Die verlorene Generation - Christian Hardinghaus - E-Book

Die verlorene Generation E-Book

Christian Hardinghaus

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Beschreibung

Hitlers letztes Aufgebot war minderjährig. Aufgepeitscht durch Kriegspropaganda, glaubten viele Hitlerjungen, sie könnten den Endsieg noch herbeiführen und Deutschland vor dem Untergang bewahren. Etwa 200 000 Luftwaffenhelfer ab 15 Jahren verteidigten schon 1943 deutsche Städte fast im Alleingang; im Herbst 1944 wurde der Volkssturm für alle ab 16 Jahren zur Pflicht, und 1945 missbrauchte die NS-Führung selbst 14-jährige als Lückenfüller und Kanonenfutter in Panzervernichtungstrupps. Allein in den letzten Kriegswochen fielen über 60 000 Kindersoldaten. Die Überlebenden leiden bis heute an verdrängten Kriegstraumata, und die meisten von ihnen konnten oder wollten nie darüber sprechen. Am Ende ihres Lebens berichten 13 Zeitzeugen unbeschönigt von ihren Kindheitserlebnissen während erbarmungsloser Kämpfe oder zermürbender Gefangenschaft. Gewohnt mutig, mit präziser historischer Einordnung und dem Blick auf gegenwärtige Spannungen widmet sich Christian Hardinghaus im dritten Teil seiner »Generationenreihe« den jüngsten Kämpfern des Zweiten Weltkriegs – den heute ältesten Mitgliedern unserer Gesellschaft.

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CHRISTIAN HARDINGHAUS

DIEVERLORENEGENERATION

Gespräche mit den letzten Kindersoldatendes Zweiten Weltkriegs

1. eBook-Ausgabe 2021

© 2021 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Fotos von © ullstein bild – ullstein bild

Bildnachweis: Bundesarchiv, Bild 146-1973-060-72 / CC-BY-SA 3.0 S. 32;

Bild 133-130 / CC-BY-SA 3.0 S. 34; Bild 183-J27050 / CC-BY-SA 3.0, S. 51;

Bild 146-1971-033-15 / CC-BY-SA 3.0, S. 54; Bild 146-1978-013-07, S. 69;

Bild 101I-155-2112A-38A / Noack / CC-BY-SA 3.0, S. 141; Bild 183-11408-0005 / CC-BY-SA, S. 175; Bild 183-J28536 / CC-BY-SA 3.0, S. 189; Bild 146-1981-053-35A / CC-BY-SA 3.0, S. 206; Bild 183-H26408 / CC-BY-SA 3.0, S. 209; Bild 183-N0301-503 / CC-BY-SA 3.0, S. 249; Bild 183-1985-0306-032 / CC-BY-SA 3.0, S. 286https://www.szukajwarchiwach.gov.pl/en/jednostka/-/jednostka/9423960/obiekty/ 562464, S. 38http://mil.ru/winner_may/history/more.htm?id=12226133@cmsArticle, S. 75 Wikimedia Commons, S. 93, 100; pomeranica.pl, S. 185https://www.iwm.org.uk/collections/item/object/205023601, S. 266http://history.amedd.army.mil/books-docs/wwii/EPWs/Fig39p382.jpg, S. 275 Sylwester Braun, S. 293http://media.iwm.org.uk/iwm/mediaLib//8/media-8489/large.jpg, S. 305, alle anderen: privat

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Simoncini Garamond

Konvertierung: Bookwire

eISBN 978-3-95890-383-8

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

»MENSCHEN MIT NAZIHINTERGRUND«? –

Tiefpunkte deutscher Erinnerungskultur

»GELOBT SEI, WAS HART MACHT!« –

Annäherung an die verlorene Generation

DIE DEUTSCHE JUGEND IM KRIEG

Grundlagen der Hitlerjugend

Kinder an Kanonen: Luftwaffenhelfer

Kriegsfreiwillige und eine HJ-Panzer-Division

Das letzte Aufgebot: Volkssturm im Einsatz

HJ-Kampfverbände, Panzervernichtungstrupps und Werwölfe

HANS: EHRENDOLCH UND TIGERPANZER

ARMIN: PANZERALARM AUF DER »GOYA«

HUBERTUS: IN DER TODESZELLE

ARNOLD: IN DER SCHEISSE

MAX UND JOACHIM: FLAKFEUER OHNE ENDE

WERNER: DAS KINDERBATAILLON

HEINZ: TODESZUG 514

KLAUS: DIE SCHEINTOTEN

GERHARD: DAS SOLDATENGRAB

HEINZ WILHELM: GEFANGENENAUSTAUSCH

HANS HELMUT: PANZER HETZER

HANS DIETER: PILOTEN IM HÄUSERKAMPF

NACHWORT UND DANKSAGUNG

ANMERKUNGEN

REGISTER

»MENSCHEN MIT NAZIHINTERGRUND«? –

Tiefpunkte deutscher Erinnerungskultur

Am 15. Februar 2021 diskutierten die 1993 in Afghanistan geborene und in Hamburg aufgewachsene Künstlerin und Kolumnistin Moshtari Hilal und der aus Sri Lanka stammende, 1985 in Coburg geborene Essayist und politische Geograf Sinthujan Varatharajah rund zwei Stunden auf einem Instagram-Kanal zum Thema »Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund«1. Dabei wiesen sie in Deutschland lebende Personen pauschal zwei Gruppen zu: Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Nazihintergrund. Dass das extrem provozierte, war beiden bewusst, denn sie förderten den Effekt noch, indem sie sich dazu verabredeten, passend zum Diskussionsgegenstand braune Pullover überzuziehen.

Ihre persönliche Motivation, diese Einteilung vorzuschlagen, lässt sich schnell aus ihrem per Video geführten Gespräch ableiten. Sie zeigen sich genervt davon, dass sie mit dem Stigma »Migrationshintergrund« leben müssen, der sich den Zuschauern allerdings nur aufgrund von äußeren Merkmalen erschließen lässt, denn beide tun scheinbar viel dafür, um deutsch und angepasst zu wirken. Hilal beschwert sich in sauberem Hochdeutsch und politisch korrekter Gender-Sprache darüber, dass hiesige Historiker*innen [sic!] immer nachlässiger arbeiten würden, weil sie den Zusammenhang zwischen zeitgenössischem und nationalsozialistischem und kolonialdeutschem Rassismus nicht erkennen würden. Varatharajah, dessen Bruder Senthuran als Schriftsteller beachtenswerte Preise für sein feines literarisches Gespür der deutschen Sprache gewonnen hat, redet mit deutlichem oberfränkischem Akzent und ebenfalls in sauberem Gender-Neusprech. Auch er kritisiert zuvorderst die ungenügende Geschichtsvermittlung zum Zweiten Weltkrieg. Als erstes Beispiel für eine dringend notwendige Vertiefung des Themas in unserer Gesellschaft nennt er die Firma Bahlsen, die Wehrmachtsoldaten mit Keksen beliefert und dadurch unverkennbar den NS-Apparat gestützt habe. Er findet es schlimm, dass in Dokumentationen, die hierzulande über den Zweiten Weltkrieg laufen, immer wieder Trümmerfrauen in Ruinen als Opfer gezeigt werden. Niemanden würde es interessieren, dass diese eben noch in der NSDAP gewesen seien. Das Ablegen ihrer Ideologie mit Kriegsende nimmt er ihnen nicht ab. Das sehe er ihnen anhand der gehässigen und feindseligen Ausdrücke an, mit denen sie auf die alliierten Kameraleute reagieren.

Hilal und Varatharajah diskutieren über deutsche Geschichte in gelassenem Plauderton und kommen dabei trotz der verqueren Inhalte authentisch und sympathisch rüber, sodass man ihnen das fehlende oder völlig missinterpretierte Wissen über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sowie ihre Nichtdifferenzierung zwischen Nazis einerseits und Soldaten und Zivilisten andererseits kaum krummnehmen kann. Sie wirken insgesamt nicht, als würden sie anecken wollen oder eine böse Absicht verfolgen. Ihnen scheint es wirklich ernst, und sie wähnen sich dabei während des gesamten Talks auf einer moralisch sicheren Seite. Beide haben anscheinend aufgrund ihres Migrationshintergrundes bei gleichzeitiger völliger Angepasstheit ein Problem mit ihrer Identität entwickelt, ohne zu bemerken, dass dies ein Kernproblem der gesamten, vor allem aber auch der »biodeutschen« Gesellschaft ist. Dabei gibt Varatharajah sogar preis, dass er sich durch die Geschichtsvermittlung des deutschen Bildungswesens sehr schnell selbst schuldig gefühlt hat und sich geschämt hat, in diesem Land zu leben.

Die Unsicherheit, aus der heraus die beiden diskutieren, versteht man umso besser, wenn man versucht, sich auf ihre Perspektive einzulassen, und gleichzeitig weiß, dass das vermittelte Bild deutscher Geschichte in hiesigen Medien auf die Gräueltaten der Nazis im Dritten Reich fokussiert ist und kaum Multiperspektivität zulässt. Dem Konsens ihres Gespräches kann man entnehmen, dass Hilal und Varatharajah es als gerecht empfänden, wenn fortan Deutsche, die nicht durch das vermeintliche Stigma eines Migrations- oder eines anderen Minderheitenhintergrundes belastet sind, einfach stattdessen angeben würden, sie seien Menschen mit Nazihintergrund, um dadurch eine Art gleiche Ebene für alle herzustellen. Das mag ihnen kurzfristig Erleichterung im Umgang mit sich selbst verschaffen, trägt aber weder zur Lösung der Identitätsprobleme von Deutschen noch von hier lebenden Migranten bei. Was den Diskutanten während ihres Talks, in dem sie nicht ein einziges Mal tatsächlich auf ihre familiäre Migrationsgeschichte eingehen, nicht bewusst wird, ist, dass sie durch ihren Vorschlag genauso wenig differenzieren wie die Menschen, denen sie womöglich vorhalten, sie selbst nur aufgrund ihrer Herkunft zu bewerten. Nun ist allerdings ein Migrationshintergrund für die meisten, die ihn besitzen, gar kein Stigma und im allgemeinen Verständnis nichts Schlimmes. Ein Nazi – und damit ein Nazihintergrund – ist das aber auf jeden Fall. Die größte Beleidigung, auch wenn es sich längst inflationär eingebürgert hat, ist es für einen Deutschen immer noch – oder sollte es sein –, wenn man ihn zu Unrecht als Nazi bezeichnet. Hilal und Varatharajah begehen den Fehler, in ihrer Argumentation das zu übernehmen, was ihnen in dieser Gesellschaft medial und politisch allzu oft suggeriert wird, nämlich dass alle Deutschen, die in der Zeit des Dritten Reiches gelebt haben, Nazis und Täter gewesen sein müssen. Die beiden wissen es nicht besser, und ihnen fehlt an dieser Stelle mit Sicherheit auch genau das, was sie von »biodeutschen« Familien erwartet hätten: Gespräche mit eigenen Verwandten, die den Nationalsozialismus erlebt haben. Vielleicht können sie sich einfach nicht vorstellen, dass genau diese kaum oder gar nicht geführt wurden. Andererseits hätten beispielsweise deutsche Medien, die wegen hoher Klickzahlen und vereinzelter Shitstorms auf den Instagram-Talk aufmerksam geworden sind, aufklären können; daraus hätte sich ein spannender und wertvoller Dialog ergeben können. Möglicherweise hätten Hilal und Varatharajah erfahren, dass die Erlebnisse ihrer eigenen Eltern, die aus Afghanistan und Sri Lanka geflüchtet sind, eine Menge Parallelen zu den Lebenswegen der nächsten Verwandten vieler ihrer deutschen Mitmenschen aufweisen, die genau aus demselben Grund an Identitätsproblemen leiden, die intergenerationelle Gespräche verhindert haben. Aufgrund fehlender Aufklärung in Medien und Schule wissen Hilal und Varatharajah vermutlich gar nicht, dass zwischen 1944 und 1947 14 Millionen Deutsche mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Vielleicht hat ihnen nie jemand erzählt, dass dabei über zwei Millionen unschuldige Frauen, Kinder und alte Menschen ermordet und dass an Deutschen in dieser Zeit schreckliche Massaker verübt wurden. Nicht, dass mindestens zwei Millionen deutsche Frauen und Mädchen vergewaltigt worden sind. Sie hätten sonst sicher ihre Meinung darüber, welche Personenkreise im Zweiten Weltkrieg Opfer und welche Täter waren, differenzierter ausgedrückt und von sich aus auf ihre Wortneuschöpfung »Menschen mit Nazihintergrund« für die vielen Nachfahren der Deutschen mit Opferhintergrund verzichtet.

Doch medial wurde hier nicht moderiert, vielleicht, weil hiesige Medienvertreter nicht mutig genug sind, das Thema differenziert aufzugreifen, oder selbst »biodeutsche« Journalisten wissen es tatsächlich nicht besser. Ein Beispiel dafür gibt uns die Redakteurin Jule Hoffmann in ihrem Artikel »Deutsch und damit nicht normal«2, erschienen in der Zeit am 12. März 2021, der sich auf das Gespräch zwischen Hilal und Varatharajah bezieht. Hoffmann hält darin die Anwendung des Begriffs »Mensch mit Nazihintergrund« nämlich für zutreffend. Er könne dabei helfen, dass sich die deutschen Nachkriegsgenerationen ihrer historischen Verantwortung stellen. Niemand, dessen Eltern oder Großeltern im Dritten Reich gelebt haben, könne etwas dagegen einzuwenden haben, meint sie und schreibt:

Es ist ein Riesenunterschied, ob ich mir eine Dokumentation über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ansehe, eine Gedenkstätte für Verfolgte der NS-Zeit besuche – oder ob ich mir sage: Ich bin ein Mensch mit Nazihintergrund. Man sage es ein paar Mal vor sich hin, um festzustellen: Die NS-Geschichte rückt einem sehr viel näher […] Die Bezeichnung »Menschen mit Nazihintergrund« leuchtet mir sofort ein. Fast wundere ich mich, dass ich sie in diesem Instagram-Talk zum ersten Mal gehört habe.3

Passenderweise brauchte ausgerechnet Hoffmann selbst sich den Begriff gar nicht erst zu eigen zu machen, denn zumindest auf den einen Teil ihrer Großeltern trifft das Etikett nicht zu. So schreibt die Journalistin, ihre Oma habe etwa beim gescheiterten Attentat auf Hitler durch Stauffenberg geweint und ihr Opa habe als Pfarrer mehrmals versucht, Deportationen zu verhindern. Mit dem anderen Großelternpaar habe sie zwar kaum selbst reden können, wisse aber über ihre Mutter, dass der Großvater ein harmloser Funker in Italien gewesen sei, der heimlich Gespräche von Generälen abgehört habe. Er sei wie seine Frau völlig unpolitisch und ländlich gewesen. Dennoch möchte Hoffmann darauf nicht stolz sein, denn schließlich könnten ihre Großeltern theoretisch zum Beispiel bei von Nazis nach Deportationen veranstalteten »Judenauktionen« jüdisches Geschirr oder Bettwäsche erworben haben. Dazu schreibt sie weiter:

Übrigens überkommt mich, noch während ich das schreibe, ein sehr ungutes Gefühl dabei, dass ich meine Großeltern hier öffentlich schlimmer Dinge verdächtige, ohne zu wissen, ob ich ihnen damit Unrecht tue. Aber wahrscheinlich deutet sich hier das Problem schon an: Auch kleine Verdachtsmomente wiegen so schwer, dass sie innere Abwehrreflexe auslösen.4

Im unbegründeten Zweifel also trotzdem gegen den Angeklagten? Hoffmann, die sich nach eigenen Angaben bei einem Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel dafür geschämt hat, in einer deutschen Reisegruppe zu stehen, beklagt außerdem, dass sie bisher von niemandem gehört habe, der offen zugegeben hätte, dass seine Großeltern Nazis gewesen sind. Daraus leitet sie ab, dass Großeltern eben alle geschwiegen hätten. Ihr fehlten zum Beispiel Bekenntnisse der Großelterngeneration zu Kämpfen mit Gewehr und Panzerfaust – warum dies ein Indiz für eine Nazigesinnung sein könnte, erwähnt sie nicht. Nun sind fast sämtliche Zeitzeugen der Kriegsgeneration verstorben, auch Hoffmanns Großeltern. Sie schreibt:

Ich kann sie also nicht mehr fragen. Aber die berühmte Klage über das Wegsterben der Zeitzeugen – ist die nicht ohnehin heuchlerisch? Ich bin nicht sicher, ob ich sie je unumwunden gefragt hätte. Ob ich das geschafft hätte. Und ob ich je eine richtige Antwort erhalten hätte.5

Damit fasst Hoffmann immerhin das grundlegende Problem zusammen, dem sie selbst verfallen ist: Die Zeitzeugen sind weg, und der Großteil ihrer Nachfahren hat sich nicht getraut, mit ihnen zu sprechen. Sie hatte also gar nicht mitkriegen können, dass viele Großeltern genau deswegen geschwiegen haben, weil sie Angst gehabt oder sogar die Erfahrung gemacht haben, von jüngeren Menschen zu Unrecht als Nazi verurteilt zu werden. Im Umkehrschluss ist das der Grund, warum wir heute mit so vielen Einschätzungen falschliegen, denn zweifelsfrei halten sich Vorurteile über die Kriegsgeneration hartnäckig, die jedoch den historischen Fakten und Erkenntnissen nicht entsprechen. Diesen nach ist die absolute Mehrheit der Deutschen nämlich im Zweiten Weltkrieg weder Nazi noch Verbrecher gewesen, hat den Holocaust nicht zu verantworten gehabt und auch nicht von Massenmorden und Vergasungen in Vernichtungslagern gewusst. Das macht die Gräueltaten keinen Deut besser oder ungeschehen, sollte uns aber grundlegende Erkenntnisse und Hinweise darüber liefern, wie das NS-Regime funktioniert hat und wie das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte geschehen konnte.

Um dies präzise zu analysieren und daraus die richtigen Konsequenzen für unsere Gegenwart und Zukunft zu ziehen, ist die Vermittlung der Tatsachen wichtiger als jede falsche Scham davor, die Thematik anzugehen: Die Mehrheit der Deutschen hat nie frei die NSDAP gewählt, und von denen, die es getan haben, handelten die wenigsten aus bösen Motiven, mit exklusivem oder auch nur vermutetem Wissen darüber, was die Nazis ab 1942 beschließen und in Gang setzen würden. Mittlerweile lebt wahrscheinlich niemand mehr, der die NSDAP überhaupt gewählt hat. Und dennoch bleiben die Vorurteile bestehen gegenüber allen, die damals gelebt haben und die heute noch unter uns sind. Das betrifft im Besonderen sämtliche Angehörige der Generation der Kindersoldaten, die in den folgenden Kapiteln ihre persönliche Geschichte preisgeben. Falls aber doch noch jemand einen Deutschen daran bemessen will, ob er in der Lage gewesen wäre, die Nazis zu wählen, sei hier abschließend die einfache mathematische Feststellung erlaubt: Der- oder diejenige müsste mindestens 1913 geboren worden sein, um mit den notwendigen 20 Jahren an den Wahlen 1933 teilnehmen zu können. Damit müsste eine solche Person heute wenigstens 108 Jahre alt sein.

»GELOBT SEI, WAS HART MACHT!« –

Annäherung an die verlorene Generation

Die Möglichkeiten, Zeitzeugen über das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg zu befragen, neigen sich 2021 dem Ende zu. Sie sind nahezu ausgeschöpft, und in wenigen Jahren gehören sie selbst der Geschichte an. Heute können wir diesen Zeitraum nach neueren Definitionen nicht einmal mehr der Zeitgeschichte zurechnen, unter der entsprechende Bücher noch um die Jahrtausendwende in Bibliotheken einsortiert wurden. Denn die dynamische Einordnung dieser Epoche setzt voraus, dass ein bedeutender Teil der Angehörigen einer Gesellschaft die im Untersuchungsfokus einer Publikation stehende Zeit aktiv miterlebt hat. Das können wir für das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg nicht mehr annehmen. Ein Soldat, der 1939 in Polen gekämpft hat, muss heute mindestens 100 Jahre alt sein. Allein Menschen zu befragen, die während der Zeit des Nationalsozialismus erwachsen wurden, ist nicht mehr leicht. 94 Jahre sind Voraussetzung dafür.

Was uns heute bleibt, sind Zeitzeugen, die den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt haben und die Auskunft geben können über ihre kindlichen Erfahrungen mit Luftangriffen, zerbombten Städten, Konzentrationslagern, Flucht und Vertreibung, Mitgliedschaft in der Hitlerjugend (HJ) oder Schule in der NS-Zeit. Schon bedeutend schwieriger ist es, Zeitzeugen zu finden, die noch als Soldaten aktiv im Krieg gekämpft haben, die also über das Soldatenleben, das Töten und Sterben an der Front, die Teilnahme an bestimmten Schlachten, die Auseinandersetzungen mit dem Feind oder von der Verwendung spezifischer Waffen oder militärischer Fahrzeuge aus erster Hand berichten können. Um dazu noch aussagekräftige Informationen zu erhalten, müssen sich Historiker auf die Generation der damals minderjährigen Soldaten konzentrieren. Das ist ein Nachteil für zum Beispiel Militärhistoriker, da sie sich dabei auf Schlachten beschränken müssen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs stattgefunden haben, also maßgeblich jenen auf deutschem beziehungsweise ehemaligem deutschem Boden. Eine bedeutende Chance und Herausforderung dagegen bietet sich Wissenschaftlern, die eine Gruppe in den Untersuchungsfokus rücken, die bisher in der Geschichtswissenschaft viel zu wenig Beachtung gefunden hat, die aber gerade aufgrund ihres charakteristischen Alters über ganz außergewöhnliche und einzigartige menschliche Erfahrungen im Krieg berichten kann. Die minderjährigen Soldaten des Zweiten Weltkriegs können uns heute Lebenden noch Antworten auf viele drängende Fragen geben, um diese Epoche vollständig zu erschließen. Auch wenn die Kindersoldaten zu jung waren, um auf der militärischen Leiter emporzuklettern, wenn sie keine Ritterkreuze und andere hohen Auszeichnungen trugen, wenn sie in der Regel nicht dem Widerstand angehörten, weil sie für all dies zu jung waren, so kämpften sie aber mit Gewehr, Handgranate oder Panzerfaust auf dem Schlachtfeld. Dabei waren sie noch nicht erwachsen, doch auch nicht mehr Kind, oder sind vielleicht erst durch ihre Teilnahme am Krieg überhaupt zur Mündigkeit gereift. Die heranwachsenden Soldaten des Zweiten Weltkriegs haben vieles von dem erlebt und durchgemacht, was auch die erwachsenen durchlebten. Sie haben getötet, sie wurden verwundet, sie haben furchtbaren Gemetzeln beigewohnt, in denen viele ihrer Kameraden ihr Leben lassen mussten. Sie wurden selbst verletzt, kennen die militärischen Kommandos, die Taktiken des Feindes, die Aufregung vor einem Angriff, die Wut und die Trauer nach dem Tod eines Kameraden und die Not und den Hunger in der Gefangenschaft.

Doch diese Zeitzeugen verfügen darüber hinaus über spezielle eigene Sichtweisen: Auf der einen Seite haben sie den Krieg mit den teilweise naiven Augen eines Pubertierenden durchlebt, der sich selbst für unverwundbar hält und sich leicht überschätzt. Auf der anderen Seite hat man sie aus genau diesem Grund zu Soldaten gemacht. Hitlers minderjährige Kämpfer waren einer auf Zerstörung getrimmten Kriegspropaganda ausgesetzt wie sonst kein anderer. Im Ergebnis sahen sich am Ende des Zweiten Weltkriegs sowjetische oder amerikanische Soldaten wild entschlossenen und dabei teilweise hervorragend ausgebildeten Halbwüchsigen gegenüber, die ihnen in ihrer Bereitschaft, sich selbst zu opfern, noch schmerzliche Verluste zufügten. Als sich nach der Kapitulation die letzten deutschen Soldaten ergaben, standen vor den Alliierten Jungen mit Milchgesichtern und viel zu großen Stahlhelmen. Nun sollten die Siegermächte entscheiden, was mit den Halbwüchsigen, die in Fantasieuniformen steckten und nicht mal im Stimmbruch waren, geschehen sollte. Im Gegensatz zu den Kriegskindern, jener Generation der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, die sich als vom Sieger befreit fühlen sollten, schlug den Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs kein Mitleid entgegen. In der Regel gerieten alle, ob regulär in die Wehrmacht eingegliedert oder noch ohne Soldbuch in der Tasche, in Kriegsgefangenschaft.

Für den Begriff Kindersoldat existiert keine einheitliche Erklärung. Verschiedene Institutionen legen zur Beschreibung unterschiedliche Kriterien für Alter und nachgegangene Tätigkeit sowie Prinzipien von Freiwilligkeit oder Zwang zugrunde. Dieses Buch orientiert sich an der Definition von UNICEF, Terre des Hommes und Amnesty International, nach der alle bewaffneten Kämpfer in kriegerischen Konflikten unter 18 Jahren als Kindersoldaten bezeichnet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um aktuelle oder historische Krisen handelt. So können die minderjährigen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, die zwischen 1943 und 1945 als bewaffnete Kämpfer eingesetzt wurden, als Kindersoldaten beschrieben werden. Für die Jahrgänge, die dies betrifft, gibt es in der Forschung ebenfalls unterschiedliche Ansichten. Einig ist man sich, dass die Luftwaffenhelfer6 die unterste Altersgrenze bildeten. Zu den ältesten Kindersoldaten gehört demnach der Jahrgang 1926, der als Erster vor den 1927 und 1928 Geborenen zum Luftwaffenhelferdienst herangezogen wurde. In den letzten Kriegsmonaten griffen die Nationalsozialisten dann auf die Kampfkraft der jüngeren Hitlerjungen zurück. Das waren die Jahrgänge 1929 bis 1931. In den letzten Kriegswochen wurden selbst Pimpfe von gerade mal 13 oder 12 Jahren mit in bewaffnete Kriegshandlungen gezogen, weil sie zum Beispiel mit ihrem Alter schummelten und sich so einen Platz in einem HJ-Kampfverband sicherten. Und auch wenn jüngere Kinder die Möglichkeit hatten, sich eigenmächtig mit einer der vielen herrenlosen herumliegenden Waffen den Feinden entgegenzustellen, sich für Botengänge zwischen Wehrmachtseinheiten anboten oder sich Waffen-SS-Truppen als Pfadfinder oder Späher zur Verfügung stellten, soll in diesem Buch die Obergrenze Jahrgang 1931 für den Begriff Kindersoldat reichen. Damit ist eine offizielle Zugehörigkeit mindestens zur Hitlerjugend ausschlaggebend, in die man mit 14 Jahren aufgenommen wurde.

Spezifische wissenschaftliche Betrachtungen von Kindersoldaten, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, ohne je ein anderes System als die NS-Diktatur gekannt zu haben, liegen kaum bis gar nicht vor. Literatur findet sich für diese Altersgruppe vor allem im Rahmen der Erforschung von NS-Herrschafts- und Strukturgeschichte, in der das Erziehungs- und Schulwesen des Nationalsozialismus sowie auch die Organisation der Hitlerjugend und ihrer Unterorganisationen im Vordergrund stehen. Die wenigen Publikationen, die Kinder in Kampfeinsätzen beschreiben, beschränken sich meist auf die Gruppen der Luftwaffenhelfer und des Volkssturms. Als Standardwerk im Bereich Luftwaffenhelfer sollte das leider nur im Selbstverlag erschienene und seit Jahren vergriffene, fast 670 Seiten starke Werk von Hans-Dietrich Nicolaisen gelten: Der Einsatz der Luftwaffen- und Marinehelfer im 2. Weltkrieg. Darstellung und Dokumentation7. Immerhin ist von Nicolaisen mit Die Flakhelfer8 eine abgespeckte Version im Ullstein Verlag erschienen, die allerdings den Fokus auf die Darstellungen von Erlebnisberichten legt.

Wer sich umfassend über den Volkssturm informieren will, kommt an Franz W. Seidlers Deutscher Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/459 und an Der Volkssturm. Das letzte Aufgebot 1944/45 von Klaus Mammach10 nicht vorbei. Zu den ab März 1945 auftretenden eigenständig operierenden HJ-Kampfeinheiten wie zum Beispiel den von Reichsjugendführer Artur Axmann befohlenen Panzervernichtungsbrigaden fehlt nahezu vollständig die Forschung. Einige wenige Bücher gehen aber auf Existenz und Einsatz dieser spezifischen Gruppen ein. Die umfangreichste Übersicht dazu sowie auch für den Kampfeinsatz der Hitlerjugend allgemein bietet Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik von Michael Buddrus.11 Auch Sven Keller listet in Volksgemeinschaft am Ende. Gesellschaft und Gewalt 1944/4512 die bekannten Verbände und Hintergründe der HJ-Kampfeinheiten auf.

Die erste Auseinandersetzung mit minderjährigen Kämpfern des Zweiten Weltkriegs überhaupt gelang Gregor Dorfmeister unter seinem Pseudonym Manfred Gregor 1958 mit dem autobiografischen Roman Die Brücke13, der ein Jahr später von Bernhard Wicki als filmische Adaption auf die Kinoleinwand gebracht und mehrfach ausgezeichnet wurde. Unter anderem gewann der Schwarz-Weiß-Film den Golden Globe und war für den Oscar nominiert. Allerdings werden die hier kämpfenden Kinder als durchweg fanatisch und somit klischeehaft dargestellt. Dass diese Art von Opferbereitschaft zwar nicht selten vorkam, aber lange nicht die Regel war, soll im Weiteren gezeigt werden.

Als 1972 Ludwig Schätz mit Schüler-Soldaten. Die Geschichte der Luftwaffenhelfer im zweiten Weltkrieg14 die erste wissenschaftliche Untersuchung über den Einsatz von Luftwaffenhelfern herausbrachte, stand die militärische, rechtliche und technische Organisation ihres Luftschutzeinsatzes im Vordergrund und nicht die psychische Belastung oder persönliche Verfassung der Kindersoldaten. Gleichzeitig begannen in den 1970er- und 1980er- Jahren immer mehr Menschen damit, ihre Kindheitskriegserlebnisse zwischen Schule, Elternhaus und Fliegeralarm in Autobiografien aufzuarbeiten, die häufig literarischen Charakter aufwiesen. Schon damals wurde offenbar, dass die erlebte Geschichte der Zeitzeugen oftmals nicht in Einklang stand mit der wissenschaftlichen Einordnung ihrer Zeit durch Historiker, die nicht persönliche Lebensgeschichten in den Forschungsfokus rückten, sondern versuchten, das Große und Ganze innerhalb politischer Zusammenhänge zu erklären. In den Achtzigerjahren wurde auch der Begriff der sogenannten Flakhelfergeneration geprägt, die eine breite öffentliche Wahrnehmung erfuhr, weil sich viele prominente Persönlichkeiten als Angehörige herausstellten. Als Luftwaffenhelfer dienten zum Beispiel Schriftsteller wie Martin Walser, Günter Grass und Günter de Bruyn, Schauspieler wie Hardy Krüger und Dietmar Schönherr, Politiker wie Hans-Dietrich Genscher und Erhard Eppler oder Wissenschaftler wie Niklas Luhmann und Joachim Fest. Außerdem waren Entertainer Peter Alexander, Kabarettist Dieter Hildebrandt sowie auch Papst Benedikt XVI., mit bürgerlichem Namen Joseph Aloisius Ratzinger, als Flakhelfer im Einsatz.

Die Vorurteile, mit denen ehemalige Kindersoldaten in ihrem späteren Leben zu kämpfen hatten, sind im Grunde die gleichen, die auch den erwachsenen Soldaten oder Frauen des Zweiten Weltkriegs entgegengeschlagen sind. Die vorwurfsvollen Fragen, die man den Zeitzeugen zu häufig nicht selbst gestellt, aber als Provokation in die öffentliche Debatte um Schuld und Unschuld eingeflochten hat, sind deckungsgleich: Warum habt ihr da mitgemacht? Warum habt ihr getötet? Warum habt ihr nichts gegen Hitler unternommen? Warum habt ihr den Holocaust zugelassen?

Zusätzlich haben sich explizite Vorurteile gegenüber deutschen Kindersoldaten gebildet, die wohl auf ihre Darstellungen in amerikanischen Spielfilmen und Trivialliteratur zurückzuführen sind. Dort werden sie als für Hitler kämpfende Bluthunde geschildert, die alles im Sinne des und für den Nationalsozialismus taten. Die wichtigste Studie, die über Motivationen und Einstellungen von Kindersoldaten – im Speziellen Flakhelfern – durchgeführt wurde, widerspricht diesem Bild in den wesentlichen Punkten. Der Historiker und Didaktiker Rolf Schörken hat dazu 1984 einen umfangreichen Fragebogen an 422 ehemalige Luftwaffenhelfer verschickt. Anhand von 228 beantworteten und zurückgeschickten Bogen konnte er ein aufschlussreiches Profil über das politische Bewusstsein der Flakhelfergeneration in einer Zeit extremer psychischer Belastung und strategischer Indoktrination – in die auch noch der eigene Reifeprozess fiel – erstellen und in seinem Buch Luftwaffenhelfer und Drittes Reich. Die Entstehung eines politischen Bewußtseins15 veröffentlichen. Schörken appelliert schon in seinem Vorwort eindringlich: »Will man der Erfahrungswirklichkeit einer ganzen Generation nahekommen, muss man bereit sein, sich auf differenzierte Ergebnisse einzulassen, die nicht in ein Schwarz-Weiß-Bild passen.«16 Die Kriegsgenerationen ab 1926 seien, gerade weil ihnen die Erfahrung aus der düsteren Zeit der Weimarer Republik gänzlich fehlte, gar nicht mehr richtig vom Hitler-Enthusiasmus gepackt worden.17

Die Aufmärsche, Feiern, Gedenktage, Fahnenweihen, Feste und Reden, die dem Regime die sakrale Färbung gaben und die Politik zum Feiertag machen sollten, wirkten auf diejenigen, die das von klein auf mitmachen mussten – und zwar keineswegs freiwillig –, allein aufgrund der Gewöhnung wie etwas Alltägliches, oft genug Lästiges, dem man durch vielerlei Schliche aus dem Weg gehen konnte.18

Zur Mentalität des Luftwaffenhelfers stellt Schörken fest: »Er unterscheidet sich von den älteren Jahrgängen dadurch, dass ihn die nationalsozialistischen Ideologeme im engeren Sinne (Rassenlehre, biologistisches Geschichtsbild) kaum erreichten.«19 Auf die Frage, ob NS-Ideologie oder Propaganda überhaupt eine Rolle im Alltagsleben der Luftwaffenhelfer spielte, antworteten 74,12 % der Befragten entschieden mit Nein. Ja sagten lediglich 12,72 %.20

Die Hauptursache, dass die Luftwaffenhelfer eine eingeschränkte Weltsicht entwickelten, die nur zwischen Deutschland und Feindesland unterschied, liege laut Schörken nicht an den Inhalten der NS-Propaganda, sondern gründe sich auf ihren diktatorisch abgeschirmten Zugang zur Außenwelt und in der Alternativlosigkeit.21

Niemand (…) hatte eine zutreffende Vorstellung davon, wie es außerhalb Deutschlands in der Welt aussah und was andere Menschen in anderen Völkern dachten und taten. […] Außerhalb des Bewusstseins blieb auch, wie Deutschland unter Hitler draußen beurteilt wurde und wie man dort über den Krieg dachte.22

Von der NS-Propaganda sei in den Jahren 1943–1945 nur noch die Kriegspropaganda an die Luftwaffenhelfer herangedrungen, die auf Steigerung der Kampfmoral abzielte.23 Dies führte zu einem erhöhten Zusammengehörigkeitsgefühl der Luftwaffenhelfer untereinander, zu einer Identifikation mit der Wehrmacht und zu einem Verständnis von sich selbst als Soldat. »Unter allen Elementen der nationalsozialistischen Propaganda fand die heroisierende Kriegsvorstellung in dieser Altersstufe vollen Anklang und wurde in aller Regel unkritisch übernommen.«24

Hingegen sei in den Einstellungen der Luftwaffenhelfer die entschiedene Ablehnung der HJ und anderer NS-Funktionäre vorherrschend gewesen. Nationalsozialistische Attribute und Vorschriften wurden im alltäglichen Dienst abgelehnt, und ideologietreues Verhalten im Umgang mit anderen, wie zum Beispiel sowjetischen Kriegsgefangenen, die mit in der Stellung lebten, wurde missachtet.25 Ganz im Gegensatz also zur Darstellung der NS-Propaganda, nach der Russen als Untermenschen galten, gaben 42,9 % der von Schörken befragten Luftwaffenhelfer an, das Verhältnis zu den in der Stellung arbeitenden und lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen sei sehr gut und freundschaftlich gewesen. 19,5 % beschrieben es als korrekt und 7 % empfanden sogar Mitleid mit ihnen. Die Wirkung des Führer-Images sei in der Untersuchungsgruppe äußerst gering gewesen.26 Während 50,2 % zum Zeitpunkt ihrer Einberufung noch an den Endsieg geglaubt haben, verloren je 25 % Mitte 1944, Ende 1944 und Anfang 1945 ihren Glauben daran. Nur 10,8 % glaubten bis zur Kapitulation an den Endsieg.27 32,8 % der Endsieggläubigen insgesamt trieb dabei die Hoffnung auf Wunderwaffen an, 25,9 % waren einfach nicht in der Lage, sich einen verlorenen Krieg vorzustellen, aber nur 11,7 % gaben als Grund Vertrauen auf den Führer an.28 Interessant erscheint dabei auch die politische Selbsteinschätzung der befragten ehemaligen Luftwaffenhelfer während ihrer Dienstzeit. 47 % gaben patriotische Gründe an. Man habe als Soldat eine Pflicht für das Vaterland abgeleistet. 15,4 % beschrieben sich als naiv oder gutgläubig. 24 % sagten, sie hätten dem NS-Regime bereits deutlich kritisch gegenübergestanden, und 8 % sahen sich sogar in einer oppositionellen Rolle.29

Schörken fasst zusammen: »Auch bei vorsichtigster Interpretation wird man sagen dürfen, dass die Aufnahmebereitschaft für nationalsozialistisches Gedankengut in dieser Generation beinahe auf den Nullpunkt fiel. Die politische Situation verlief nicht mehr im Sinn des Nationalsozialismus.«30

Im Verlauf dieses Buches wird sich zeigen, ob Schörkens Erkenntnisse über Einstellungen und Motivationen von Luftwaffenhelfern der Jahrgänge 1926 bis 1928 sich in den Gesprächen mit den hier befragten ehemaligen Luftwaffenhelfern wiederfinden und ob sich diese auch auf die jüngeren Kindersoldaten der Jahrgänge 1929 bis 1931 übertragen lassen.

In diesem Buch erzählen 13 der letzten lebenden Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs ihre dramatische Geschichte. Alle sind zwischen 1926 und 1931 geboren. Die Männer sind heute zwischen 91 und 95 Jahre alt und waren bei Kriegsende entsprechend zwischen 13 und 18 Jahre alt. Alle Zeitzeugen waren aktiv an Kampf- oder Kriegshandlungen beteiligt und dienten in ihnen zugewiesenen Einheiten, waren also zumindest zeitweilig organisiert. Davon wurden fünf als Luftwaffenhelfer eingesetzt, vier gehörten Panzervernichtungstrupps oder anders genannten HJ-Kampfgruppen an, drei waren als Hitlerjungen in den Volkssturm eingegliedert und einer im Hilfsdienst der Wehrmacht. Von fünf Zeitzeugen, die regulär als Soldaten in der Wehrmacht kämpften, wurde einer zwangsrekrutiert, vier hatten sich als Offiziersbewerber freiwillig gemeldet und sind so vorzeitig eingezogen worden. Ein Zeitzeuge wurde zwangsweise der Waffen-SS unterstellt. Weiterhin waren alle bei oder nach Kriegsende kürzer oder länger in alliierter Gefangenschaft. Jeder verlor während seines Kampfeinsatzes nahestehende Kameraden, sechs von ihnen wurden selbst teilweise schwer verletzt. Wiederum sechs Zeitzeugen stammen aus ehemaligen deutschen Gebieten in Posen, Schlesien oder Ostpreußen, was nicht verwundern darf, denn sowohl Volkssturm als auch kämpfende HJ-Gruppen fand man größtenteils an der Ostfront, und die reichte nur maximal bis Berlin.

Streng genommen erfüllt einer – der Älteste unter meinen Zeitzeugen – das Kriterium des Kindersoldaten nicht, da er, bereits einige Wochen bevor er in den Kampf geschickt wurde, 18 Jahre alt geworden ist, wobei seine militärische Ausbildung aber noch nicht abgeschlossen war. Seine Geschichte steht am Ende und soll den fließenden Übergang zwischen minderjährigen und den jüngsten erwachsenen Kämpfern aufzeigen. Ansonsten sind die Protagonisten in diesem Buch weder nach Alter noch nach Herkunft, Waffengattung oder eingesetztem Kampfgebiet sortiert. Wichtige allgemeine Hintergrundfakten und Eckdaten, die für das bessere Verständnis der unterschiedlichen Gruppen von Kindersoldaten dienen können, habe ich im nächsten Kapitel beschrieben. Der Leser soll hier Grundsätzliches zum Beispiel über Heranziehung, Ausbildung, Bewaffnung, Bekleidung, Kampf und Alltag der Hitlerjugend im Allgemeinen, der Luftwaffenhelfer, Kriegsfreiwilligen, Volkssturmmannen sowie der Panzervernichtungstrupps, HJ-Kampfverbände und sogenannten Werwölfe erfahren.

Die Kriegserlebnisse der einzelnen Protagonisten stehen im Vordergrund dieses Buches; natürlich wird dabei ihr vorheriges Aufwachsen im Nationalsozialismus in Gesellschaft und im Elternhaus mitbeleuchtet. Zugunsten der Beschreibung ihrer prägenderen Hitlerjugendzeit wurden die Erfahrungen im Deutschen Jungvolk nur angeschnitten. Zu Anfang einer jeden Episode lernen wir den Protagonisten in seinem jetzigen Alter und Lebensumfeld kennen. Zum Ende sind die jeweiligen Lebenswege nach dem Krieg nachgezeichnet. Den Einzelepisoden nach stehen außerdem zwei übergeordnete Fragen. Die Frage nach zeitgenössischem Wissen über Judenverfolgung und Holocaust ist in der deutschen Erinnerungskultur von so zentraler Bedeutung, dass ich sie für dieses Thema nicht ausklammern kann und auch nicht möchte. Schon während früherer Zeitzeugeninterviews habe ich allerdings festgestellt, dass meine Interviewpartner oftmals nicht selbst zu der Thematik finden. Die Gründe sind vielfältig, meist aber spielte der Holocaust in ihren eigenen Erinnerungen an den Krieg einfach keine zentrale Rolle. Sofern sie daher in ihren freien Erzählungen nicht von selbst darauf eingegangen sind, habe ich dazu am Ende meines jeweiligen Zeitzeugengesprächs eine konkrete Frage gestellt. Ich halte die Auseinandersetzung damit, auch weil ihre Nichtthematisierung zu erheblichen gesellschaftlichen Vorurteilen geführt hat, für so wichtig, dass ich die Antworten darauf losgelöst von den eigentlichen Kriegsepisoden aufgenommen habe. Eine zweite nachgestellte Frage zu jeder Episode ergab sich aus Hinweisen des Zeitzeugen zu einem persönlichen Interesse während des Gesprächs, das nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kriegserlebnissen steht, oder aus dem Wunsch, einen bestimmten Aspekt zu vertiefen. Beispielsweise äußerten sich Zeitzeugen zu unserem generellen Umgang mit Geschichte, zu ihren Erfahrungen mit jüngeren Generationen oder zu bedeutenden Themen wie Wut, Versöhnung oder Hoffnung.

Des Weiteren habe ich nach den Richtlinien der wissenschaftlichen Methode Oral History meine Zeitzeugen eigene Schwerpunkte setzen lassen. Entscheidend ist bei allen Zeitzeugenbefragungen, ein ausgeglichenes Maß zwischen Gespräch und Zuhören zu finden. Vermieden werden sollte ein starrer Interviewcharakter. Erfahrungsgemäß findet im ersten Teil eines gelungenen Gespräches ein Austausch auf Augenhöhe statt, auch um sich kennenzulernen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Oftmals finden anschließend Zeitzeugen, wenn die Atmosphäre stimmig ist, selbst in einen langen Monolog über all das, woran sie sich erinnern, den man möglichst nicht unterbrechen sollte. Daraus ergeben sich zum Ende hin wieder Aspekte, denen man vertieft gemeinsam nachspüren kann. Manchmal ist das Anschauen von Fotoalben dabei hilfreich, an anderer Stelle auch der Einbezug eines vertrauten Lebenspartners.

Dialekte, Füllwörter und Versprecher meiner Zeitzeugen habe ich nicht berücksichtigt, Halbsätze logisch geschlossen und längere Passagen gekürzt oder zusammengefasst. Darüber hinaus besteht ein Hauptteil der historischen Arbeit darin, die Zeitzeugenberichte inhaltlich auf zeitliche, räumliche und kausale Zusammenhänge und auf mögliche Unstimmigkeiten hin zu prüfen. Erst durch den Abgleich mit Sekundärliteratur und zugänglichen Quellen wie Archive und Karten können die Zeitzeugenerzählungen historisiert werden. Für eine tiefere Recherche konnte ich auch Wehrpässe, Soldbücher, persönliche Notizen oder Entlassungsunterlagen meiner Zeitzeugen hinzuziehen. Hintergrundinformationen zu besonderen geschichtlichen Ereignissen, die in der jeweiligen Episode eine Rolle spielen, habe ich ergänzend und immer passend zwischen Erzählabschnitten eingefügt.

Die größte Herausforderung für dieses Projekt war es für mich – wie auch schon in vorangegangenen Büchern –, geeignete Zeitzeugen zu finden. Sie mussten exakt in die definierte Zielgruppe passen und vor allem geistig und körperlich fit sein. Das ist oberste Voraussetzung für jede Zusammenarbeit in diesem Bereich. Durchschnittlich beträgt das Gespräch vis-à-vis vier bis fünf Stunden, danach lässt die Konzentriertheit eines hochbetagten Zeitzeugen in der Regel nach. Allerdings gibt es hier auch Ausnahmen, und die Unterhaltung kann – dann mit Pausen – doppelt so lange dauern. Bevor es zu einem Treffen kommt, ist viel Vorbereitung notwendig. Da dies mein viertes großes Zeitzeugenprojekt ist und die letzten Bücher sehr erfolgreich liefen, bekomme ich regelmäßig viele Zuschriften per E-Mail und per Post, meistens über meine Agentur. Zeitzeugen melden sich selbst bei mir, oftmals sind es aber auch Kinder, Enkel oder Freunde von betagten Menschen, die eines meiner Bücher gelesen haben und dann darauf hinweisen, dass sie auch jemanden mit einer besonderen Geschichte kennen. So hat sich bei mir in den letzten Jahren ein persönlicher Zeitzeugenpool gebildet, auf den ich gut für das Thema Kindersoldaten zurückgreifen und entsprechende Zeitzeugen auswählen konnte. Dabei geholfen, entsprechende Kontakte zu finden, haben mir aber auch erneut Zeitzeugenbörsen und Verbände sowie Aufrufe über soziale Medien.

Bevor es zu einem persönlichen Treffen kommt, das unabdingbar ist, um einen Menschen für ein solches Projekt kennenzulernen, finden in der Regel erst Gespräche mit Angehörigen statt; es folgen Telefonate mit dem Zeitzeugen und oftmals ein langer vorheriger Brief- oder E-Mail-Verkehr. Auch nach dem Treffen hält man Kontakt, da sich manchmal Detailerinnerungen erst später konkretisieren. Alle Gespräche habe ich zwischen Januar und Juni 2021 geführt.

Störend und oftmals belastend für alle Beteiligten war die Corona-Pandemie mit all ihren Einschränkungen. Öfter mussten daher Termine immer wieder verschoben werden. In der Regel habe ich gewartet, bis meine Gesprächspartner beide Impfungen erhalten hatten. Häufig waren die Corona-Pandemie und entsprechende Schutzregeln auch ein Einstiegsthema. Dabei ist mir besonders aufgefallen, wie erfrischend locker diese Generation mit der Krise umgeht. Nicht einer hatte mir gegenüber von Angst vor einer Infektion gesprochen, und keiner hat sich über die Maßnahmen beschwert. Das war ich aus meinem privaten und beruflichen Umfeld bei jüngeren Generationen ganz anders gewohnt, waren doch hier Sorgen und Beschwerden über eine lange Zeit Hauptthema.

Die verlorene Generation ist hart im Nehmen, ähnlich wie die verdammte Generation31, anders als die verratene Generation32. An dieser Stelle möchte ich bekannt geben, warum ich mich auf der Suche nach einem kennzeichnenden Adjektiv für »verloren« entschieden habe. Der ausschlaggebende Grund ist nicht vornehmlich, dass so viele junge Kindersoldaten während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren haben, auch nicht, dass diese Generation sich am Ende des Krieges völlig verloren gefühlt hat und mitunter lange brauchte, um wieder in ein normales Leben zu finden. Vielmehr überwog das Gefühl, dass wir jetzt und heute im Begriff sind, eine besonders tapfere Generation zu verlieren. Und zwar für immer – an den Tod. Mit den letzten Kindersoldaten gehen die letzten Deutschen, die aktiv als Soldat am schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte teilgenommen haben, und immer bleibt die Sorge, ob wir ihnen genug zugehört haben. Am Ende eines jeden Zeitzeugengespräches wurde mir wieder deutlich bewusst, wie endlich das Leben ist. Gerade hat man einen besonderen Menschen kennengelernt, hat an seinem facettenreichen Leben teilgenommen, da verabschiedet man sich und weiß, man wird sich nicht noch einmal sehen. Die Zeit wird vermutlich dafür nicht reichen.

Auf der anderen Seite bin den Zeitzeugen überaus dankbar und stolz auf sie, dass sie der Gesellschaft am Ende ihres Lebens noch ein letztes Mal ihre bedeutenden Erfahrungen und Erinnerungen an eine für uns alle prägende Zeit mitgeteilt haben und dass sie so dafür Sorge tragen wollen, dass all das, was sie durchgemacht haben, eben nicht verloren gehen und vergessen wird.

Alles hat seine Licht- und Schattenseiten. Die Erziehung der verlorenen Generation war brutal; die Kinder und Jugendlichen wurden abgehärtet und dazu angetrieben, ihre individuellen Bedürfnisse ganz hintanzustellen. Ihnen wurden Gehorsam und Härte regelrecht eingeprügelt, und hätten sie das als Kind nicht verinnerlicht, so hätten sie das Grauen, das sie tatsächlich im Kampf und in Gefangenschaft erleben mussten, psychisch nicht überstanden. Die Kinder der verlorenen Generation, die, ohne einen freien Willen zu besitzen, Opfer eines mörderischen Regimes geworden sind, haben aber für ihr Leben gelernt, sich nicht zu beklagen, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, nicht das eigene Leid über das aller anderen zu stellen. Sie haben die Prüfung bestanden, dem Grauen ins Auge zu blicken und nicht durchzudrehen oder wegzurennen, wenn etwas brenzlig wird, und sie haben Kameraden und Familie nicht im Stich gelassen. Sie waren weniger egoistisch, als wir es sind, sie haben mehr ertragen können und sie wollten vor allem nicht Opfer sein. Das alles liegt in den Erziehungsmethoden ihrer Zeit begründet, in Schule und Elternhaus und in diesem speziellen Fall in der Hitlerjugend, die wir uns dabei im Folgenden genauer anschauen müssen, weil diese die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen schließlich immer weiter auf ihre Teilnahme am Krieg gelenkt hat.

DIE DEUTSCHE JUGEND IM KRIEG

Grundlagen der Hitlerjugend

»In unseren Augen muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.« So beschrieb Adolf Hitler das Idealbild seiner männlichen Jugend vor 54 000 Hitlerjungen während des Reichsparteitages am 14. September 1935 in Nürnberg. Nicht mal vier Jahre später begann mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg, und in der Tat gab es zu diesem Zeitpunkt weltweit keine Jugend, die besser für einen Krieg ausgebildet war als die deutsche Hitlerjugend, von der der Führer von Anfang an wusste, dass sie den Nachwuchs für seine Soldaten auf dem Feld stellen würde. Deshalb war eines der wichtigsten Statuten im Ausbildungsprogramm der HJ die vormilitärische Erziehung. Dass die Hitlerjungen allerdings ohne eine reguläre Wehrmachtsausbildung in den bewaffneten Kampf ziehen würden, hatte selbst die Reichsjugendführung bis 1943 nicht vorgesehen, weil niemand dort damit gerechnet hätte, dass sich der Krieg so lange hinziehen würde.

Als Jugendorganisation der NSDAP am 4. Juli 1926 auf dem Reichsparteitag in Weimar gegründet, war die Hitlerjugend zunächst nur eine von Tausenden überregional existierenden Gruppen, die während der Weimarer Republik unter dem Sammelbegriff Bündische Jugend, der sich mehr als 4 Millionen Jugendliche anschlossen, zusammengefasst wurden. Als die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung die Jugend gleichschalteten und somit sämtliche Bünde und Jugendverbände verbieten ließen, wurde aus der bis zuletzt auf nicht mehr als 100 000 Jungen und Mädchen angewachsenen Parteijugend bald die größte Jugendorganisation der Welt. Im Mai 1939 verfügte die HJ über 8,7 Millionen und in der Spitze im Jahr 1941 über mehr als 10 Millionen Mitglieder. In den ersten beiden Jahren wahrte die HJ noch den Anschein einer freien, selbst geführten Jugendbewegung, die mit dieser Methode Jugendliche aller sozialen Schichten anzog. Zeltlager, Wanderungen, Naturverbundenheit, Sport, Spiel und Kameradschaft waren Ideale, die von der Bündischen Jugend übernommen wurden, und so merkten viele junge Menschen den Übergang zur HJ nur an der wechselnden Uniform.

Nach Gleichschaltung sämtlicher Jugendorganisationen wurde aus der Hitlerjugend bald die größte Jugendorganisation der Welt.

Zunächst traten 7,7 Millionen Jungen und Mädchen freiwillig in die HJ ein; erst mit dem Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1. Dezember 1936, das diese zur Staatsjugend erklärte, und noch einmal untermauert durch die Einführung der Jugenddienstverordnung vom 25. März 1939 (Jugenddienstpflicht), wurde die HJ zur Pflicht. Auf Kurt Gruber, den ersten Reichsführer HJ, folgten von 1931 bis 1940 Baldur von Schirach und von 1940 bis zum Ende des Dritten Reiches Artur Axmann. Unter dem Dach HJ, die Hitler direkt unterstellt war, formten sich fünf Unterorganisationen. Am 19. April eines jeden Jahres wurden alle zehnjährigen Jungen feierlich in das Deutsche Jungvolk (DJ) und die gleichaltrigen Mädchen in den Jungmädelbund (JM) aufgenommen. Zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr dienten Jungen dann in der HJ, Mädchen von 14 bis 18 (später 17) Jahren im 1931 gegründeten Bund Deutscher Mädel (BDM). Einzig die Teilnahme an der Organisation Glaube und Schönheit für Mädel zwischen 17 und 21 Jahren blieb freiwillig.

Neben der geschlechtlichen Trennung wurden die HJ-Mitglieder nach Altersgruppen zusammengefasst. Der Kameradschaft gehörten in der Regel zehn möglichst gleichaltrige Jungen an. Vier Kameradschaften bildeten eine Schar mit bis zu 50 Jungen und darüber vier Scharen eine Gefolgschaft mit bis zu 160 Jungen, die in ihrer Struktur nach dem Vorbild einer militärischen Kompanie organisiert wurde. Wiederum drei bis fünf Gefolgschaften machten einen Stamm mit bis zu 600 Jungen aus und vier bis acht Stämme einen Bann mit bis zu 5000 Jungen. Ein HJ-Bann entsprach in der Hierarchie und Struktur auf Partei-Ebene der NSDAP-Kreisleitung. Je 20 Banne wurden geografischen Gebieten zugeordnet, von denen 1942 insgesamt 42 existierten.33

Eine der fünf Unterorganisationen der HJ war der Bund Deutscher Mädel, in den Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren aufgenommen wurden.

Hitlerjungen trugen Uniformen, die Eltern nach Anmeldung ihrer Kinder in einem sogenannten Braunen Laden kaufen konnten. Die Sommeruniform bestand entsprechend aus einem braunen Hemd, an dem auf der Brusttasche eine Anstecknadel mit Abzeichen der HJ befestigt war. Über der roten Hakenkreuzbinde am linken Ärmel war ein kennzeichnendes Gebietsdreieck aufgenäht, und um den Hemdkragen trugen die Jungen ein schwarzes, zu einem Dreieck gefaltetes Halstuch. Die Schulterklappen waren farblich umrandet und wiesen die Zugehörigkeit zu einer Gattung der HJ aus. Eine rote Umrandung markierte dabei die Allgemeine HJ, weitere Farben bestimmten Sonderformationen: Blau kennzeichnete die Flieger-HJ, Gelb die Marine-HJ und Pink die Motor-HJ. Die Nummern auf den Schulterklappen gaben die zugehörige Gefolgschaft und den Bann des Trägers bekannt.34 Diagonal von der rechten Schulter bis zur linken Taille zog sich ein Schulterriemen, der mit Karabinern an der schwarzen Lederkoppel mit silberner Schnalle und Gravur »Blut und Ehre« befestigt war. An der linken Seite der Koppel, über der kurzen schwarzen Hose, hing das Fahrtenmesser, und auf dem Kopf trugen die Jungen ein sogenanntes Käppi aus braunem Leinenstoff. Unten herum zogen sie Bundschuhe mit langen entweder grauen oder braunen Strümpfen an. Im Winter gab man den Hitlerjungen eine schwarzblaue M37 Winteruniform, bestehend aus Überfallhose, dicker Bluse und Mantel, sowie eine M35 Feldmütze und schwere Marschstiefel aus.

Wöchentlich kamen HJ-Scharen in ihren HJ-Heimen oder angemieteten Räumlichkeiten zweimal für je zwei Stunden zum Dienst zusammen. Der sogenannte Heimabend fand in der Regel am Mittwoch statt und diente der Erziehung im Sinne der NS-Ideologie. Auf Festen, in Liedern und Gedenkstunden sollten die Hitlerjungen die Feindbilder der Nationalsozialisten verinnerlichen und sich selbst bewusst werden, dass Deutschland einen Führungsanspruch in der Welt besitzt. Anhand von Vorträgen, Lesungen, gemeinsamem Musizieren oder Diskussionsrunden wurden Themen wie Heimat, Deutsche Einheit, Kameradschaft, Volk und Persönlichkeit (berühmte Deutsche der Geschichte, inklusive fortwährend Adolf Hitler) oder Volk und Bluterbe (Rassenkunde), gesunde Lebensführung, Naturkunde oder Soziale Arbeit vermittelt. Jeden Samstagnachmittag kamen die Jungen außerdem zur Leibesertüchtigung zusammen. Hier standen entweder Sport oder Wehrertüchtigung auf dem Dienstplan. Ab Juli 1936 übernahm die HJ die Organisation des gesamten außerschulischen Sports sowie im selben Jahr auch die des Leistungssports. Eine alternative, legale Möglichkeit, Sport zu treiben, gab es für Jugendliche fortan nicht mehr. Besonders gefördert wurden Disziplinen, die dem zukünftigen Soldaten nützlich waren. Leichtathletik zur allgemeinen Fitness und Gelenkigkeit, Wandern oder Boxen für Ausdauer und Abhärtung. Auch Fußball, Turnen, Schwimmen und Tauchen standen regelmäßig auf dem Programm. Wenn die heimatliche Umgebung es zuließ, waren Skifahren und Bergsteigen Teil des HJ-Sports. Durch die kontinuierliche Ausrichtung von Wettkämpfen, Sportfesten und die Vergabe von Leistungsabzeichen wurden die Jungen zu Höchstleistungen angehalten. Für sie galt als oberste Prämisse: keine Schwäche oder Angst zeigen. Im Rahmen der Wehrertüchtigung erfreuten sich Geländespiele großer Beliebtheit. Weniger gemocht, aber stets mit allem Eifer ausgeführt, wurden militärischer Drill, Exerzieren und Marschieren. Jungen, die sich entschlossen, statt der allgemeinen HJ einer Sondereinheit beizutreten, die darauf abzielte, die Teilnehmer schon früh soldatisch zu spezialisieren, hatten neben den Grunddiensten außerdem zwei zusätzliche theoretische und einen praktischen Dienst im Monat abzuleisten. Begehrt war allen voran die Flieger-HJ, die in Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) organisiert wurde. Hier fühlten sich Jungen angesprochen, die ihre berufliche Zukunft in der Luftwaffe oder Zivilfliegerei sahen. Die Marine-HJ bot sich für Interessenten einer Laufbahn in der Kriegsmarine oder Handelsflotte an. Entsprechend konnten Angehörige notwendige Führerscheine erwerben. Die Motor-HJ bildete in Kooperation mit dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) den kraftfahrttechnischen Nachwuchs aus und zog vor allem Motorrad-begeisterte Jungen an, die später im Feld als Kradmelder Dienst taten. Daneben konnten Mitglieder der Nachrichten-HJ das Funken, Morsen und Fernsprechen erlernen, und die Reiter-HJ bot mit Unterstützung des Nationalsozialistischen Reiterkorps (NSRK) eine vollständige Reitausbildung an. Außerdem existierten für kulturell Begeisterte und Begabte die sogenannten Spielscharen – darunter Singschar, Theaterschar, Rundfunkspielschar – und für medizinisch Interessierte die Feldscher-HJ. Eine weitere Sondereinheit bildete der HJ-Streifendienst, der Ordnungs- und Wachdienste übernahm und für Nachwuchs in den Polizeien oder der Feldgendarmerie sorgen sollte.

Der Kriegsbeginn beeinflusste die HJ nicht nur politisch, sondern machte sie von Beginn an zu einem kriegswichtigen Bestandteil, auf den immer mehr Last abgewälzt wurde. Zunächst hatte die HJ mit einer erheblichen Umstrukturierung in der Führungsebene zu kämpfen, da sich innerhalb eines halben Jahres 95 Prozent aller ehrenamtlichen HJ-Führer freiwillig zur Wehrmacht meldeten. Auf regionaler Ebene mussten die Lücken, die die jungen Erwachsenen rissen, von zunehmend jüngeren Mitgliedern aufgefüllt werden. Fahrten und Freizeitveranstaltungen rückten schon kurz nach Kriegsbeginn zugunsten von Sammelaktionen in den Hintergrund. Die Hitlerjugend organisierte zur Unterstützung der auf Rohstoffe angewiesenen Kriegswirtschaft Altkleider-, Altmetall- oder Flaschensammlungen. Besonders die Pimpfe des Jungvolkes durchkämmten regelmäßig Wald und Flur, um Heilkräuter für die Front aufzulesen, oder trieben in den Wintermonaten mit Trillerpfeifen und Blechbüchsen Spenden für das Winterhilfswerk ein, das mit ihren Leistungen seine Einnahmen von 1939 noch 680 Millionen Reichsmark innerhalb von nur drei Jahren auf 1,6 Milliarden Reichsmark im Jahr 1942 steigern konnte.

Die älteren Jungen der HJ sollten jetzt systematisch auf ihre Wehrdienstzeit vorbereitet werden. Für die 16- bis 18-Jährigen wurde neben ihren allgemeinen Dienst- und Sonderdienstverpflichtungen die Teilnahme an einer insgesamt zwölfmonatigen Spezialausbildung im Geländedienst und Kleinkaliberschießen Pflicht. Alle 14 Tage wurden sie dazu an den Wochenenden von ausgebildeten Gelände- und Schießwarten trainiert; meistens waren das ehemalige HJ-Führer, die schon über Fronterfahrungen verfügten und durch Verletzungen abkömmlich waren. Am Ende erwarben die Teilnehmer den sogenannten Kriegsausbildungsschein der Hitlerjugend. Nach den im Juli 1942 herausgegebenen Richtlinien des Kriegseinsatzes der HJ erfolgte die militärische Ausbildung der 16- bis 18-jährigen Hitlerjungen nunmehr in speziellen Wehrertüchtigungslagern, von denen insgesamt 262 errichtet wurden. Die übertrieben harte vormilitärische Schulung in der Kaserne dauerte drei Wochen. Neben theoretischem und praktischem Unterricht an Infanteriewaffen wie dem Karabiner 98k oder dem Maschinengewehr (MG 34 und MG 42) wurde Handgranatenzielwurf trainiert und später der Umgang mit der Panzerfaust. Die Ausbilder brachten die militärischen Komponenten in Einklang mit ideologischer Schulung durch politische Propaganda. Ziel war es, die Leidenschaft der Jugendlichen für Opferbereitschaft und Heldenmut zu entfachen, sodass kein Hitlerjunge auch nur im Ansatz die Frage nach der Notwendigkeit seines Kriegseinsatzes stellte. Eine Siegesgewissheit über alle anderen Völker sollte den angehenden Soldaten eingeimpft werden. Sowohl Wehrmacht als auch Waffen-SS schickten Ausbilder für die Lager, die ihre Zöglinge mit konkurrierendem Interesse auf ihrer Suche nach militärischem Nachwuchs genau beäugten. Bis 1942 wurden außerdem 700 000 Jungen in sogenannten Feuerwehrscharen für die Freiwillige Feuerwehr ausgebildet, 23 000 weitere in Schnellkommandos zur Unterstützung der Polizei in der Meldung und Ermittlung von Brandherden, für den Flugmeldedienst oder den Sicherheitsdienst.

In der Hitlerjugend sah ihr Führer die Generationen zukünftiger Soldaten. Hier auf dem Reichsparteitag in Nürnberg 1935.

Mit dem Beschluss des Grenzeinsatzes der HJ im Frühherbst 1944 und dem damit einhergehenden Befehl über Maßnahmen des totalen Kriegseinsatzes der HJ befahl Reichsjugendführer Artur Axmann alle Hitlerjungen, die noch nicht anderweitig eingezogen worden waren, zum sogenannten Schanzeinsatz. Eine halbe Million Minderjährige wurden zur Grenzsicherung an den Ost- oder seltener auch Westwall abkommandiert. In Matsch und Kälte stehend, bauten sie Unterstände, Bunker und MG-Stände und hoben Hunderte kilometerlange Panzergräben aus. Auch 125 000 BDM-Mädel, die für Versorgung und medizinische Betreuung der Jungen verantwortlich waren, wurden verpflichtet.

Eine besondere Herausforderung für die Hitlerjugend im Krieg bildete zudem die sogenannte Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV), die am 27. September 1940 von Baldur von Schirach eingeleitet wurde. Damit gemeint war die Evakuierung von Jugendlichen zwischen 10 und 16 Jahren sowie Müttern mit Kleinkindern aus besonders für Luftangriffe gefährdeten Gebieten in die Provinz. Während das Reichsministerium des Innern dafür Gaststätten, Hotels oder öffentliche Gebäude beschlagnahmte, die Reichsbahn mit dem Transport beauftragt wurde und das Reichsministerium für Landwirtschaft die Zuweisung erhöhter Lebensmittelrationen übernahm, sollte die HJ zusammen mit den Dienststellen der Volkswohlfahrt und dem NS-Lehrerbund sämtliche Betreuungsaufgaben der Jugendlichen übernehmen. Die Teilnahme an der KLV erfolgte freiwillig und umfasste eine Zeit von mindestens sechs Monaten bis hin zu mehreren Jahren. Der Unterricht wurde von mitreisenden Lehrern an den Evakuierungsorten abgehalten. Neben dem Schutz der Gesundheit der Minderjährigen bot die KLV den Nazis eine zusätzliche, einmalige Möglichkeit, nämlich den Großteil der Jugend vollständig und ohne Widerstand aus dem Elternhaus erfassen und propagandistisch beeinflussen zu können. 1944 existierten über 5500 KLV-Lager in Gegenden des Deutschen Reiches, die nicht oder kaum von Bombenangriffen bedroht waren, vor allem war dies der Fall in Ostpreußen, im Reichsgau Wartheland und in Oberschlesien. Insgesamt lebten bis Kriegsende mehr als 850 000 Kinder und Jugendliche in Jugendherbergen, Hotels, Gaststätten oder bei Gastfamilien der KLV-Lager. Trotz des gerade für Jungen in den Lagern vorherrschenden uniformierten und militärischen Drills überwiegt in den Erinnerungen der Teilnehmer der Eindruck eines Abenteuers oder langen Urlaubes.

Kinder an Kanonen: Luftwaffenhelfer

Die rechtliche Grundlage dafür, dass Hitlerjungen überhaupt für Kriegshilfsdienste eingespannt werden konnten, schaffte Hermann Göring mit der am 15. Oktober 1938 erlassenen Notdienstverordnung, nach der jeder Bewohner des Reiches nach Vollendung des 15. Lebensjahres zu beliebigen – auch militärischen – Diensten herangezogen werden konnte. Während die Mädel des BDM vornehmlich für Betreuungsaufgaben verpflichtet wurden,