistern der Kampfkunst. Jeder dient den Unauslöschlichen, wie er es am besten vermag.

Caphalor betrachtete es als Erleichterung, das Amt eines Nostàroi nicht mehr versehen zu müssen. Für ihn hatte es letztlich eine Bürde bedeutet, aber sein von Ehrgeiz beherrschter Freund Sinthoras wäre gerne zurück auf diesem Posten, bewundert und gefeiert.

Darauf wird er noch lange warten müssen. Er machte sich im alten Dsôn zu viele Feinde. Da mag es keine Rolle spielen, dass er seine Strafe offiziell verbüßte. Auch wenn die größten Neider, lautesten Missgünstlinge und mächtigsten Gegenspieler des blonden Albs beim Untergang von Dsôn Faïmon ihr Ende fanden, blieben die Gerüchte und das Gerede. Darauf zu hoffen, dass das Gedächtnis von Unsterblichen nachließe, wäre sträflich. Caphalors Magen grollte. Mit der Wärme und dem Gefühl in den Gliedmaßen kam der Hunger. Das Gerücht ist unsterblicher als alles andere.

Caphalor blickte sich erneut um und entdeckte nichts, was er in seinen Innereien wissen wollte. Weder der geräucherte Schinken noch die Käseleiber oder die Brotstücke wirkten ansprechend geschweige denn verträglich. Seufzend nahm er eine Ration des getrockneten Fleischgetreideriegels heraus und aß davon.

Dass das Herrscherpaar sie tatsächlich ausgesandt hatte, um zu prüfen, was es mit diesem Fleck im Grauen Gebirge auf sich hatte und ob dort wahrlich Elben lebten, vermochte er noch immer kaum zu glauben.

Zuerst hatte er Sinthoras verdächtigt, das Schreiben, das er ihm zeigte, selbst verfasst zu haben, um ihn auf das Abenteuer mitzunehmen. Aber das Siegel erwies sich als echt, und so folgte er seinem Freund zunächst zurück zum Durchgang nach Tark Draan, um sich mit ihm von dort nach Osten durchzuschlagen, immer dem vagen Weg der fleckigen Karte des Elbs nach.

Caphalor beugte sich nach vorne und zog die Transporthülle aus Sinthoras’ Rucksack, schob die Karte hervor, um sie erneut zu betrachten.

Es glich einem Wunder, dass überhaupt etwas zu erkennen war. Oder führt er uns aufs Geratewohl und tut nur so, als wisse er, wohin wir gehen? Das Misstrauen war nicht böse gemeint, doch die Vergangenheit lehrte ihn, bei seinem Freund mit allem zu rechnen.

Und doch würde er ihm sein Leben jederzeit anvertrauen.

Caphalor hob die Karte an, damit der Feuerschein von der Gegenseite darauf fiel und vielleicht Verborgenes zutage förderte.

Doch sie sah noch immer aus wie ein sehr schlampig behandeltes Stück Pergament, dem man ansah, dass es schon viele Besitzer gehabt hatte.

Er konnte es drehen, wie er wollte: Es blieb ein kaum wahrnehmbarer Strich in dem zerschlissenen Material, den Sinthoras als Pfad und Weg deutete, sowie ein Fleck als Ziel ihres Ausfluges im Namen der Unauslöschlichen an einen sehr, sehr unwirtlichen Ort im Grauen Gebirge.

Wieso sollten dort Elben leben? Caphalor verzog den Mund, das Missfallen ließ sich nicht verbergen. Nichts gedeiht in dieser Höhe, es sei denn, sie vermögen es, Schnee und Eis zu Essbarem zu verwandeln.

In ihm wuchsen die Zweifel, dass sie die Siedlung der Todfeinde tatsächlich erreichen konnten.

Wenn der nahende Winter hier tobt, was tut er erst weiter oben in den Bergen? Er warf seinem schlafenden Freund einen anklagenden Blick zu. Ich wette, du hast dem Herrscherpaar diesen Einfall erst in den Kopf gesetzt. Sie halten es für ebenso abstrus wie ich, weswegen sie nur uns und kein Heer entsandten.

Seine Müdigkeit steigerte sich.

Caphalor legte eine Hand an den Dolchgriff, bevor er sich mit dem Rücken gegen einen Stützbalken lehnte und die Lider schloss. Mit etwas Beistand, Samusin, kann ich Sinthoras davon abbringen. Ich wäre lieber bei meinen Leuten.

So sehr er es versuchte: Der Gedanke an den Späher der Botoiker ließ ihn nicht los, obwohl die Unauslöschlichen nichts darauf gaben und Sinthoras nur mit den Schultern gezuckt hatte.

Beide Verhaltensweisen empfand Caphalor nicht als weise.

Wenn der Schlaf dem Gefühl wich, dass etwas nicht stimmte, hinterfragte Caphalor sein Erwachen nicht.

Regungslos verharrte er am Pfeiler, schaute durch einen dünnen Spalt zwischen den Lidern und suchte zu ergründen, was ihn aus dem Schlummer geholt hatte.

Zwar gab es in dem schwach von den Flämmchen beleuchteten Zimmer nichts zu sehen, doch er vernahm leise Kinderstimmen, die tuschelten.

Die einfache Sprache der Barbaren verstand er mittlerweile gut. Wenn er deren gedämpfte Unterredung richtig deutete, ging es darum, ob sich eines der Blagen durch den Sturm zum Abort kämpfen sollte oder ob es durchhielt, bis der Wind nachließ.

Lautlos erhob er sich und schlich sich zur Treppe, zog den Dolch und lauerte, dass der Fellvorhang aufgezogen wurde. Sollte dies geschehen, würde es doch zum Blutvergießen kommen. Ich wünsche dir eine Blase, die groß genug ist. Zu deinem eigenen Wohl, kleiner Barbar.

Das Flüstern endete.

Dann rutschte ein leichter Körper über die Dielen, Staub rieselte durch die Spalten der Bohlen. Kleine Finger streckten sich durch den Spalt im Vorhang.

Caphalor hob den Dolch und machte sich bereit.

Eine laute Böe pfiff um das Haus, das Gebälk knirschte leidend. Schnee und Eiskristalle jagten gegen die Läden und waren fast so laut wie das knackende Feuer.

»Hörst du, wie es stürmt und heult? Bleib drin«, hörte Caphalor ein Mädchen sagen. »Du wirst draußen erfrieren.«

»Aber ich …«

Der schwarzhaarige Alb spannte die Armmuskeln. Überleg es dir.

»Es wird bald hell, und dann legt sich der Sturm«, beruhigte das Mädchen. »Du hättest nicht so viel trinken sollen.«

Die Finger ließen die weiche Kante des Vorhangs los und wurden wieder zögerlich zurückgezogen; das Scharren zeigte Caphalor, wo sich der Spross niederließ. Es wäre ein Leichtes, mit der Klinge durch den Spalt zu stoßen und den Barbarenknaben zu töten. »Lange halte ich es dennoch nicht mehr aus.«

Eine Decke raschelte, dann wurde es wieder still in der Hütte.

Du schuldest deiner Schwester dein Leben. Erst nach einer Weile zog sich Caphalor zurück und verstaute den Dolch. Da es bald hell wird, sollten wir verschwinden.

Behutsam weckte er Sinthoras und deutete an, dass sie sich für den Aufbruch bereit machen sollten.

Nachdem der blonde Alb seine Nachricht neben die Toten und von außen mit einem Stück Kohle gegen die Tür geschrieben hatte, um auf den Mord der Brut an ihren Eltern aufmerksam zu machen, verließen sie das Dorf, dessen Namen sie nicht erfahren hatten.

Der Wind ebbte ab, sobald sie die letzte Steinhütte passiert hatten, als wollte die Witterung ihnen zeigen, dass die Vorzeichen für die Wanderung besser standen als am Tag zuvor.

Sinthoras schritt voran und kehrte auf den Pfad zurück, den er unmöglich ohne die Karte gefunden hätte.

Darauf vermag kein Heer zu marschieren. Caphalor folgte seinem Freund mit einigem Abstand und nahm das Verfluchen der Berge alsbald erneut auf. Es gab einen Grund, warum darin die Unterirdischen hausten und nicht sein Volk.

Tark Draan (Geborgenes Land), Graues Gebirge, Steinerner Torweg, 4372. Teil der Unendlichkeit (5202. Sonnenzyklus), Winter

Da vorne ist der Gipfel. Caphalor sah die Zacken, die sich am höchsten Punkt des Pfades zu einer Krone formten. Keuchend sog er die Luft ein, die nicht auszureichen schien, seine Lungen zu füllen. Damit haben wir das Ziel fast erreicht.

Der Aufstieg nahm mehr Momente der Unendlichkeit in Anspruch, als sie beide gedacht hatten, was vor allem am Wetter lag, das den Albae keinerlei Schonung gewährte. Inzwischen waren Sinthoras und Caphalor glücklich, wenn es bei dem eisigen Wind blieb. Die Temperaturen fielen beständig, und sobald Schnee, tief hängende Wolken und Gewitter hinzukamen, mussten sie den beschwerlichen Aufstieg unterbrechen und Schutz unter Vorsprüngen oder in Einbuchtungen suchen.

Dazu gesellten sich die Strapazen der Höhe, in die sie sich begaben. Kopfschmerzen fühlten beide, das Atmen fiel schwer, und nach jeweils zwanzig Schritten mussten sie innehalten und die dünne Luft wie Ertrinkende einsaugen.

Doch was immer Caphalor auch anführte, um seinen Freund zur Umkehr zu bewegen, er scheiterte mit seinen Gründen. Sinthoras war beseelt davon, an diesem Fleck hinter der gezackten Bergspitze anzukommen.

Ich hätte ihm eine Wette vorschlagen sollen, was er mir schuldet, wenn wir nichts finden außer noch mehr Schnee. Caphalor wischte die Eiskristalle an Helm und Haube weg, die sich vor Mund und Nase gebildet hatten. Knisternd brachen sie ab und fielen in weiteres Weiß.

Sinthoras ließ sich nicht mehr aufhalten. Er befand sich bereits bei der namenlosen Felsformation und verschwand zwischen den emporragenden, großen Steinen. Caphalor hatte noch einige Schritte vor sich und stapfte langsam wie ein Barbarengreis heran.

Er fand seinen Freund auf der anderen Seite, locker gegen das Gestein gelehnt und nach unten blickend.

Was mag es wohl zu betrachten geben? »Siehst du eine goldene Elbenstadt?«, neckte er ihn kurzatmig. »Oder macht dich die Enttäuschung unbeweglich wie eine Statue?« Caphalor begab sich an seine Seite – und konnte sein Staunen unmöglich verbergen: Weiter unterhalb der zackenartigen Spitze machte er etwas Grünes aus, das umgeben von klirrendem Eis, Firn und Schneemassen lag. Ist das wahrhaftig … ein Tal?

Sinthoras hob die rechte Hand, in der er die Karte hielt. »Was macht dich unbeweglich wie eine Statue?«, gab er leise zurück und lachte. »Wir haben die Siedlung gefunden.«

»Wir sehen ein Tal, das aus irgendwelchen Gründen vom Winter verschont bleibt«, verbesserte Caphalor.

»Magie. Was sonst?«

»Eine heiße Quelle, deren Hitze ausreicht, um die Kälte abzuwehren. Oder das Gestein selbst ist …«

Sinthoras wandte sich um und schenkte ihm einen beleidigten Blick. »Du machst mir meine Entdeckung madig?«

»Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du zu viel annimmst. Und das führt zu Trugschlüssen und Folgen, die schlecht für uns sein können.« Caphalor gefiel sich nicht in der Rolle des Besserwissenden, aber bevor eine Katastrophe geschah, wollte er Gewissheit haben über die Dinge, die in dem Tal vorgingen. »Gegen das Annehmen hilft Nachschauen.« Er ging los.

Sinthoras verstaute die Karte und schloss zu ihm auf, dann hielt er ihn am Arm fest. »Sie werden uns sehen!«

»Würde ich dort leben, hätte ich einen Wächter auf dem Gipfel postiert, der mir sofort ein Signal gibt, sobald sich Unbekannte nähern.« Caphalor löste die Hand seines Freundes und ging weiter. »Weder sah ich dort oben Spuren noch hörte ich einen Hornruf oder sah Reste von Feuerholz oder auch nur eine Schale. Wer solche Fehler begeht, stellt auch weiter unten keine Späher auf.«

Sinthoras eilte erneut an seine Seite.

»Aha. Sag: Ist das nun auch eine Annahme, die zu Folgen führt, die schlecht für uns sein können?«, erkundigte er sich spitz.

Caphalor grinste. »Nein. Das ist Erfahrung.«

Gemeinsam gingen sie auf das Tal zu, das sie auf eine Länge von zwei Meilen und eine Breite von einer halben schätzten.

Weitläufige Terrassen waren in den Fels geschlagen worden, auf denen Bäume und Getreidehalme gediehen; an manchen Ästen leuchteten reifende Früchte in der Wintersonne. Ihr süßer Geruch strömte bis zu den Albae herauf.

Sie sahen Steingebäude, deren eigentümliche Formen eindeutig für Elben als Urheber sprachen und deren Dächer aus Reet bestanden. Es gab Brücken von Ebene zu Ebene und Kabinen, die an langen Tauen über das Tal von rechts nach links gezogen werden konnten. Ein Wasserfall ergoss sich schäumend in einen kleinen See und trieb bei seinem Sturz eine Ansammlung von Mühlrädern an, die an die Wand gebaut waren und sich schnell und unaufhörlich drehten.

Was nicht auszumachen ist, sind die Bewohner. Caphalor wurde von einer Anspannung befallen, die sich verstärkte, als sie an den Rand des Tales gelangten. Etwas westlich von ihnen führte eine breite Treppe in Serpentinen hinab. »Keine Befestigungen, keine Wachen«, murmelte er und streckte eine Hand aus. Da nichts kribbelte und auf Magie hinwies, existierte ebenso wenig ein magischer Schild.

»Sie verlassen sich wohl auf die Höhe und ihre geschützte Lage.« Sinthoras hielt seinen Speer nicht mehr locker, sondern kampfbereit; sein Kopf bewegte sich nach rechts und links; er suchte den Ort nach Lebenszeichen ab. »Sie müssen sich vor uns versteckt haben.«

Caphalor konzentrierte seine Blicke auf die Häuser und die Terrassen. Unkraut wucherte zwischen dem Getreide, ganze Holzsegmente fehlten in den gewaltigen Rädern, viele Taue waren verwittert wie die Dacheindeckungen; auf dem Boden lagen die Trümmer von abgestürzten Gondeln und abgerissenen Brücken. Heruntergekommen und verwildert. »Hier lebt niemand mehr«, befand er und setzte den Fuß auf die erste Stufe, verharrte zwei, drei Herzschläge lang, um doch eine mögliche Reaktion abzuwarten, und setzte den Abstieg fort.

Der aufströmende Wind erwärmte sich schlagartig, der Duft von reifem Obst glitt lockend heran. Das Rascheln der Blätter und Halme schuf die Illusion, sich an einem Sommertag in der Nähe von Dsôn aufzuhalten. Aber ein Blick auf das sich türmende Weiß an den Berghängen oberhalb genügte, um Caphalor daran zu erinnern, wo sie sich befanden.

»Ich sah es ebenfalls. Sie haben das Tal aufgegeben.« Sinthoras schritt neben ihm die Treppe hinab und hielt seine Waffe bereit, Caphalor hatte sein Schwert gezogen. »Du hattest recht: Ich fühle keine Anzeichen für starke Magie, die das Wunder bewirken könnte. Nur einen sehr heißen Wind.« Er zeigte nach rechts. »Siehst du die Löcher in den Wänden?«

»Ich sehe sie. Und ich stimme dir zu: Der Wind hat seinen Ursprung im Gebirge.« Er kannte die Geschichten von flüssigem Gestein, das mit enormer Hitze in den Gängen der Berge floss. »Womöglich befindet sich in der Nähe oder sogar hinter den Wänden eine Blase dieser feurigen Lava, die ihre Ausdünstungen in das Tal sendet.«

»Das wäre gefährlich.« Sinthoras bedachte den Felsen mit misstrauischen Blicken. »Wie schnell können diese Gase tödlich wirken?«

»Vielleicht geschah genau dies, und den Elben blieb gerade noch genug Zeit, nach Tark Draan zu flüchten?« Caphalor beschleunigte seine Schritte.

Sinthoras stach im Vorbeigehen mit seinem Speer nach einem Apfel und pflückte ihn vom Baum, nahm einen Bissen und aß mit Genuss. »Süßlich, aber auch mit Säure versehen. Er mundet ausgezeichnet.« Er schüttelte den Kopf. »Und das umgeben vom Eis.« Er zog den Helm ab und riss sich die Haube vom Kopf.

Sie erreichten den Boden und untersuchten die Behausungen, denen man aus der Nähe deutlich ansah, dass sich schon lange nicht mehr um sie gekümmert wurde. Die Verwitterung setzte den Fugen und dem Holz zu, das Reet war löchrig geworden, und die Spinnweben im Innern spannten sich so dick und dicht, dass sie die Gespinste mit Feuerstein und Zunder erst abfackelten, ehe sie einen Fuß in die Häuser setzten.

In der Nähe der Kaskade entdeckten sie verlassene Schmieden, Scheunen und Werkgebäude, deren Hämmer, Dreschflegel und Webstühle durch die Wasserkraft angetrieben worden waren. Aber die Umlenkrollen waren überwiegend auseinandergebrochen, die Zahnräder abgeschliffen und die Seile zerrissen.

Doch nirgends fanden sich Skelette oder Leichenteile oder Gräber.

Ende der Leseprobe