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Die Sonne brennt über Boundary Pond, dem traumhaften Urlaubsparadies an der kanadisch-amerikanischen Grenze. Doch als Zaza Mulligan und Sissy Morgen, beste Freundinnen und zwei blonde Lolitas, nacheinander im tiefen Wald verschwinden, beginnen sich Wolken über dem Paradies am See zusammenzubrauen. Die Dunkelheit erfasst die Idylle von Boundary Pond … Wer könnte es auf die Mädchen abgesehen haben? Und vor allem, warum?
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Seitenzahl: 458
Veröffentlichungsjahr: 2021
Zum Buch
Die Sonne brennt über Boundary Pond, dem traumhaften Urlaubsparadies an der kanadisch-amerikanischen Grenze. Doch als Zaza Mulligan und Sissy Morgen, beste Freundinnen und zwei blonde Lolitas, nacheinander im tiefen Wald verschwinden, beginnen sich Wolken über dem Paradies am See zusammenzubrauen. Die Dunkelheit erfasst die Idylle von Boundary Pond … Wer könnte es auf die Mädchen abgesehen haben? Und vor allem, warum?
Zur Autorin
Andrée A. Michaud, 1957 in Saint-Sébastien in Québec, Kanada, geboren, hat an der Université du Québec à Montréal studiert und zahlreiche Literaturpreise für ihre Thriller erhalten, zuletzt den Prix Saint-Pacôme du roman policier, den Prix du Gouverneur général pour romans et nouvelles und den Prix Arthur Ellis sowie den SNCF-Preis für ihren Erfolgsroman »Die Vermissten aus Boundary Pond«.
Andrée A. Michaud
Die Vermissten aus Boundary Pond
Thriller
Aus dem Französischen von Gerhard Meier
Die kanadische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Bondrée« bei Éditions Québec Amérique, Montréal.
Die Übersetzung wurde gefördert durch den Canada Council for the Arts.
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Deutsche Erstausgabe Oktober 2021
by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Éditions Québec Amérique Inc. und Andrée A. Michaud
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © Getty Images/John and Lisa Merrill; Shutterstock/Ensuper; TRR
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
mr · Herstellung: sc
ISBN978-3-641-24892-5V001
www.btb-verlag.de
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Bondrée ist ein Landstrich, in dem die Schatten dem grellsten Licht widerstehen, eine Enklave, deren üppige Vegetation an die unberührten Wälder erinnert, die vor drei, vier Jahrhunderten den nordamerikanischen Kontinent überzogen. Der Name ist eine Verballhornung des Wortes »boundary«, Grenze. Dabei deutet keinerlei Grenzlinie an, dass die Gegend zu einem anderen Land gehörte als zu den gemäßigten Wäldern, die sich von Maine in den USA bis in den Südosten der Beauce in Québec erstrecken. Boundary ist heimatloses Land, Niemandsland, es umfasst einen See, Boundary Pond, und einen Berg, den die Jäger in Moose Trap – Elchfalle – umtauften, nachdem sie festgestellt hatten, dass Elchen, die sich ans Westufer des Sees wagten, der steile Felsen, der ebenso ungerührt auch die Abendsonne verschluckt, zur Falle wurde. Zu Bondrée gehören ein paar Hektar Wald, Peter’s Woods genannt, nach Pierre Landry, einem kanadischen Trapper, der sich in den Vierzigerjahren dort niedergelassen hatte, um dem Krieg zu entgehen, um also dem Tod zu entkommen, indem er den Tod gab. Ein knappes Dutzend Jahre später errichteten Stille suchende Städter in diesem Eden Ferienhäuser und zwangen Landry dadurch, sich tief in den Wald zurückzuziehen, bis die Schönheit einer Frau namens Maggie Harrison ihn dazu trieb, wieder am See herumzustreifen, und somit die Verkettung begann, die ihm sein Paradies zur Hölle machen sollte.
Die Kinder waren längst im Bett, als Zaza Mulligan am Freitag, den 21. Juli, die Einfahrt zum Ferienhaus ihrer Eltern hinaufging und dabei AWhiter Shade of Pale summte. Procol Harum hatte das Lied ins sprühende Sommerfeuer des Jahres 1967 gejagt, neben Lucy in the Sky with Diamonds. Sie hatte zu viel getrunken, aber das war ihr egal. Es gefiel ihr, wie alles um sie herum tanzte und sich die Bäume in der Nacht wellten. Ihr gefiel, wie träge der Alkohol sie machte und wie seltsam uneben und wackelig der Boden war, sodass sie die Arme heben musste, wie ein Vogel die Flügel ausbreitet, um sich vom Aufwind tragen zu lassen. Bird, bird, sweet bird, sang sie zu einer unsinnigen Melodie, wie sie betrunkenen jungen Mädchen einfällt, und mit ihren langen Armen mimte sie einen Albatros, jenen Vogel aus anderen Gefilden, der über wogenden Meeren kreist. Alles taumelte um sie her, führte ein schlaffes Eigenleben, bis hin zum Schlüsselloch der Haustür, in das sie den Schlüssel nicht hineinbrachte. Never mind, eigentlich wollte sie gar nicht heim. Die Nacht war zu schön, die Sterne zu leuchtend. So kehrte sie um, ging die Zedernallee hinab und dann einfach vor sich hin, mit dem einzigen Ziel, sich an ihrer Trunkenheit zu berauschen.
Kurz hinter dem Campingplatz bog sie in den Otter Trail ein, wo sie zu Sommeranfang Mark Meyer geküsst hatte und darauf sogleich zu Sissy Morgan geeilt war, ihrer Freundin seit jeher und für immer, auf Leben und Tod, auf Leben und Ewigkeit, und ihr brühwarm erzählt hatte, Meyers Zunge habe sich wie eine Schnecke angefühlt. Die Erinnerung, wie die weiche Zunge windend nach der ihren getastet hatte, ließ etwas Galliges in ihr hochsteigen, und so hatte sie ausgespuckt, ums Haar auf ihre neuen Sandalen. Mit ein paar ungeschickten Schritten, über die sie prustend lachen musste, ging sie tiefer in den Wald hinein. Es war still dort, durch kein Geräusch wurde der Frieden jenes Ortes gestört, nicht mal durch ihre Fußtritte auf dem schwammigen Boden. Da umwehte auf einmal eine leichte Brise ihre Knie, und hinter sich vernahm sie ein Knacken. Der Wind, sagte sie sich, wind on my knees, wind in the trees, ohne sich Gedanken zu machen, woher dieser Laut inmitten der Stille wohl kam. Und doch tat ihr Herz einen Sprung, als ein Fuchs an ihr vorbeihuschte, und ihr entfuhr ein nervöses Lachen. Die Nacht rief nur Angst hervor, weil sie diese gern in den Augen der Kinder las. Isn’t it, Sis?, murmelte sie und dachte an die fernen Tage zurück, als sie mit Sissy versucht hatte, die Geister zu beschwören, von denen der Wald bevölkert war, den Geist von Pete Landry, den von Tangara, der Frau, die mit ihren roten Kleidern Landry verzaubert hatte, und den von Sugar Baby, den man auf dem Gipfel von Moose Trap kläffen hörte. All diese Geister waren nun aus dem Kopf von Zaza verschwunden, doch der schwarze, mondlose Himmel ließ die Erinnerung an das rote Kleid aufleben, das zwischen die Bäume flüchtete.
Als sie auf einen Pfad abbiegen wollte, der sich mit dem Otter Trail kreuzte, ertönte hinter ihr ein lauteres Knacken. Der Fuchs, dachte sie, fox in the trees, und wollte nicht zulassen, dass die Dunkelheit ihr den Spaß verdarb, indem sie dumme Kinderängste ausgrub. Sie lebte, sie war betrunken, und der Wald um sie herum mochte ruhig zusammenstürzen, sie würde weder vor der Nacht kneifen noch vor dem Bellen eines seit Jahrhunderten toten und vergrabenen Hundes. Zwischen den wogenden Bäumen summte sie wieder A Whiter Shade of Pale und stellte sich vor, sie tanzte eng an einen kräftigen Unbekannten geschmiegt, aber da stolperte sie über eine krumme Wurzel und blieb stehen.
Das Knacken kam näher, und die Angst schaffte es diesmal unter ihre feuchte Haut. Who’s there?, rief sie, doch der Wald verfiel wieder in Schweigen. Who’s there?, schrie sie, da fuhr ein Schatten über den Pfad, und Zaza Mulligan wich zurück.
Ich erinnere mich an den Weasel Trail und den Otter Trail, an die Turtle Road, die Côte Croche und die Eistaucher, die Wellen und die in Nebelschwaden getauchten Piers. Nichts habe ich von den Wäldern Bondrées vergessen, nichts von ihrem durchdringenden Grün, das mir heute allein aus dem Leuchten eines Traums entstanden scheint. Dabei ist nichts wirklicher als diese Wälder, in denen noch das Blut des Rotfuchses fließt, und nichts wahrer als die Süßwasser, in denen ich dort badete, lang nach dem Tod von Pierre Landry, der dort noch immer herumgeisterte.
Viele Geschichten waren über den Mann im Umlauf, von dem es hieß, er sei von namenlosem Zorn erfüllt gewesen. Geschichten voller Bestialität, Grausamkeit und Wahnsinn, die einem vorgaukelten, Landry habe, indem er sich dem Krieg verweigerte, einen Blutpakt mit dem Wald geschlossen. Manche bedienten sich bei diesen absurden Legenden, um zu erklären, warum Landry sich in seiner Hütte erhängt hatte, doch in der plausibelsten Version war die Rede von einer Liebesgeschichte und einer Frau, die er Tangara nannte, da sich ihre roten Kleider für ihn mit dem Flug jener scharlachroten Vögel vermischten. Das Gedenken an jene Frau, die man spontan mit Landry in Verbindung brachte, hatte sich allmählich ins Gedächtnis von Boundary eingeschlichen. Man hatte ein Gespenst daraus gemacht, das die Kinder abends anriefen, wenn sie in das am Ufer tanzende Dunkel hinaussahen. Tangara, flüsterten sie ängstlich, Tangara von Bondrée, und sie hofften, aus dem dünnen Nebel, der übers Wasser strich, würde die Gestalt jener Vogelfrau auftauchen, die das kranke Gehirn Landrys aus ein paar Fetzen roter Seide geformt hatte. Ich selbst wagte sie nicht anzurufen, denn ich fürchtete, das Gespenst würde Gestalt annehmen und mir hinterherjagen. Lieber setzte ich mich auf einen riesigen Baum und wartete auf die strahlende Ankunft der Tangaras im dichten Waldteppich von Bondrée, den der Bau der zum See führenden Straße kaum angetastet hatte.
Eben jene Straße, so hieß es, habe Landry gezwungen, sich in die Tiefe des Waldes zurückzuziehen, denn über sie rückten die Ferienhäuser an, die Männer und Frauen, die Stimmen, die sich in den Lärm der Schaufeln und Motoren mischten. Kurz nach diesem Umbruch tauchten in der jungfräulichen Landschaft bunte Tupfer auf und bildeten eine winzige Enklave, in der, einige Monate im Jahr, Farben auflebten und sich dem endlosen Grün widersetzten, in dem Landry sein lächerliches Imperium errichtet hatte.
Obwohl nicht so viele Sommerurlauber kamen, wurde die Wildnis durch die Gegenwart des Menschen doch eine Weile gestört. Ab Anfang Juni wurden Türen zugeschlagen, rauschten Transistorradios, und manchmal hörte man ein Kind lauthals verkünden, es habe eine Elritze gefischt. Erst im Juli wurde es so richtig lebhaft in Bondrée, dann spülte es in Fülle Jugendliche herbei, erschöpfte Mütter, Haustiere und Familienkutschen, die so vollgeladen waren, dass sie fast rauchten, wenn sie die letzte Kurve zur Turtle Road nahmen, dem um den See herum angelegten Schotterweg, der angeblich dem Pfad folgte, den früher einmal Schildkröten auf ihrem Rückzug aus trocknenden Flüssen entlanggekrochen waren. All diese Menschen, deren Autos auf der Turtle Road dahinschaukelten, bildeten eine gemischte Gemeinschaft, in der Anglophone und Frankophone aus Maine, New Hampshire und Québec nebeneinanderher lebten, ohne groß miteinander zu reden, und sich oft mit einem kurzen Winken und einem Bonjour! oder Hi! begnügten, durch das sie zugleich ihren Unterschied markierten, aber auch zeigten, dass sie gemeinsam jenem Ort verbunden waren, den sie erwählt hatten, um eine vage Verbundenheit mit der Natur zu signalisieren, von der sie sich ansonsten ausgeschlossen fühlten.
Wir kamen immer nach dem Johannistag, wenn die Schule zu Ende war, bei jedem Wetter. In jenem Jahr hatte Papa allerdings drei Tage auf der Expo 67 in Montréal springen lassen, mit Pfannkuchen, Zuckerwatte, Hot Dogs und interstellarer Raumfahrt, und danach, den Kopf voller Afrika und Sputniks, fuhren wir los in Richtung Bondrée und zelebrierten damit die vertrauten Rituale, ohne die ein Sommer kein Sommer gewesen wäre.
Es war immer der gleiche Ablauf, und er schmeckte nach einer Freiheit, wie sie nur völliger Unbekümmertheit entspringen konnte. Während meine Eltern das Auto entluden, ging ich zum See hinunter und sog begierig die Düfte von Bondrée ein. Zum Geruch von Wasser, Fischen, sommerwarmen Nadelbäumen und feuchtem Sand gesellte sich der leicht schimmelige Muff, der sich im Haus hartnäckig bis September hielt, und das trotz der geöffneten Fenster, des Duftes von Steaks und Obstpudding und des herben Parfums der von meiner Mutter gepflückten Wildblumen. An all diese Gerüche, die sich von Juni bis zu den ersten kühlen Nächten verströmten, kam nur die mit Grün und Blau, mit Gischtgrau gesättigte Feuchtigkeit der Luft heran, die für mich meine Kindheit ausmacht. Das sonnenbeschienene Farbenspektrum jener feuchtwarmen Sommer, in denen ich heranwuchs.
Ich war erst sechs, als meine Eltern das Ferienhaus kauften, das aus Zedernschindeln gefertigt und von schattenspendenden Birken und Weißfichten umstanden war. Aus einem Zimmer mit großer Glasfront hatten wir einen wundervollen Blick auf den See. Das war denn auch der Grund, aus dem sie das Grundstück erstanden hatten: die Veranda, die Bäume, der Zugang zu einem Traum von natürlicher Unschuld, der ihnen im Alltag abhandengekommen war.
Bei der Geburt meines Bruders Bob waren sie erst zwanzig, bei meiner dreiundzwanzig, und als Millie dazukam, achtundzwanzig, und waren sie auch noch jung, so war ihre Vorstellung vom Glück doch schon zusammengeschrumpft, auf eine Veranda und einen wilden Garten nämlich, in dem Petersilie und Gladiolen durcheinanderwuchsen.
Ich wusste nichts von den Träumen, die mit der Jungfräulichkeit meiner Mutter verflogen waren, mit dem Windelwaschen und den vielen Rechnungen, die sich auf dem ins Wohnzimmer gezwängten Schreibtisch meines Vaters häuften. Mir war nicht bewusst, dass meine Eltern noch jung waren, und meine Mutter schön, und dass mein Vater lachte wie ein Kind, wenn er mal vergessen konnte, dass er selbst drei davon hatte. Am Samstagmorgen schwang er sich auf sein altes Rad und fuhr in rund vierzig Minuten um den See herum. Meine Mutter drückte auf die Stoppuhr, sah ihm nach, wenn er zwischen den Bäumen verschwand, die Kurve an der Ménard-Bucht nahm, und sie stieß einen Freudenschrei aus, wenn er seinen eigenen Rekord brach. Neununddreißig Minuten, Sam!, rief sie mit einer Begeisterung aus, die sich mir nicht ganz erschloss, denn ich wusste ja nicht, dass mein Vater ein zum Haushaltswarenhändler umgeschulter Athlet war und imstande gewesen wäre, den jungen Burschen davonzufahren, die die Mädchen beeindrucken wollten, indem sie die Côte Croche, von den Anglophonen Snake Hill genannt, mit den Füßen auf dem Lenker hinunterrasten.
Das Leben meiner Eltern begann mit mir, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie eine Vergangenheit hatten. In der Lowney’s Schokoladenbox, die uns als Familienalbum diente, posierte ein Mädchen in Schwarzweiß, aber das glich überhaupt nicht meiner Mutter, genauso wenig wie der Junge mit den raspelkurzen Haaren, der an einem Weidezaun stand und an einem Heuhalm kaute, Ähnlichkeit mit meinem Vater hatte. Jene Kinder gehörten einem Universum an, das keinerlei Gemeinsamkeit mit den Erwachsenen aufwies, die in ihrer Unveränderlichkeit für die Beständigkeit der Welt bürgten. Florence und Samuel Duchamp bezogen nur daraus eine Identität, dass sie als Versorger, Beschützer oder Spielverderber in Erscheinung traten. Sie waren da und würden dies immer sein, vertraute Gestalten, die in mir, neben Bob und Millie, ihre einzige Existenzberechtigung hatten.
Erst im Lauf jenes Sommers, als die Ereignisse sich überstürzten und ich allmählich die Orientierung verlor, begriff ich, dass die kleinen Menschen aus der Lowney’s Schokoladenbox überlebt hatten, und mit ihnen die Ängste, die tief in jeder Kindheit stecken und sofort wieder hochkommen, wenn man feststellt, dass die Stabilität der Welt auf einem Fundament ruht, das schon ein Windstoß davontragen kann.
Sissy Morgan und Elisabeth Mulligan, genannt Zaza, die beiden Mädchen, durch die das Unglück seinen Lauf nehmen sollte, waren noch fast Kinder, als wir zum ersten Mal nach Bondrée kamen, doch sie waren schon unzertrennlich, und Zaza zog sich immer an wie Sissy, und umgekehrt. Für Zwillinge hätte man sie halten können, die eine rothaarig, die andere blond, wie sie da so die Côte Croche hinunterrannten und sich zuriefen look,Sissy, look! run, Zaza, run!, als zwinge irgendeine Kreatur sie, sich die Lunge aus dem Leib zu laufen. Run, Zaza, run! Meine Mutter nannte sie die Andrews Sisters, obwohl die zu dritt waren und tausendmal besser sangen als Sissy und Zaza.
Meine Mutter, die den Mädchennamen Florence Richard gehabt hatte, liebte alles, was aus der Mode war, inklusive die Andrews Sisters, nach deren Vorbild sie versuchte, den Boogie Woogie Bugle Boy zu tanzen. In den seltenen Fällen, in denen sie sich zu so etwas hinreißen ließ, was ich schlichtweg als Exhibitionismus empfand, rückte ich so weit weg wie möglich von dem alten Plattenspieler, auf dem die Stimmen der Andrews Sisters rauschten, denn es war mir peinlich, dass meine Mutter sich so zur Schau stellte. Tanzen war nichts für Mütter. Jugend auch nicht. Das war nur etwas für LaVerne, Maxene und Patty Andrews, die Art von Mädchen, zu denen Zaza Mulligan und Sissy Morgan einmal werden würden, so wie Denise Lachapelle, eine unserer Nachbarinnen in der Stadt, die sich aufreizend kleidete und lauter Freunde hatte, die sie am Samstagabend in einem Cabrio abholten, oder mit einem Motorrad, einer Kawa 750, die in der lauen Abendluft brummte und meinen Vater neidisch machte, der mit einem alten Ford 59 herumkurvte, weil er sich nichts anderes leisten konnte.
Sissy und Zaza waren in meinen Augen angehende Denise Lachapelles, die später mal den Jungs den Kopf verdrehen und sich am Samstagabend schminken würden. Für die meisten Leute aber waren sie einfach nur verwöhnte, verzogene Gören, reichlich unbeliebt, weil sie sich alles erlauben durften. Sie waren wie Halme, die sich dorthin bogen, wo der Wind sie hinblies, eine an die andere gelehnt, doch irgendwann würden sie abknicken. Kein Unkraut, nur einfach Pflanzen ohne Stütze, denen man nicht verbieten konnte, ein Faible für die Sonne zu haben. Ich wäre gerne das Mädchen gewesen, durch das ihr Duo zu einem Trio wurde, aber sie hatten nichts übrig für eine vier, fünf Jahre Jüngere, die meinte, sie könne sie mit ihrer Sammlung lebender Insekten oder mit einer gefangenen Kröte beeindrucken. Hew!, riefen sie da aus, is this your brother? Dann lachten sie lauthals und schenkten mir ein Bonbon oder einen Bubblegum, denn sie fanden mich süß, she’s so cute, Sissy. Dann machten sie sich davon und ließen mich mit meiner Kröte, meinen Heuschrecken, meinen Zikaden und meinen Süßigkeiten einfach stehen. Manchmal fragte ich meine Mutter, was das bedeutete, »frogue«, »foc« oder »chize«. Käse, erwiderte sie und lachte bei dem Wort »cheese«, während sie bei »foc« so eine feige Mutterpirouette drehte, bei der einem der Rock nicht bis übers Knie schwingt, und von Tieren schwafelte, die am Nordpol leben und Eskimo sprechen, lauter Blödsinn, typische Antworten von Erwachsenen, die vergessen haben, wie sehr ein zweckentfremdetes Wort einen Kindergeist durcheinanderbringen kann.
Die Bonbons aß ich nie. Ich legte sie in meine Schatzkiste, eine eckige Weißblechdose mit einem Weihnachtsbaum darauf, in der ich auch Kiesel, Federn, Zweige und Natternhäute aufhob. Die Bubblegums waren für besondere Momente gedacht, wenn ich etwa gesehen hatte, wie ein Waschbär in den Mülleimern herumwühlte oder eine Forelle an der Seeoberfläche eine Fliege schnappte. Das kleinste bisschen Kaninchendreck an meinen roten Leinenschuhen bauschte ich zum Ereignis auf, um mich wieder unter der Virginia-Kiefer zu verstecken, deren Äste bis zum Boden reichten, und in diesem Schattenreich, das ich meine Hütte nannte, packte ich einen Bubblegum aus und sagte, here, a baby yum for you, littoldolle. Mit meiner jungenhaften Art hatte ich zwar nichts von einer Puppe an mir, aber ich war stolz darauf, den beiden faszinierendsten Geschöpfen von Bondrée, Heuschrecken und Salamander eingeschlossen, ein Bild zu präsentieren, das an die Perfektion ihres vergoldeten Universums herankam. Ich knetete den baby yum weich, dann klebte ich ihn mir an den Gaumen und lächelte: here, littoldolle. Jene Bubblegums waren gewissermaßen die Urahnen der Pall Mall, die ich später begehren würde, das Erkennungsmerkmal von Sissy und Zaza, die riesige Blasen schafften, ohne dass die ihnen beim Platzen das ganze Gesicht verklebten. In meiner Hütte übte ich das Platzenlassen, so wie man Rauchkringel übt, dann vergrub ich den Kaugummi unter Kiefernnadeln und kehrte zum See zurück, zu den Eichhörnchenfährten, zu all den einfachen Dingen voller Gerüche, über die ich später zu meiner Kindheit zurückfinden würde, zum simplen Glück eines Flügelschlags, der einen Duft nach Ginster hochsteigen lässt.
Der letzte Sommer, den wir in Bondrée verbrachten, war jedoch von einem neuen Geruch geprägt, einem Geruch nach Fleisch, nach Sex und Blut, der aus dem feuchten Wald emporstieg, wenn der Abend hereinbrach und vom Berg der Name Tangara widerhallte. Nichts ließ jedoch vermuten, dass jener hartnäckige Duft sich verbreiten würde, wenn um den See herum, eines nach dem anderen, die Lagerfeuer entfacht wurden, bei den Ménards, den Tanguays, den McBains. Nichts schien die braungebrannte Trägheit von Boundary verdunkeln zu können, denn es war ja der Sommer 1967, der Sommer von Lucy in the Sky with Diamonds und der Weltausstellung in Montréal, der Summer ofLove, wie Zaza Mulligan gerne ausrief, während Sissy Morgan Lucy in the Sky anstimmte und Franky-Frenchie Lamar mit einem orangefarbenen Reifen auf dem Steg der Morgans Hula-Hoop tanzte. Der Juli bot uns seine Pracht, und niemand konnte ahnen, dass Lucys Diamanten bald von den Fallen Pete Landrys zermalmt würden.
Dabei knallte das Echo der Fallen bis zur Grenze von Maine, denn Zaza Mulligan und Sissy Morgan, die man für Mädchen hielt, die sich zu vorgerückter Stunde vergessen, sollten sich tief ins Gedächtnis von Bondrée einbrennen und uns somit beweisen, dass Wesen wie Pete Landry, die zu sehr mit dem Wald verbunden sind, nie ganz sterben. Die beiden folgten Landry in das Gewirr des Waldes, den er durchmessen hatte, und wurden dadurch selbst zu Legenden, in denen die Rothaarige und die Blonde allmählich durcheinandergerieten, denn wo man Sissy erblickte, sah man bestimmt auch Zaza. Kinder hatten sogar ein doofes Lied erfunden, das sie zur Melodie von Only the Lonely sangen, sobald die Mädchen vorbeistolzierten, doch denen war das egal, sie waren die Prinzessinnen von Boundary, die rote und die blonde Lolita, nach denen die Männer sich die Augen ausguckten, denn die beiden hatten gelernt, wie sie ihre braunen Beine in Szene setzen mussten.
Die meisten Frauen mochten die beiden nicht, und das nicht nur, weil sie irgendwann mal ihren Mann oder Verlobten dabei ertappt hatten, wie er Zazas Nabel anstarrte, sondern auch, weil Sissy und Zaza ihrerseits die Frauen nicht mochten. Jene waren nichts weiter als Konkurrentinnen, deren Verführungspotenzial sie einschätzten und sich dabei kichernd anstießen. Auch die Männer mochten die beiden nicht, deren einziges Ziel es anscheinend war, in ihnen etwas zu erregen, was sie höchstens bei anderen Männern vermuteten. In den Augen der Männer waren die beiden nichts als Objekte, von denen sie fantasierten und sich dabei die größten Sauereien vorstellten, Zaza mit gespreizten Schenkeln, Sissy auf den Knien, zwei Anmacherinnen, die man hinterher zusammen mit dem Taschentuch wegwirft, wenn einen die Frau zum Abendessen ruft und man sich schämt, getan zu haben, was alle Männer tun.
So war man denn über das, was ihnen zugestoßen war, nicht weiter überrascht. Die Mädchen hatten das doch herausgefordert, dachten die meisten Menschen unwillkürlich, und für solche Gedanken empfanden sie sogleich klebrige Reue und hätten sich am liebsten selbst geschlagen, sich bis aufs Blut geohrfeigt, denn die Mädchen waren tot, mein Gott, tot, for Christ’s sake, und genauso wenig wie jeder andere verdienten sie, was man ihnen da angetan hatte. Es hatte dieses Unglücks bedurft, damit man in den Mädchen mal etwas anderes sah als Intrigantinnen und endlich begriff, dass sich hinter ihrer ganzen Art nichts anderes versteckte als eine große Leere, in die jeder sich töricht hineinstürzte, weil er nur die braune Haut über dieser Leere sah. Hätte das Leben ihnen nicht den Boden unter den Füßen weggezogen, so hätten sie die gähnende Leere vielleicht füllen und die anderen Frauen mögen können. Aber es war zu spät, und niemand würde je erfahren, ob Zaza und Sissy von Grund auf verdorben und dazu verurteilt waren, das zu werden, was man Bitches oder alte Bitches nannte. So war man ihnen fast schon gram, tot zu sein und solche Gewissenserforschungen auszulösen, bei denen man ermaß, wie armselig und engstirnig man gewesen war und wie leichtfertig man zu einem Urteil, ja einer Verurteilung gekommen war, ohne vorher selbst einmal in den Spiegel zu sehen.
Zum Glück war es September geworden, denn gegen Ende des Sommers hatte nicht weniger als die Hälfte der Menschen, die die kleine Gemeinschaft von Bondrée ausmachten, einen solchen Selbsthass entwickelt, dass viele bereit waren, diesen auch einzugestehen, während die andere Hälfte allmählich lernte, wie wertvoll doch die Lüge sein kann, wenn man darauf aus ist, sich sein Selbstwertgefühl zu erhalten. Ich für meinen Teil war von dem Schuldgefühl, das an den Erwachsenen nagte, verschont, denn weder kannte ich die wahre Bedeutung des Wortes »bitch«, noch wusste ich, wie schwer es auf einem lasten kann, in Gedanken zu sündigen, also der fürchterlichen Versuchung zu erliegen, die einem das Gewissen ebenso sehr versaut wie eine Umsetzung in die Tat. Spiegel mied ich nicht wegen Sissy oder Zaza, sondern weil ich zwölf war und mich hässlich fand. Ich hegte eine ehrliche Bewunderung für die beiden Mädchen mit den seidigen Haaren, die nach Pfirsich und Maiglöckchen rochen, Fotoromane lasen und Rock ’n’ Roll tanzten wie die Groupies, die im Fernsehen zu kanadischen Gruppen wie Les Excentriques oder César et les Romains die Hüften schwangen. In meinen Augen verkörperten sie eine Weiblichkeit, von der ich nicht mal zu träumen wagte, eine Illustriertenweiblichkeit, die Mädchen mit langen Beinen und lackierten Nägeln vorbehalten war. Ich beobachtete sie aus der Ferne und versuchte, ihren Gang und ihre Posen nachzumachen, ihre Art, eine Zigarette zu halten, und dabei sehnte ich den Tag herbei, an dem ich den Rauch einer Pall Mall genau wie Zaza Mulligan herausblasen und dabei den Kopf zurückwerfen und der Sonne einen Schmollmund entgegenstrecken würde. Ich hob ein Zweiglein auf, hielt es behutsam zwischen Zeige- und Mittelfinger und sagte, foc, Sissy, disse boy iz a frog, bis der Ruf eines Eistauchers oder das Klopfen eines Spechts mich zurück zum See, zum Fluss und zu den Bäumen brachten.
Liebend gern hätte auch ich eine Freundin gehabt, zu der ich beim Tanzen foc hätte sagen können, doch die einzige Jugendliche meines Alters in Bondrée war ein Mädchen aus Concord, Massachusetts, das sich für Vivien Leigh in Vom Winde verweht hielt und sich den lieben Tag lang auf der Terrasse seiner Eltern Luft zufächelte. Papperlapapp! Sowieso brachte ich damals kaum mehr als ein paar Brocken Englisch heraus, see you soon, raccoon, solchen Blödsinn, und ich war überzeugt, dass Jane Mary Brown, so hieß das Mädchen, nicht einmal wusste, wie man yes oder no auf Französisch sagte. Franky, I not gave a down, sagte ich zu ihr an dem Tag, als sie mir die Tür vor der Nase zuschlug, und verunstaltete damit ungeniert den berühmten Satz, den Clark Gable, während im Hintergrund Virginia brennt, Vivien Leigh um die Ohren haut: »Frankly, my dear, I don’t give it a damn.« Der Fall Jane Mary Brown war damit erledigt.
Françoise Lamar dagegen, deren Eltern ein Jahr zuvor das Haus neben dem unseren gekauft hatten, sprach ebenso makellos Englisch wie Französisch und flippte jedes Mal aus, wenn ein Anglophoner ihren Vornamen massakrierte. Ihre Mutter Suzanne Langlois hatte darauf bestanden, dass die Tochter einen typisch französischen Vornamen bekam, obwohl Franky einen anglophonen Vater hatte und mitten in New Hampshire aufgewachsen war. Zu Anfang des Sommers 1967 gab sie irgendwann den Liegestuhl auf, in dem sie sonst von morgens bis abends in der Sonne briet, und näherte sich Sissy und Zaza an. Sie fing an, Pall Mall zu rauchen, die sie unter dem Gummizug ihrer Bermudas oder ihrer getüpfelten Shorts versteckte, wenn sie aus dem Haus ging und dabei das Fliegengitter zuknallen ließ. Ich weiß ja nicht, wie sie es schaffte, aber sie brauchte nur ein paar Tage, um sich an das Duo Sissy-Zaza heranzumachen, das ich für unnahbar gehalten hatte. Von da an sah man auf der Reling des Außenborders der Mulligans nicht mehr nur zwei Paar Beine ausgestreckt, sondern drei, umwölkt von weißem Rauch, während aus dem Radio die Hits des Tages dröhnten.
Lang nach der Geschichte von Pierre Landry begann so die des Sommers 1967, mit Lucy in the Sky with Diamonds, mit einer Freundschaft und mit drei Paar Beinen, die man überall sah, zu viel sah, ständig, begleitet von obszönen Witzen und einem dreckigen Lachen, das zusammen mit Papiertaschentüchern in einen offenen Abwasserkanal fiel.
Für die Händler in Jackman und Moose River, denen er seine Felle verkaufte, wurde aus Pierre Landry rasch Peter oder Pete Laundry, ein Einzelgänger, der ein Mischmasch aus Englisch und Französisch sprach und sich mit Biberfett einrieb. Ein Einzelgänger war er tatsächlich, ein Verbannter, der aber dennoch nicht jeglichen Kontakt zu seinen Mitmenschen aufgegeben hatte. In der Nähe von Moose Trap bekam er manchmal Besuch, im Oktober von einem Jäger und im Juni von einem Fischer, mit dem er sich dann eine Flasche Canadian Club teilte, doch im Winter bewunderte er ganz alleine die eisige Schönheit von Boundary, das er in seinem Kauderwelsch in Bondrée umtaufte, das raue Land Bondrée. Zu seinen regelmäßigeren Besuchern zählte ein junger Mann namens Little Hawk, ein langer Kerl mit einer Adlernase, dem Landry die Grundlagen des Fallenstellens beibrachte, die er wiederum von seinem Vater und seinem Großvater kannte, die sich von allem ernährt hatten, was die Beauce an Felltieren und Federvieh zählte. Little Hawk war sein Freund, der einzige Mensch, den er mitnahm, um die Ausbeute seiner Fallen zu prüfen, und eigentlich der einzige Mensch, mit dem er den Tod teilte. Little Hawk und er sprachen nicht die gleiche Sprache, abgesehen von ein paar Wörtern, dennoch benutzten sie eine Sprache, die ihnen gemeinsam war, nämlich die der Gesten und der Stille, die zum Überleben notwendig waren. Blieb Little Hawk über Nacht, so setzten sie sich auf Petes wackelige Veranda und horchten in den Wald hinaus, auf das Knurren und Fiepen der Tiere, die sich gegenseitig auffraßen. Die Art, wie Little Hawk dann den Kopf zur Seite neigte, verriet Pete, dass sie sich ähnlich waren, zwei Wesen, die die traurige Notwendigkeit dessen akzeptieren, was andere Grausamkeit nennen, obwohl es doch nur das Echo des urzeitlichen Atems der Erde ist. Als Little Hawk irgendwann nicht mehr kam, wartete Landry zunächst und kam dann zu dem Schluss, jener sei wohl jetzt in die Falle getappt, der er selbst entgangen war, indem er von Québec fort war und sich einem Krieg verweigert hatte, von dem er nichts verstand und in dem der Tod in seinen Augen keinerlei Sinn hatte. Little Hawk hatte nicht so viel Glück gehabt. Wie Tausende junger Yankees hatte er in Roosevelts Lotterie eine einfache Fahrt nach Europa gewonnen, weil man ihn für fähig hielt zu kämpfen, nur fragte keiner danach, ob er auch fähig war, zu sterben oder mit dem Tod zu verkehren.
Als Landry niemanden mehr hatte, mit dem er über die Schönheit der Wälder und über die Tiere sprechen konnte, die sich darin vermehrten, verschanzte er sich in Schweigen. Zu Anfang sprach er noch mit den Bäumen und den Tieren und wandte sich an die Klarheit des Sees. Auch unterhielt er sich mit sich selbst, sagte sich das Wetter vorher, beschrieb Gewitter, erzählte sich abgestandene Witze und Geschichten von Anglern, die sich in ihrer Leine verheddert hatten, doch dann verließ die Sprache ihn allmählich. Er dachte die Wörter, aber sie verblieben in ihm, lösten sich in seinen Gedanken auf, und es verschwammen die Konturen der Dinge, deren Benennung nicht mehr nötig erschien. Die Vorstellung davon bestand weiter, schlug sich aber nicht mehr in Lauten nieder. Dabei hatte er, als Little Hawk ihn noch besuchte und mit ihm seine Bachsaiblinge teilte, gerade in den von der Stille phrasierten Nächten den wahren Sinn der Rede wiederentdeckt. Little Hawk war nicht geschwätzig, doch hatte er durch ihn wieder Freude empfunden, sich über den Himmel auszulassen, blau zu sagen, oder Wolke, midnight blue oder stormy clouds. Als Little Hawk fort war, hatte das Blau keine Daseinsberechtigung mehr, genauso wenig wie das Lächeln, das er in den Spiegel zu senden suchte, wenn er sich im angeschlagenen Spülbecken darunter wusch oder seine Töpfe spülte.
Dann war das Blau plötzlich wieder erschienen, mit der Ankunft der Hacken und Schaufeln und der brummenden Gerätschaften, die eine Straße und Häuser bauten, und nicht nur das Blau, sondern alle Farben der Schöpfung, als völlig unvorhergesehen Maggie Harrison auftauchte und in scharlachroten Kleidern am See entlanglief und im Mondschein tanzte und dem Himmel den Kopf verdrehte. Wäre er dazu imstande gewesen, hätte Landry all die höllischen Maschinen zum Teufel geschickt, die doch kein anderes Ziel hatten, als alles zu zerstören, was ihm gehörte, die Stille, das klare Wasser, den ätherischen Flug der Eistaucher, doch die langen schwarzen Haare von Maggie Harrison hatten den unablässigen Lärm rasch gedämpft. Auf der Stelle hatte er sich in die Frau mit der zu hellen Haut verliebt, deren Bild er raubte, um sie im reinen Wasser eines Baches auf den Namen Marie umzutaufen. Und auf der Stelle hatte er angefangen, sie zu beobachten, wenn sie auf den See hinausschwamm oder mit ihrem Hund Sugar, Sugar Baby my love, den Strand entlangspazierte. Im Dickicht verborgen sah Landry ihr zu, wie sie mit den Wellen tanzte, und flüsterte Marie, Baby, my love. Ganz leise sprach er die Worte, die seine Liebe verrieten, ganz leise, um sie nicht zu erschrecken, my love, denn Maggie Harrison, zusammen mit den Farben der Schöpfung, hatte ihm wieder Lust auf die Wörter gemacht, die von der Freude künden, Marie, sweet bird, Tangara von Bondrée.
Eine Weile dauerte diese Harmonie so an, dann wurden dem Liebeswerben Pierre Landrys plötzlich ganz andere Wörter entgegnet, brutale Wörter, Bastard, Dreckskerl, und ausgestoßen wurden sie von Männern, die gesehen hatten, wie Landry aus dem Wald heraus auf den Strand zuging. Bastard, Dreckskerl, dabei wollte er doch nur näher kommen, wollte nur die Konturen der Dinge betasten, durch die er wieder zur Sprache gefunden hatte. Er hatte die Arme ausgestreckt, und Marie hatte ihn zurückgestoßen, step back, als er ihre Hände berühren wollte, ihre Augen, ihre roten Lippen, die don’t sagten, ihre glänzenden Lippen, die sich zu einem großen schwarzen Loch öffneten und schrien, don’t, stay away, don’t touch me!
Am selben Tag noch war Pierre Landry in den Wäldern verschwunden und wurde nicht mehr um den Boundary Pond herum gesehen. Gefunden wurde er schließlich von dem Trapper Willy Preston, the Bear genannt, der ihn einige Wochen später erhängt in seiner Hütte entdeckte, zerfressen schon von Fliegen und Würmern, tot vermutlich seit dem Neumond. In der Nähe der Hütte lag Sugar Baby, Sugar Baby my love, am Morgen erst verschwunden, nun von einer Falle zerfetzt. Kurz vor Sonnenuntergang trat Preston aus dem Wald heraus, mit Sugar Baby auf den Armen. Da durchfurchte das Schreien Maggie Harrisons den ätherischen Flug der Eistaucher, vermählte sich mit deren Heulen und ließ selbst über die Arme der geschäftigen Männer einen Schauder fahren. Nach zwei, drei Nächten verklang das Echo des Schreiens an den Hängen von Moose Trap, und Maggie Harrison verließ Bondreé, ihr Schatten gestützt auf die eingesunkene Schulter ihres Mannes. Ebenso wie Landry wurden die beiden nie wieder in der Gegend gesehen, weder sie noch er, die beide den Namen Sugar Babys brüllten.
Von allen Menschen, die damals Bondrée besuchten, hatten lediglich Don und Martha Irving und die Tanguays, also Jean-Louis, Flora und der alte Pat, Pete Landry gekannt, soweit man einen Mann überhaupt kennen kann, der nur aus dem Wald herauskommt, um gleich wieder darin zu verschwinden. Sie hatten beobachtet, wie er in der Bucht, die später Ménard-Bucht heißen sollte, knurrend seine Hütte abriss, um sie weiter entfernt, wo die Schaufeln und die Maschinen nicht hinkamen, wiederaufzubauen. Und sie hatten gesehen, wie er an der Mündung des Spider River im klaren Wasser seine Kleider wusch, ohne Seife, die dem Dreck Herr geworden wäre, und er war dabei splitternackt und hager, und die Hüften formten eine Schale, in der der hohle Bauch lag.
Manche bedrängten Don und Martha Irving, sie sollten doch erzählen, was sie über Landry wussten, doch Don murmelte nur, das gehe keinen was an, none of your goddam business, während Martha einem den Rauch ihrer vierzigsten Player’s des Tages ins Gesicht blies.
Nicht anders ging es den Leuten mit Pat Tanguay, der aus Respekt vor den Toten nicht über Landry sprach, wie er immer sagte, wenn er mit einem Korb voller zappelnder Fische vorbeischlurfte, und weil er den Tratsch hasste, der unweigerlich entstand, sobald man etwas erzählte, egal was. Seine Schwiegertochter Flora dagegen hielt sich mit Erfindungen über Landry nicht zurück. Eines Tages habe sie ihn in seiner Hütte aufgesucht, unter Nachbarn müsse man sich schließlich kennenlernen. Angesichts des eisigen Empfangs, den Landry ihr bereitet habe, sei sie bis zur Tür zurückgewichen und habe sich dabei ihr rosafarbenes Baumwollkleid zerrissen, von dem ein paar Fäden am Türrahmen hängen geblieben seien. Flora Tanguay ließ keine Gelegenheit verstreichen, ihre Expedition wieder und wieder zu erzählen, und beschrieb dabei die Biberfelle an den Wänden der Hütte, die einen aus glasigen Augen angestarrt hätten wie Leichen, und zu diesen Leichen fantasierte sie mal einen Luchs-, mal einen Wolfskopf dazu und redete von Blut, von Maßlosigkeit, von Bestialität. Ihr war die Geschichte von Tangara zu verdanken, an der sie in allen Richtungen herumzerrte und sie je nach Aufmerksamkeit ihres Zuhörers umerzählte.
Manche sagten, man hätte Flora Tanguay am besten knebeln sollen, denn mit ihrem Geschwätz beschädige sie den ohnehin schon nicht glänzenden Ruf eines Mannes, der – soweit man wusste – niemandem etwas zu Leide getan hatte, weder Maggie Harrison noch Sugar Baby, deren Tod nur ein bedauerlicher Unfall war. Landry war nichts weiter als eines der Opfer des Waldes, verloren in seiner Faszination für die Schönheit der Blumen und der Vögel. Nur in einem waren sich alle mit Flora Tanguay einig, nämlich darin, wie menschenscheu Landry war, was sich im Frost seines letzten Winters noch verschlimmern und im Sommer darauf zu verstörender Verwirrung führen sollte.
Nach dem Tod Landrys glaubte man jedoch, niemand um den See herum könne von jenem Mangel an Menschlichkeit erfasst werden, der sich aus zu großer Nähe zu den Tieren ergibt. Die paar Verrückten, die sich noch in der Gegend herumtrieben, waren nicht wirklich gefährlich. Da war natürlich der leicht bekloppte Pat Tanguay, der die meiste Zeit in seinem Ruderboot verbrachte, aber das tat er wohl vor allem, um dem pausenlosen Geschwätz seiner Schwiegertochter zu entgehen, die ja selbst zu den Originalen der Umgebung zählen durfte. Dann gab es noch den Veteranen Bill Cochrane, der in Gewitternächten das Grollen von Kriegsmaschinen hörte, und Charlotte Morgan, die den ganzen Tag im Schlafanzug herumlief und erst in der Dämmerung aus dem Haus ging, um sich ihre weiße Haut zu bewahren, aber niemand war von einem ähnlichen Leiden befallen wie Landry, der mit dem Wald schließlich eins geworden war. Zaza Mulligan und Sissy Morgan wiederum waren nur anders als die meisten. Und doch war die Grausamkeit durch sie zurückgekommen, wegen ihnen, dachte man, ohne es auszusprechen, denn die Mädchen waren ja tot, mein Gott, dead, for Christ’s sake! Aber wegen ihrer Schönheit und der von Maggie Harrison, wegen der Schönheit aller glücklichen und begehrenswerten Frauen, waren die Fallen Pete Landrys aus der schwarzen Erde aufgetaucht, und mit ihnen die Gewalt der anderen Menschen.
Who’s there? Who’s fucking there?, schrie Zaza Mulligan, bevor auf einmal ein Männerschatten, in ihren Augen ein riesiger, mit gebeugtem Rücken den Pfad überquerte. Einen Augenblick war ihr, als ob ihre Beine durch die Kühle des Bodens gefühllos würden, als ob ein langes, feuchtes Tier sich an ihrer Haut riebe, und sie tastete nach etwas, nach einem Baum, um sich abzustützen. Es war jetzt nicht der Moment, um ohnmächtig zu werden, nicht jetzt, Zaz, not now, please. Sie krallte die Nägel in die Rinde einer Eiche, atmete tief durch und rief wieder, who’s there? who’s fucking there?, und versuchte, dabei ruhig zu bleiben, damit der Mann die Angst nicht roch, die ihr aus sämtlichen Poren trat, doch ihr versagte schon fast die Stimme, und in den Augen brannten ihr Tränen, die sie mit dem Handrücken abwischte, um der finsteren, dahinwellenden Nacht einen Anschein von Klarheit zu verschaffen.
Who are you, for Christ’s sake? Der Schatten aber blieb stumm. Unbeweglich und stumm. Nur das Geräusch seines Atems drang zu Zaza, und das versuchte sie, mit dem Fuchs zu verknüpfen, der ihr zuvor über den Weg gelaufen war, wind on my knees, fox in the trees. So etwas durfte ihr nicht passieren, nicht ihr, nicht jetzt. It’s a fox, Zaz, you’re drunk, it’s a fucking fox, or a bear, that’s it, a damned bear, denn viel lieber hätte Zaza es mit einem Bären zu tun gehabt als mit dem unsichtbaren und zu schweigsamen Mann. Talk to me, please! You’re not funny!
Sie wehrte die Bilder ab, die sich ihr aufdrängten, eines furchtbarer als das andere, und klammerte sich an die Vorstellung, da wolle ihr nur jemand Angst einjagen, that’s it, so einen richtigen Schrecken. Mark, isthis you? Sissy? Frenchie? Der Schatten aber blieb stumm, in seinen langsamen Atem gehüllt.
Den Blick weiter auf die dunkle, ruhige Masse gerichtet, in die sich der Schatten des Tieres geflüchtet hatte, it’s a fox, it’s just a bear, begann Zaza Mulligan zurückzuweichen, Schritt um Schritt, ganz leise auf dem schwammigen Boden. It’s a fox. Da sauste auf ihre Schulter eine Hand herab, und Zaza Mulligan schrie auf.
Gefunden wurde Zaza von Gilles Ménard, der ganz in der Nähe wohnte. Eine alte, mit der Zeit überwachsene Bärenfalle hatte ihr ein Bein abgetrennt. Das rostige Eisen hatte den Knochen blankgeschlagen, das lange weiße Schienbein eines Mädchens mit langen Beinen.
Zaza hatte fast achtundvierzig Stunden kein Lebenszeichen von sich gegeben, doch da ihre Eltern fort waren, hatte sich niemand Sorgen gemacht, mit Ausnahme von Sissy Morgan, deren Stimme zwei Tage lang über den See gehallt war, von Samstagmorgen bis Sonntagmittag, während die Männer ihren Rasen mähten oder beim Zeitunglesen genüsslich ein Bier tranken. Die beiden Mädchen hatten zusammen mit Françoise Lamar, genannt Franky-Frenchie, den Freitagabend auf dem Campingplatz verbracht. Gegen elf Uhr hatten sie sich getrennt, nachdem sie sich eine von Frenchie aus der Hausbar ihres Vaters stibitzte kleine Flasche Gin geteilt hatten. Marcel Dumas, der neben dem Campingplatz wohnte, hatte sie lachen hören, als sie unter seinem Schlafzimmerfenster vorbeigegangen waren, und eine von ihnen war gestolpert, er wusste nicht welche, und da hatten sie erst recht gekichert.
Sissy war durch die Hintertür ins Haus gegangen, um nicht ihren Eltern über den Weg zu laufen, die gerade die McBains zu Gast hatten, und sie war direkt in ihr Zimmer hochgegangen. Sie legte sich sofort hin, ohne sich auszuziehen, hielt sich am Laken fest, damit das Bett nicht so wackelte, und fiel dann in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie aber bald durch heftige Übelkeit herausgerissen wurde. Als sie zur Toilette lief, um sich zu übergeben, stieß draußen eine Schleiereule ihre Schreie aus, die sich anhörten wie die einer misshandelten Frau. Es durchfuhr sie ein Schauer, während sich in die Klosettschüssel ein rosafarbener Schwall ergoss. Zaza, murmelte sie, und die Schleiereule verstummte.
Als sie am Samstagmorgen ihr Bettzeug auf dem Boden sah, wusste sie erst gar nicht, wo sie war, dann drang das Gepiepe der Schleiereule durch das Zischen der Wellen hindurch. Das Bild von Zaza klappte ins Halbdunkel des Zimmers, und Sissy eilte zum Telefon, das ihr Vater gerade erst hatte installieren lassen, damit sie Zaza anrufen konnte. Als niemand abhob, stürzte sie trotz ihrer Kopfschmerzen aus dem Haus, ohne zu frühstücken oder sich die Zähne zu putzen, und sie klopfte bei den Mulligans und versetzte der Tür wütende Fußtritte, als niemand öffnete. Schließlich kletterte sie durch das kleine Küchenfenster ins Haus und musste über das Spülbecken kriechen, in dem sich schmutziges Geschirr stapelte, goddam, Zaz, you could have washed your dishes, dann rief sie, Zaza, Zaz, und lief dabei durchs ganze Haus, das riesige Wohnzimmer, die vier Schlafzimmer, das Ankleidezimmer und das Esszimmer in der Verlängerung der Küche, Zaza, where are you, dammit? Da sie Zaza nirgends fand, fuhr sie mit dem Fahrrad um den See herum und rief dabei ständig den Namen ihrer Freundin und drohte ihr, sie würde ihr die Nägel ausreißen, die Haare, die Augen, überhaupt alles, was man jemandem ausreißen will, wenn man als junges Mädchen Riesenschiss hat. Mehrere Anwohner sahen sie auf der Turtle Road mit hochrotem Kopf vorbeihecheln. What’s happening?, fragte Stella McBain und verlor dabei eine Masche ihres Strickzeugs. Ed, ihr Mann, erwiderte, das sei Sissy gewesen, die Tochter von Victor, die fahre ihrem Schatten hinterher.
Nach zwei Stunden erfolgloser Suche überwand Sissy ihren Stolz und klingelte Frenchie Lamar aus dem Bett, die immer bis in die Puppen schlief, und wollte sie mitnehmen. Frenchie hatte auch einen ziemlichen Kater, und da sie sich nicht drängen lassen wollte, machte sie sich erst mal einen Nescafé. Die ist bestimmt zu ihren Eltern in die Stadt, sagte sie zu Sissy und kippte immer wieder Zucker nach, je leerer sie ihre Tasse trank, oder sie hat einen nächtlichen Ausflug mit Mark Meyer gemacht, dem Wärter des Campingplatzes, den sie gern antörnte, nur damit er scharf auf sie war. Das glaubte Sissy aber nicht. Wäre Zaza in die Stadt gefahren, hätte sie ihr das vorher gesagt. Zaza erzählte Sissy alles, und umgekehrt. Sissy glaubte auch nicht, dass Zaza mit Mark Meyer abgehauen wäre. Mark war ein Dummkopf, ein Angeber, der beim Küssen speichelte wie eine Schnecke. Sie hatte es auch mit ihm versucht, vor Zaza, nach Zaza, egal. Nie wäre Zaza weg mit this stupidguy, nie ohne es ihr zu sagen, never!
Frenchie gab zurück, so dumm sei Meyer gar nicht, und sie und Zaza würden ihn nur nicht richtig kennen, und dann marschierten sie zum Campingplatz, die eine sauer auf die andere. Conrad Plamondon, der Besitzer des Campingplatzes, der sich am Wärterhäuschen zu schaffen machte, erinnerte sie daran, dass Meyer frei hatte, und Frenchie schalt sich eine Idiotin, weil sie vergessen hatte, dass Mark am Samstag nicht arbeitete. I told you, she’s with him, rief sie und trat auf einen kaputten Ball, she’s with him, that bitch. It’s impossible, protestierte Sissy, totallyand fucking impossible. And Zaza’s not a bitch! Sie kickte den kaputten Ball weg, worauf Frenchie sie einfach stehen ließ, um sich wieder in die Sonne zu legen. Zaza hätte mir das gesagt, Zaza would have told me, rief Sissy ihr hinterher, dann verbrachte sie eine Stunde lang damit, Steine ins Wasser zu werfen, faustgroße Steine, die abwechselnd Franky-Frenchie Lamar, Mark Meyer und Zaza Mulligan galten. Youwould have told me, wiederholte sie jedes Mal, wenn sie den Namen Zaza aussprach, stets gefolgt von bitch, so verzweifelt war sie. Sie allein durfte Zaza so nennen, ihre Freundin seit jeher und für immer: bitch! In ihre Sorge mischte sich nun auch Wut, denn aus welchem Grund auch immer Zaza sich in Luft aufgelöst hatte, sie hatte auf jeden Fall ihre Freundin angelogen oder ihr etwas verheimlicht. Es sei denn, es war ein Unfall passiert, und Zaza hatte sich etwa ein Mitternachtsbad gegönnt und war dabei von einem Magenkrampf erwischt worden, von einem Herzstechen, durch das sie sich so sehr krümmte, dass ihre Klagen nicht bis ans Ufer drangen. Sandra Miller wäre so im Jahr davor beinahe ertrunken, als sie zwischen den Wellen nach Luft rang. Hätte der alte Pat Tanguay sie an jenem Morgen nicht herausgefischt, wäre sie geradewegs abgesoffen und den Hechten zum Fraß geworden. Aber Zaza war nicht Sandra Miller, und Zaza war nicht dumm. Sie schwamm wie eine Meerjungfrau, und zwar locker quer über den See und zurück.
Oder Zaza war betrunken, oder Zaza stank nach Gin, sinnierte Sissy, als sie den heißen Stein in der Hand wog, den sie am liebsten auf den erstbesten Kerl geworfen hätte, der gerade längs kam. Und Pat Tanguay, so verschroben der alte Kerl auch sein mochte, fischte dennoch nicht mitten in der Nacht. Run, Sissy, run! Und so lief Sissy, andere Feriengäste sahen sie vorbeirennen, mit fliegenden Haaren und vielleicht auch Tränen in den vor Staub geröteten Augen. Sie ließ den Stein, den sie erst noch hielt, zu ihren Füßen fallen und eilte zu sich nach Hause, in die Arme ihrer Mutter, denn wohin anderes konnte ein Mädchen, das nicht weiterwusste, sich wohl flüchten als in die Arme seiner Mutter, seiner Erzeugerin, die seine Tränen trocknen und es trösten sollte.
Als Sissy hereinplatzte, mixte Charlotte Morgan sich gerade den ersten Nachmittagscocktail, doch war sie zu sehr damit beschäftigt, eines der kleinen Schirmchen aus Holz und Reispapier aufzuspannen, die sie auch sammelte, als dass ihr die Aufregung ihrer Tochter aufgefallen wäre. Bloody hell, Sissy, go have a shower, sagte sie in aller Ruhe, ein wenig abgestoßen von den schweißverklebten Haaren ihrer Tochter, den schmutzigen Händen und Füßen und dem mit Gott weiß was für einer Substanz befleckten Pullunder. Unter anderen Umständen wäre Sissy hinausgestürmt und hätte die Tür hinter sich zugeschlagen, doch nun brauchte sie einen Erwachsenen, jetzt, sofort, jemanden, der die Polizei und Zazas Eltern anrief, den See ausbaggern ließ, die Nachbarn alarmierte und ihren Vater per Telefon bat, so schnell wie möglich heimzukommen.
Charlotte Morgan tat nichts von alledem. Sie schlürfte ihren Daiquiri, hörte zerstreut ihrer Tochter zu und sagte schließlich, da brauche man sich gar nicht zu beunruhigen, denn Zaza sei nun mal die Art von Mädchen, die verschwindet und wieder auftaucht, ohne Bescheid zu sagen. That kind of girl, sagte sie abschätzig, und Sissy fühlte sich geohrfeigt. That kind of girl, wiederholte ihre Mutter und wusste dabei sehr gut, dass Sissy und Zaza gleich waren, ja für Zwillinge gehalten wurden, Blutsschwestern, Babys, die man im selben verfluchten Korb gefunden hatte. That kind of girl, you know? Da wich Sissy zurück. Sie ließ ihre Mutter mit ihrem Daiquiri sitzen und begann sich bei den Nachbarn zu erkundigen, die ihr allesamt das Gleiche antworteten, thatkind of girl, nur in höflicheren, verlogeneren Worten. Sogar die Kleine hatte sie gefragt, die immer ihre Nase in alles steckte, die kleine Aundrey Soundso, Aundrey Whatever. Ganz im Gegenteil zu sonst hatte sie nichts gesehen und nichts gehört, schien aber durch das Verschwinden Zazas irritiert zu sein. Kurzerhand spannte Sissy sie ein, um den Waldrand abzusuchen, die Hinterhöfe, das Flussufer. Sissy wollte sich am Campingplatz und in der Ménard-Bucht umsehen, die Kleine sollte den Nordteil abgehen, vom Haus der McBains bis zu dem von Brian Larue. Treffpunkt zwei Stunden später an der gleichen Stelle unterhalb von Snake Hill. Da die Kleine keine Uhr hatte, lieh Sissy ihr die ihre, sie würde sich später eine von Frenchie holen, dann trennten sie sich. Als der Nachmittag langsam zu Ende ging, trafen sie sich wieder, unverrichteter Dinge. Aundrey hatte einiges aufgesammelt, eine Chipstüte, eine Krähenfeder, ein Streichholzbriefchen und einen Perlmuttknopf. Sogar einen Ohrring hatte sie gefunden, den Zaza zu Sommeranfang verloren hatte, den hielt sie nun Sissy ganz aufgeregt hin, und die schloss ihn fest in ihre Hand und musste dabei ihre Tränen unterdrücken, sie strich der Kleinen übers Haar, das voller Reisig und Tannennadeln war, und sagte ihr, sie solle nach Hause gehen.
Es war die Stunde, in der die Männer den Grill anwarfen und die Mütter ihre Kinder riefen, Michael, Marnie, Dexter, supper time, Julie Bernard, eure Hot Dogs brennen an, come on. Gesprächsfetzen vermischten sich mit Geschirrklappern und mit dem Geruch der Holzkohle und der auf dem Grill brutzelnden Würstchen und Brotscheiben. Bei den Morgans aß man später, wie bei zivilisierten Leuten, sagte Charlotte Morgan, die ein Jahr zuvor an der Côte d’Azur gewesen war und sich seither für Prinzessin Grace von Monaco hielt. Sissy hatte den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen und kam vor Hunger fast um, doch war sie zu stolz, um sich unter dem verächtlichen Blick ihrer Mutter ein Sandwich zuzubereiten. No way! Lieber krepieren oder Don Irving um einen Hamburger anbetteln und dabei die Frisur seiner Frau anstaunen, eines Waschbretts mit Dauerwelle, das nach Essig roch und zwei Schachteln Player’s am Tag rauchte. Aber dazu war Sissy nicht in der Stimmung. Sie ging lieber zurück zum Haus der Mulligans, dort würde sie auf der Veranda auf Zaza warten, aber sich erst mal in der Art-déco-Küche von Sarah Mulligan, der Mutter von Zaza, etwas zum Essen holen. Sie kletterte durchs Küchenfenster, landete wieder auf dem schmutzigen Geschirrstapel und fragte sich, warum sie beim letzten Mal nicht die Tür entriegelt hatte. Der Kühlschrank war wie üblich leer, und im Vorratsschrank sah es kaum besser aus, doch war sie derart ausgehungert, dass sie auch ein Glas Senf leer gelöffelt hätte. Sie begnügte sich schließlich mit einer Packung Froot Loops, die sie mit raus auf die Veranda nahm, denn vom Mief im Haus wurde ihr schlecht.
Sie schämte sich, hier zu essen, während ihre beste Freundin womöglich auf dem Seegrund weiße Kiesel sammelte, diese magischen Kiesel, die sie früher immer zu einem Himalaya auftürmten, doch der Hunger und das im Magen widerhallende Knurren waren doch stärker als die Scham. Zum Hunger gesellte sich auch die aus der Angst erwachsende Gier, die Sissys Hand immer wieder frenetisch in die Packung fahren ließ, während sie sich an die Morgen zurückerinnerte, an denen die beiden, vor Jahrhunderten, mit Müslibuchstaben etwas aufs Tischtuch schrieben.
Die Erinnerungen wirbelten ihr durchs Gehirn, Kissenschlachten, grauenhaft schlechte Konzerte mit der Akustikgitarre, Federballspiele, bis Sissy auf einmal laut Jesus Christ rief und die Froot Loops von sich stieß. Die Schachtel flog ans Fliegengitter, und Sissy stürzte hin, um sie zu zertrampeln, zu zerfetzen und das verdammte Gesicht von Toucan Sam zu zerquetschen, diesem dämlichen Vogel, der von der Verpackung heruntergrinste, und das auch noch trotz der vielen Tritte, die er abbekam. Das war ja dämlich, wie sie sich da verhielt, als ob Zaza nicht wiederkommen würde, was wollte sie bloß mit ihren zuckersüßen Erinnerungen, die sie mit beschissenen Sonnen ausschmückte, mit Sternen und Vögeln, die es nicht mal gab. Sie versetzte dem Tukan einen letzten Fußtritt mitten auf den Schnabel, dann ging sie wieder hinein, um die Mulligans in ihrem Haus in der Stadt anzurufen, in Portland. Sie ließ es fünfzehnmal klingeln, dann legte sie fluchend auf und rief noch mal an, und noch mal und noch mal, und dabei flehte sie die Mulligans an, abzuheben, nach Hause zu kommen, endlich zu antworten, verdammt noch mal. Die Dinge um sie herum im flüssig grauen Halbdunkel begannen zu schwanken, und alle zwei Sekunden klingelte dort das Telefon, auf dem Schreibtisch von George Mulligan, im Boudoir mit den Lackmöbeln, in der Küche und im Zimmer von Zaza, beim Poster von Paul McCartney, das mit Tausenden von Küssen bedeckt war, die einen rosa, die anderen weiß, Dazzling Pink oder Everlasting Snows. Alle zwei Sekunden läutete das Telefon vor dem schmierigen Poster, in steter Erwartung eines Motorbrummens oder eines Schlüsselschepperns an der Haustür, und es kam Sissy komisch vor, dass sie den einzigen hörbaren Laut im Haus der Mulligans vernahm, in circa zweihundert Meilen Entfernung, während das Haus der Mulligans ihr Schnüffeln nicht hörte. Es erschien ihr völlig unverständlich, dass die Geräusche nicht sowohl hier als auch dort die unsichtbare Leitung entlangliefen, durch die sie mit jenem leeren Haus verbunden war. So stand sie da und hoffte auf ein Lebenszeichen jenseits des Wellenstroms. Sie wählte die Nummer bis zum Abend, bis zur Nacht, vergebens. Die Mulligans waren nicht in Portland, und Zaza auch nicht. Jack und Ben, Zazas ältere Brüder, lagen wohl irgendwo in Florida oder Virginia in der Sonne, bis das nächste Semester losging.