Die Vermisste - Caroline Corcoran - E-Book

Die Vermisste E-Book

Caroline Corcoran

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Beschreibung

Was treibt eine Mutter dazu, ihr Neugeborenes zurückzulassen?

Romilly ist verschwunden. Nur wenige Stunden nach der Geburt ihrer Tochter. Ihre Familie kümmert sich um den Säugling und versucht herauszufinden, was mit Romilly geschehen ist. Ihr Mann Marc hat eine Erklärung. Aber ist die einfachste Erklärung immer die richtige? Wissen ihre Freunde und ihre Schwester mehr, als sie zugeben? Während ihre Geheimnisse nach und nach ans Licht kommen, wird klar: Die Wahrheit ist düsterer, als sie alle dachten. Und nicht alle werden am Ende noch leben, um sie zu erfahren ...

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Seitenzahl: 497

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Das Buch

»Du weißt nicht recht, was du mit dem gelben Heliumballon in deiner Hand anfangen sollst, wenn du gerade festgestellt hast, dass deine Frau weg ist.

Zumal auch noch etwas anderes deiner Hände bedarf: der neugeborene Säugling, der in der Ecke des Zimmers in seinem Bettchen liegt und schreit.

Du hältst den Ballon fest.

Du hältst ihn noch fester, als könnte er dich davontragen, höher und höher, weg von all dem hier, was auch immer all das hier ist.

Du spürst eine Enge in der Brust.

Deine Frau. Einfach nicht mehr da.

Von der Wochenstation verschwunden. Einen Tag nach der Geburt eurer gemeinsamen Tochter.

Du gehst zum Schwesternzimmer.

›Ihre Mutter‹, sagst du, während das Baby mit stetig lauter werdendem Gebrüll auf das Ausbleiben seiner Nahrung reagiert. ›Ihre Mutter ist verschwunden.‹

Alle starren dich an. Ihre Mienen spiegeln dein Entsetzen.

Jedenfalls stelle ich es mir so vor.

Wer weiß, wie es in Wirklichkeit abgelaufen ist. So oder so, irgendwie fand mein Ehemann Marc heraus, dass ich weg war.«

Die Autorin

Caroline Corcoran arbeitet als selbstständige Lifestyle- und Kulturredakteurin. Sie hat für einige der wichtigsten Online- und Printmagazine und Zeitungen in Großbritannien geschrieben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf der Halbinsel Wirral im Norden Englands. Zuvor hat sie dreizehn Jahre in London gewohnt.

Lieferbare Titel

Die Nachbarin

CAROLINE CORCORAN

DIEVERMISSTE

Thriller

Aus dem Englischenvon Sybille Uplegger

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Five Missing Days erschien erstmals 2022 bei Avon,a division of HarperCollinsPublishers Ltd, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 12/2023

Copyright © 2022 by Caroline Corcoran

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Scheiber

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung von Shutterstock.com(CherylRamalho, Max Reichenbach) und AdobeStock (Picture News)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-29439-7V001

www.heyne.de

  

Für meine Freunde Zo, Suse, Vic, Hellie und Mike.

Die besten Entscheidungen, die mein jugendliches Ich je getroffen hat.

Prolog

Du weißt nicht recht, was du mit dem gelben Heliumballon in deiner Hand anfangen sollst, wenn du gerade festgestellt hast, dass deine Frau weg ist.

Zumal auch noch etwas anderes deiner Hände bedarf: der neugeborene Säugling, der in der Ecke des Zimmers in seinem Bettchen liegt und schreit.

Du hältst den Ballon fest.

Du hältst ihn noch fester, als könnte er dich davontragen, höher und höher, weg von all dem hier, was auch immer all das hier ist.

Du spürst eine Enge in der Brust.

Deine Frau. Einfach nicht mehr da.

Von der Wochenstation verschwunden. Einen Tag nach der Geburt eurer gemeinsamen Tochter.

Du stehst da und schaust dich um. Nach deiner Frau. Nach einem Ort, an dem du den Ballon lassen kannst. Nach jemandem, der dir hilft. Nach einer Erklärung dafür, was mit diesem Moment passiert ist, der sich doch eigentlich ganz anders anfühlen sollte, euphorisch und neu, nach Wehmut und Leben.

Immer fester hältst du den Ballon.

Die Schreie des Babys werden lauter.

Deine Brust wird enger.

Du lässt nicht los.

Draußen vor dem Zimmer, in dem du stehst, herrscht das ganz normale Treiben einer Wochenstation, trotzdem kommt es dir so vor, als wärst du von allem abgeschnitten. Du weißt, du solltest jemandem Bescheid sagen, aber dafür müsstest du den Raum verlassen, und du hast vergessen, wie das geht. Vergessen, wie man sich bewegt.

Irgendwo schrillt eine Klingel, und eine erschöpfte Hebamme seufzt, ehe das Geräusch schneller Schritte in praktischen Schuhen aus dem Korridor erklingt.

Endlich fällt dir wieder ein, wie man sich umdreht. Als sie die Tür des Zimmers passiert, öffnest du den Mund. Allerdings bist du unsicher, was du ihr sagen sollst, denn was, wenn du dich irrst? Aber im Grunde weißt du es, nicht wahr? Im Grunde weißt du Bescheid.

Ein anderer Vater kommt vorbei und lächelt dir zu. Seine weichen Adidas-Sneakers tragen ihn so schnell es geht in Richtung seiner Familie, nach der sich sein Herz ab jetzt immer verzehren wird.

Du blickst ihm nach. Er lebt die andere Version deiner Wirklichkeit.

Du hältst dich am Ballon fest.

Als Nächstes wird eine völlig benommene Frau in einem Rollstuhl vorbeigeschoben. Sie hat eine Puppe im Arm. Nein, natürlich ist es ein Baby – aber es sieht aus wie eine Puppe, nicht wahr? Die Frau trägt keinen BH, unter dem offenen Bademantel sieht man ihre nackten Brüste. Sie hat erst vor wenigen Minuten entbunden. So verletzlich, wie man nur sein kann.

Du stehst ganz still da, ganz still.

Der Ballon tanzt in der Luft.

Das Baby schreit noch lauter. Durchdringend.

Das ist es, was dich am Ende dazu zwingt, den Ballon loszulassen und mit schwerfälligen Schritten das Zimmer zu durchqueren. Du nimmst deine Tochter auf den Arm. Du drückst sie an deine Brust. Du setzt dich mit ihr aufs Bett und wartest darauf, dass deine Frau zurückkommt. Das Baby will sich nicht beruhigen. Es schreit immer lauter.

Deine Frau kommt nicht.

Das Baby bewegt den Kopf und spitzt seine winzigen Lippen auf der Suche nach Milch, die eigentlich jederzeit verfügbar sein sollte.

Das Engegefühl in deiner Brust wird noch schlimmer.

Trotzdem wartest du. Du wartest und wartest. Aber du musst doch wissen, wann es Zeit ist aufzugeben? Nicht zuletzt die Schreie des Babys sollten es dir verraten.

Du gehst zum Schwesternzimmer.

»Ihre Mutter«, sagst du, während das Baby mit stetig lauter werdendem Gebrüll auf das Ausbleiben seiner Nahrung reagiert. »Ihre Mutter ist verschwunden.«

Alle starren dich an. Ihre Mienen spiegeln dein Entsetzen.

Jedenfalls stelle ich es mir so vor.

Wer weiß, wie es in Wirklichkeit abgelaufen ist. So oder so, irgendwie fand mein Ehemann Marc heraus, dass ich weg war.

Immer wieder kommen mir verschiedene Szenen in den Kopf, wie Flashbacks, nur dass ich sie nie wirklich erlebt habe. Doch davon lassen sie sich nicht beirren. Sie plagen mich stündlich, vielleicht noch häufiger. Ihretwegen wache ich auf, wenn ich schlafe, und sehne mich nach Schlaf, wenn ich wach bin.

Diese hier sucht mich heim, als ich gerade in meinem schwarz-gelben Bikini, bei dem Oberteil und Hose nicht zusammenpassen, zum Ufer des Sees gehe. Ich wate ins Wasser und passe auf, dass ich mir die Fußsohlen nicht an den Steinen aufschramme. Sobald es tief genug ist, tauche ich unter, und in dieser ersten Sekunde, vielleicht sind es auch zwei, gelingt es mir, zu vergessen, was mich hierhergeführt hat. So ist das bei mir. Ich bin kein religiöser Mensch, aber jedes Mal, wenn ich ins Wasser eintauche, fühle ich mich wie neugeboren.

Hunderte Kaulquappen umschwimmen meine Füße.

Seht euch nur an, ihr winzigen Geschöpfe, noch ganz am Anfang eures Daseins.

Ich denke an die Menschen, die Geld dafür bezahlen, damit Fische ihnen die Hornhaut von den Füßen knabbern, und dass das am Ende nichts anderes bedeutet, als bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Ich denke daran, wie seltsam wir Menschen sind, wie unfassbar seltsam.

Ich bin so neu wie die Kaulquappen. Wenn dieses Gefühl doch nur anhalten würde. Stattdessen kommen langsam die Erinnerungen zurück. Mein Körper weiß alles noch ganz genau. Der Verstand mag vergessen; die Muskeln vergessen nie.

Als das Wasser so tief wird, dass ich nicht mehr stehen kann, lasse ich mich fallen. Rücklings treibe ich auf einem See Hunderte Meilen von meinem sterilen Krankenzimmer und meinem neugeborenen Kind entfernt.

Bis hierher wagen sich die Kaulquappen nicht vor; stattdessen werde ich von Fischen begleitet.

Ich atme tief ein.

Eine meiner geschwollenen, milchprallen Brüste droht zum wiederholten Mal aus dem Bikinioberteil zu rutschen. Ich schiebe sie zurück. Ich habe Blutungen, und die Haut an meinem Bauch hängt schlaff herunter wie eine leere Plastiktüte.

Eine Frau Anfang zwanzig geht am Ufer entlang. Straffe Brüste, die perfekt in ihren kleinen Triangel-Bikini passen und von denen, anders als bei mir, keine Milch, sondern nur Seewasser tropft. Sie hat ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt.

Mein Herz beginnt zu hämmern. Ist sie das? Die Frau, wegen der ich hergekommen bin?

Doch dann erhasche ich einen Blick auf ihr Gesicht. Nein. Sie gesellt sich zu einer Gruppe am Rand des Wäldchens, und gleich darauf höre ich das Klirren von Bierflaschen. Der Geruch von fettem Grillfleisch schwebt zu mir herüber, und ich muss würgen. Ich denke an die Warnschilder wegen Waldbrandgefahr, die ich auf der Fahrt hierher gesehen habe, doch Angst habe ich keine.

Jedenfalls nicht vor Feuer.

Es gibt nur eine Sache, die mir Angst macht.

Als ich zurück ans Ufer wate, spüre ich den schleimigen Grund und die Steine unter meinen Füßen. Im Gegensatz zu den anderen Schwimmern trage ich keine Wasserschuhe. Ich hatte nicht die Zeit, mich um solche Dinge zu kümmern. Nicht die Zeit und auch nicht das Bedürfnis.

Ich setze mich ans Ufer, und sofort bohren sich die Steine in die Unterseiten meiner Schenkel. Ich experimentiere ein wenig, presse sie tiefer in den Sand und spüre, wie sie Abdrücke in meiner Haut hinterlassen. Es tut weh. Ich drücke noch fester. Es soll wehtun.

Es ist nur recht und billig, dass ich Schmerzen leide.

»Magst du ein Bier?«

Es ist die Frau, die eben an mir vorbeigegangen ist. Eine Französin. Sie hat auf Anhieb erkannt, dass ich aus England komme, was oft passiert. Sie ist barfuß. Ist runter ans Wasser gekommen, um sich ein bisschen abzukühlen.

In ihrer ausgestreckten Hand hält sie eine kleine bauchige Flasche.

Ich blicke zu ihr empor und muss beinahe lachen. Ich? Dein Ernst?

Ich habe ein kindliches Gesicht, deshalb werde ich oft jünger eingeschätzt. Aber von den Brüsten abwärts sehe ich regelrecht verwittert aus, oder nicht? Meine Hand liegt unbeholfen auf meinem Bauch. Die Haut dort ist so weich, dass ich sie zusammendrücken könnte wie Knete.

»Nein, danke.«

Vielleicht hat sie auch bloß Mitleid mit mir; so ganz allein und freudlos.

Sie zuckt mit den Achseln.

»Pas de problème.«

Als sie sich abwendet, um zu ihren Freunden zurückzukehren, ist sie für einen Moment lang eingerahmt wie ein Bild: hinter ihr die steil aufragenden Felsen, neben ihr der See. Dann geschieht etwas Absurdes: Drei Frauen zu Pferde tauchen am Ufer auf und reiten neben mir ins Wasser. Die schwimmenden Tiere sehen majestätisch aus, und es könnte eine idyllische Szene sein, wenn es mich darin nicht gäbe. Wenn ich nicht wüsste, dass die Idylle in Wahrheit eine Hölle ist.

Die junge Frau betrachtet die Pferde mit einem Lächeln. Sie watet ins Wasser, um sie zu streicheln, und blickt staunend zu ihnen auf. Dann geht sie weiter. Ihr schon jetzt sonnengebräunter Körper wird einen ganzen Sommer im Freien verbringen, vielleicht auf Reisen. Sie wird trinken, faul in Hängematten oder im heißen Sand liegen und in Strandbars sitzen. Es ist erst Mai, all das liegt noch vor ihr. Jung und unbekümmert – so sollte es sein. Aber es gibt keine Garantien, das wissen wir inzwischen. Wir haben gerade erst eine Pandemie hinter uns. Wenn man kann, küsst man sich, man tanzt und trinkt gemeinsam Bier. Man lebt, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet.

Ich beobachte die junge Frau. Denke daran zurück, wie sich das anfühlt: leben. Ich drehe die Ringe an den Fingern meiner linken Hand, einen nach dem anderen, als würde ich eine Maschine reparieren.

Ich weiß noch, wie es ist, so zu sein wie sie. Welches Gefühl braun gebrannte Haut und ein Fußkettchen in einem auslösen können, wenn man jung ist. Für die ersten zwei Wochen nach der Rückkehr in die Heimat ist man eine Göttin, ein Mythos, bis einen der September dazu zwingt, Strumpfhosen anzuziehen, das Zöpfchen in den Haaren langsam aufgeht, und sich an den Fingerspitzen die Urlaubsbräune abschält, während man vor der Glotze sitzt und EastEnders guckt.

Ich blicke an mir herab. Könnte sie mich wirklich für eine von ihnen gehalten haben? Für jemanden, der ein paar Monate lang in einer Bar arbeitet, um das nötige Geld für eine Reise nach Südostasien zusammenzukratzen?

Ich sehe mich um.

Wenn sie es nicht war, wo ist dann die Frau, auf die ich warte?

Ich verspüre eine gewisse Ungeduld.

Der See leckt an meinen unlackierten Zehennägeln, an meinen ungepflegten Füßen. Er wagt sich noch weiter vor, bis hinauf zu meinen Schenkeln, die von den Steinen schmerzen.

Immer mehr junge Leute kommen. Beladen mit Weinkisten, Picknickdecken und Campingstühlen balancieren sie über die baufällige Brücke zwischen dem Ufer und dem Flecken Wiese, der als Parkplatz dient. Sie bringen Musik mit, die ihnen direkt aus den Poren zu dringen scheint, obwohl sie in Wahrheit von ihren iPhones kommt. Der intensive Duft von Gras steigt mir in die Nase.

Es ist später Nachmittag an einem Freitag, Partyzeit hier am See. Selbst die Fischer trinken aus den kleinen dicken Flaschen, während sie ihre Sachen zusammenpacken; das gallische Gegenstück zum Feierabendbier.

Viele von ihnen heben die Hand und grüßen einander. Die Welt ist freundlicher geworden seit COVID-19. Wir schätzen die Menschen mehr als früher.

Sie alle sind eingerahmt von den Felsen, die zu beiden Seiten emporragen, als wollten sie den See vor Blicken schützen. Wer weiß, vielleicht ist das ja wirklich ihr Zweck: Die Natur ist schlau; ihre Schönheit vor der Masse der Touristen zu verbergen, scheint mir ein ebenso guter Daseinsgrund für eine Felsformation zu sein wie jeder andere. Ich muss an meine Schwester Loll denken: Sie ist Apothekerin und würde sich mit Sicherheit über so eine Bemerkung ärgern.

Es tut weh, an sie zu denken.

Ich presse mich noch fester auf die Steine.

Meine Schenkel schmerzen. Meine Brüste pochen.

Das Wasser ist so klar, dass ich darin mein Spiegelbild sehen kann, aber das ist nicht unbedingt etwas Gutes.

Vor Kurzem sah mein ungeschminktes Gesicht noch jung und frisch aus. Jetzt wirkt es übernächtigt und abgehärmt. In ein paar Monaten kann sich vieles verändern. Gesichter. Menschen. Das ganze Leben.

Bestimmt denken die Leute bei meinem Anblick, dass ich einen Kater habe oder – sofern sie mein Zelt auf dem Campingplatz gesehen haben – zu lange auf Reisen war und dringend ein heißes Bad und eine frisch gewaschene Bettdecke brauchen könnte. Wie die anderen Menschen hier am See, die laut johlen und ihren Freunden zurufen, doch ins Wasser zu kommen. Wenn sie schwimmen, sind sie ein bisschen wie Fische.

Abermals betrachte ich meinen Körper. Meine Arme und Beine sind dünn, im krassen Gegensatz zu meiner Körpermitte.

Falls mich jemand nach meinem Namen fragt, habe ich mir vorgenommen zu sagen, dass ich Kate heiße. Doch es fragt mich keiner, weil ich niemanden anspreche oder jeden vergraule, der es doch tut, so wie die junge Französin mit ihrem bière.

Sofern es sich vermeiden lässt, rede ich mit niemandem.

Manchmal am Abend entdecke ich dort, wo meine Brustwarzen sind, zwei feuchte Flecke auf meinem T-Shirt. Dann lege ich eine Hand über meine Brüste und versuche wieder einzuschlafen, damit ich nicht daran denken muss.

Und dann rede ich doch.

Es ist immer eine Variante ein und desselben Satzes.

»Ich will leben, bitte.«

Von diesem Satz wache ich jedes Mal auf, ohne Ausnahme.

Weil ich ihn so laut herausschreie.

Tag 1, 6:00 h

Der Ehemann

Sie ist weg. Nicht im Sinne von zur Toilette gegangen oder irgendwo auf dem Flur unterwegs, um jemanden zu suchen, der ihr frisches Wasser bringt.

Ich meine verschwunden. Verschwunden.

Ihre Sachen, ihr Telefon. Alles weg.

Jede Spur von Romilly wurde getilgt, bis auf dieses winzige Menschlein, das schlafend in einem sterilen Krankenhausbettchen liegt.

Ich probiere es auf ihrem Handy. Ausgeschaltet. Stecke mein Telefon zurück in die Tasche.

Vorsichtig nähere ich mich dem Kind, das vielleicht sieben Pfund wiegt, im Gegensatz zu mir mit meinen eins fünfundachtzig und fünfundneunzig Kilo. Zentimeter für Zentimeter.

Als wäre es eine Sprengfalle.

Das blaue Tuch, in das man es gestern nach der Geburt gewickelt hat, ist nicht mehr da. Stattdessen liegt es unter einer wunderschönen cremeweißen Decke, die Romillys Schwester Loll gestrickt hat. Sobald sie wusste, dass wir ein Kind erwarten, hat meine Schwägerin sich an die Arbeit gemacht. Monatelang lag die Decke in unserem Schlafzimmer und wartete auf ihren großen Moment. Ich nehme an, Romilly hat unsere Kleine damit zugedeckt.

Wie lange ist es her, dass sie verschwunden ist?

Ich berühre die Decke, ohne wirklich zu wissen, warum. Sie wäre ohnehin warm, ganz egal, wann Romilly gegangen ist. So ist das bei Babys.

Unter der Decke schaut ein mintgrüner Strampler hervor. Vor ein paar Wochen habe ich gesehen, wie meine Frau im Schneidersitz auf dem Boden saß und ihn in ihre Krankenhaustasche gepackt hat.

Die winzige Brust unseres Babys hebt und senkt sich mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks.

Das überprüfe ich, und nur das, bevor ich hastig den Raum verlasse und den Weg zum Schwesternzimmer einschlage. Das letzte Mal war ich gestern Abend dort, weil ich um ein Schmerzmittel für Romilly bitten wollte, bevor ich nach Hause ging.

»Entschuldigung«, wende ich mich an eine Hebamme, die mir vage bekannt vorkommt. »Musste meine Frau zu einer Untersuchung? Sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

Ich spreche lauter, weil die Hebamme mit einem Formular beschäftigt ist.

»Sie ist nicht hier«, wiederhole ich. »Sie ist weg.«

Vielleicht eine Not-OP. Komplikationen während oder nach der Geburt sind weniger selten, als wir hier gerne glauben. Vielleicht musste Romilly in aller Eile verlegt werden, und das Baby wurde der Obhut erfahrener Hebammen überlassen? Ist das gängige Praxis – lässt man die Kleinen einfach alleine im Zimmer liegen? Oder war man im Begriff, mich anzurufen und mir Bescheid zu geben?

Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass es so gewesen ist. Notfälle hinterlassen Spuren.

Die Hebamme blickt verwirrt auf.

»Meine Schicht hat gerade erst angefangen«, sagt sie. »Ich erkundige mich. Wie war noch gleich der Name?«

»Romilly Beach«, sage ich. »Und ich bin Marc Beach. Ihr Ehemann.«

Ich ziehe meinen Kapuzenpullover aus, weil ich vor Hitze fast vergehe. Stelle mich, passend zur Förmlichkeit des Wortes »Ehemann«, besonders aufrecht hin.

Sie nickt bedächtig.

»Aber das Baby ist noch auf dem Zimmer, ja?«, fragt sie.

Ich nicke.

Wie gelassen sie nach außen hin auch erscheinen mag, man sieht ihr die Erleichterung an.

Ich wische mir den Schweiß von der Stirn.

»Gut. Gehen Sie zurück ins Zimmer und warten Sie dort bei Ihrem Baby«, sagt sie. »In der Zwischenzeit finde ich heraus, was los ist.«

Sie entfernt sich, und ich kehre in das Einzelzimmer zurück, das uns nach der Entbindung vor zwei Tagen überraschenderweise zugewiesen wurde. Es war still im Krankenhaus, vielleicht sind Hausgeburten häufiger geworden, in einer Welt, in der sich viele wegen COVID-19 einigeln.

Der Ballon schwebt unter der Decke, während ich das Baby anstarre, das ohne Romilly haltlos wirkt und mir ein wenig Angst macht. Ich umkreise sie vorsichtig. Betrachte sie aus sicherer Entfernung.

Kurz darauf kommt eine andere Hebamme herein. Sie sieht sich um, als könnte Romilly sich unter dem Bett versteckt haben, dann sagt sie zu mir: »Tut mir leid, aber Ihre Frau wurde nicht verlegt. Bei der letzten Runde war noch alles in bester Ordnung.«

Sie wirft einen Blick in ihre Aufzeichnungen.

»Brauchte keine Nachuntersuchungen, nur einige Paracetamol«, murmelt sie, eher zu sich selbst. »Sollen wir noch ein paar Minuten warten, ob sie vielleicht wiederkommt?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein«, sage ich entschieden. »Nicht warten. Sie stand wegen Verdachts auf eine postpartale Psychose unter Beobachtung. Wir müssen sie so schnell wie möglich finden.«

Die Schwester schaut mich an, als fände sie, dass ich überreagiere.

Meine Stimme wird lauter. »Alle ihre Sachen sind weg. Sie ist nicht mal eben ins Café gegangen. Ihre Kleider, ihre Tasche, sogar ihr Handy … Bei ihr besteht das akute Risiko einer postpartalen Psychose.« Ich unterbreche mich mitten im Satz, um dieses wichtige Detail nochmals zu betonen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. »Ihre Mutter hatte es auch. Sie war deswegen unter Beobachtung. Steht das nicht in ihrem Krankenblatt? Wissen Sie darüber Bescheid?«

Sie wirft einen kurzen Blick auf die Unterlagen. »Hier steht nichts davon«, sagt sie. Auf meinen tiefen Seufzer geht sie nicht weiter ein. »Haben Sie schon versucht, sie anzurufen?«

So langsam werde ich wütend. Natürlich habe ich versucht, sie anzurufen, verdammt. Trotzdem versuche ich es noch einmal. Vergeblich. Ich quittiere den hoffnungsvollen Blick der Schwester mit einem Kopfschütteln. Hat sie überhaupt gehört, was ich gesagt habe?

Sie zückt ihre Unterlagen. Kritzelt etwas darauf.

Es ist schwer, verkehrt herum zu lesen, aber ich glaube, da steht, in geradezu lächerlich knappen Worten: Mutter unauffindbar.

Sie hebt den Kopf. Unsere Blicke geistern durchs Zimmer, bis sie schließlich auf dem Baby landen. Was soll jetzt aus dir werden?

Die Hebamme ergreift das Wort. »Sieht ganz so aus, als wäre sie verschwunden, so wie Sie es gesagt haben.« Sie atmet aus. Wieso dauert das alles so lange?

»Kennen Sie sich mit postpartalen Psychosen aus?«, frage ich.

Mein Herz klopft wie verrückt. »Es besteht die ernste Gefahr, dass Romilly sich etwas antut. Sich vielleicht sogar umbringt. Postpartale Psychosen können gravierend sein. Wir müssen was tun. Jetzt.«

Sie schluckt. »Ich gehe und benachrichtige die anderen«, sagt sie. »Vielleicht weiß jemand etwas.«

Während sie weg ist, rufe ich Romillys Schwester Loll an.

»Marc«, meldet sie sich geschäftsmäßig und hellwach, obwohl sie wahrscheinlich gerade im Nachthemd für ihre Kinder Porridge kocht.

»Es ist passiert, Loll«, sage ich. »Romilly ist verschwunden.«

»Was meinst du damit, verschwunden?«, fragt sie scharf.

Ich sehe mich um. Im Zimmer herrscht eine unheimliche Atmosphäre wie nach einem Todesfall, einem Trauma oder Schock.

»Marc, was meinst du damit, sie ist verschwunden?«, wiederholt sie noch einmal lauter. »Sie kann nicht weit sein, Marc. Hast du mit den Hebammen gesprochen, mit den …«

»Ihre Sachen«, falle ich ihr ins Wort. »Alle ihre Sachen sind weg.«

Schweigen.

Ich raufe mir die Haare. Selbst die sind nass vor Schweiß. Mein T-Shirt könnte ich auswringen wie einen Waschlappen.

»Nur das Baby nicht«, füge ich leiser hinzu und betrachte das kleine Würmchen. »Das Baby ist noch da. Romilly würde doch niemals ihr Baby zurücklassen. Nicht, wenn sie bei klarem Verstand ist.«

Loll muss das erst einmal verarbeiten.

»Natürlich nicht«, sagt sie, und auf einmal kommt Leben in sie. »Natürlich nicht. Okay, Marc, bleib du der Kleinen, ich verständige die Polizei.«

Nach dem Auflegen merke ich, dass ich die ganze Zeit im Zimmer hin und her getigert bin.

Ich bleibe stehen. Schaue mich um.

Dies ist nicht mein Leben, sondern die Folge einer Dramaserie, die ich mir an einem Freitagabend auf Netflix anschaue.

Ich sage Text auf, der nicht in meinem Drehbuch steht.

Denn mein Drehbuch ist das eines stinknormalen Mittdreißigers: Bandproben, Käsesandwiches und »Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, das Geld für die neue Garagenzufahrt zu überweisen, das ist jetzt schon drei Wochen her«.

Wir wussten, dass das Risiko einer postpartalen Psychose bestand, aber meine Frau wurde engmaschig betreut. Wir waren extrem vorsichtig. Wir glaubten nicht wirklich daran, dass es zum Schlimmsten kommen würde.

Mit einem gequälten Schrei erwacht das Baby. Es ahnt noch nichts davon, dass seine Mutter weg ist.

Wie lange hast du geschlafen?

Wie lange ist Romilly schon fort? Ist unsere Tochter zwischendurch wach geworden und hat sich wieder in den Schlaf geweint, weil die Hebammen dachten, ihre Mutter wäre da, um sie zu trösten und zu stillen?

Das Weinen des Babys steigert sich rasch. Das Geräusch raubt mir jede Fähigkeit zum Denken.

Nervös trete ich ans Bettchen und nehme die Kleine heraus.

Sekunden später kehrt die Hebamme zurück. Ihr Blick wandert nach oben zu dem Ballon.

»Wir suchen noch, aber bislang hat niemand etwas gesehen. Niemand hat bemerkt, wie sie gegangen ist.«

»Ihre Schwester ist auf dem Weg hierher«, sage ich und gebe meinem Baby einen sanften Kuss auf die Wange. »Sie kennt sich mit postpartalen Psychosen aus. Sie kann Ihnen mehr darüber erzählen.«

Die Hebamme nickt mit ernster Miene.

»Und wie geht es der Kleinen?«

Ich betrachte meine Tochter.

Hallo, mein Kleines. Schlechte Neuigkeiten. Seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben, ist leider deine Mum verloren gegangen.

»Gut, glaube ich«, sage ich. »Gerade aufgewacht.«

»Das ist doch erfreulich«, meint die Hebamme. Sie klingt zuversichtlich, doch dann beißt sie sich auf die Unterlippe. »Verständigen Sie die Polizei?«

»Das macht ihre Schwester auf dem Weg hierher«, sage ich.

Mir kommt ein Gedanke.

»Hat irgendwer das Baby schreien hören? Ich versuche nur, herauszufinden, wie lange ihre Mum schon weg ist. Ob die Kleine gestillt wurde.«

Ich bin voller Ungeduld. Die ersten Minuten und Stunden sind doch entscheidend, wenn jemand vermisst wird, richtig? Wenn man nicht gleich zu Anfang eine Spur findet, findet man nie eine. Zumindest will Netflix mir das weismachen.

»Mein Lieber, hier wimmelt es nur so von schreienden Babys«, sagt die Hebamme sanft zu mir. Sie hockt sich auf die Bettkante und nutzt die seltene Gelegenheit, um sich einen ihrer müden Füße in den hässlichen Pantoletten zu reiben. »Solange sie nicht den Rufknopf drücken, gehen wir davon aus, dass die Mütter sich um ihre Kleinen kümmern.«

Ich schaue unsere Tochter an, die in meinen Armen unruhig wird, und stelle mir vor, wie sie weint, weil ihr Magen leer ist und niemand kommt, um ihren Hunger zu stillen. Wie sie irgendwann erschöpft aufgibt, nachdem sie in ihrer begrenzten Erfahrung zu dem Schluss gelangt ist, dass die Welt nun einmal so funktioniert.

Ach, mein kleines Mädchen. Wieder gebe ich ihr einen Kuss auf den Kopf. Meine Lippen verweilen noch einen Augenblick.

Auch die Hebamme betrachtet sie, und einen Moment lang ist alles ganz unkompliziert: der Beginn eines neuen Lebens, winzige Füßchen in einem winzigen Strampler.

Die Hebamme stellt ihren eigenen Fuß wieder auf den Boden.

»Ich besorge Anfangsnahrung für sie«, sagt sie entschlossen. »Bevorzugen Sie eine bestimmte Marke?«

Ich schüttle den Kopf.

Romilly wollte stillen.

»Sie nehmen Ihr Baby aber heute schon mit nach Hause, oder?«, fragt sie, als sie wenige Minuten später mit einer kleinen Flasche fertig zubereiteter Säuglingsanfangsnahrung zurückkommt und mir die Kleine abnimmt.

Ich protestiere nicht dagegen. Ich kenne dieses Baby nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich machen muss. Hat irgendjemand einen Plan? Gibt es überhaupt einen Plan für solche Situationen?

Ich nicke.

»Gut. Also, ich erkläre Ihnen, wie Sie ihr das Fläschchen geben müssen, und natürlich sollten Sie sich einen Vorrat an Milchpulver zulegen. Falls Sie mit dem Baby zu viel zu tun haben, bitten Sie jemanden, Ihnen welches zu besorgen. Wir erledigen den notwendigen Papierkram für die Entlassung …«

»Und dann?«, frage ich.

Sie sieht mich an. Für so etwas gibt es keinen Präzedenzfall. Mutter unauffindbar.

Und dann?

»Melden Sie sich, sobald Sie mit der Polizei gesprochen haben«, sagt sie pragmatisch. »Und natürlich sind wir hier. Ich nehme mal an, mit uns werden sie auch reden wollen. Hier ist die Nummer, unter der wir am besten zu erreichen sind. Und wir … na ja, falls wir etwas rausfinden, geben wir Ihnen natürlich umgehend Bescheid.«

Sie reicht mir einen Zettel. Ich reiße ein Stückchen davon ab und schreibe meine eigene Nummer darauf. Es ist ein bisschen so wie am Ende eines Dates vor dem Zeitalter des Mobiltelefons – ganz simpel.

»Dann nehme ich das Baby also wirklich heute mit nach Hause?«, frage ich mit aufsteigender Panik. Ich bin elf Jahre alt, habe einen Hausschlüssel und den Code für die Alarmanlage bekommen und Anweisungen, wie ich den Auflauf warmmachen soll.

»Aber sicher«, sagt sie freundlich, ehe sie dem Baby den Sauger des Fläschchens in den Mund schiebt. »Wir behalten die Kleinen nicht länger als unbedingt nötig hier, und Sie haben ein kerngesundes Baby. Aber wir bleiben selbstverständlich in Kontakt. Morgen kommt die ambulante Hebamme bei Ihnen vorbei.«

Ich bin auf lautlos gestellt.

»Wir geben Ihnen sofort Bescheid, falls wir etwas sehen oder hören«, fährt sie nach einer Weile fort. »Aber Ihre Frau kommt gewiss bald nach Hause.«

Gewissheit. Kann ich ein Stück davon abhaben?

Mein Telefon piepst. Loll.

Bin unterwegs, schreibt sie.

»Also. Bäuerchen machen«, sagt die Hebamme, nimmt meine kleine Tochter hoch und hält sie behutsam in ihren roten, rauen, zu oft desinfizierten Händen. Sie versucht, eine Situation zu normalisieren, die niemals normal sein kann. Ich gebe mein Bestes, aber es ist schwer, sich auf die verschiedenen Initiationsriten im Zusammenhang mit einem Neugeborenen zu konzentrieren, wenn man gleichzeitig Textnachrichten von Freunden liest, die man gefragt hat, ob sie etwas von der verschwundenen Ehefrau gehört haben.

Ich lege mein Handy weg und versuche, Ruhe auszustrahlen, obwohl ich gegen den Drang ankämpfen muss, die gesamte Wochenstation zusammenzuschreien.

Irgendwann kommt Loll. Sie sieht mein Gesicht und reißt sofort das Kommando an sich.

»Okay, ich glaube, ich übernehme jetzt«, verkündet sie, noch im Türrahmen stehend.

Die Hebamme beäugt sie argwöhnisch. Beide haben etwas an sich, was mich an die jeweils andere erinnert.

Ihr Duell der Blicke dauert mehrere Sekunden.

Die Hebamme reibt mit kreisenden Bewegungen den Rücken des Babys.

»Ich will nicht unhöflich sein … Julie«, setzt Loll hinzu, als sie auf uns zukommt und das Namensschild der Frau liest. »Aber ich kann ihm alles Notwendige erklären. Ich habe selbst zwei Kinder. Ich bleibe bei ihm und helfe ihm mit dem Baby«, fährt sie sanfter fort, und mein Gott, als ich das höre, fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich drücke ihre Hand. »Ich glaube, wir sollten jetzt los. Wir müssen wegen meiner Schwester noch ein paar Leute anrufen.«

Sie wendet sich an mich.

»Ich habe der Polizei die Einzelheiten erklärt«, sagt sie. »Sie haben meine Nummer, hoffentlich wissen sie bald mehr.«

Ich nicke.

Loll hat ihre Aufmerksamkeit bereits dem Kind zugewandt.

Julie steckt der Kleinen noch einmal den Sauger des Fläschchens in den Mund.

»Tut mir leid«, sagt Loll. Sie nimmt ihre praktische Brille ab und poliert die Gläser am Ärmel ihrer Bluse. »Aber das hier sind keine normalen Umstände. Das hier ist kein normaler Tag. Sie kann noch in Ruhe zu Ende trinken, danach ziehen wir sie an und nehmen sie mit. Ich kann ihm zeigen, wie das mit dem Bäuerchenmachen geht.«

Sie nimmt der Hebamme ihre Nichte ab, gibt ihr den Rest der Milch und wickelt ihren winzigen Po in eine ebenso winzige frische Windel, bevor ich überhaupt weiß, wo sie die herhat. Julie sitzt innerlich brodelnd daneben. Irgendwann steht sie auf, verzieht das Gesicht und murmelt etwas über ihre Knie, ehe sie das Zimmer verlässt.

Loll sagt kein Wort.

Tag 1, 7:15 h

Der Ehemann

Sobald die Kleine frisch gewickelt ist, hüllt Loll sie in eine Decke, steht auf und wiegt sie in ihren Armen.

»Na, du?«, wispert sie ganz nah an ihrem Gesicht. Erst da wird mir bewusst, dass die beiden sich zum ersten Mal begegnen. »O Gott. Deine Cousinen werden dich so was von liebhaben. Du kannst dich schon mal auf jede Menge Geknuddel einstellen.«

Ich lächle traurig. Verpass das nicht, Romilly. Bitte.

Es ist kurz nach sieben. Eine Stunde ist vergangen, seit ich festgestellt habe, dass Romilly verschwunden ist. Ich bin heilfroh, dass sie das Baby nicht mitgenommen hat, aber eine postpartale Psychose könnte dazu führen, dass sie sich etwas antut. Loll und ich vermeiden es, darüber zu sprechen, doch die Angst drückt sich anders aus: in unseren angespannten Mienen, in unseren zitternden Händen.

»Sie können uns gerne besuchen«, sage ich. »Es wäre schön, sie zu sehen, wenn wir nach Hause kommen.«

Loll saugt an ihrer Unterlippe.

»Das ist vielleicht …«

Ach ja.

»Ein bisschen zu viel?«

Sie nickt. »Ja. Tut mir leid, aber die Kids haben in den letzten Jahren viel durchgemacht, mit der Scheidung und so weiter. Ich möchte sie nach Möglichkeit von so etwas fernhalten … Hoffentlich ist das alles bald vorbei, und sie müssen es nie erfahren.«

Ich bin neidisch. Ihre Kinder können dem Ganzen aus dem Weg gehen; mein Kind hat keine Wahl.

Ich zücke mein Handy.

»Okay, also: postpartale Psychose. Erstens – der Zeitpunkt. Normalerweise tritt sie unmittelbar nach der Geburt auf.«

Loll hat das Gesicht in meinem Baby vergraben. »Das weiß ich doch alles, Marc. Wir müssen das nicht durchkauen.«

Mein Blick geht zurück zum Display.

»Angstzustände und Misstrauen – das könnte erklären, weshalb sie weggelaufen ist.«

Loll beißt sich auf die Lippe.

»Ruhelosigkeit – tja, sie ist nicht hier, das passt also auch.«

Nicht mal die Andeutung eines Lächelns.

»Verwirrung. Untypisches Verhalten. Wahnvorstellungen.«

Ich sehe sie vielsagend an.

»Es geht noch weiter. Alles ziemlich plausibel. Und ich sage dir, was noch plausibel ist: rein gar nichts. Wenn man gerade ein Baby bekommen hat und die Nerven verliert, dann heult man sich aus, man ruft eine Freundin an oder setzt einen panischen Facebook-Post ab. Man verschwindet nicht einfach. Eine andere Erklärung als die Psychose gibt es nicht.«

Loll legt das Baby zurück ins Bettchen und schlingt sich die Arme um den Leib wie eine Decke, obwohl draußen zwanzig Grad sind. Der Beginn des bisher wärmsten Tages im Jahr, und wir haben erst Mai.

»Ich weiß«, sagt sie in einem Ton, der hart ist wie Beton.

»Jedes Symptom, jedes …«

Sie legt mir sanft eine Hand auf den Arm, doch ihre Stimme klingt noch genauso streng wie zuvor. »Du musst mich nicht erst davon überzeugen, Marc«, sagt sie. »Ich bin zu jedem von Romillys Treffen mitgegangen. Ich habe die Krankheit bei meiner Mutter erlebt.«

Ich nicke. Sie hat mich in meine Schranken gewiesen, und ich füge mich. Loll ist die Expertin auf dem Gebiet.

Wir widmen uns wieder dem Baby.

Loll, die aufgrund eines Altersunterschieds von zehn Jahren oft so etwas wie eine Ersatzmutter für Romilly war, übernimmt abermals die Führung. Während ich auf der Kante des leeren Betts sitze, Nachrichten schreibe und jeden anrufe, der Romilly nahesteht, kramt sie in der Krankenhaustasche, die meine Frau gepackt hat, und murmelt: »Sachen für die Entlassung, gelbe Strickjacke, Mütze.«

»Ich glaube nicht, dass sie eine Mütze braucht, Loll«, sage ich, weil ich mich nützlich fühlen möchte, während ich mit dem Telefon in der Hand auf dem Bett sitze und wie ein Teenager die Beine baumeln lasse. »Es ist ziemlich warm heute.«

Ohne aufzublicken, kramt sie weiter. »Babys brauchen immer eine Mütze, Marc – das ist einfach so. Über ihr Köpfchen geht viel Körperwärme verloren.«

Stimmt das?

Ich schäme mich für meine Unwissenheit.

Ein Teil von mir will Loll sagen, sie soll die Kleine einfach in den erstbesten Strampler stecken, weil es vollkommen egal ist, was für Sachen sie trägt. Wir haben ganz andere Probleme.

Aber schließlich findet sie den weichen Body, nach dem sie gesucht hat, und fängt an, das Baby anzukleiden. Sie tut es langsam, fast als ob es ein Ritual wäre, und etwas daran beruhigt mich einige Augenblicke lang. Ich höre auf, Textnachrichten zu lesen, und betrachte stattdessen dieses winzige, zerbrechliche, puppenhafte Wesen.

Loll schaut mich an und hält inne.

»Ist das in Ordnung?«, fragt sie unvermittelt. »Dass ich es mache? Es kommt mir irgendwie nicht richtig vor. Eigentlich wäre das ja die Aufgabe der Eltern.«

»Nichts an dieser Situation ist richtig«, entgegne ich achselzuckend. »Außerdem sind es bloß Klamotten.«

Und hat unser Baby das nicht verdient? Einen hübschen Strampler, ein bisschen Feierlichkeit – all das, was andere Babys auch haben?

Ihr fehlen fünfzig Prozent ihrer Eltern, da können wir ihr wenigstens einen dreißig Pfund teuren John-Lewis-Strampler mit hübschem Kragen anziehen.

Als sie fertig ist, sehen Loll und ich uns an.

»Bereit?«, fragt sie.

Ich nicke.

Als wir gehen, macht niemand dieses Foto – Sie wissen schon, welches: ich von hinten mit dem Nachwuchs in der brandneuen Babyschale.

Niemand macht irgendein Foto von uns.

Im Auto bittet mich niemand von der Rückbank aus, langsamer zu fahren, noch langsamer, ganz langsam, bis nach Hause, denn es sitzt niemand auf der Rückbank, der das Händchen unseres Babys hält.

Loll nimmt ihren eigenen Wagen.

Ich bin mit meiner Tochter allein.

Stille.

Trotzdem machen wir uns auf den Heimweg. Starten in einen Tag, der sich völlig falsch, geradezu grotesk anfühlt. Das kann es doch nicht sein, denke ich bei mir, als sich ein dumpfes Gefühl in meiner Magengegend ausbreitet.

Romilly muss das alles rückgängig machen.

Doch ich habe die schreckliche Ahnung, dass sie es nicht tun wird.

Tag 2, 14:00 h

Der Ehemann

»Danke sehr.«

Ich nehme Blumen entgegen, die mir von jemandem geschickt wurden, der vergessen hat, eine Karte mit seinem Namen beizulegen oder sich zu vergewissern, dass dem neugeborenen Baby nicht zwischenzeitlich die Mutter abhandengekommen ist. Jemand, der von Romilly oder mir per Textnachricht über die Geburt unserer Tochter informiert wurde, in diesen herrlich normalen ersten Stunden, bevor sich alles änderte.

Als ich die Haustür schließen will, kommt mir ein Bild von Romilly in den Kopf, wie sie ihr den grasgrünen Anstrich verpasst hat, und auf einmal kann ich kaum noch atmen.

Das war letztes Jahr, kurz nach unserem Einzug.

Während der Bote wegfährt und, schon im Lieferwagen sitzend, noch einmal den Daumen in die Höhe reckt, bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Ich stelle mir meine Frau vor, wie sie in abgeschnittenen Jeans und mit nackten Füßen auf den Stufen kniet, die Beine voller Farbspritzer.

»Solltest du dir dafür nicht lieber einen Overall anziehen?«, fragte ich sie, während ich mit einem Bier in der Hand neben ihr an der Wand lehnte.

»Als ob wir Overalls hätten, Marc«, sagte Romilly lachend. »Echte Erwachsene haben Overalls. Loll hat wahrscheinlich einen. Ich schrubbe das nachher einfach unter der Dusche weg, und die Shorts lassen sich heiß waschen.«

»Und der …« Ich deutete auf den grünen Klecks auf den Fliesen im Eingangsbereich. Sie winkte ab.

»Sei still, Marc. Kein Wort mehr. Das gehört alles mit dazu. Außerdem verleiht es den Fliesen Charakter.«

In solchen Augenblicken war da etwas in ihrer Miene, gegen das man einfach nicht ankam.

Draußen vor der Tür stehen ihre königsblauen Gummistiefel verkehrt herum auf dem Ständer. Sie sind immer noch schmutzverkrustet von unserer letzten Wanderung vor ein paar Wochen, bei der Romilly der Bauch wehtat und das Baby so stark auf ihre Blase drückte, dass sie sich zum Pinkeln in die Büsche schlagen musste. Auf dem Heimweg legten wir einen Zwischenstopp ein, um eine Notration Kartoffelchips zu besorgen.

»Ich mag die schwangere Romilly und ihre Ernährungsgewohnheiten«, sagte ich lächelnd, während sie neben mir herging und sich aus der Familientüte Chips mit Salz-und-Essiggeschmack eine Handvoll nach der anderen in den Mund stopfte.

»Kein Wort zu den Kollegen im Café«, befahl sie und hob mahnend den Zeigefinger. Sie drohte damit, notfalls alles abzustreiten und zu behaupten, die Chips seien in Wahrheit Edamame gewesen. In dem Café, dessen Managerin sie ist, dreht sich alles um »Wellness«. Als ein Mann, der Coco Pops zu Mittag isst, konnte ich das noch nie ganz nachvollziehen.

Ich stehe an der Tür und stelle mir unser altes Leben vor. Es fühlt sich so an, als wären seitdem Jahre vergangen. Aber nein, es ist noch gar nicht lange her.

Meine olivgrünen Gummistiefel stehen neben denen meiner Frau. Sie sind fast zweimal so groß. Romilly trägt Schuhgröße sechsunddreißig, passend zu ihrer zierlichen Figur. Während der Schwangerschaft sah sie manchmal so aus, als würde sie gleich vornüberkippen.

Ich schließe die Tür und werfe die Blumen auf den Küchentisch, ohne sie ins Wasser zu stellen. Ich denke darüber nach, dass Blumen eigentlich etwas Schönes sein sollen, in Wirklichkeit aber oft bloß eine lästige Pflicht sind.

Scheiß auf Schönheit.

Meine Frau ist verschwunden, und sie leidet an einer psychischen Krankheit, die dazu führen könnte, dass sie sich das Leben nimmt. Jeden Moment. In diesem. Oder in diesem. Jetzt. Gleich. Irgendwann. Jederzeit.

Und da glaubt jemand ernsthaft, ich will nach einer Vase suchen und Stiele anschneiden? Ein scheißverdammtes Tütchen Blumennahrung ins Wasser schütten?

Schickt Bier, denke ich, wenn ihr mir unbedingt Geschenke machen wollt. Schickt eine Flasche Wodka. Schickt Beruhigungstabletten, damit ich schlafen kann, bis das alles hier vorbei ist.

Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, lasse ich mich auf das Sofa sinken, auf dem Romilly und ich schon so oft gesessen haben, dass es Vertiefungen hat, die zu unserer jeweiligen Körperform passen. Anfang der Woche hat Romilly hier noch mit ihrem kugelrunden Bauch gelegen und ein Buch über Hypnosegeburten gelesen. Auf der Armlehne ist ein winziger Fleck, weil Romillys beste Freundin Steffie mal zu Besuch war und Romilly beschwipst ihren Rotwein verschüttet hat. Dieses Haus atmet Romilly, es verströmt Romilly, es quillt förmlich über vor Romilly wie ein zu üppig gefüllter Burrito.

Nur sie selbst fehlt, und am liebsten würde ich alles, was auf sie hinweist, einsammeln und irgendwo wegsperren, in einen Schrank legen, bis wir die Situation in Ordnung gebracht haben.

Sie überall zu sehen, ist unerträglich.

Ich lasse den Kopf hängen und bedecke mein Gesicht mit den Händen.

Es ist zwei Uhr nachmittags. Vor etwas mehr als einem Tag haben wir gemerkt, dass Romilly weg ist.

Meine Schwägerin sitzt neben mir auf dem Sofa und hat das Baby im Arm. Ich spüre ihre Blicke auf mir.

Geht es ihm gut? Kommt er klar? Müssen wir Hilfe holen?

Wenigstens kennt sie die Wahrheit.

Ich weiß genau, was die Leute glauben werden – Leute, die über die Hintergründe nicht im Bilde sind.

Ist es seine Schuld?

Sie werden glauben, dass ich etwas Schlimmes gemacht habe. Dass ich Romilly wehgetan habe. Dass ich an allem schuld bin. Es ist immer der Ehemann und ähnliche Sprüche. Ich habe ein Fadenkreuz auf dem Rücken.

Und ich muss ein Lächeln aufsetzen, sie beschwichtigen und hoffen, dass sie erkennen, dass es diesmal nichts mit dem Ehemann zu tun hat. Ganz im Gegenteil: In dieser Geschichte ist der Ehemann der Gute, also lasst ihn gefälligst in Frieden.

»Wie geht es meiner Kleinen?«, frage ich und betrachte mein Baby.

Dann bücke ich mich und streichle unseren Labrador Henry, der zu meinen Füßen ruht, nachdem er seine gründliche Inspektion des Familienzuwachses abgeschlossen hat.

Ich schlinge die Arme um seinen kräftigen Leib und vergrabe die Hände in seinem weichen Fell. Ich atme tief ein. Wir haben ihn extra für die Ankunft des Babys gebadet. Der Geruch nach altem Teppich ist verschwunden, wenigstens für ein paar Wochen.

Das Baby hat noch keinen Namen. Eine solche Entscheidung trifft man gemeinsam, oder nicht? Da die Mutter verschwunden ist, bleibt das Kind also vorerst namenlos.

Loll streichelt das namenlose Näschen meiner namenlosen Tochter und lächelt in ihr namenloses Gesicht.

»Ihr geht es gut. Ein sehr zufriedenes Baby. Sie bekommt von dem Albtraum, der um sie herum vorgeht, überhaupt nichts mit.«

Ihr Lächeln verfliegt.

Schweigen.

»Sie kommt wieder«, sagt sie leise.

Ich antworte nicht.

Stattdessen blicke ich aus dem Fenster in den Tag hinaus. Ein kleines Kind saust wie ein roter Blitz auf seinem Roller vorbei. Die Tulpen, die wir letzten Herbst gesetzt haben, leuchten im Sonnenschein. Die Farbpalette des Tages ist hell und bunt. In meinem Innern herrscht Grau vor.

Die Atmosphäre hier drin ist drückend, als hielte sie den Atem an.

»Die Kinder sind in der Schule?«, frage ich Loll.

Dann denke ich daran, wie lächerlich es ist, dass ich mich trotz allem, was ich gerade durchmache, immer noch verpflichtet fühle, Smalltalk zu machen. Smalltalk ist so sinnlos, der Inbegriff von Nichtigkeit.

»Ich habe sie zu meiner Nachbarin gebracht«, sagt sie, während sie sich mit einer Hand die Stirn massiert. »Die Frau ist eine echte Heldin. Es sind gerade Halbjahresferien – ziemlich schlechtes Timing –, und ich hätte sie ja zu Jake gebracht, aber der Himmel weiß, wie der mit einem Besuch seiner Kinder klargekommen wäre, den wir nicht vier Wochen im Voraus vereinbart haben.«

Nein. Nein. Ich habe wirklich keine Nerven für eine Tirade über Lolls Ex-Mann Jake. Nicht, dass Loll das interessieren würde, wenn sie einmal beschließt, dass sie über Jake lästern möchte.

Nicht jetzt, Loll.

Ich versuche, mich auf meine Dankbarkeit zu besinnen. Ich kann froh sein, dass sie mir hilft.

Sie nimmt das Fläschchen in die Hand.

»So ein pflegeleichtes Baby«, schwärmt sie – als könnte mich ein pflegeleichtes Baby über den Verlust meiner Frau hinwegtrösten – und hält meiner namenlosen Tochter das Fläschchen in einem ganz bestimmten Winkel an die Lippen. Das hat irgendetwas mit dem natürlichen Milchfluss aus der Brust zu tun. Die Hebamme hat es mir erklärt, bevor wir gestern das Krankenhaus verlassen haben, aber es war ziemlich viel auf einmal. So langsam dämmert mir, dass die Pflege eines Neugeborenen sehr viele sehr spezielle Praktiken beinhaltet.

Ich habe genickt, als Julie mir das Fläschchen zeigte, meine Tochter fütterte und mir alles erklärte. Aber das eigentliche Kommando hatte Loll, während meine Gedanken ratterten: Deine Frau ist verschwunden, du hast keine Ahnung, wo sie ist, du trägst jetzt die alleinige Verantwortung für dieses Baby.

Inzwischen sind wir zu Hause. Ich dachte, hier würde ich Antworten finden, aber das war ein Irrtum. Romilly hat sich nicht gemeldet. Das Baby hat immer noch keine Mutter. Ich betrachte Loll, die auf Romillys Platz auf dem Sofa sitzt. Sie ist zu groß für Romillys Vertiefung. Sie ist nicht Romilly.

Aus dem Augenwinkel sehe ich Romillys Nagelfeile. Darauf befinden sich Fasern von dir, denke ich. Du bist nicht hier, aber trotzdem anwesend. Wie soll ich diese zwei Tatsachen miteinander vereinbaren?

»Bisher hat sie noch nicht gespuckt«, sagt Loll im Plauderton. »Ich hoffe, mit ihr wird es deutlich einfacher als mit meinen beiden.«

Ich sehe sie an.

»Noch keine Nachricht von der Polizei?«, frage ich.

Meine Schwägerin schüttelt den Kopf. »Sie überprüfen Krankenhäuser und Überwachungskameras.«

»Und von ihr selbst hast du auch nichts gehört?«, frage ich. Ein Schweißtropfen rinnt mir die Stirn hinab.

Lolls Kopf schnellt in die Höhe. Sie stellt kurz das Fläschchen weg, packt ihren Pferdeschwanz und zieht heftig daran. Als sie spricht, ist ihr Tonfall verändert.

»Marc, wenn ich von meiner Schwester gehört hätte, würde ich es dir selbstverständlich sagen.«

Beinhalten die Worte »meine Schwester« einen Besitzanspruch?

Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß ab.

Eine Pause entsteht.

Sie sieht mich mit hochgezogener Braue an. Schüttelt tadelnd den Kopf.

Ich weiß, dass sie es mir sagen würde, wenn sie von Romilly gehört hätte.

Die letzten zwei Tage war Loll unersetzlich. Sie hat das Baby gefüttert, gewickelt und auf dem Arm getragen.

»Ich weiß, das ist nicht leicht für dich, vor allem weil du mit den Kindern allein bist«, sage ich, und sie verzieht das Gesicht.

»Lass gut sein«, sagt sie, schiebt sich die Brille ins Haar und reibt sich ein Auge. »Ich versuche bloß, eine schlimme Situation ein bisschen weniger schlimm zu machen. Hier geht es nicht um mich.«

Ich hätte es wissen müssen. Loll kann es nicht ausstehen, als Opfer betrachtet zu werden. Das ist einer der Gründe, weshalb sie einen solchen Hass auf ihren Ex-Mann hat. Er hat sie zum Opfer gemacht, zur Zielscheibe mitleidiger Blicke, wohlmeinender Aufmunterungsversuche und Einladungen zu Paella-Abenden als einzige Alleinstehende unter lauter Paaren oder – noch schlimmer – im Rahmen eines Verkupplungsversuchs.

Manchmal glaube ich, wenn sie Gelegenheit gehabt hätte, hätte sie ihn umgebracht. Nicht, weil er sie verlassen hat. Sondern wegen der Peinlichkeit.

Eine Zeit lang sitzen wir schweigend da, Loll und ich, während sie dem Baby die Flasche gibt und dann eine Pause macht, die Flasche gibt und eine Pause macht und auf diese Weise den Milchfluss der fehlenden Mutterbrust imitiert. Auf dem anderen Sofa liegt Henry und gähnt. Es ist ein Geräusch wie das übertriebene Miauen einer Katze. Er leckt sich die Lefzen und lässt sich wieder in die Kissen sinken. Ich glaube, er gewöhnt sich langsam an den Familienzuwachs.

Doch als Lolls Handy klingelt, springt er sofort auf – er hat ein empfindsames Gehör.

Loll wirft einen Blick auf das Display. Reicht mir wortlos das Baby.

»Mum«, sagt sie. »Danke für den Rückruf.«

Ich musste Loll drängen, heute Morgen ihre Mutter Aurelia anzurufen. Sie meinte, das wäre sinnlos, sie wüsste ohnehin nichts, Romilly würde niemals zu ihr gehen, und es hätte keinen Zweck, sie unnötig zu ängstigen.

»Aber was, wenn sie doch etwas weiß?«, sagte ich ungläubig. »An wen würdest du dich denn wenden, wenn du gerade eine schwere Zeit durchmachst? Wäre deine Mum in so einem Fall nicht einer deiner Ansprechpartner?«

Irgendwann gab sie nach.

Erst jetzt, Stunden später, meldet sich Aurelia zurück. Das ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich grundsätzlich durchs Leben bewegt. Ich beneide sie um ihre Gemächlichkeit.

Ich beobachte Loll, während sie spricht. Ihre Miene gibt nichts preis.

Romillys und Lolls Vater lebt nicht mehr, aber im Grunde war er für die beiden Schwestern bereits lange vor seinem Tod gestorben. Angeblich hat er die Familie kurz nach Romillys Geburt verlassen und sich eine neue gesucht. Als sie klein waren, hielt er noch den Kontakt zu ihnen, allerdings nur sporadisch.

Meine eigene Mutter ist schon alt, sie lebt in einem Pflegeheim in Essex, und mein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Deshalb ist Aurelias verspäteter Rückruf das Maximum an elterlicher Fürsorge, das wir Erwachsene uns erhoffen dürfen.

Ich sitze dicht genug neben Loll, um auch die andere Seite der Unterhaltung mithören zu können, zumal Aurelia ziemlich laut redet.

»Entschuldige, Schatz, ich sitze im Camper!«, ruft sie. Sie und Bill, ein Mann Mitte siebzig mit langem weißem Bart und Slippern, den sie als ihren »Bekannten« bezeichnet, reisen gerade im Wohnmobil durchs Baskenland. »Aber ich habe deine Nachricht über Romilly erhalten. Du liebe Güte! Soll ich nach Hause kommen?«

Lolls Lippen sind geschürzt. Sie verdreht die Augen gen Himmel, als könne sie nicht glauben, dass es sich um ein ernst gemeintes Angebot handelt, oder als würde sie es für überflüssig halten. Vielleicht auch beides. Selbst ich muss zugeben, dass Aurelia wenig überzeugend klingt. Und sie gibt sich sehr wortkarg.

»Nein, ist schon gut«, sagt Loll.

»Frag, ob sie von ihr gehört hat«, zische ich.

Loll kommt meiner Bitte nach.

»Wie war das, Schatz? Von Romilly? Nein, wir haben seit der Textnachricht, dass das Baby da ist, nichts mehr von ihr gehört, nicht wahr, Bill? Aber falls sie hier auftaucht, schicke ich sie auf direktem Weg zu euch zurück.«

Jetzt bin ich derjenige, der die Augen verdreht.

Auch Loll schneidet eine Grimasse und schneidet ihrer Mutter das Wort ab.

»Wir halten euch auf dem Laufenden.«

»Ganz schlechter Empfang hier im Wohnmobil, Schatz!«, ruft Aurelia. »Aber ich bin mir sicher, es ist nur eine vorübergehende Panik nach der Geburt. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als ich zum ersten Mal versucht habe, dich an die Brust zu legen. Diese Schmerzen! Es hat gebrannt wie Feuer! Vielleicht hängt es damit zusammen?«

»M-hm«, macht Loll und rollt erneut mit den Augen. »Ja, kann schon sein. Wie auch immer. Ich helfe Marc mit dem Baby.«

»Schön. Schön. So was machst du ja gut, andere bemuttern. Er kann froh sein, dass er dich hat!«

Ich sehe, wie Loll zusammenzuckt. »Andere bemuttern?«

»Ich muss jetzt Schluss machen, Liebes, aber melde dich wieder, Lolly. Und sag Romilly, sie soll mich anrufen, wenn sie wieder zu Hause ist, ja? Die Arme, was für ein Durcheinander. Vielleicht braucht sie ihre Mum. Wir reden ein bisschen und verbringen Zeit miteinander – nur am Telefon, aber trotzdem.«

Lolls Miene verheißt nichts Gutes.

»Okay«, sagt sie. »Klar. Ein bisschen Zeit am Telefon. Ich muss jetzt los.«

Sie will schon auflegen, da fällt ihr noch etwas ein. »Ach so, und Mum – deine Enkeltochter ist übrigens bildhübsch. Nur falls es dich interessiert.«

»Ja, ich habe das Foto gesehen – ein süßer kleiner Fratz!«, sagt Aurelia geistesabwesend. Wahrscheinlich brütet sie schon längst wieder über einer Karte, sie sind auf dem Weg nach San Sebastián, und sie träumt bereits von der Meeresfrüchte-Platte, die sie sich zusammen mit einem halben Liter Cidre zum Mittagessen gönnen wird.

Ich stelle mir Welten vor, die außerhalb dieser existieren. Einfache Welten mit günstigen Meeresfrüchte-Platten und Straßenkarten. Mit Kunstgalerien, Zehenspitzen, die ins Meer getaucht werden, und Sonnencreme. Es erscheint mir wie Fantasterei.

Nachdem sie ihr Telefon weggelegt hat, lässt Loll den Kopf gegen die Sofalehne sinken und sitzt eine Zeit lang regungslos da.

»Ich hab’s dir doch gesagt«, murmelt sie irgendwann. »Sinnlos.«

Ich sehe sie an.

»Warum hast du ihr nicht gesagt, dass es eine postpartale Psychose ist?«

Loll wirft mir einen Blick zu und seufzt.

»Ich weiß nicht, was Romilly dir erzählt hat – oder wie viel sie von der Problematik unserer Mutter überhaupt verstanden hat. Ich habe immer versucht, sie davor zu beschützen. Aurelia muss in ihrer Blase leben. Man muss sie behandeln wie ein Kind. So wie ich mit meiner Dreijährigen nicht über den Tod spreche und gegenüber meiner Zehnjährigen so tue, als gäbe es keinen Sex, muss man sie von allem fernhalten, was sie stressen könnte. Man muss … man muss so tun, als gäbe es solche Dinge nicht. Weiter konnte ich nicht gehen. Wir reden einfach nicht über so was.«

Ihre Mutter ist der Grund, weshalb Romilly unter so genauer Beobachtung stand. Bei Aurelia, die in den Achtzigerjahren entband, wurde nie eine offizielle Diagnose gestellt, aber rückblickend sind Loll und Romilly sich einig, dass sie nach Romillys Geburt unter eine postpartalen Psychose gelitten haben muss.

Loll bohrt sich die Finger in die Stirn, als wolle sie einen imaginären Knopf drücken.

»Aber vielleicht hätte sie es gerne gewusst.« Ich mache eine Pause. »Vielleicht kann sie … Erkenntnisse beisteuern«, sage ich sanft. »Zumal sie ja selbst damit gelebt hat.«

»Sie war nicht die Einzige, die damit leben musste«, fährt Loll mich an. »Ich war auch dabei. Und ich war während der ganzen Zeit mehr bei Verstand als sie.« Sie seufzt. »Glaub es mir ruhig, Marc – meine Mutter kann mit unangenehmen Wahrheiten nicht umgehen.«

Sie zupft einen Fussel von ihrem schlichten grauen Pullover.

»Es geht nicht darum, dass sie ihr nicht gefallen, so wie es bei anderen vielleicht der Fall wäre – sie kann schlicht und ergreifend nicht damit umgehen. Man muss so was von ihr fernhalten. Das ist unsere Pflicht. Diese Situation jetzt ist da keine Ausnahme, im Gegenteil, sie ist sogar noch viel schlimmer – damit würde alles wieder in ihr hochkommen. Das kann ich ihr nicht antun.«

»Aber Romilly ist ihre Tochter, Loll. Du bist selbst Mutter, du weißt, worauf man sich da einlässt.«

Wir starren einander an.

Ich nicke, wage es jedoch nicht zu sprechen. Ich betrachte das Baby, und alles in mir zieht sich zusammen.

»Um ehrlich zu sein, ist Spanien gerade der ideale Aufenthaltsort für meine Mutter«, fährt Loll trocken fort. »Mehrere Flugstunden entfernt. Das Letzte, was du jetzt willst, ist, dass sie hier aufkreuzt. Es würde das Ganze nur schwerer machen, nicht leichter.« Ihre Miene ist düster.

»Wenn sie nicht bei ihrer Mutter ist, Loll«, sage ich und versuche das Gefühl zu unterdrücken, das in mir hochkommt, »wo würde sie dann hingehen? Was anderes fällt mir nämlich nicht ein.«

Ich sehe Henry an. Sein großer Kopf liegt zwischen seinen ausgestreckten Vorderpfoten. Ihm entfährt ein tiefer, trauriger Seufzer. »Na, fehlt sie dir, Kumpel?«

»Ob er ihr auch fehlt?«, frage ich Loll. »Trotz der Psychose? Oder ist da kein Platz mehr für solche Emotionen?«

Wie ich schon sagte: Sie ist die Expertin auf dem Gebiet. Ich habe keine Ahnung, was in diesem Zustand überhaupt noch zu Romilly durchdringt.

Aber falls etwas zu ihr durchdringen kann und falls ihr das Baby noch zu fremd ist, dann muss es der Gedanke an Henry sein. Sie liebt diesen Hund abgöttisch und kann es normalerweise kaum ertragen, ihn für vierundzwanzig Stunden alleine zu lassen.

Loll blickt mir ins Gesicht. Dann auf meine zu Fäusten geballten Hände. Ich entspanne meine Finger.

Etwas huscht über ihre Züge. Sie will etwas sagen, überlegt es sich jedoch anders. Als sie dann doch das Wort ergreift, hat sie ihre Miene wieder unter Kontrolle. »Ich weiß es nicht.«

Bestimmt bilde ich es mir nur ein, denn Loll besitzt die Emotionalität eines Steins, aber ich könnte schwören, dass ich eine winzige Träne in ihrem Auge sehe.

Liegt es an dem Gespräch mit ihrer Mutter? Oder sind die Tränen eine verspätete Reaktion auf alles, was unserer Familie in den letzten zwei Tagen widerfahren ist? Jeder hat seine Grenzen.

Loll hustet leise, während sie eine Textnachricht liest. Sie steckt das Telefon zurück in ihre Tasche und verlässt das Zimmer. Kurz darauf höre ich, wie der Schlüssel in der Badezimmertür herumgedreht wird.

Als sie zurückkommt, weiß sie nicht, was sie mit ihren Armen machen soll. Meine Schwägerin ist so sehr daran gewöhnt, ihre Kinder, die dreijährige Keira und die zehnjährige Lucy, um sich zu haben, sie zu versorgen, sauber zu machen und zu knuddeln, dass sie ohne sie unvollständig wirkt.

Bisher hat das Baby – mein Baby – diese Lücke ausgefüllt, aber jetzt halte ich sie im Arm, und Lolls Hände haben nichts zu tun. Ihrer Unbeholfenheit nach zu urteilen vielleicht zum ersten Mal seit zehn Jahren.

Also füllt sie sie mit benutzten Tellern und Tassen, gebrauchten Spucktüchern und dreckigen Windeln. Sie saugt die Haare weg, die Henry auf Schritt und Tritt verliert. Als es einige Zeit später an der Tür klopft, schläft die Kleine in ihrer Wiege. Loll hat eine Sprühflasche mit Reinigungsmittel gefunden und wischt wie eine Besessene Staub. Die Luft riecht scharf nach Sauberkeit.

»Ich mache auf«, sage ich. »Das ist bestimmt Steffie.«

Wenigstens hoffe ich es. Der gestrige Tag war wie eine einzige lange Totenwache für meine Frau. Alle, die Romilly kennen, hatten sich versammelt, nur Romilly selbst fehlte. Nachbarn kamen vorbei, um einen Blick auf das Baby zu werfen, die Mienen derart starr, dass sie aussahen wie Emojis. Ihre Worte passten dazu: nichtssagende Floskeln, die mir Mut machen sollten. Erst jetzt wird mir bewusst, was Loll bei ihrer Trennung durchgemacht haben muss.

Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen, dass sie die Situation hasst.

Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen, dass sie Jake am liebsten in Stücke reißen würde.

Kaum dass ich die Tür geöffnet habe, schlingt Steffie ihre langen Arme um mich. Ich lasse es zu. Ich bin heilfroh, jemanden zu sehen, der nicht ständig so angespannt und geschäftig ist wie Loll. Steffie wird bei mir sitzen und reden. Sie wird nicht das Bedürfnis verspüren, auf dem Fernseher Staub zu wischen.

»Ach, Marc, du Lieber«, seufzt sie. »Wie geht es dir?«

Ich nicke. Zucke mit den Schultern. Beiße mir auf die Lippe, um das Schluchzen zu unterdrücken, das in mir hochsteigt. Steffie nimmt mich gleich noch einmal in die Arme.

Romilly mag Körperkontakt, und Steffie ist genauso. Die beiden suchen ständig die Berührung zueinander. Ein Arm auf der Schulter, eine Hand an der Taille. Ineinander verschränkte Finger und Küsse aufs Haar. Sie merken es gar nicht, es geschieht unwillkürlich, weil sie so viel Zeit miteinander verbringen.

Steffie arbeitet in dem Café, das Romilly leitet (solange Romilly in der Babypause ist, hat Steffie den Posten der Managerin übernommen), und die beiden sind praktisch den ganzen Tag zusammen. Sie reichen grüne Smoothies über den Tresen, träufeln Chiliöl auf Teller und räumen Geschirr ab.

In gewisser Weise sind sie wie ein Paar. Ihr Zusammensein bietet die gleiche Verbundenheit, die gleiche Selbstverständlichkeit, die noch verstärkt wird dadurch, dass sie einander seit der Schulzeit kennen. In unserem Schlafzimmer gibt es Schubladen voll mit Postkarten, die sie sich während des Studiums geschrieben haben, zwei oder drei pro Woche, wie eine Art Tagebuch. Hin und wieder war auch ein ausführlicher Brief darunter, wenn ein kleines Rechteck nicht ausreichte. Sie sind es gewohnt, dass sich ihr Geist und ihre Körper denselben Raum teilen. Wenn sie zusammen verreisen, laufen sie oft nackt herum, hat Romilly mir einmal erzählt. So ist das wohl nach jahrelanger Freundschaft.

Manchmal fühlt es sich für mich anders an: Dann ist es, als ob meine Frau zur Hälfte mit jemand anderem verheiratet wäre.

Aber das Goodness Café ist Romillys zweites Zuhause, Steffie ist Romillys zweite Bezugsperson, und infolgedessen fühlen wir uns miteinander wohl. Steffie hat mir heute unzählige Nachrichten geschrieben. Jetzt ist sie in Tränen aufgelöst.

Während Loll anfängt, die Fenster zu putzen, halten Steffie und ich uns immer noch gegenseitig fest. Ihre sehnigen Arme sind nackt, weil sie nur ein Laufshirt trägt, und sie riecht leicht nach Schweiß. Ich drücke sie an mich.

»Entschuldige, dass ich dich gefragt habe, wie es dir geht«, sagt sie, als sie sich endlich von mir löst. Sie fasst ihre hüftlangen aschblonden Haare zusammen und dreht sie am Oberknopf zu einem Knoten. Mir fallen die Haarstoppeln in ihren Achselhöhlen auf.

Sie streift sich die Laufschuhe von den Füßen. »Blöde Frage.«