Die Verstummten - Stephanie Fey – auch bekannt als SPIEGEL-Bestseller-Autorin Stephanie Schuster - E-Book
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Beschreibung

Wenn die Wahrheit tödliche Folgen hat: »Die Verstummten«, der zweite Band der Thriller-Trilogie von Stephanie Fey, jetzt als eBook bei dotbooks. Mit dem lautlosen Schuss einer Pistole … Fassungslos steht die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis an einem Tatort: Ein Ehepaar, das fast so wirken könnte, als würde es schlafen, gekleidet in ihre Hochzeitskleidung – und kaltblütig ermordet. Von der kleinen Tochter fehlt jede Spur. Was ist hier passiert … und warum scheint es dem ermittelnden Kommissar, Carinas eigenem Vater, lieber zu sein, wenn sie sich nicht mit dem Fall beschäftigt? Während die fieberhafte Suche nach dem verschwundenen Mädchen beginnt, verfolgt Carina eine eigene Spur – und findet zu ihrem Entsetzen eine Verbindung zu dem Geheimnis, das auf ihrer eigenen Familie lastet. »Ein psychologisch raffinierter Thriller, der einmal mehr beweist, dass Spannung nicht allein an skandinavischen Schreibtischen zu Hause ist.« Bayerischer Rundfunk Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Verstummten« ist der zweite Band der Thriller-Trilogie von Stephanie Fey – auch bekannt als Bestsellerautorin Stephanie Schuster – über die Gerichtsmedizinerin und Gesichtsrekonstrukteurin Carina Kyreleis. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 431

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Über dieses Buch:

Mit dem lautlosen Schuss einer Pistole … Fassungslos steht die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis an einem Tatort: Ein Ehepaar, das fast so wirken könnte, als würde es schlafen, gekleidet in ihre Hochzeitskleidung – und kaltblütig ermordet. Von der kleinen Tochter fehlt jede Spur. Was ist hier passiert … und warum scheint es dem ermittelnden Kommissar, Carinas eigenem Vater, lieber zu sein, wenn sie sich nicht mit dem Fall beschäftigt? Während die fieberhafte Suche nach dem verschwundenen Mädchen beginnt, verfolgt Carina eine eigene Spur – und findet zu ihrem Entsetzen eine Verbindung zu dem Geheimnis, das auf ihrer eigenen Familie lastet.

»Ein psychologisch raffinierter Thriller, der einmal mehr beweist, dass Spannung nicht allein an skandinavischen Schreibtischen zu Hause ist.« Bayerischer Rundfunk

Über die Autorin:

Stephanie Fey ist das Pseudonym einer Bestsellerautorin, die unter diesem Namen eine fesselnde Thriller-Trilogie veröffentlich hat: Stephanie Schuster, geboren 1967, studierte Grafikdesign in München und hat viele Jahre lang die Bücher anderer Autorinnen und Autoren illustriert, bevor sie selbst zu schreiben begann – unter anderem die Bestsellerserie rund um »Die Wunderfrauen«. Stephanie Schuster lebt mit ihrer Familie am Starnberger See in Bayern.

Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website: www.stephanieschuster.de

Bei dotbooks veröffentlichte Stephanie Schuster unter dem Namen Stephanie Fey eine Thriller-Trilogie rund um die Rechtsmedizinerin und Gesichtsrekonstrukteurin Carina Kyreleis: »Die Gesichtslosen«, »Die Verstummten« und »Die Zerrissenen«

Unter dem Pseudonym Ida Ding schrieb Stephanie Schuster außerdem die beiden humorvollen Oberbayern-Krimis »Hendlmord« und »Jungfernfahrt«, die ebenfalls bei dotbooks erschienen sind.

***

eBook-Neuausgabe September 2022

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memmingen, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-259-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Stephanie Schusterschreibt als Stephanie Fey

Die Verstummten

Ein Carina-Kyreleis-Thriller

dotbooks.

Für Thomas Forever

Heute wird es wieder früher spät.

Sie war niemand, es gab sie nicht mehr. Wie Worte nach einem Streit oder das, was auf dem Papier übrig bleibt, wenn man alles wegradiert. Ein Wesen, das gewesen war. Sie hörte ihre Füße im Feuer schreien. Bald würden die Flammen an ihr hochkriechen, sie auflecken, wie eine Katze einen Rest Milch. Nur mehr eine Stimme, die schwieg. Ein Ohr, das vertrocknete, ein Herz, das davonlief.

Die Schlechtigkeit derer, die sie eingesperrt hatten, hüllte sie ein und legte sich auf sie. Sie sollte werden wie sie.

Der Ursprung.

DAMALS

Kapitel 1

Düsseldorf-Oberkassel, 1. April 1991

Das Gras raschelte, als Salamander sich vor den Gartenstuhl kniete und die Waffe ausrichtete.

»Zu niedrig«, zischte er.

Iris reichte ihm ein Handtuch als Unterlage, das sie von einer Wäscheleine geklaut hatte. Er steckte das Magazin auf, und es klickte, als er entsicherte.

Ob Salamander durch die dichten Zweige der Alleebäume, dreiundsechzig Meter bis zum Ziel, überhaupt etwas erkennen konnte? Sie spähte durch das Fernglas, zoomte auf das Paar, das in der Küche miteinander redete. Was würden die beiden tun, wenn sie wüssten, dass das ihre letzten gemeinsamen Minuten waren? Würden sie sich noch einmal berühren? Was würden sie sagen? Erleichterten Worte das Ende, oder bedeutete Sprache dann ohnehin nichts mehr?

Iris drückte auf ihre Quarzuhr. Gleich. Ein süßlicher Geruch umwehte sie, sie wandte sich um. Einbildung, nichts weiter. Manchmal, wenn sie einen neuen Auftrag ausführte, glaubte sie, der Geruch der früheren Opfer wäre in ihre Poren gedrungen und strömte aus ihr hervor, wie ein altes Parfüm, das sie nicht mehr losbrachte. Sie schluckte dagegen an. Im Schritttempo fuhr eine Streife vorbei und hielt mit laufendem Motor vor dem Haus. Wenn die Beamten ausstiegen, um die Zielpersonen zu warnen, war die Sache gelaufen. Jetzt hieß es abwarten. Vor Anspannung schliefen ihr die Zehen ein. Vorsichtig, möglichst ohne Geräusch, hob sie die Füße in den Sicherheitsstiefeln ein wenig und wackelte mit den Zehen, um das Ameisenkribbeln zu vertreiben. Salamander bewegte sich nicht; wie um seinem Tarnnamen alle Ehre zu machen, war er mit dem Rasen verschmolzen.

Endlich gab die Polizei wieder Gas und fuhr weiter. Es dauerte noch eine Weile, bis hinter dem Fenster im ersten Stock eine Gestalt erschien. Salamander schoss. Die erste Kugel durchschlug die Scheibe und drang in die Wirbelsäule des Mannes. Augenblicklich sank er zusammen. Die zweite Kugel traf seine Frau, die herbeigelaufen war. Ohne Worte erhob sich Salamander und überließ Iris den Platz. Vor dem Gartenstuhl kauernd, legte sie den Zeigefinger auf den Abzug und blickte durch das Zielfernrohr zum Fenster. In vierundzwanzigfacher Vergrößerung suchte sie den Raum hinter der zersplitterten Scheibe ab. Nichts rührte sich. Oder doch? Sie drückte ab, schoss ins Regal. Ein paar Bücher flatterten heraus.

»War noch was?«, fragte Salamander.

»Nur eine Fliege.« Sie sammelte die Patronenhülsen auf und ließ andere, mitgebrachte, dafür ins Gras fallen. Dann zerlegte sie die Waffe in zwei Teile, drehte den Lauf im gefrorenen Gras, um ihn abzukühlen. Das Magazin gab sie Salamander, den vorderen Teil der Waffe schob sie sich vorsichtig zwischen die Brüste und verbarg ihn so unter der Polizeiuniform.

FREITAGZwei Stunden nach dem Ursprung

Der Mensch ist das einzige Geschöpf,

das sich weigern kann zu sein, was es ist.

Albert Camus

Kapitel 2

»Hast du Schmerzen?«, fragte Carina.

Ihr Vater winkte ab, ließ sich in Zeitlupe auf dem Beifahrersitz seines Autos nieder und schaffte es nur unter Mühen, den Gurt zu packen und über die rechte Schulter zu ziehen. Die Schussverletzung in der Hüfte, die ihm sein ehemaliger Arbeitskollege Krallinger vor zehn Monaten zugefügt hatte, bereitete ihm immer noch Probleme. Carina legte seinen Walkingstock, bei dem er die Schlaufen abgeschnitten hatte, auf die Rückbank und half ihrem Vater den Gurt festzustecken.

»Weißgrau gestreiftes Stehkragenhemd zur dunkelblauen Jeans, schick siehst du aus.«

»Findest du?« Er zupfte an der Bügelfalte über den Knien herum. »Ich hab das Bügelwasser nicht gefunden und die Hose stattdessen mit Leitungswasser besprengt, jetzt ist alles noch etwas feucht.«

Sie schnupperte. »Ein neues Aftershave? Da wird sich Ma..., ich meine Silvia freuen«, korrigierte sie sich schnell. Noch immer fiel es ihr schwer zu akzeptieren, dass Silvia nicht ihre richtige Mutter war. Einunddreißig Jahre lang hatte sie das geglaubt. Wer konnte sagen, ob sie es jemals erfahren hätte, wenn Matte nicht angeschossen worden wäre.

»Na, dann los.« Sie rutschte mit dem Sitz vor, stellte den Rückspiegel ein und verschaffte sich einen Überblick über die Schalthebel. Der Sitz lag tiefer als im Peugeot ihrer Kollegin Susanne Schmetterer, deren Auto sie sich ab und zu auslieh, wenn sie zu einem rechtsmedizinischen Gutachten aufs Land fahren musste. Carina wunderte sich, wie ihr Vater, der nur zwei Zentimeter größer als sie war, über die Kühlerhaube seines Fords sehen konnte. Mit dem Starten des Motors schaltete sich automatisch das Radio ein. Sie lenkte den Wagen aus der Tiefgarage und wurde von der Sonne geblendet, die nach dem heftigen Gewitter, das vor zwei Stunden auf München niedergegangen war, wieder grell herunterbrannte. Carina klappte die Blende herab.

»Brauchst du das Navi?« Ihr Vater schob die Hand unter den Gurt, wo er auf die OP-Narbe drückte.

»Aus München finde ich schon raus, aber dann zu Silvias Seminar ... wo ist das überhaupt?«

Er zog einen kleinen Zettel aus der Brusttasche. »In der Turmackerstraße. Gleich am Ortsanfang von Garmisch, hat sie gesagt.«

Bereits am späten Vormittag war die Innenstadt verstopft. Als hätten die Urlauber den Platzregen abgewartet und würden allesamt genau jetzt aufbrechen. Wohnmobile mit Fahrrädern und Vans mit Dachgepäckständern preschten durch die große Pfütze an der Ausfahrt und bespritzten die Fußgänger, die gerade ihre Schirme geschlossen hatten. Als sich endlich eine Lücke auftat, schoss Carina mit einem Schlenker in die Albert-Roßhaupter-Straße. Matte zischte durch die Zähne und klammerte sich am Fenstergriff fest.

»Was sagt der Arzt zu deiner Narbe, ist alles gut verheilt?« Hätte das Projektil, das ihm aus der Beckenschaufel entfernt worden war, nur wenige Millimeter daneben eingeschlagen, wäre es tödlich gewesen. »Du weißt, dass so eine Schusswunde jederzeit hochgehen kann?«

»Hochgehen! Wie du dich ausdrückst, als wärst du beim Sprengkommando. Manchmal sticht es, aber das ist normal.«

»Normal? Wer sagt das?« Sie fuhr ein paar Meter in Richtung der nächsten roten Ampel, bremste dann, weil ein Wagen von links auf ihre Spur einscherte.

Matte strich ihr über den Arm. »Konzentrier dich auf die Straße. Mir geht's gut, wirklich, da ist nichts.«

»Fühlt es sich komisch an, spürst du ein Ziehen oder Stechen? Darf ich es mir mal ansehen?«

»Das würde dir so passen, dass sich dein alter Vater vor dir entblößt, nichts da.« Er tätschelte ihre Hand, die auf dem Lenkrad lag. »Aber nett, dass du dich um mich sorgst. Mich drückt nur der Scheißgürtel, dabei ist er ohnehin im letzten Loch.« Er öffnete die Schnalle und atmete aus. »Vielleicht sollte ich weniger Ausgezogene essen oder mir Hosenträger zulegen. Mit dem Stock zusammen, das gibt den perfekten Opa.« Sein Enkel Sandro, der Sohn ihrer Schwester Wanda, hatte heute seinen letzten Kindergartentag. »Wann ist noch mal Sandros Abschiedsfeier?«

»Um zwei geht's los.« Carina sah auf die Uhr am Armaturenbrett, vier nach elf. »Das schaffen wir locker, eine Stunde nach Garmisch, dann eine zurück. Wir könnten sogar noch mittagessen gehen, ja?«

»Wieso, gibt es da nichts, im Kindergarten? Aber gute Idee, lieber essen wir vorher was.« Er seufzte. »Drei Kreuze, dass diese nervige Kindergartenzeit endlich vorbei ist.« Laut Wanda waren alle Erzieher unfähig und erkannten Sandros Stärken nicht. Wo er doch mit sechs Jahren schon eigene Songs komponierte. »Erzähl du lieber was. An was seid ihr gerade dran? Rekonstruierst du mal wieder ein Gesicht?«

Sie schwieg. Nicht sie, sondern er war mit Antworten überfällig.

»Was gibt's Neues in Haidhausen, wie sind deine Nachbarn?«, bohrte er weiter.

Außer dem Hausmeister hatte Carina noch niemanden kennengelernt; vielleicht sollte sie mal mit einem Guglhupf herumgehen und sich vorstellen: Hallo, ich bin die Rechtsmedizinerin aus dem Dachgeschoss, also wenn bei Ihnen mal ein Toter herumliegt ...

Vor dem Luise-Kiesselbach-Platz standen sie im Stau. Ferienbeginn in Bayern. Manche Eltern schienen ihre Sprösslinge gleich nach der Zeugnisverteilung verladen zu haben.

»Wenn da was wäre bei dir, eine Bauchfellentzündung oder Ähnliches, würdest du mir das sagen?«, wandte sie sich an ihren Vater.

»Wenn, wenn ... du klingst wie der Wenn-wir-Kurti, aber der war das nicht.«

»Kurt Krallinger war was nicht?« Carina kapierte gar nichts mehr. »Heißt das, du kannst dich nicht mehr erinnern, ob er auf dich geschossen hat?« Sie drehte das Radio leiser.

Matte rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Doch, er hat auf mich geschossen, aber da steckt mehr dahinter.«

Am Montag begann der Mordprozess. Anfangs hatte es geschienen, als würde es zu keiner Anklage kommen, da Krallinger für das Bundeskriminalamt gearbeitet hatte und der Fall intern geklärt werden sollte. Aber ob unter dem Druck der Medien oder weil Mattes Chef einen guten Draht zur Staatsanwaltschaft hatte, wider Erwarten fand die Verhandlung nun doch in München und nicht in Wiesbaden beim BKA statt, und ihr Vater würde nicht nur als Zeuge, sondern auch als Nebenkläger auftreten.

»Krallinger ist geschickt worden. Ich glaube, für das, was er getan hat, wird er nicht verurteilt.«

Sie spürte, worauf das hinauslief. Ihr Vater spekulierte seit Wochen, ob Krallinger, wie Krallinger und warum Krallinger, und darüber jetzt zu diskutieren würde die ganze Fahrt dauern. Mit anderen Worten: Er käme mal wieder davon. Carina bog auf die regennasse Autobahnauffahrt Richtung Garmisch, wechselte auf die linke Spur und gab Gas. Das würde sie nicht zulassen.

»Du kannst in den fünften schalten.« Matte klopfte auf das Armaturenbrett, als wollte er einen Gaul beruhigen. »Ist besser fürs Getriebe.«

Als die Achtziger-Zone hinter ihr lag, überholte Carina Wagen für Wagen. Nach einer Familienkutsche mit Surfbrettern auf dem Dach scherte sie ein und drosselte das Tempo. Plötzlich war keiner mehr vor ihnen, sie hatte alle abgehängt. Das bedeutete freie Sicht und Zeit zum Fragen. Sie holte tief Luft. Er sollte ihr einfach alles sagen, alles von Anfang an und den ganzen Rest. Matte richtete sich auf und drehte das Radio wieder lauter.

»Shine on« erklang. I could use the same old lies, but I'll sing.

James Blunt dehnte dieselben alten Lügen über zwei Takte, das passte, dachte Carina. Hoffentlich versuchte ihr Vater es jetzt nicht mit Singen. Sie schaltete das Radio aus. »Erzähl mir von ihr«, fing sie an. »Wer ist meine Mutter, wie habt ihr euch kennengelernt, warum hat sie mich loswerden wollen?«

»Sie hat dich nicht loswerden wollen.«

»Ach, nicht?« Hundertzwanzig Stundenkilometer, hundertdreißig. Die Fahrbahn war trocken, anscheinend war das Gewitter nur über München niedergegangen. Sie beschleunigte weiter, als neue Wagen in Sicht kamen. »Wie nennt man das sonst, wenn eine Mutter ihr Kind weggibt und sich nie mehr meldet, über dreißig Jahre lang? War sie Fallschirmspringerin und hat mich nach der Geburt irgendwo abgeworfen?« Sie überholte und gab weiter Gas. Ihr Vater presste sich in die Rückenlehne und trat in die Fußmatte. »Wie wäre es, wenn du mir einfach alles über sie erzählst, gleich hier und jetzt.« Carina schrie es fast. Dabei hatte sie sich vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben. Etwas Schwarzes weit vorne raste auf sie zu. Eine Kamikaze-Fliege, dachte sie noch und richtete sich im Sitz auf, als auch schon ein Mini Cooper auf sie zuschoss.

Matte griff ihr ins Lenkrad und riss es herum. Der Ford schlenkerte, Carina knallte mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe, ihre Brille verrutschte. Das junge Gesicht des Fahrers, als die Wagen aneinander vorbeiwischten, brannte sich auf ihre Linse. Augen und Mund weit aufgerissen, wie zu einem Schrei. Dann war er an ihnen vorbei, so nah, dass sie glaubte, die beiden Karosserien hätten Funken gesprüht. Sie starrte in den Rückspiegel. Ein roter Volvo befand sich noch auf der linken Fahrspur, versuchte hektisch auszuweichen und drehte nach rechts. Der Mini schrammte seinen Kotflügel und prallte ab, kreiselte um sich selbst und überschlug sich dann. Auch der Volvo schlingerte und preschte auf die Böschung zu. Carina bremste auf dem Seitenstreifen. Erst jetzt merkte sie, wie ihr Herz raste. Um ein Haar wären sie mit dem Geisterfahrer zusammengestoßen. Entschlossen schluckte sie das aufsteigende Frühstück hinunter, schob den Bügel ihrer Brille wieder aufs Ohr und rieb sich die pochende linke Schläfe. Das gab eine Beule.

Hellwach und ohne zu zögern drückte ihr Vater auf die Freisprechanlage und verständigte den Notruf.

»Wir müssen da hin«, sagte er. »Los, lass mich ans Steuer.« Er schnallte sich die Hose zu, drängte Carina auszusteigen und hievte sich, als gäbe es seine Verletzung gar nicht, über den Schalthebel auf den Fahrersitz. Kaum war Carina ums Auto herumgelaufen und auf der Beifahrerseite eingestiegen, legte Matte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf der Standspur in Richtung der Unfallstelle. Jetzt war sie es, die sich am Fenstergriff festklammerte; sie fühlte sich wie in einem Waggon der Wilden Maus auf dem Oktoberfest. Sie zwang sich, nicht an den Autounfall in Mexiko zu denken, und ignorierte ihren blubbernden Magen. Auto fahren war wieder selbstverständlich geworden, hatte sie noch bis vor wenigen Minuten gedacht. Und es war fast, als könnte Matte zaubern und hätte sich diese Aktion herbeigewünscht, nur damit er keine Auskunft über ihre Mutter geben musste.

»Kleb die Leuchte aufs Dach«, forderte er sie auf. »Als Signal für die anderen, langsamer zu fahren.« Sie zog das Blaulicht aus dem Handschuhfach, öffnete das Fenster und setzte es aufs Autodach. Der Fahrtwind linderte ihre Übelkeit. Tief sog sie die kühlende Luft ein. Vor ihrem inneren Auge sah sie immer noch die angstgeweiteten Augen des jungen Geisterfahrers.

Nachdem sich der Mini überschlagen hatte, war er weit hinten an die Mittelleitplanke geprallt und stand nun halb im Grünstreifen und halb auf der linken Spur. Der Volvo, den sie gerade erreicht hatten, hing mit dem rechten Rad in der Böschung, die linke Vorderseite war eingedrückt.

Matte stellte den Motor ab und stieg aus. »Schau du nach den Verletzten, ich versuche den Verkehr aufzuhalten.« Er holte das Warndreieck und eine Kelle aus dem Kofferraum, den Stock auf der Rückbank ignorierte er. Mit großen Schritten spurtete er auf die Autobahn und schwenkte die Kelle, um die nachfolgenden Fahrer zu warnen.

Carina suchte nach dem Verbandkasten unter dem Rücksitz. Keiner da. Wie vorbildlich, vor allem für einen Polizistenwagen. Sie streifte sich Einmalhandschuhe über, von denen sie immer welche in ihrer Umhängetasche hatte, und stieg aus. Einen Moment schwankte sie. Der Kreislauf. Sie senkte den Kopf zu Boden, atmete tief ein und aus und wandte sich der Volvofahrerin zu, die bereits aussteigen wollte.

»Sind Sie verletzt?« Carina trat rasch auf sie zu und berührte die Frau an Schulter und Arm.

»Nein, ich glaub, mir ist nichts passiert.« Die Fahrerin war zwar blass, schien aber wirklich unverletzt.

»Setzen Sie sich wieder und bleiben Sie bitte im Wagen, bis der Notarzt kommt«, bat Carina, griff auf den Rücksitz, wo eine blaue Decke voller Hundehaare lag, und hüllte die Frau darin ein.

Dann spähte Carina über den Volvo hinweg. Ihr Vater hatte es tatsächlich geschafft, den Verkehr abzubremsen und an der Unfallstelle vorbeizuleiten. Einspurig, wie im Gänsemarsch, mit Warnblinklicht, fuhren die Autos weiter. Carina wartete eine Lücke ab, gab dem nächsten Wagen ein Handzeichen und rannte quer über die Straße.

Der Kopf des Minifahrers war im Airbag versunken, sein linker Arm hing aus dem zersplitterten Fenster. Sie beugte sich zu dem jungen Mann hinunter und sprach ihn an. »Hallo, können Sie mich hören?« Er reagierte nicht, atmete nur flach und kaum wahrnehmbar. Im Wrack eingesperrt ... eine Erinnerung blitzte in ihr auf. Ganz allein hatte sie in Mexiko ums Überleben gekämpft, weil ihr Exfreund sie für tot gehalten hatte und abgehauen war. Wie oft würde sie das noch einholen? Aber das war längst überstanden, sie konnte sich auf die Gegenwart konzentrieren. Zuerst tastete sie durch das Fenster nach der Halsschlagader des Fahrers und fühlte seinen Puls. Er lebte. Vorsichtig hob sie sein Gesicht aus dem Airbag. Seinen noch nicht ganz ausgeformten Gesichtszügen nach, halb Kind, halb erwachsen, schätzte sie ihn auf höchstens achtzehn. Er musste gerade erst den Führerschein gemacht haben. Seine Haut glühte. Auf der Nasenspitze, den Wangen und der Stirn bildeten sich Brandblasen, durch die ausströmenden Gase beim Entfalten des Luftsacks hatte er Verbrennungen erlitten. Auch wenn die Dinger inzwischen sehr gut den Kopf- und Halsbereich schützten, sicherten sie nicht gegen alle Arten von Verletzungen. Aus einer großen Schnittwunde am Ellbogen lief Blut. Vorsichtig hob sie den Arm an, wischte mit der Shirtkante die Glassplitter aus dem Fensterrahmen, legte den Arm wieder ab und presste mit zwei Fingern die Schlagader nahe der Achsel ab, bis die Blutung aufhörte. Dann suchte sie den Oberkörper des Verletzten ab, ertastete eine Fraktur an der Schulter, aber keine größeren offenen Wunden. Erst als sie mit der freien Hand vorsichtig den Kopf drehte, merkte sie, dass aus dem rechten Ohr Blut sickerte. Ob es aus dem Gehörgang kam oder von außen in die innere Ohrmuschel gelaufen war, konnte sie wegen der vielen Verletzungen nicht feststellen. Es bestand definitiv der Verdacht auf eine Schädelbasisfraktur. Wie lange brauchte die Rettung, um hier zu sein? Er musste so schnell wie möglich aus dem Auto heraus und beatmet werden. Mit den Fingern auf der Schlagader konnte sie nicht weg, bis Hilfe eintraf. Hoffentlich waren seine Beine nicht eingeklemmt. Die Fahrertür ließ sich nicht öffnen, mit einer Hand schon gar nicht. Sie spähte ins Wageninnere. Alle Gegenstände waren durcheinandergeworfen und mit Glassplittern übersät. Eine Zeitschrift, Scheibenkratzer, CDs, ein Handbesen, eine Straßenkarte, Taschentücher. Sie glaubte die Ecke eines Verbandkastens am Boden des Beifahrersitzes zu erspähen und streckte sich danach, verrenkte sich halb den Hals. Es war wohl eher ein Laptop, und darunter lugte ein Griff heraus. Carina stach das markante eingravierte »G« ins Auge. Endlich ertönte das Martinshorn; die Feuerwehr und die anderen Einsatzwagen rückten an.

»Saßen Sie mit im Auto?« Ein Mann mit Warnweste kam herbeigeeilt.

Hoffentlich war das der Notarzt. »Ich bin Rechtsmedizinerin«, brüllte sie gegen den Lärm eines vorbeibretternden Lastwagens auf der wenige Meter entfernten Gegenfahrbahn an.

»Rechtsmedizin? Dann ist er schon tot?«, schrie der Mann zurück.

»Nein. Er lebt noch.« Was war denn das für einer, erster Tag im praktischen Jahr, oder was? »Ich bin hier mit ...« Sie deutete mit dem Kopf auf ihren Vater; er sprach mit der Feuerwehr, die die Unfallstelle abzusperren begann.

»Mit meinem Chef? Ich bin Kriminalmeister Peter Schuster und war bei einem Einsatz in der Nähe, als der Notruf kam.«

Erwartete er jetzt ein Lob von ihr? Sie musterte ihn. Den Haaren nach zu urteilen, die verstrubbelt in alle Richtungen abstanden, und dem verknitterten T-Shirt, das an seinem dürren Körper unter der Warnweste klebte, war der Einsatz eher ein Schläfchen im Polizeiwagen gewesen.

»Und Sie sind ...?«

Sie ignorierte seine Frage. »Geben Sie mir Ihren Gürtel zum Abbinden und Taschentücher, wenn Sie welche dabeihaben.« Hoffentlich redete dieser Peter Schuster nicht nur, dachte sie. »Oder holen Sie ...« Aber er hielt ihr das Gewünschte bereits entgegen. Nachdem sie einen Druckverband an der Schnittwunde angelegt hatte, hob sie den verletzten Arm vorsichtig ins Wageninnere. »Los, wir müssen versuchen, die Tür aufzukriegen.« Peter Schuster stemmte sich gegen die verbeulte Fahrertür und drückte sie auf, als wäre sie aus Pappe. Carina wollte den Fahrer herausheben.

»Warten Sie, das übernehme ich.« Mit seinen eins neunzig, wie Carina schätzte, musste er sich zur Hälfte einrollen, um in den Mini zu kriechen. Behutsam umfasste er den Kopf des Bewusstlosen, legte ihn sich in die Armbeuge wie einen Säugling und schob den Fahrer zu sich an den Rand des Sitzes. Dann griff er ihm unter die Achseln und zog den rechten Arm an die Brust des Mannes.

»Vorsicht«, sagte Carina. »Das linke Schlüsselbein ist gebrochen. Peter Schuster legte den Verletzen auf dem Grünstreifen ab, schob ihm seine Warnweste unter und brachte ihn in die stabile Seitenlage. Carina tastete den Kopf ab. Hirnmasse war keine ausgetreten. Sie zog dem jungen Mann die Augenlider auf und untersuchte die Pupillen. Sie waren vergrößert. »Er muss so schnell wie möglich in eine Klinik.«

Peter Schuster nickte und lief los. Nur wenige Augenblicke später rollte ein Rettungswagen rückwärts zu ihnen heran. Nachdem Carina dem Notarzt ihren Befund genannt hatte, intubierte er den Fahrer sofort, legte ihn auf eine Trage und übernahm die Weiterversorgung.

Carina zog die Handschuhe aus und steuerte auf ihren Vater zu, der mit der Frau aus dem Volvo sprach.

»Ihre Art, einen kühlen Kopf und damit den Überblick zu bewahren, kam mir gleich bekannt vor.« Peter Schuster holte Carina ein, als sie die abgesperrte Autobahn überquerte, und zog sich den Gürtel wieder in die Hose, den ihm der Notarzt zurückgegeben hatte. »Sie sind Mattes Tochter, stimmt's?« Mit blutverschmiertem Gesicht strahlte er sie an. »Die berühmte Gesichtsrekonstrukteurin. Ihr Vater redet pausenlos von Ihnen.«

Das kam ihr reichlich übertrieben vor. Mattes gesammelte Worte konnte man in einer Streichholzschachtel verwahren. Vermutlich hatte ihr Vater in einer Sitzung einfach nur mal erwähnt, dass er zwei Töchter hatte, mehr nicht. Peter Schuster hatte er ihr gegenüber als übereifrig bezeichnet oder so ähnlich; das war ihr in Erinnerung geblieben. Aber solange er die Erste-Hilfe-Griffe beherrschte und zupackte, war sein Tatendrang in Ordnung. Sein blutiges T-Shirt schlackerte ihm aus der Hose, die Hose selbst hing ihm, trotz Gürtel, fast unten am Oberschenkel. »Sie haben Blut im Gesicht.«

»Was, wo?« Mit einem Schlag erbleichte er, schwankte, seine Augenlider flatterten. Bevor er auf die Straße knallen konnte, hakte sie ihn unter und führte ihn in den Schatten eines Feuerwehrautos. Er rutschte zu Boden, lehnte sich an die Leitplanke und keuchte.

»Carina, kannst du mir den Stock bringen?« Ihr Vater, auf die Fahrertür des Volvo gestützt, winkte ihr.

»Halten Sie den Kopf zwischen die Knie, dann wird es gleich besser. Ich hole was zu trinken«, sagte sie zu Peter Schuster. »Bin gleich zurück.« Mit dem Walkingstock und der Wasserflasche aus ihrer Tasche lief sie zu ihrem Vater.

Ein Sanitäter maß der Volvo-Frau, die noch in die Decke gewickelt war, gerade den Blutdruck. Mit einem Nicken nahm Matte Carina den Stecken ab. Die Frau berichtete gerade, dass der Geisterfahrer in letzter Sekunde ausgewichen war und das Lenkrad herumgerissen hatte.

»Geht’s wieder?«, fragte sie, zurück bei Peter Schuster, als er getrunken hatte.

»Ich kann ... nur ... kein Blut ... sehen.« Er japste noch. »Ich krieg’s ... einfach nicht in den Griff.«

»Als Sie mir mit dem Druckverband geholfen und den Verletzten aus dem Auto gezogen haben, habe ich nichts davon bemerkt.«

»Da war auch kein Blut.«

Carina lachte. »Im Gegenteil, da war jede Menge.« Dass sich einiges davon jetzt auf seiner Kleidung befand, darauf wies sie ihn besser nicht noch extra hin. Besonders an seinen Ärmeln und am Halsausschnitt seines Shirts, wo die Weste nicht aufgelegen hatte, waren lauter Flecken.

»Echt? Ich hab ehrlich gesagt nicht so genau hingesehen. Am schlimmsten ist es sowieso, wenn Blut an mir klebt. Das kann ich überhaupt nicht haben. Aber Sie haben sich auch verletzt?« Er zeigte auf ihre Beule.

»Carina?« Ihr Vater rief schon wieder nach ihr.

War sie sein Butler? Sie rutschte neben Peter Schuster auf den Boden, bis das Feuerwehrauto sie verdeckte. »Ach, nichts, ich habe mir nur den Kopf angehauen, als ich dem Fahrer ausgewichen bin.« Dass ihr Vater schnell reagiert hatte, musste sie ihm nicht auf die Nase binden. »Warum sind Sie dann bei der Mordkommission, ich meine, da blutet doch öfter einer?«

»Sie trösten mich ja nicht gerade.« Er grinste, und die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. »Mein Metier ist die Sprache, also nicht meine eigene, sondern mehr das, was die anderen sagen und schreiben. Ich möchte mich spezialisieren, als Sprachprofiler.«

»Ein Täterprofil, das nur die Sprache analysiert? Davon habe ich noch nie gehört.«

»Erpresserbriefe zum Beispiel, die sind wie ein Fingerabdruck.«

»Ach, hier seid ihr.« Ihr Vater humpelte dreibeinig zu ihnen herüber. »Peter, was hockst du hier rum? Lass die Feuerwehr Platz machen, damit der Hubschrauber landen kann.« Der Kriminalmeister sprang auf, kurz schien er noch einmal aus dem Gleichgewicht zu geraten, dann fasste er sich und hastete los.

Matte beugte sich zu Carina. »Hast du irgendwelche Papiere bei dem Geisterfahrer gefunden? Die Kennzeichenüberprüfung ergab, dass der Halter ein dreiundvierzigjähriger Jakob Loos sein soll. Das kann er doch nicht sein, oder?«

»Da musst du die Rettung fragen.« Sie stand ebenfalls auf und klopfte sich den Hintern ab. »Ich habe mich um den Verletzten gekümmert, nicht um seine Sachen. Vielleicht ist es sein Sohn, außerdem ist da ...« Der Hubschrauber kreiste über ihnen und verschluckte ihre Worte.

Kapitel 3

Endlich Ferien, der blaugrüne, letzte Schultag war vorbei. Doch sie konnte sich nicht freuen. Die silbernen Minuten, die sie mit Sara verbrachte, rasten durch sie hindurch. Gleich würden sie für sechs lange Wochen getrennt werden. Je näher sie der Bushaltestelle kamen, desto langsamer schob sie ihren Cityroller. Dicht an dicht gingen sie durch die Pfützen, das Wasser lief ihr in die Sandalen und quietschte unter ihren Zehen. Ihre Schultern und Ellbogen streiften aneinander. Stehen bleiben durften sie nicht, Sara musste den Bus erwischen, und außerdem würden dann auch die hellgelben Sommerferien schneller beginnen und wieder vorbei sein. Und sie konnten sich wiedersehen.

Sie schwiegen. Dabei hatte sie nach der Zeugnisverteilung noch darauf gefiebert, Sara zu erzählen, was in der Pause passiert war. Tim hatte sie geküsst, einfach so. Kurz nachdem es zu donnern und zu blitzen angefangen hatte, weswegen sie alle im Schulhaus bleiben mussten. Erst versuchte er ein Popcorn von ihrem T-Shirt zu zupfen, aber das war nur aufgemalt, vorne die gestreifte Schachtel und darum herum verteilt bis über die Schultern die Körner. Sein Gesicht war plötzlich ganz nah gewesen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren, feucht und kitzelig warm. Und schwupp, als es gongte, lief er schon wieder davon, sah sie nicht mehr an, auch nicht als er sein Zeugnis kriegte, an ihrer Bank vorbeischlendert. Das konnte sie Sara nicht kurz nebenher erzählen, das mussten sie durchsprechen, in Ruhe, stundenlang, wie sonst immer an den Nachmittagen. Ihr fehlten auch die Worte; wie sollte sie Sara fragen, ob sie es doof fand, dass sie sich noch heute Morgen, in letzter Minute, umentschieden und abgesagt hatte? Sie traute sich einfach nicht, allein und ohne ihre Eltern, nur mit Saras Familie in Urlaub zu fahren. Beim Bushäuschen angekommen, zog sie aus ihrer Tasche, die am Rollerlenker hing, Saras Zeugnis. Ihre Freundin hatte vergessen, eine Mappe mitzunehmen. Sie reichte es ihr. Sara faltete das Zeugnis zweimal zusammen und schob es in die hintere Hosentasche. So was hätte sie sich nie getraut. Was, wenn die Einsen verknitterten? Dann fielen sie sich um den Hals.

»Das ist so schade«, sagte Sara. »Willst du nicht doch? Ich leih dir auch meinen nagelneuen Tankini.«

Das Teil, halb Bikini, halb Badeanzug, hatte Sara selbst entworfen und genäht. Sie schüttelte den Kopf, und beide weinten. Normalerweise heulte nur sie. Wie schon im Kindergarten brach sie auch jetzt noch, am Ende der dritten Klasse, bei jeder Kleinigkeit in Tränen aus. Als gäbe es da einen Schalter, auf den man nur einen Blick werfen musste, und sofort spritzte das Wasser aus ihren Augen wie aus einer Gießkanne. Wenn sich jemand in ihrer Klasse ihre Brotzeitbox aus dem Schulranzen schnappte und herumwarf, stand sie da und heulte. Wenn ihre Mitschülerinnen sich zwischen ihr oder der dicken Steffi beim Mannschaften-Wählen entscheiden mussten, hieß es: »Nehmt ihr die Mimose, dann nehmen wir die Knödelsteffi.«

Mimose, das war das schlimmste Wort, das sie bis dahin gehört hatte. Ihr Papa musste es zu Hause richtig aus ihr herauspressen, weil sie es kaum über die Lippen brachte, so zitterten die.

»Eine Mimose ist eine Pflanze mit einer wunderschönen sternförmigen Blüte, die sich zurückzieht, wenn man sie berührt. Sie schützt sich selbst und weiß sich zu helfen, wenn sie in Gefahr gerät, das ist doch einzigartig.«

Was nutzte ihr das? Gerade wenn sie dagegen ankämpfte und die Zähne zusammenbiss, schwappten die Tränen aus ihr heraus, wie bei einem Topf, der überlief. Es passierte einfach, auch wenn sie versuchte, an was Schönes zu denken, so oft wie möglich aufs Klo ging und so wenig wie möglich trank, bis ihre Haut sich schuppte und sie einmal beim Sport sogar ohnmächtig wurde. Umsonst. So wie andere Mädchen ständig ein Zickzackmuster kicherten, heulte sie. Das sollte anders werden, nahm sie sich vor. Nach den Sommerferien würde sie trocken wie eine Wüste die vierte Klasse beginnen.

»Komm, wir tauschen«, schlug Sara vor, als der Bus hielt und die Türen aufsprangen.

Sie verstand nicht. Wollte sie an ihrer Stelle zu ihrer Oma fahren, anstatt nach Italien zu reisen?

»Schnell, beeil dich.« Sara schlüpfte aus den Ärmeln ihres Shirts mit dem gestickten Schmetterling, der vorstand, wenn man darüberstrich, und die Perlen und Pailletten klimperten in allen Farben, als sie es auszog. Ihr eigenes Oberteil dagegen war ausgewaschen, das Popcorn löste sich an manchen Stellen, vielleicht hatte sie es auch mit der Dauerheulerei aufgeweicht. Sie streifte Saras Schmetterling über und reichte ihr das alte Shirt, dann umarmten sie sich noch einmal, drückten Popcorn und Schmetterling aneinander. Ganz lila roch Sara, genau wie ihre Lieblingsfarbe. Saras Geruch umwehte sie, bis ihre Freundin in den Bus gestiegen und nicht mehr zu sehen war.

Als sie den Roller wendete und sich auf die Rolltreppe stellte, war das Lila in ihre Nase geschlüpft. Und sie verwandelte sich in Sara. Manchmal passierte ihr das nach einem Film, dass sie sich wie die Heldin der Geschichte fühlte. Nun hielt sie den Kopf wie ihre beste Freundin und warf die Haare wie sie zurück, obwohl ihre Locken viel zu kurz zum Wehen waren. In der S-Bahn zeichnete sie Saras Wortbild auf ihren Notizblock und auch das von Tim, die ganze lange Fahrt bis nach Gauting. Am Bahnhof saugten alle Eltern die Schulkinder in die Autos. Nur sie schob ihren Roller alleine durch die Unterführung, holte nach der Treppe Schwung und fuhr zur Siedlung zwischen den hohen Bäumen, die die Sonne verschluckten. Auf einmal verdrängte ein Grau das Lila, es schmeckte nach Zwiebeln. Hinter ihr atmete jemand, bestimmt ein Radfahrer oder Jogger, der sie überholen wollte. Sie drehte sich um, aber da war keiner. Die Straße leuchtete wasserblau-menschenleer, als wären alle schnell ins Haus gelaufen.

Saras Schmetterling zappelte. Sie strich darüber, flüsterte ihm zu, dass er keine Angst zu haben brauchte, und schob ihren Roller über die Gehsteigkante. Da rutschte ihre Tasche vom Lenker, Zeugnis, Stifte und Block flogen auf die Straße. Sie legte den Roller hin, lief der grünen Eins in Kunst hinterher, sammelte alles ein und stopfte es wieder in die Tasche zurück. Eine Eins im Zeugnis bedeutete umsonst Dampferfahren am Starnberger See. Vielleicht gleich zu Ferienbeginn, hatte Oma gesagt.

Plötzlich wuchs ihr Schatten, von ganz allein. Komisch, dachte sie noch, wollte sich aufrichten, um zu sehen, was mit der Sonne los war, ob das Gewitter aus München ihr bis hierher nachgeflogen war. Eine Sekunde vielleicht oder weniger dauerte das, so lange, wie eine Fliege braucht, um abzuheben und dem Schlag zu entkommen. Dann packten Hände sie, warfen ihr Zwiebelhäute über. Ihr Vater fing sie manchmal in seiner Jacke ein, nur zum Spaß, aber er ließ sie immer gleich wieder los. Diese Schatten drehten sie noch fester ein, wie das allerletzte Stück Klebeband, das bremst und nicht mehr vorwärts noch rückwärts kann. Etwas presste sich auf ihr Gesicht. Da brach sie in Tränen aus, sie konnte einfach nicht anders. Sie zerfloss in ihrem Tränenmeer, und es schmeckte nach Blut.

FREITAGFünf Stunden nach dem Ursprung

›Was hast du für große Hände!‹

›Dass ich dich besser packen kann.‹

Brüder Grimm: Rotkäppchen

Kapitel 4

Weil die Murnauer Unfallklinik mit mehreren Notfällen belegt war, flog der Hubschrauber den schwer verletzten Geisterfahrer nach einigem Hin und Her ins Klinikum Harlaching.

»Jakob Loos hat seinen siebzehnjährigen Sohn Enrico auf das Auto mitversichert«, sagte Matte zu Carina und schob das Handy ein. »Ich habe im Präsidium nachgefragt. Vermutlich hat dieser Enrico noch nicht mal den Führerschein.«

Da ihr Vater bestimmt noch einige Zeit an der Unfallstelle zu tun haben würde, fragte sie jemanden von der Verkehrspolizei, ob sie mit zurück in die Innenstadt fahren konnte. Wenigstens sie als Tante wollte es, wenn auch knapp, zu Sandros Abschiedsfeier schaffen.

Matte hielt sie zurück. »Warte, Peter Schuster übernimmt den Rest hier. Du kannst mit mir fahren.«

Carina sah, wie der Sprachforscher die Absperrbänder aufwickelte. Anscheinend traute ihm ihr Vater inzwischen mehr zu als noch vor ein paar Monaten.

Sie stieg auf der Beifahrerseite ein. »Hast du Mam ...« Sie stockte, legte sich den Gurt an. »Ich meine, weiß Silvia Bescheid, dass wir sie erst jetzt abholen?«

Er warf den Walkingstock wie einen Schirm auf den Rücksitz, drehte den Zündschlüssel und startete den Motor. Eigentlich war ihr Vater heute nur als Beifahrer vorgesehen gewesen. »Sie ist bereits im Zug.« Mit einer Handbewegung verabschiedete er sich von den Kollegen, rollte an den Rettungswagen vorbei und gab Gas. Scheinbar keine Spur von Schmerzen oder einem Zwicken mehr in seiner Hüfte. Aber sie wusste es besser. In ihr keimte der Verdacht, dass er es schlicht nicht ertrug, wenn sie seinen Wagen lenkte.

Mit Warnblinklicht reihten sie sich zwischen die anderen Autos ein, fuhren bis zur nächsten Ausfahrt bei Starnberg und wendeten über die alte Bundesstraße nach München zurück.

»Ich frag mich, wo der Junge auf die falsche Spur aufgefahren ist. Hoffentlich gibt es Zeugen oder Aufnahmen der Verkehrspolizei.« Matte war bereits ganz in den Fall vertieft und verschwendete keinen Gedanken mehr an seine Frau.

»Wir können Silvia zumindest am Hauptbahnhof abholen. Sie hat doch Gepäck«, schlug Carina vor.

»Das geht nicht. Wir müssen zu den Eltern von dem Jungen.«

»Was heißt hier wir, ich komme nicht mit.«

»Du hast ihrem Sohn das Leben gerettet, da dachte ich ...«

»Ob er überlebt, ist noch in der Schwebe. Außerdem hat mir dein neuer Kollege geholfen.«

»Der Peter? Auf den ist Verlass, der macht sich gut, seit ich ihm mal die Leviten gelesen habe.«

Carina nervte sein Lehrmeistergetue. Redete er vor anderen auch so von ihr? »Was war damals eigentlich mit ihm und dieser Zeugin?«

»Peter hat sich einlullen lassen und Sachen herausgegeben – was er nicht durfte. Er achtet eben mehr auf den Klang einer Stimme und die Wortwahl als auf die Aussagen selbst.« Ihr Vater berührte ihre Beule an der Schläfe. »Tut’s weh?«

Sie zuckte zusammen.

»Sollen wir wegen einem Eisbeutel an einer Apotheke halten?«, schlug er vor. »Oder magst du gleich ein richtiges Eis essen, irgendwo?«

»Es geht schon.« Jetzt kramte er wieder sein Haschpapigetue heraus. Sie seufzte. Wann hörte sie endlich auf, darauf hereinzufallen? »Wo wohnt die Familie Loos?«, fragte sie.

»In der Menterschwaige.«

»Harlaching? Dann passt es ja, dass ihr Sohn in diese Klinik gebracht wurde. Und du kannst mich dort rauslassen, ich fahr mit der Tram weiter.« Sie sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Zwanzig vor zwei. Den Anfang der Feier würde sie vermutlich verpassen.

»Wir fahren danach direkt zum Kindergarten weiter, ja? Es dauert nicht lange, versprochen.« Als ob er die Reaktion der Eltern vorhersehen könnte, wenn sie erfuhren, dass ihr Sohn mit Papas Auto abgehauen war, als Geisterfahrer Menschenleben gefährdet hatte und nun schwer verletzt im Krankenhaus lag.

In der ehemaligen Villenkolonie Menterschwaige, hoch über der Isar, suchten sie eine Weile, bis sie das richtige Haus fanden. Neben renovierten Jugendstilvillen standen Betonkästen aus den Siebzigerjahren. Das ganze Viertel war von großen Bäumen überschattet. Hier hatte das Gewitter sogar Äste auf die Straße geworfen. Einige Gullys waren übergelaufen, und die Anwohner mussten hoffen, dass die Sonne das Wasser verdunsten lassen würde oder es nach und nach versickerte. Matte weigerte sich, das Navi zu benutzen. In seiner Heimatstadt brauchte er das nicht, behauptete er.

Carinas Kehle war völlig ausgetrocknet. Ihre Wasserflasche hatte Peter Schuster bekommen. »Hast du irgendwas zu trinken hier?« Nach Wasser fragte sie erst gar nicht, er gehörte zu der Generation, die Wasser ausschließlich zum Waschen benutzte.

»Im Handschuhfach müsste eine Dose Limo sein.«

Wie brachte er das Pappzeug nur hinunter? Lauwarm noch dazu, aber besser als nichts, dachte sie, und trank etwas.

»Ich weiß nichts über sie«, fing er plötzlich an.

Carina verschluckte sich und sprühte Limo auf ihre Brille und an die Windschutzscheibe. Von der Familie Loos sprach er wohl kaum. Das wäre ein großer Zufall gewesen, wenn er die Familie vorher gekannt hätte.

»Ich meine die Verwandten deiner Mutter, ihre Eltern, ihre Geschwister; ob sie noch leben.«

Sie putzte sich erst die Brille, schnäuzte den Rest Limo in das Taschentuch und staunte. Ganz von selbst hatte er zu sprechen begonnen. Ein Wunder! Doch sie verkniff sich eine bissige Bemerkung, nicht dass er wieder in Schweigen verfiel. »Wie wäre es, wenn du mir erst mal was über sie selbst erzählst? Wie heißt sie, wo wohnt sie, wo habt ihr euch kennengelernt, warum hat sie mich weggegeben?« Zu viele Fragen auf einmal, das spürte sie sofort. Aber es brannte in ihr wie diese Scheißlimo, die in ihrer Nase klebte. Sie wollte endlich alles wissen, um es dann abhaken zu können. Egal was sie gleich erfuhr, ihren Namen, ihren Beruf, her mit dem Grund, basta und weg.

»Wir waren zusammen auf der Polizeihochschule. Ich hätte nie gedacht, dass sie mich überhaupt bemerkt. Sie war nicht nur wunderschön, sondern auch noch schlau, die beste unseres Jahrgangs und bei den Professoren die Vorzeigestudentin. Und irgendwann, ach, das führt jetzt zu weit. Da, Rabenkopfstraße, Nummer dreiundzwanzig.« Er setzte den Blinker und fuhr rückwärts in eine Parklücke. Carina wartete gespannt. Sollte sie ihn anspornen, oder redete er von selbst weiter?

Er stellte den Motor ab und löste den Gurt. »Wir bieten den Loos-Eltern an, sie ins Krankenhaus zu fahren, ist ja gleich um die Ecke.« Er hatte wieder komplett auf Beruf umgeschaltet.

Carina war nahe am Platzen. »Was führt zu weit, was?« Sie hielt ihn am Arm fest, als er die Tür öffnete und aussteigen wollte. Er zog den Fuß zurück und ließ die Tür wieder zufallen. Dann starrte er eine Weile auf die angetrockneten glänzenden Limoflecken auf der Armatur. Carina hätte am liebsten mit den Füßen gescharrt oder ihm einen Stoß verpasst. Sie traute sich kaum zu atmen. Endlich fing er wieder zu sprechen an. »Wir waren bis kurz vor dem Abschluss zusammen, und danach haben wir uns aus den Augen verloren. Jeder wollte Karriere machen, man musste schauen, wo man blieb.«

»Hast du gewusst, dass sie mit mir schwanger war? Hat sie mich wegen ihrer Karriere dir überlassen, oder was?«

Er streichelte ihr über den Arm, doch sie schlug seine Hand weg und rieb sich über die Haut, als habe er sie verbrannt.

»Lass uns das hier hinter uns bringen, ja? Wie wäre es, wenn wir uns morgen zusammensetzen und über alles reden? Silvia möchte dir auch einiges sagen.« Sein Dauertrick; wenn ihm nichts mehr einfiel, schob er seine Frau vor.

Über den gepflasterten Vorplatz mit Doppelgarage, auf dem nach dem Unwetter lauter Blätter und abgebrochene Äste lagen, gingen sie zu einem großen, mit Holzlamellen verkleideten Haus, das Carina an ein selbst gebasteltes Kartonhäuschen erinnerte. Das Pultdach fiel nach Süden steil ab. Sie standen vor der längeren Seite und läuteten neben einem durchsichtigen Plexiglasschild, das wie ein Firmenschild wirkte: Familie Jakob und Olivia Loos. Drinnen tat sich nichts. Matte stützte sich auf seinen Walkingstock und wählte die Festnetznummer der Familie. Sie hörten das Telefon im Haus klingeln und sahen zu dem großen Fenster im ersten Stock hinauf, direkt über der Tür. Dahinter stand ein alter Schreibtisch mit einer Telefonanlage. Aber keiner hob ab. Nach einer Weile sprang der Anrufbeantworter an, eine Automatenstimme, die die Nummer wiederholte.

»Vielleicht sind sie verreist«, sagte er. »Die Handynummern konnten noch nicht ermittelt werden. Entweder haben sie Prepaidhandys oder gar keine Mobiltelefone, soll es durchaus noch geben. Aber dem Grundstück nach zu urteilen, ist es hier hypermodern. Wahrscheinlich hat Jakob Loos als Architekt alles selbst entworfen.«

Das erklärte den Schachtelstil, dachte Carina, und versuchte mit einem Blick zum Nachbarn zu erkennen, wie das Haus zu dessen Baustil passte. Doch die Tujenhecke war trotz des Gewitters dicht geblieben und drei Meter hoch. Das halbierte Dach ähnelte dem Looshaus hier, ansonsten erkannte sie nicht viel. »Gibt es Verwandte, die wissen könnten, ob sie in Urlaub gefahren sind? Vielleicht gießt eine Nachbarin die Blumen oder füttert die Fische.« Sie ging zurück zum Bürgersteig. »Ich frag mal nebenan.«

»Bleib hier.« Matte winkte sie zurück. Er war an die Tür getreten und lauschte. »Bestimmt sitzen sie hinten im Garten. Ich hör was.«

Dumpfe Bässe dröhnten, jetzt hörte Carina es auch.

»Wir schauen mal hinters Haus«, schlug er vor. »Wenn sie nur vergessen haben, das Radio auszumachen, können wir immer noch die Nachbarn fragen.« Als sie durch die Gartentür über die Wiese stapften und das Haus umrundeten, rechneten sie damit, dass ein Alarm ausgelöst wurde, aber es blieb still bis auf den monotonen Beat, der aus dem Haus drang. Eine weiße Katze mit kleinen schwarzen Flecken, der die überlange Zunge aus dem Maul hing, als wäre sie auf der Suche nach dem letzten Wassertropfen, sprang durchs dampfende Gras und verschwand im Gebüsch. Carina konnte es ihr nachfühlen, was hätte sie jetzt für einen Schluck Wasser gegeben.

»Sie hat sich was vom Schinken geklaut«, sagte Matte, fuchtelte mit dem Stock herum, zeigte auf das Frühstücksgeschirr auf der Terrasse. In der Butter klebten Aststückchen, der Sonnenschirm stand schief und war zur Hälfte zurückgeklappt. Der Regen hatte einen perfekt gedeckten Tisch zerstört. Im Kaffeerest einer Tasse zappelte eine Fliege und starb den Koffeintod. Wespen sirrten um wässrige Marmeladengläser und angebissene Brote. Die Schiebetür ins Haus stand eine Handbreit auf.

»Herr Loos, Frau Loos, sind Sie zu Hause?« Matte rief durch den Spalt ins Wohnzimmer und versuchte die Musik zu übertönen. Keine Reaktion. Er drehte sich wieder zu Carina um. »Ist das Jazz?«

»Papa!« Von Musik hatte sie wenig, aber ihr Vater anscheinend überhaupt keine Ahnung. »Du müsstest das eigentlich kennen. Die Sechziger- und Siebzigerjahre, na?«

Ihr Vater runzelte die Stirn. »Ich kenne nur die Beatles und ein paar Schlager. Da ich als Student nicht wusste, wie man Rolling Stones schreibt, habe ich KISS in die Pultlehne meines Stuhls geritzt, aber was die für Musik machen, weiß ich bis heute nicht. AC/DC habe ich mit dem ADAC verwechselt.«

Carina lachte. »Der Beat auf den zweiten und vierten Takt, horch. Na?«

Er lauschte eine Weile, zuckte dann mit den Schultern. »Klingt, als wäre es immer wieder dasselbe Lied oder als würde es hängen, wie früher bei einem Kratzer auf der Schallplatte.«

Carina spähte durch die Terrassentür. Das Soundsystem blinkte rot. Es war entweder auf Repeat gestellt oder einfach ein endlos langes Stück. »Achte auf diesen blechernen Klang zwischendrin«, half sie ihm auf die Sprünge. »Das ist Reggae.«

»Ach so, Bob Marley, hört man den heutzutage wieder?« Er griff nach innen, wuchtete den Hebel für die Verankerung nach oben und schob die Tür auf.

»Dürfen wir das denn?«, fragte sie.

Ihr Vater überhörte ihre Frage. »Riechst du das?« Er lehnte seinen Stock in eine Nische.

Carina schnüffelte und folgte ihm ins Haus. Der Gestank nach Angebranntem stieg ihr in die Nase. Matte suchte den Lautstärkerregler an der Musikanlage, entdeckte schließlich die Fernbedienung auf dem Wohnzimmertisch.

»Brauchst du Handschuhe?«, fragte sie.

»Das ist doch kein Tatort.« Er legte die Fernbedienung wieder weg und riss einfach den Stecker aus der Wand. Bob Marley verstummte; der Klang hing noch eine Weile wie ein Schrei in der Luft.

Mit der abrupten Stille machte sich in Carina ein mulmiges Gefühl breit. Sie sah sich um. Rechts hinter einem Geländer führte eine Treppe in den Keller. Da war etwas, doch die Wand lag im Schatten. Sie schnupperte, einen Moment lang hatte sie so etwas wie Pulver gerochen, aber bestimmt täuschte sie sich, denn der Gestank nach Angebranntem übertünchte alles. Sie folgte ihrem Vater in die Küche, der einzige abgetrennte Raum zu dem riesigen offenen Wohnzimmer. Im Toaster steckten zwei fertig geröstete Scheiben Brot. Übergekochte Milch schwamm auf dem Ceranfeld, war zum Teil schwarzkrustig angetrocknet, der Rest den Ofen hinab auf den Boden gelaufen. Der eingebrannte Topf stand eingeweicht in der Spüle. Jemand hatte die Herdplatte abgeschaltet und Salz darauf gestreut, ein altes Hausmittel zur Geruchstilgung, das allerdings diesmal versagte.

»Vielleicht war das der Sohn, und danach ist er mit Papas Auto weg.«

»Du glaubst, wegen übergekochter Milch wird einer zum Geisterfahrer?«

Matte drehte an einem Griff, aber es war kein Küchenschrank, sondern eine holzverkleidete Tür zur Speisekammer, die in einen schmalen Raum mit vollen Regalen und einer Kühltruhe führte. Gleich dahinter ging es in die Garage. Fahrräder in sämtlichen Varianten, auch ein Tandem und eine Rikscha standen dort, und an der Wand hing sogar ein Hochrad.

»Mehr eine Radlfamilie.« Matte stützte sich auf das Regal mit Tomatensoßen aller Geschmacksrichtungen und spähte um die Ecke in die Garage. »Auf Jakob Loos ist nur der Mini zugelassen, kein Zweitwagen. Olivia hat anscheinend kein Auto.«

»Und wenn die Eltern mit dem Zug in den Urlaub gefahren sind und Enrico das Haus überlassen haben?«, spekulierte Carina. »Lass uns noch kurz im ersten Stock nachsehen, und dann gehen wir besser.«

Er nickte, schloss die Garagentür wieder. Auf der Treppe nach oben bemerkte Carina eine Veränderung an ihm. Er berührte das Geländer nicht, obwohl er sich sicher schwertat, ohne Stütze hinaufzusteigen, da sein Stock draußen an der Terrassentür lehnte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, als hätte er nun doch die Sorge, er könnte Spuren verwischen. Carina betrachtete die ungleichmäßig bestückte Fotogalerie an der Wand. Einige Nägel waren leer. Kleine Gemälde mit bunten Mustern hingen neben Familienfotos: Enrico als Kind auf einem Fahrrad mit Stützrädern, dann beim Wandern mit Rucksack und Steigeisen. Ein Hochzeitsfoto in einem herzförmigen Silberrahmen war mit dem Datum von Ostern dieses Jahres beschriftet. Also hatten die beiden erst geheiratet.

Wie ein dünner Faden folgte ihnen der Gestank der angebrannten Milch nach oben.

Die Zeiten hatten sich verkehrt, früher rauchten Jugendliche heimlich auf dem Zimmer, heute verboten sie es den Eltern, dachte Carina. Hatte Enrico trotz des guten Vorsatzes an seiner Zimmertür etwa getrunken? Ihr war nichts aufgefallen, eigentlich reagierte sie empfindlich auf eine Alkoholfahne. Zwischen den vielen Gerüchen eines Menschen, ob tot oder lebend, konnte sie das meist ganz gut herausfiltern. Ihre Nase unterstützte sie als Werkzeug noch vor dem Skalpell.

»Gib mir besser doch Handschuhe«, bat Matte, auch Carina streifte sich welche über. Dann schob er die Tür zu Rico’s Zimmer auf. Eine geräumige Sporttasche lag auf dem Boden, aus der fast ein ganzer Hausstand ragte, ähnlich dem, wie er in Carinas Tasche steckte. Socken, Boxershorts, Ordner, Turnschuhe, Deo, Hefte, Schreibzeug, ein Schlafsack, halb aufgerollt. Das Bett wirkte unbenutzt, die Decke und das Kopfkissen waren ordentlich gefaltet. Neben Enricos Zimmer befand sich ein kleines Bad mit Dusche, Toilette und Waschbecken. Alles penibel sauber, wie ein frisch aufgeräumtes Hotelzimmer, eine Zahnbürste in einem Glas, sogar ein gefaltetes Handtuch hing über dem Halter.

Im nächsten Raum fehlten die Möbel. Bis auf Ringe an der Vorhangstange war er leer. Wurde hier gerade renoviert? Carina kam ihrem Vater zuvor und drückte die Klinke an der Stirnseite ins nächste Zimmer.

Auf den ersten Blick bot sich ein friedliches Bild. Ein Brautpaar, wie auf dem Hochzeitsfoto von der Treppe. Unverkennbar, es waren Enricos Eltern. Nur dass sie nicht unter blauem Himmel standen, sondern auf dem Doppelbett lagen, die Oberkörper zugedeckt. Olivia trug ein Brautkleid über den Jeans, ihr rechter Arm hing herab, und die Spitze ihres Zeigefingers berührte den Teppichboden.

Eine Fliege sirrte über dem Ehebett.

Die wächsernen Gesichter, die halb geöffneten, glanzlosen Augen und das kleine Loch in Jakobs Stirn sagten Carina, dass beide, obwohl kein Blut zu sehen war, nicht mehr lebten.

Kapitel 5

München-Grünwald, vier Monate vor dem Ursprung

»Frau Schwalbe, der Bach stottert, weil der CD-Spieler spinnt.« Elena, die Azubine, stürmte in ihr Privatzimmer, riss mit ihrem Ärmel den Stapel Sterbebilder herunter, der, frisch aus der Druckerei, auf der Kommode lag. »Tut mir leid.« Sie bückte sich und sammelte alles wieder auf.

»Moment.« Noch einmal biss Gloria von der Semmel ab, setzte die letzten Häkchen in das Sargausstattungsformular im Computer und schickte die Bestellung mit einem Klick ab. Aus einer Schreibtischschublade nahm sie eine Tube und reichte sie Elena.

»Zahnpasta?«

»Reib die CD damit ein, dann gut abspülen und abtrocknen, danach müsste das Agnus Dei wieder laufen.«

Elena nickte. »Und die Gemeinde Taufkirchen fragt wegen einer Grabauflösung an.«

»Ich rufe zurück.« Eigentlich hatte sie noch in Ruhe frühstücken wollen. »Noch was?«

»Äh ja, ein Anruf aus dem Hospiz. Frau Schwalbe, bei Ihnen klebt da was Rotes.« Elena tippte auf ihren eigenen Mundwinkel.

»Marmelade, nichts weiter.« Gloria wischte sich übers Gesicht.