Die Zerrissenen - Stephanie Fey – auch bekannt als SPIEGEL-Bestseller-Autorin Stephanie Schuster - E-Book
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Beschreibung

Weil die Wahrheit spitze Dornen haben kann: »Die Zerrissenen«, der dritte Band der Thriller-Trilogie von Stephanie Fey, jetzt als eBook bei dotbooks. Mit stiller Verzweiflung – oder eiskaltem Kalkül … Eigentlich soll die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis die Polizei bei den Ermittlungen um eine Serie von Grabschändungen unterstützen, doch dann entwickelt eine Routineuntersuchung eine erschreckende Dynamik: Carina begutachtet die Leiche eines Strafgefangenen, der sich angeblich selbst erhängt hat – und erkennt Ungereimtheiten, die sie an ein lang zurückliegendes, blutrotes Kapitel der deutschen Geschichte erinnern. Welche Verbindung könnte es geben zwischen dem Toten aus der Zelle, der RAF … und ihrer eigenen Mutter? Noch nie war Carina so nah daran, die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Aber wird sie im entscheidenden Moment den Mut dazu haben? »Es ist ungemein spannend zu verfolgen, wie Stephanie Fey die einzelnen Fäden zusammenbringt, wie sich am Schluss das ganze Puzzle zu einem Bild fügt.« Süddeutsche Zeitung Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Zerrissenen« ist der dramatische Höhepunkt der Thriller-Trilogie von Stephanie Fey – auch bekannt als Bestsellerautorin Stephanie Schuster – über die Gerichtsmedizinerin und Gesichtsrekonstrukteurin Carina Kyreleis. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 496

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Über dieses Buch:

Mit stiller Verzweiflung – oder eiskaltem Kalkül … Eigentlich soll die Rechtsmedizinerin Carina Kyreleis die Polizei bei den Ermittlungen um eine Serie von Grabschändungen unterstützen, doch dann entwickelt eine Routineuntersuchung eine erschreckende Dynamik: Carina begutachtet die Leiche eines Strafgefangenen, der sich angeblich selbst erhängt hat – und erkennt Ungereimtheiten, die sie an ein lang zurückliegendes, blutrotes Kapitel der deutschen Geschichte erinnern. Welche Verbindung könnte es geben zwischen dem Toten aus der Zelle, der RAF … und ihrer eigenen Mutter? Noch nie war Carina so nah daran, die Wahrheit über ihre Familie zu erfahren. Aber wird sie im entscheidenden Moment den Mut dazu haben?

»Es ist ungemein spannend zu verfolgen, wie Stephanie Fey die einzelnen Fäden zusammenbringt, wie sich am Schluss das ganze Puzzle zu einem Bild fügt.« Süddeutsche Zeitung

Über die Autorin:

Stephanie Fey ist das Pseudonym einer Bestsellerautorin, die unter diesem Namen eine fesselnde Thriller-Trilogie veröffentlich hat: Stephanie Schuster, geboren 1967, studierte Grafikdesign in München und hat viele Jahre lang die Bücher anderer Autorinnen und Autoren illustriert, bevor sie selbst zu schreiben begann – unter anderem die Bestsellerserie rund um »Die Wunderfrauen«. Stephanie Schuster lebt mit ihrer Familie am Starnberger See in Bayern.

Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website: www.stephanieschuster.de

Bei dotbooks veröffentlichte Stephanie Schuster unter dem Namen Stephanie Fey eine Thriller-Trilogie rund um die Rechtsmedizinerin und Gesichtsrekonstrukteurin Carina Kyreleis: »Die Gesichtslosen«, »Die Verstummten« und »Die Zerrissenen«

Unter dem Pseudonym Ida Ding schrieb Stephanie Schuster außerdem die beiden humorvollen Oberbayern-Krimis »Hendlmord« und »Jungfernfahrt«, die ebenfalls bei dotbooks erschienen sind.

***

eBook-Neuausgabe September 2022

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, Memminten, unter Verwendung verschiedener Bildmotive von shutterstock/Paradise studio, schab

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)

ISBN 978-3-98690-260-5

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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***

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Stephanie Schusterschreibt als Stephanie Fey

Die Zerrissenen

Ein Carina-Kyreleis-Thriller

dotbooks.

Für meine Wunder:

Thomas, Resi, Kalli, Jonas

PROLOG

Die erste Nacht mit einer Neuen war immer etwas Besonderes. Auch wenn noch längst nicht alles perfekt verlief, schließlich musste er sie erst erkunden und austesten, wie sie beschaffen war. Dieses Vortasten hatte seinen Reiz. Ein bisschen so wie früher, als er Brause in Wasser auflösen durfte. Jedes Mal prickelte es wieder neuartig auf der Zunge, obwohl er nur die Tütenfarbe wechselte und längst wusste, was ihn erwartete. Frauen waren zwar handfester als Brausepulver, doch wenn er die Kleiderschichten und die Schminke entfernte, blieben auch nur noch nackte Tatsachen. Im Grunde, rein anatomisch betrachtet, waren sie alle gleich. Die eine hatte mehr Fleisch auf den Rippen, die andere ähnelte eher einer Knospe, die noch einige Sonnenstrahlen vertragen hätte, um zu erblühen. Was die Figur betraf, liebte er die Abwechslung. Anspruchsvoll war er ohnehin nicht, jung sollte sie sein, jedenfalls jünger als er, was von Jahr zu Jahr leichter wurde. Kein Kind, nein, so pervers war er nicht. Er bevorzugte echte Frauen mit allem Drum und Dran. Hüften, Busen, ein weicher Bauch, lieber zu viel als zu wenig. Knochig war er selbst, und aufreiben würden sie sich so und so. Da konnte er noch so gut aufpassen und Vorsorge treffen. Er lernte mit jeder dazu und probierte Neues aus. Ihm gefiel es, alles Mögliche mit ihnen anzustellen, er genoss es, dass die Frau sich nicht rührte und ihn machen ließ. Anfangs erwärmte er sie mit seinem Atem und umfing sie dann mit seinem Körper. Manch eine verschloss sich dabei, spielte die Jungfrau. Er verzieh ihr die Lüge. Schließlich war es bei ihm und mit ihm ja wirklich das erste Mal. Wie Wachs war sie unter seinen Händen, schenkte sich ihm hin, willenlos, ohne dass er um sie werben musste. So besaß er ein Geschöpf, das einzig ihm gehörte, für immer. Nur an der Technik musste er noch feilen, damit er länger etwas von ihr hatte. Manchmal schritt die Verwesung zu schnell voran, und er brauchte mehr Pfefferminztee, aber im Laufe der Jahre entwickelte er ein Gespür für die Vorgehensweise. Jedes Mal klopfte sein Herz wie ein an Land geworfener Karpfen. Wieder und wieder hoffte er, dass er nun die Eine, die Letzte und damit die einzig Richtige aus ihrem Grab befreite.

NOCH 24 SEKUNDEN

Es ist nicht der Tag,es ist nicht die Stunde,das Leben stirbt in der Sekunde.

Thomas Schuster

Kapitel 1

Kaum war Carina im Institut für Rechtsmedizin eingetroffen, um sich im Nebenraum vor dem Seziersaal umzuziehen, schob Nusser, der Präparator, die Tür auf. »Hola chica«, grinste er sie an. »Hey, ich dachte, du mampfst bereits im Schatten eines Sombrero Bohnen mit Mais?«

»Ich hab’s mir anders überlegt, Mexiko kann warten.« Sie holte ein Handtuch aus ihrer Reisetasche, polierte ihre Brille und rieb sich die Haare trocken. Auf dem Weg vom Flughafen hierher hatte es zu regnen begonnen, prasselnde, dichte Tropfen durchnässten sie auf den paar Metern zwischen Taxi und Eingang. Als ob innerhalb weniger Minuten der Sommer endgültig verscheucht worden war. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie das T-Shirt wechseln sollte, hatte sie doch ohnehin so gut wie ihren gesamten Kleidungsbestand dabei. Zehn Shirts, einen ausgeleierten und leicht verwaschenen Pullover, den ihr Wanda zum achtzehnten Geburtstag gestrickt hatte, Unterwäsche, drei Paar Socken, ein besticktes mexikanisches Kleid und zwei Hosen, zusätzlich zu den Sachen, die sie trug. Sie ließ es bleiben. Nicht weil sie sich vor Nusser nicht ausziehen wollte, diese Art Scham war unter Rechtsmedizinern überflüssig. Jeder hier kannte alle Formen von Nacktheit bis ins Detail. Sie schwitzte trotz der Kühle im Institut und würde auch so bald trocken sein. Also zog sie ein grünes OP-Hemd über und tauschte ihre Schuhe gegen die Sektions-Clogs. »Was ist im Seziersaal los?« Beim Hereinkommen hatte Carina einen Haufen Leute gesehen, die sich um die Obduktionstische drängelten.

»Ach, das reinste Kuddelmuddel.« Keuchend riss sich Nusser die verschmierte Plastikschürze ab, warf sie in den Müll und legte eine frische an. »Nicht nur wegen der ganzen Leichenteile, an die bin ich kaum drangekommen. Ständig steht irgend so ein Spion vor einem und schnüffelt in der Soße, als könnte er riechen, wo welcher Hautfetzen hingehört.«

»Spion? Meinst du, Agent?«

»Ist das nicht dasselbe? Typen vom BND oder BKA, was weiß ich. Da drin wimmelt es jedenfalls von Geheimdienstlern, huibu.« Er wedelte schaurig-lustig mit den blutbefleckten Gummihandschuhen.

Carina lächelte. »Wieso sind die wegen einer S-Bahn-Leiche hier?«

»Nix S-Bahn. Die Toten aus dem gesprengten Waldhäuschen werden endlich obduziert. Das war vielleicht ein Hickhack in den letzten zwei Wochen, und jetzt geht’s hier weiter. Ich musste echt aufpassen, dass ich keinem von denen ein Stück von der Nase oder sonst was absäble. Man könnte meinen, das Bundeskanzleramt ist in die Luft geflogen, bei so viel Aufgebot.« Schweiß glänzte zwischen seinen lichten, schwarzgefärbten Haarsträhnen und lief ihm in die Augen. Er griff sich einen Stapel Papiertücher aus dem Spender am Waschbecken und wischte sich übers Gesicht.

»Wieso wird das erst heute gemacht?« Carina hatte sich zwei Wochen freigenommen, nachdem sie um ein Haar selbst in die Luft gesprengt worden wäre, und war davon ausgegangen, der Fall wäre vonseiten der Rechtsmedizin längst abgeschlossen. Selbst ihr Vater hatte nichts verlauten lassen, als sie ihn traf. Bestimmt hatte er sie nur schonen wollen, typisch Haschpapi! So hatte sie ihn als Kind genannt, als er noch bei der Drogenfahndung war, und auch weil er mit seinen markanten Augenringen ihrem Hushpuppies-Stoffhund ähnlich sah.

»Die Behörden mussten sich erst einigen, wer für den Fall zuständig ist«, erklärte Nusser. »Da es doch Leute aus ihren Reihen waren, ehemalige Geheimniskrämer. Naja, als Krämer arbeitete der eine Tote dann bis zuletzt. Er war Hosenverkäufer, soviel ich weiß. Bisher dachte ich, Mensch ist Mensch, und wenigstens im Tod sind alle gleich. Nichts da, man lernt nie aus. Es gibt auch Elitetote. Andererseits, mir kann es egal sein, ich bin nur der Schnippler hier. Jetzt muss sich die Chefin alleine mit Bond und Co weiterplagen und die Teile zusammensetzen, wenn sie es denn erlauben. Wie es aussieht, handelt es sich nur um eine Person. Es sei denn, sie haben noch was im Wald oder in den Trümmern gefunden. So groß war dieses Waldhäuschen doch nicht, du hast es ja auch gesehen, oder?«

Carina zuckte mit den Schultern. »Nur aus der Ferne, es lag versteckt zwischen den Bäumen. Die genauen Umrisse, ob da noch ein Schuppen war und wie tief es in dem Hang lag, konnte ich nicht erkennen.« Sie war zwei Männern gefolgt und hatte beobachtet, wie sie das Häuschen betraten, kurz vor dem großen Knall.

»O entschuldige, ich plappere einfach drauflos. Dabei weiß ich, dass du um ein Haar selber ...« Rasch umfing er sie mit einem Arm, presste sie mit dem Ellbogen an sich, möglichst ohne sie mit seinen schmutzigen Handschuhen zu berühren.

»Danke.« Wieder einmal war sie fast gestorben. Erst der Autounfall in Mexiko, dann das Abtauchen in ein volles Wasserfass, als alles um sie herum in Flammen stand, und nun wäre sie beinahe mit in die Luft gesprengt worden. Wie viele Leben hatte sie noch? Sie sollte zur Sicherheit eine Strichliste führen. Anfangs, gleich nach der Explosion, hatte sie geglaubt, blind und taub zu sein. Dröhnende Stille in ihren Ohren. Dann hatte sie Hände gefühlt, spürte sie auch jetzt noch, wie Nussers Ellbogen. Jemand hatte sie zurückgezogen und in Sicherheit gebracht, sogar mit seinem eigenen Körper geschützt, Sekunden bevor das Waldhäuschen, nur einen Katzensprung entfernt, in einer Staubwolke versank. Nussers Rasierwasser, gemischt mit dem Geruch nach Schweiß, holte sie in die Gegenwart zurück. Sie löste sich aus seinem Klammergriff.

»Du wirst übrigens schon sehnsüchtig erwartet. Ich geh mir kurz die Nase pudern.« Bevor der Präparator in Richtung Toilette verschwand, deutete er mit dem Kopf zu ihrem Vater, von dem Carina durch den Spalt der Schiebetür nur seinen Hinterkopf und zwischen den vielen Beinen der Leute den zum Gehstock umfunktionierten Walkingstock erkennen konnte. An zwei Sektionstischen arbeiteten ihre Chefin, die Professorin Feininger, und ihr Kollege Dr. Herzog, umringt von Männern, von denen Carina außer ihrem Vater nur den Oberstaatsanwalt Buddeberg kannte. Heute trug er zur Abwechslung einen Anzug, nicht wie bei ihrer ersten Begegnung bunte Bermudashorts und Flip-Flops.

Ihr Vater wandte sich um und fing ihren Blick auf, flüsterte der Professorin etwas ins Ohr und kam auf Carina zu. Unterwegs hakte er eine seiner berühmt-berüchtigten grünen Knisterplastiktüten, in denen er seine Unterlagen mit sich herumtrug, von einem Schubladenknauf ab. Hastig schloss er die Schiebetür hinter sich. »Na endlich.« Er atmete auf. »Da bist du wieder. Peter hat dich zum Glück noch erwischt. Was bin ich froh, dass du Kurtis Obduktion übernimmst.«

»Willst du dich nicht kurz ausruhen?« Sie schob ihm einen Bürostuhl hin. Seine Hüfte mit der Schussverletzung schmerzte sicher.

»Nichts da.« Er rollte den Stuhl weg. »Fürs Herumlungern ist jetzt keine Zeit. Lass uns am besten gleich anfangen, bevor die uns noch erwischen und in die Mangel nehmen. Eindeutig, die wollen was vertuschen.«

»Wen meinst du mit ›die‹?«

»Na, das Bundeskriminalamt. Sie haben gleich zwei Beamte hergeschickt. Kurt Krallingers Vorgesetzten und noch einen. Sie sehen bestimmt auch einen Zusammenhang zwischen der Sprengung und dem Fakt, dass er sich jetzt kurz vor Prozessbeginn in seiner Zelle erhängt hat, aber mir kleinem Weißwurstkriminaler dürfen die großen Staatstragenden das natürlich nicht anvertrauen. Noch sind sie abgelenkt. Also lass uns schnell machen, solange sie noch da drin an den Leichenteilen puzzeln. Dann merken sie nicht, was wir vorhaben.«

»Habt ihr die Toten schon identifiziert?«

»Das ist es ja. Das BKA hat anscheinend gleich vor Ort die Spuren selbst ausgewertet. Bisher handelt es sich nur um ein Opfer. Felix Jering, der nach seinem Ausscheiden beim BND in so einem Outlet oder wie diese Ramschläden heißen, arbeitete. Das wussten die, obwohl von seinem Gesicht kaum noch was übrig ist. Jetzt wollen sie nur noch erfahren, ob die anderen Gliedmaßen eine zweite Person ergeben. Ein paar Finger zu viel oder mehr als zwei Füße oder so was.«

»Dann ist Sascha Lambert, also dieser ehemalige GSG-9-Beamte, vielleicht davongekommen?«

»Kann sein.« Er zuckte mit den Schultern. »Falls ihm keines der vielen Rippenstückchen gehört. Du bist die Einzige, die Jering und Lambert gesehen hat. Wie geht’s dir überhaupt?« Matte hielt inne, und seine immer müde wirkenden Augen ruhten auf ihr. Sie schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Ihr war nichts geschehen, aber was sie erlebt hatte, wühlte sie auf, als hätte die Explosion nicht in dem Wald stattgefunden, sondern in ihrem Inneren.

»Blass und verschwitzt bist du, hast du Fieber?« Er strich ihr über die Stirn.

»Draußen regnet es, weiter nichts.« Sie wischte seine Hand fort.

»Ich mach mir Sorgen um dich, falls dieser Lambert wirklich überlebt hat.«

»Und wenn schon. Er hat mich nicht bemerkt«, sagte Carina geschwind. Im selben Moment war sie sich nicht mehr sicher, ob das auch stimmte. Ihre Erinnerung an das Ereignis veränderte sich mit jedem Tag. Anfangs war alles in ihrem Gedächtnis glasklar und unverrückbar gewesen. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto mehr vermischte sich das Geschehene mit den Eindrücken davor und danach, als würde jemand in ihr Kopfkino Filmsequenzen einkleben.

»Ich bitte dich, deine Zeugenaussage nachher noch im Präsidium zu machen. Das ist sehr wichtig für uns, ja?« Ihr Vater riss sie aus ihren Gedanken. Für uns. Eigentlich meinte er, für ihn, für seine Ermittlungen, einzig darum ging es. Was würde er tun, wenn sie jetzt doch im Flieger säße? Und dann weit weg und inmitten der mañana-Mentalität, was hieß, dass sich die Zeit in Mexiko den Menschen anpasste und nicht umgekehrt. Selbst eine Vorladung per Post würde bei ihrer Freundin Lupida auf dem Land erst nach Wochen eintreffen. Auch wenn Matte sie dort weiterhin überwachen sollte, wie er es in der Vergangenheit bereits getan hatte, so war sie in Mexiko wenigstens frei, eigene Entscheidungen zu treffen. Und vor allem war sie da nicht seinem flehenden Haschpapi-Blick ausgesetzt. Seufzend gab sie nach. »Von mir aus, ich sage, was ich beobachtet habe.«

»Danke. Ich gebe Paintner Bescheid, er kümmert sich darum, also melde dich später bei ihm, ja?«

»Ist das Peters Kollege, mit dem er sich das Büro teilt?«

»Ach, dann kennst du ihn bereits?« Er musterte sie, so als hätte er den Abdruck von Peters Lippen auf ihrem Mund bemerkt. Sie spürte, wie sie rot wurde, allein wenn sie Peters Namen aussprach. Kindisch kam sie sich vor, und doch musste sie innerlich lächeln. Sie wandte sich ab, suchte im Regal nach einer Plastikschürze und faltete sie auseinander. Der Kriminalmeister und angehende Sprachprofiler hatte sie geküsst, im Flugzeug, so als müsste er sie auf das vorbereiten, was er über ihre Mutter herausgefunden hatte.

»Frag an der Pforte nach ihm, er holt dich ab.«

»Peter?« Sie zog eine Schublade auf, als suchte sie darin etwas, trotzdem merkte sie, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.

»Nein, der Paintner Theo, hörst du denn nicht zu? Peter habe ich nach Stadelheim geschickt, damit er Kurtis Sachen sichert. Stell dir vor, sie wollten Krallingers Leichnam gleich in der Zelle beschlagnahmen und nach Wiesbaden verfrachten.« Beim Reden fuchtelte ihr Vater mit dem Stock herum. Carina ging in Deckung, als er ihr zu nahe kam. So aufgeregt hatte sie ihn bisher selten gesehen, wo war nur der Matte Kyreleis geblieben, der für seine Gelassenheit bekannt war? Diesmal war er persönlich in den Fall verwickelt. Abgesehen von der körperlichen Beeinträchtigung schien die Schusswunde ihn auch seelisch verändert zu haben. Kurt Krallinger, sein früherer Arbeitskollege bei der Münchner Mordkommission, hatte ihren Vater fast umgebracht. »Was ist denn eigentlich passiert«, fragte Carina. »Ich weiß nur, dass Krallinger tot ist.«

»Angeblich hat er sich in seiner Zelle erhängt.«

»Hat man vergessen, ihm die Schuhbänder abzunehmen?«

»Nein, mit einem Handtuch. Ein Wärter ...« Matte zog einen Zettel aus der grünen Tüte an seinem Arm. »Ein gewisser André Trotha, mit A hinten, nicht mit EL, obwohl das eher passen würde, hat ihn heute Morgen um sieben, kurz vor der Essensausgabe, gefunden und sofort abgeschnitten.«

»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«

»Doch, leider, erst vom Fenstergitter, dann hat er ihn auf die Pritsche gehoben und dort die Schlinge aufgeschnitten. Ich hab schon mit dem Kerl geredet. Ein fast zwei Meter großes Schwergewicht in Uniform, so eine Art Vollzugsmaschine, der geht richtig auf in seinem Gefängniswärterjob. Er hat den Kurti vermutlich mit links vom Fenster gehoben. Dann wollte er ihn wiederbeleben, hat gehofft, dass er noch nicht ganz tot ist. Jedenfalls hat er durch seinen Samariterdienst sämtliche Spuren zerstört. Kurtis Mörder werden ihn nicht kurz vorm Frühstück aufgehängt haben, damit er noch eine Chance hat, gefunden zu werden, er war bestimmt schon seit Stunden tot. Aber ich will dir nicht vorgreifen, das wirst du mir gleich genauer sagen können. Für mich jedenfalls stinkt das Ganze zum Himmel! Wenigstens ist auf den Oberstaatsanwalt Verlass. Buddeberg hat durchgesetzt, dass der Leichnam hierher überführt und obduziert wird, und deine Chefin habe ich darum gebeten, dass sie die BKA-Leute ablenkt, damit ich mit dir unbemerkt abhauen kann.«

»Abhauen, wohin?« Carina verstand gar nichts mehr. Und außerdem nervte seine Bevormundung.

Mattes Handy gab ein Surren von sich. Hastig zog er es aus der Hosentasche und hielt es ans Ohr. »Ja. Hallo?« Er klickte darauf herum und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Display. »Ach so, nur eine SMS. Warte kurz. Ah, wenn man vom Kriminalmeister spricht.« Er hielt das Mobilteil mit ausgestrecktem Arm von sich, zu eitel um zuzugeben, dass er längst eine Brille bräuchte. Als er die Worte entzifferte, bewegten sich seine Lippen mit. Seine Augen verdunkelten sich. »Diese Drecks..., Malefiz..., ja, wo sind wir denn hier?« Carina glaubte schon, er würde das Handy zu Boden schleudern, doch er holte Luft und steckte es wieder ein. »Stell dir vor, Kurtis Zelle ist bereits komplett ausgeräumt, auch seine gesamte Kleidung ist weg. Peter schreibt, dass zwei Häftlinge dazu verdonnert worden sind, sofort alles zu schrubben und zu überstreichen, sogar die Sockelleisten sind entfernt worden. Ich fasse es nicht.« Er stakste mit seinem Stock los. »Du glaubst nicht, wie bekannt mir das alles vorkommt.«

»Was meinst du? Hast du so was schon mal erlebt? Einen ähnlichen Fall?«

Er winkte ab. »Ulrike Meinhof hat sich doch auch mit Handtuchstreifen am Fenstergitter ihrer Zelle erhängt. Nur merkwürdig, dass keinerlei Spuren gesichert werden konnten, weil sofort alles beseitigt worden ist. Eine Selbstmörderin, die nach ihrem Tod noch aufräumt, ist schon ungewöhnlich, aber das führt jetzt zu weit. Wir müssen uns beeilen, wo steckt euer Präparator eigentlich, den hab ich doch vorhin hier reingehen sehen?«

»Auf dem Klo, glaube ich.«

Matte sah auf die Uhr. »Dann komm, gehen wir. Carina, ich verlass mich auf dich.« Er nahm sie beim Arm, doch sie entwand sich ihm.

»Lass das, ich obduziere nicht, weil du es verlangst. Kapier das endlich. Die Rechtsmedizin ist unabhängig, ich arbeite getrennt von dir, ein für alle Mal.« Längst bereute sie, die mexikanische Hochzeit ihrer besten, ja vielleicht einzigen, Freundin Lupida für das hier sausen zu lassen. Diesen Krallinger hätte ruhig einer ihrer Kollegen übernehmen können.

»Sei nicht eingeschnappt. Ich hab da nur so ein Gefühl, dass es ...«

»Deine Gefühle interessieren mich nicht«, schnitt ihm Carina das Wort ab. Im nächsten Augenblick tat ihr ihre Schroffheit leid, normalerweise war das nicht ihre Art, bei Betroffenen schon gar nicht. »Darfst du überhaupt ermitteln?« Als Opfer war er doch befangen.

»Natürlich wollten sie mich rauskicken. SV Wehen Wiesbaden gegen FC Bayern, dass ich nicht lache, da müssen sie sich schon wärmer anziehen. Die haben Angst, dass ihnen jemand auf die Finger schaut und ihre Vertuschungen entlarvt. Buddeberg sieht das genauso, er sagt, da ist schon lange was faul.« Der Oberstaatsanwalt Buddeberg und Ehemann ihrer Chefin hatte dafür gesorgt, dass der Krallinger-Fall überhaupt in München verhandelt wurde. Ursprünglich wollte das BKA alles intern klären, da Kurt Krallinger, dieses Chamäleon mit Feuermal, nach einer Stasikarriere zum BKA gewechselt war. Wenn er seine Geliebte nicht in der Isar versenkt und ihren Vater nicht angeschossen hätte, wären seine Machenschaften vermutlich niemals ans Licht gekommen.

Nusser, eines seiner historischen Medizinbücher unter den Arm geklemmt, kam aus der Toilette zurück. »Alles vorbereitet, Herr Kyreleis«, sagte er eifrig, »es war gar nicht leicht, einen freien Raum zu finden.« Er schob das in Kalbsleder gehüllte Buch vorsichtig in den Fachliteraturschrank und stützte es mit dem Quader, einem seiner filigranen Präparate, an dessen Glaswand ein winziger Fötus klebte. Bevor er den Schrank schloss, strich er noch mal über den brüchigen, Buchrücken, als könne er sich nur schwer von seinem Schatz trennen. »Kommt mit, und wenn uns wer sieht, tut möglichst so, als wäre nichts. Feininger hält uns hoffentlich weiterhin den Rücken frei.« Er grinste. »Zur Not stellt sie sich eben in die Tür, hat sie gesagt, und dann kann das BKA nichts ausrichten.« Das stimmte, der Körperumfang der Professorin reichte für drei.

»Ich brauche zuerst die Genehmigung der Staatsanwaltschaft oder zumindest Feiningers Zustimmung, am besten frage ich Dr. Buddeberg gleich, vorher kann ich nicht obduzieren.« Carina wollte die Schiebetür zum Seziersaal öffnen.

»Bleib hier, den Wisch kriegst du auch so, er liegt nachher im Sekretariat, versprochen. Buddeberg ist nur noch nicht dazu gekommen. Ich würde jetzt besser nicht fragen, sonst können wir es gleich lassen, denn dann haben wir das BKA am Hals.« Was war das hier? Carina fühlte sich plötzlich in ihre Zeit in der mexikanischen Rechtsmedizin zurückversetzt. Rund um die Uhr waren Tote aus dem Drogenkrieg angeliefert worden. Bauern, Dealer und Ermittlungsbeamte lagen nebeneinander auf den Seziertischen, Feinde zu Lebzeiten, nun im Tod vereint und oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Dennoch versuchten sie und ihre mexikanischen Kollegen, ihre Arbeit so exakt wie möglich zu tun, als hätten sie gegen das organisierte Verbrechen eine Chance und als würde es irgendjemanden von der Regierung interessieren, wer da gestorben war und woran. Selbst die Angehörigen, denen sie Kleidungsstücke oder persönliche Wertsachen zeigten, stritten oftmals ab, die Sachen und damit die Toten wiederzuerkennen.

»Es ist alles korrekt, Carina, glaub mir«, versuchte Matte sie weiter zu beschwichtigen. Sie verzog den Mund. Er hatte sie schon mehrfach aufs Glatteis geführt.

»Dein Vater hat recht«, mischte Nusser sich ein. »Die Chefin und Buddeberg ziehen ausnahmsweise mal an einem Strang. Um Zeit zu gewinnen, hat Feininger denen gesagt, dass die Bestatter mit Krallingers Leichnam im Stau stecken. Und bis die da drin Mittagspause machen, haben wir auch obduziert. Also hopp, wenn wir noch weiter rumtrödeln, wird das nichts.«

»Wer saß denn ewig auf dem Klo?«, blaffte Carina Nusser an.

»Eine Pause muss mal erlaubt sein in dem ganzen Tohuwabohu hier. Auf geht’s.« Er stapfte los.

Sie schnappte sich ihre Umhängetasche mit ihrem Skizzenbuch, dem Diktiergerät und ihrem Handy und folgte den beiden den Gang entlang und über den Verbindungsflur zum Altbau. Seit sie hier vor einem knappen Jahr zu arbeiten begonnen hatte, war sie in so gut wie jedem Raum des Alt- und Neubaus gewesen. Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie sich nicht mehr verlief. Aber wenn man es einmal begriffen hatte, waren die beiden Gebäude recht übersichtlich angelegt. Im Altbau, wo sich auch der alte Anatomiesaal mit seiner kaskadenförmigen Bestuhlung befand, waren ihr und auch Nussers Arbeitsraum. Dort im Keller, kannte sie jedes Kämmerchen, hatte sie bisher geglaubt, aber der Präparator führte sie mit dem Aufzug nach unten – eine große Erleichterung für ihren Vater – dann an ihren Zimmern vorbei, einen schmalen Gang entlang und nach einem Knick wiederum ein paar Stufen abwärts. Schließlich öffnete er eine eiserne Brandschutztür und tastete nach dem Lichtschalter.

»Sind wir noch in der Nußbaumstraße?«, fragte Carina.

Nusser kicherte. »Klar, das waren nur ein paar Umwege, damit wir möglichst niemandem begegnen, der Fragen stellt. Voilà.«

Kapitel 2

»Ab«, kreischte die Kröte in einem fort. »Ab, ab, ab.« Zu gern wäre sie Schauspielerin geworden, einer der vielen Träume, die sie dank seiner Existenz nie verwirklichen konnte. Nur einmal hatte sie in einer Schulaufführung mitspielen dürfen. Reglos musste sie als Tannenbaum verkleidet eine Stunde mit ausgebreiteten Armen, zwei brennende Kerzen in den Händen, auf der Bühne stehen. Bis der Lehrer »ab« rief und sie in ihrem grün bemalten Kartonkostüm von der Bühne trippelte.

»Ab.« Genauso scheuchte sie ihn jetzt in die Küche und dann in den Küchenschrank. Einmal eingepfercht, vergaß er die Zeit, wusste nicht, ob er Minuten, Stunden oder Tage, vielleicht auch Jahre, in dieser Enge verbrachte. Über ihm rumpelte es, wenn sie zu kochen anfing oder Geschirr spülte. Lupfte er die Tür, trat sie sie mit der Pantoffelspitze zu. Er erinnerte sich nicht mehr, wann sie mit dieser Art von Bestrafung begonnen hatte. Im Flur hing ein Foto, auf dem er als Baby in einer aufgezogenen Schublade der Wohnzimmerkommode schlief. Die hatte sie damals einfach zugeschoben, wenn er ihr auf die Nerven ging, sodass sein Weinen nur noch gedämpft durch das Möbelstück drang. Wenn er erst groß war, noch größer als sie und viel, viel stärker, würde er das klobige Ding zu Kleinholz zerhacken. Neulich hatte er, als er nach einem besseren Versteck für seine Sachen suchte, die obere Schublade aufgemacht und die Kratzspuren entdeckt, als wäre dort ein Tier gefangen gehalten worden. Augenblicklich spürte er wieder den Druck unter den Fingernägeln, wie sich das Holz, bei dem vergeblichen Versuch zu entkommen, gelöst hatte und sich ihm zwischen Haut und Nagel grub. Der Schublade endlich entwachsen, suchte sie andere Behälter für ihn. Die ersten fünf Jahre seines Lebens hatte er mehr in dunklen Kisten als in Freiheit verbracht, also gewöhnte er sich daran. Vielleicht zogen alle Eltern ihre Kinder auf diese Weise groß wie die Tomatenpflanzen auf dem Fensterbrett, die sich auch erst im Dunkeln entwickeln, wie die Kröte erklärt hatte. In den wenigen Stunden, die er draußen war, überlegte er, wie er sich die Zeit in der Enge angenehmer gestalten könnte. Er versteckte Spielzeug, kleine Figuren und Fahrzeuge, in sämtlichen verschließbaren Behältern. In den Schränken, der Eckbank, der Kommode, im Waschmittelkarton und sogar in der Zuckerdose. Nie wusste er, welches Gefängnis die Kröte als Nächstes für ihn aussuchen würde. Aber sie entdeckte all seine Sachen und entfernte sie. Nichts sollte ihn von sich selbst ablenken, betonte sie dann. Ganz ohne alles sollte er sich mit seiner Schuld auseinandersetzen, das war der Sinn der Maßnahme. Doch wie sollte das gehen, wo er trotz endlos langer Grübelei nicht dahinterkam, was er eigentlich angestellt hatte? Als Nächstes probierte er es mit Memory, schob heimlich ein paar Karten in seine Hose und unter den Pullover. Das Spiel nutzte ihm zwar im Finstern nichts, dennoch ließ sich das Stillhalten damit besser ertragen, so als hätte er eine lindernde Medizin geschluckt. Er tastete die Kartenbilder ab, versuchte zu erraten, welches Tier sich darauf befand und ob sich sogar ein Pärchen mit in sein Versteck geflüchtet hatte. Auch da kam sie dahinter, als ein Elefant beim Einstieg in den Kasten aus seinem Hosenbein rutschte. Nun musste er sich immer ganz ausziehen, bevor sie ihn in einen Behälter zwang. Bloß die Unterhose durfte er anbehalten, an sich herummachen war ebenfalls streng verboten. Zuletzt stellte er sich nur noch in Gedanken vor, wie er spielte. Ohne sich zu rühren, baute er Landschaften auf, setzte komplizierte Geräte zusammen und nahm sie wieder auseinander, verlegte Schienen quer durch die Zimmer, den Türstock hinauf und unterm Plafond entlang. Kopfüber dampfte dann seine Eisenbahn an der Decke, rumpelte und stampfte, er hörte es sogar wirklich. Das würde die Kröte nie in echt dulden. Außerdem besaß er gar keine Geradeaus- oder Um-die-Ecke-Schienen. Vater hatte ihm nur Kurven mitgebracht, die für einen Kreis in der Größe des Kloteppichs reichten. Einmal hielten die Stofftiere, Plastikfiguren und auch die Eisenbahn mit all ihren Waggons in seinem Zimmer eine Konferenz ab, beratschlagten, wie sie ihn, ihren König, befreien könnten. Er, der sie lebendig machte, ohne den sie sonst nur leblose Dinge waren, kein Spielzeug. Sie beschlossen ein Heer zu bilden und jedes Mal, wenn die Kröte nicht hinäugte, rückten sie seinem Gefängnis ein Stück näher. Mit Hunderten von Puppenfüßen und Fahrzeugrädern in allen Größen und Arten arbeiteten sie sich zu ihm vor, um das Kittelmonster zu bändigen, gemeinsam den Deckel aufzustemmen und ihn zu befreien. Hörte er an der Wand, die die Küche mit dem Badezimmer verband, Wasser rauschen, wusste er, dass es nicht mehr lange dauerte, bis er, auch ohne Spielzeughelfer, wieder rausdurfte. Doch bei dem Gedanken, was ihn danach erwartete, zog er sich noch enger zusammen, wäre am liebsten in sich selbst hineingeschlüpft, damit die Kröte ihn nicht mehr fand.

Kapitel 3

Licht flackerte auf und erhellte nach und nach grob verputztes Mauerwerk. Es dauerte, bis sie etwas erkennen konnten. Vor ihnen lag ein großes Gewölbe, in das eine weitere Treppe hinabführte. Die Beleuchtung konzentrierte sich auf zwei altertümliche Sektionstische aus Stein, die in der Mitte standen und durch Säulen im Boden verankert waren. Auf einem davon lag ein zugedeckter Leichnam. Eine große Lampe, deren Lichtkugeln Autoscheinwerfern glichen und die aus einem alten Kinofilm hätten stammen können, war die Beleuchtung. Ihr Vater hielt sich die Seite, bevor er die letzten Stufen in Angriff nahm. »Geht’s?« Die Frage, ob er Schmerzen hatte, verkniff sie sich. Er würde sowieso lügen, auch wenn sein Gesicht ihn verriet.

Er lehnte sich an eine Ziegelsteinwand und schnaufte aus. »Ohne Navi finde ich hier nie wieder raus. Kann ich etwas Wasser haben?« Er fischte ein paar Pillen aus der Hemdtasche. Besser, sie fragte nicht, womit er sich betäubte. Eigentlich sollte er sich weiter krankschreiben lassen und sich endlich richtig erholen, anstatt hier mitzumischen.

Carina suchte in einem der Hängeschränke nach einem Glas, fand einen Porzellanbecher, spülte ihn aus und füllte ihn an dem altmodischen Wasserhahn mit kreuzförmigem Drehknauf. »Wo sind wir hier?«

»Dieser Seziersaal wird nur selten benutzt«, erklärte Nusser. »Als das Institut 1930 umgebaut worden ist, war er hochmodern. Feininger hat mit der Stadtverwaltung schon überlegt, hier ein Museum einzurichten.«

»Echt?« Davon hatte Carina noch nie etwas gehört.

»Ist schon länger her, das war, bevor du hier angefangen hast. Soweit ich weiß, wurde die Idee auf Eis gelegt. Zu viele Auflagen. Sicherheitsmängel an allen Ecken und Enden. Kein Zugang für Rollstuhlfahrer, es fehlen Besuchertoiletten, Wickeltisch, Pipapo. Wir können die Besucher ja schlecht durch den normalen Sektionsbetrieb führen, mit verbundenen Augen vielleicht, und dabei jede Menge Riechsalz verteilen, damit uns keiner umkippt, so nach dem Motto: Augen zu und durch, bis zum historischen Teil ist es nicht mehr weit. Ehrlich gesagt bin ich froh, hier noch ungestört zu sein, ich komme oft her, wenn ich ein großes Präparat bearbeite und es mir in meinem Kellerzimmerchen zu eng wird. Von außen, wegen der unscheinbaren Tür, glaubt jeder, es handelt sich nur um den Zugang zum Heizungskeller.«

»Ich hab mich schon gefragt, wie und wo du deine Kunstwerke machst.« Carina hatte geglaubt, er hätte bei sich zu Hause noch eine Werkstatt, in der er seine skurrilen Tierpräparate – halb naturgetreue Lebewesen, halb Maschinen – erschuf.

Eine der Lichtkugeln flackerte, Nusser rückte einen Stuhl heran, stellte sich darauf und schraubte an der Lampe herum. »Mist, kaputt. Ist total schwer, überhaupt noch so alte Glühbirnen aufzutreiben. Wenn’s sein muss, arbeiten wir halt mit Stirnlampen oder zünden Kerzen an.« Er streifte ein paar lange, gelbe Gummihandschuhe über, von denen etliche an einer Wäscheleine befestigt waren, und reichte Carina ein zweites Paar. »So, ich hoffe, ich habe alles an Werkzeug beieinander, steril ist es jedenfalls.« Wie immer waren die Obduktionsutensilien säuberlich aufgereiht auf einem Tablett vorbereitet. Nur wirkten sie diesmal nicht so blank poliert und deutlich massiver. »Was sagst du hierzu?« Er schwang einen schweren Hammer und einen dazu passenden Meißel mit verziertem Eichengriff, die man zum Aufschlagen von Wirbeln brauchte. »Die beiden stammen bestimmt aus einer Bildhauerwerkstatt. Vielleicht hat einst Michelangelo seinen David damit aus dem Stein gekitzelt.« Er gluckste. »Diese alten Teile sind mir sowieso lieber, solide und kein Wegwerfzeug, das bei einfachem Druck zerbricht oder das du in der eigenen Hand suchen musst wie ein Muttermal. Trotzdem ist es ein Weilchen her, dass ich mit einer mechanischen Säge einen Schädel zerteilt habe. Also, lasst uns anfangen.«

»Und Susanne? Sollen wir ohne sie obduzieren?« Carina schlüpfte in die Handschuhe. Normalerweise arbeiteten immer zwei Rechtsmediziner an einer Leiche, einer gab die Anweisungen, und einer schnitt.

»Die brauchen sie oben, war schwer genug, dass ich gehen durfte. Ich fürchte, wir beide müssen es allein schaffen.« Nusser krempelte sich den Kittelärmel hoch und deckte Krallinger auf. Der Leichnam war nackt. Jemand, vermutlich der Notarzt, hatte ihm die Anstaltskleidung ausgezogen. Eigentlich vorschriftsmäßig, nur im entkleideten Zustand kann ein Ersthelfer den Tod feststellen und das Kreuz an die richtige Stelle des Totenscheins setzen. Natürlicher oder nicht natürlicher Tod. Aber verstorbene Häftlinge wurden sowieso immer obduziert. Es gab also keinen Grund, der Leiche alle Kleider abzunehmen und damit die Spurenlage zu erschweren und Beweismittel zu vernichten. Sie konnte die Wut ihres Vaters nachvollziehen. Matte richtete sich mit einem Ächzen wieder auf und kam auf seinen Walkingstock gestützt zu ihnen gehumpelt. Zusammen betrachteten sie den Toten eine Weile. Carina dachte an ihre letzte Begegnung mit Krallinger. Ihr Vater hatte ihn an der U-Bahn wiedergetroffen, ihn überschwänglich begrüßt, Krallinger dagegen wirkte weniger begeistert. Trotzdem hatte ihn damals Leben ausgefüllt. Nun war er bloß noch eine Hülle aus Organen und Knochen. Verstorbene wirkten immer kleiner und weniger bedrohlich. Krallinger war sogar in Carinas Wohnung gewesen, um eine Akte zu stehlen. Das war nun ein für alle Mal vorbei. Und was ging in ihrem Vater vor beim Anblick seines ehemaligen Freundes und Attentäters? Hatte er ihn zu Lebzeiten jemals nackt gesehen? Sein markantes flammendrotes Feuermal zog sich wie ein Kontinent auf der Landkarte vom linken Ohr bis zur Schulter. Eine ungleichmäßige dunkle Linie durchschnitt das Mal und lief von den Ohren bis schräg unter den Adamsapfel. Die Oberhaut hatte sich in dieser Furche gelöst und eine tief eingedrückte, braune, teilweise auch honiggelbe Strangmarke hinterlassen.

»Was war das für ein Handtuch?«, fragte sie in die Stille.

»Hier, ich hab es dabei.« Aus der zerknitterten Einkaufstüte, die er immer noch am Handgelenk trug, zog ihr Vater eine Papiertüte und legte sie auf die Ablage. Carina schüttelte den Stoffstreifen vorsichtig in eine leere Organschale und breitete ihn mithilfe einer Pinzette aus. Die Schlinge bestand aus einem grob gewebten, grauen Baumwollstoff, der in zwei Längsstreifen gerissen und einmal zusammengeknotet war. Zu einer sogenannten offenen Schlinge geknüpft, lief der Streifen frei durch den Knoten und zog sich von selbst zusammen, ohne zu stocken. Gewusst wie, solch einen Henkersknoten beherrschte nicht jeder, aber für ein Ex-Stasimitglied wie Krallinger dürfte dies vermutlich zur Grundausbildung gehört haben. Was hatte ihr Vater vorhin damit gemeint, dass ihm das alles so bekannt vorkam? Egal, sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Stellen, wo das Strangwerkzeug durchtrennt worden war, markierte ein schwarzes Band. »Das hat der Wärter vorbildlich gemacht. Anscheinend haben die in Stadelheim Erfahrung mit Erhängten.«

»Das war ich, stattdessen hab ich mir dann mit dem hier behelfen müssen.« Matte hob sein linkes Hosenbein und zeigte ein rotes Gummiband vor, das seinen linken Schuh nur notdürftig in den obersten Ösen zusammenhielt. Carina war beeindruckt. Am besten beließ man das Strangwerkzeug am Hals der Leiche, aber wenn das nicht mehr möglich war, dann sollte die Schlinge fachgerecht, so wie ihr Vater das getan hatte, entfernt, und die Enden durch einen Bindfaden zusammengehalten werden.

»Sieh dir mal gleich dazu Kurtis Hals an.« Er drehte sich zu der Leiche um. »Die Strangmarke ist eindeutig breiter als das dünne Handtuch, und diese Rötung hier an der Seite, was bedeutet die? Da hat wer nachgeholfen. Kannst du mir gleich was dazu sagen? Ich brauche Ergebnisse.« Matte quengelte wie ein Kind während einer langen Autofahrt. »Sieh nach, ob das Zungenbein noch intakt ist, und ob sie ihm das Genick gebrochen haben.«

Carina seufzte. »Beruhige dich. Eins nach dem anderen.« Sie hätte nie gedacht, dass sie so etwas mal zu ihrem Vater sagen würde. »Wenn du Druck machst, geht es auch nicht schneller. Du willst doch, dass ich nichts übersehe.«

»Schon gut.« Matte biss sich auf die Lippe, so als wollte er sich selbst den Mund verbieten, seine Blicke irrten jedoch weiter über den Leichnam, als suchten sie nach eintätowierten Antworten auf dessen Haut.

Als Erstes befestigte Carina das Diktiergerät an einem Arm der mehrkugeligen Lampe, indem sie das Ladekabel darüber verknotete, denn sie brauchte die Hände frei. Dann zog sie, wie Nusser es auch tat, einen Mundschutz an, und versuchte, alles um sich herum auszublenden, jedes Geräusch, jede Ablenkung. Sie konzentrierte sich ganz auf das, was vor ihr lag. So wie sie es immer tat. Für diesen Moment bündelten sich ihre Sinne, sie löste sich aus ihrem Körper und schwebte über der Leiche wie eine Elster. La urraca, darum hatten ihre mexikanischen Kollegen ihr diesen Spitznamen gegeben. Von oben betrachtete sie den Toten, erfasste alles und prägte es sich ein. Und zugleich beugte sie sich über Krallinger, betrachtete seine Haut, die Härchen darauf, die Falten und Unebenheiten, sie merkte sich seinen Geruch – ein wohlbekannter, viele Male wahrgenommener – und auch, dass er völlig erkaltet war und kein Rest Wärme ihn mehr umgab. Jede Einzelheit speicherte sie ab, um sie später abrufen zu können.

»Was ist, was siehst du?« Matte stellte sich neben sie, beugte sich mit hinunter und stieß fast mit der Nase an Krallingers Knie. »Schau genau hin, lieber einmal mehr als einmal zu wenig.« »Jetzt lass mich bitte meine Arbeit machen.« Carina richtete sich wieder auf.

»Ja, klar, es ist dieses Mal nur ganz besonders wichtig, das verstehst du doch. Ich muss einfach wissen, ob, wie soll ich sagen, ja, ich bitte dich, hier mehr als genau zu sein, du darfst einfach nichts übersehen.« Ihr Vater fuchtelte herum, als müsste er ein ganzes Orchester dirigieren. Wenn das so weiterging, langte er ihr noch ins Messer. So wurde das nichts. Wie sollte sie konzentriert arbeiten, ohne dass sie ihren Vater ständig im Auge behielt? Ihr fiel etwas ein. »Kannst du das mit den Fotos übernehmen?« Aus Erfahrung mit den Medizinstudenten wusste sie, dass es am besten war, etwas zu tun zu haben, vom Zuschauen allein wurde einem leicht schlecht. So erhielt jeder der angehenden Ärzte gleich beim ersten Besuch im Institut eine kleine Aufgabe, und wenn es nur das Vorlesen des Totenscheins oder des Zettels war, der am großen Zeh der Leiche befestigt wurde. Ihr Vater war zwar obduktionsresistent und dürfte bei deutlich mehr Mordfällen am Seziertisch gestanden haben als sie bisher, doch noch nie war der Tote sein Freund und Attentäter zugleich gewesen.

»Von mir aus.« Er war nicht gerade begeistert. »Ich habe aber keine Kamera dabei, daran hätte ich denken sollen, mein Handy macht miserable Aufnahmen.«

»Aber meins geht.« Sie holte ihr Smartphone aus der Tasche und erklärte ihrem Vater, wie er mit zwei Fingern den Bildausschnitt vergrößern konnte, bevor er auf den Auslöser drückte. Das bedeutete zwar, sie würden keine exakt belichtete Makrofotografie haben, aber besser als gar keine Aufnahmen war es allemal, außerdem konnte Carina die Bilder danach gleich auf ihren Computer laden. Matte legte den Walkingstock auf den Boden und kickte ihn über die Steinfliesen, sodass er unter einen Wandschrank schlitterte. Neue Kräfte schienen ihn zu durchströmen. Sofort knipste er drauflos. Carina ließ ihn eine Weile fotografieren, dann bat sie ihn, ein Stück zurückzutreten, damit sie mit der äußeren Leichenschau beginnen konnte. Sie schaltete das Diktiergerät ein und fing an.

Kapitel 4

München-Schwabing, 1977

Als Iris vor der Entscheidung stand, sich von ihrer Tochter zu trennen oder nicht, dachte sie an ihre Mutter. Im Gegensatz zu ihr, hatte Iris eine Wahl. Mona Erlacher starb, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Hätte sie an jenem Morgen verschlafen, wäre nur zehn Minuten später aus dem Haus gegangen oder hätte wie so oft ihren Geldbeutel oder ihre Brille vergessen und wäre zurückgelaufen, dann wäre sie nicht von dem Lastwagen erfasst worden, der bei Rot über die Ampel preschte. Und wer weiß, dann wäre vermutlich alles anders verlaufen. Iris’ gesamtes Leben und auch das von Carina, ihrer Tochter, Monas Enkelin, hätte womöglich andere Bahnen genommen. Durch diesen tödlichen Unfall war Iris fortan auf sich allein gestellt. Einen Vater gab es nicht und auch keine Verwandten, jedenfalls keine, die sich um sie kümmern konnten. Bis dahin hatte es Iris nicht gestört, dass in ihrer Geburtsurkunde »Vater unbekannt« stand. Ein Hotelgast sei er gewesen, der nach ihrer Liebschaft wieder abreiste. Mona und er trafen sich nie wieder, er erfuhr nicht, dass sie schwanger von ihm war.

»Es gibt Väter, die müssen weiterziehen«, hatte ihre Mutter erklärt. »Wie bei den Tieren, da sorgen auch meistens die Weibchen für die Jungen.« Als Iris noch klein war, malte sie sich aus, wie ihr Vater auf seinem Lieblingselefant quer durch den Englischen Garten ritt und über die Alpen weiterzog und zurück in sein fernes Heimatland, wo der Thron auf ihn wartete. Dafür war sie die geheime Tochter eines Sultans, der in der Fürstensuite im Bayerischen Hof genächtigt und sich in das Zimmermädchen Mona verliebt hatte. Als Vierzehnjährige trug Iris die großen, goldenen Ohrringe, die zu ihrem Haremsdamenkostüm gehört hatten, auch außerhalb der Faschingszeit, um ihre Herkunft zu unterstreichen. Der Schmuck wäre ein Geschenk ihres Vaters, behauptete sie ihren Freundinnen gegenüber. Als Mona davon erfuhr, nahm sie sie zur Seite und erzählte ihr endlich die ganze Wahrheit. Die Augen ihrer Mutter glänzten. Sie schmückte die Stunden ihrer Begegnung aus wie einen tausendseitigen Liebesroman. Mona schien Iris’ Erzeuger nichts nachzutragen, nie zu bereuen, ein Kind allein großziehen zu müssen. In Iris dagegen gärte es. Fort war der Prunk, die Ohrringe nur Blech und Plastik, aus war das Märchen einer Nacht. Ein Lieferant war er nur gewesen, den Mona im Hinterhof des Hotels kennengelernt hatte. Doch wie konnte, drei Jahre später, ausgerechnet einer wie er der Mörder ihrer Mutter werden?

Natürlich boten Kolleginnen und Freunde der Mutter Iris bei der Beerdigung Hilfe an. Nichts Konkretes, nur: Wenn sie was tun könnten, egal was, dann solle sie sich melden. Ein Leben lang hatte Mona Erlacher geschuftet, war um fünf aufgestanden, oder übernahm gleich die Nachtschicht im Hotel, half bei Extrafeiern aus, arbeitete in der Wäscherei und kriegte selten ein freies Wochenende. Alles, um Iris bessere Chancen zu ermöglichen, ein Studium vielleicht, sie sollte Lehrerin werden oder Ärztin. Mona wäre in ihrer Jugend gern auf die Kunstakademie gegangen, wurde aber abgelehnt. In ihrer knapp bemessenen Zeit malte sie manchmal noch. Die Wohnung hing voller Bilder. Der Polizist, der Iris die Todesnachricht überbrachte, sagte, dass ihre Mutter leider noch am Unfallort verstorben sei, und fragte, ob es noch andere Angehörige gebe, die man verständigen müsse. Iris verneinte. Die Großeltern waren lange tot, und die anderen Verwandten hatten sich noch nie bei ihnen gemeldet.

»Wir haben den Ausweis, die Schlüssel und den Geldbeutel bei deiner Mutter gefunden, wir sind ziemlich sicher, dass sie es ist. Eine Identifizierung wollen wir dir nicht zumuten, aber vielleicht erkennst du diese Sachen hier.« Er zeigte ihr die Uhr mit dem verzierten Armband, die ihre Mutter nie ablegte, weshalb das Lederband schon fast durchgescheuert war. Das Glas des Zifferblatts war zerbrochen, und die winzigen Zeiger fehlten. Iris nickte.

»Dann habe ich noch einen Schuh von ihr«, sagte der Polizist, der keine Uniform trug. Warum nur einen, hätte sie am liebsten gefragt, aber dann registrierte sie die blutgetränkte Einlegsohle, als er den Schuh aus der Tasche zog. Er bemerkte ihren Blick und drehte ihn schnell um. Dieser hellgraue, viereckige Schnürschuh mit der rundum gefalzten Kante, bequem für jemanden, der den ganzen Tag auf den Beinen war. Was würde er ihr noch alles zeigen, bis sie langsam, Stück für Stück, ihre ganze Mutter zusammengesetzt hatten? Kriminalhauptkommissar Jürgen Bachhuber, den sie Jeff nennen sollte, war der Einzige, der sich tatsächlich auch noch nach der Beerdigung um sie kümmerte und sich erkundigte, wie es ihr ging. Er setzte durch, dass sie in der Wohnung ihrer Mutter bleiben durfte und nicht in ein Mädchenheim musste, bis sie volljährig war. Sie fand nie heraus, wie ihm das gelang, ob er das Jugendamt austrickste, oder bei denen noch irgendwas guthatte. Jeff redete nicht viel, er packte lieber an, wo andere in Not waren. Er hörte zu, obwohl Iris nichts sagte. Dann schwiegen sie eben, bis sich die Worte in ihr bildeten und von selbst herausdrängten.

»Meine Frau ist Grundschullehrerin. Komm doch mal zu uns zum Essen, dann könnt ihr euch unterhalten«, schlug er vor, als sie ihm erzählte, was sich ihre Mutter für sie beruflich erträumt hatte. Seine Frau war zwar freundlich, wirkte aber sehr müde, als er Iris tatsächlich eines Abends mitbrachte. Anscheinend war sie nicht die Erste, derer er sich persönlich annahm. Kinder hatten sie keine. Oft saßen Iris und Jeff noch bis nach Mitternacht im Wohnzimmer und redeten, während seine Frau längst ins Bett gegangen war. Jeffs Art pflanzte einen Keim in ihr. Nach dem Abitur studierte sie nicht auf Lehramt, sondern bewarb sich an der Polizeihochschule. Mit ihm als Leumund erhielt sie gute Praktika und hospitierte in mehreren Polizeiinspektionen. Am dritten Todestag ihrer Mutter wagte sie sich mit Jeff an die Kreuzung, wo sie überfahren worden war. Seither hatte Iris die Stelle gemieden, war Umwege gegangen, nur um nicht selbst dort zu stehen. Es war bloß ein geteerter, markierter Platz. Dutzende liefen wie selbstverständlich über die Straße. Autos und Busse, auch ein Lastwagen raste vorbei. Als die Fußgängerampel auf Grün schaltete, setzte sie einen Fuß auf die Straße, als tauchte sie einen Zeh in Eiswasser.

»Fest, stampf auf.« Jeff spornte sie an, legte den Arm um sie und führte sie Schritt für Schritt, weil ihr die Tränen die Sicht nahmen.

Solche Menschen wie Jeff gibt es eigentlich nicht in Wirklichkeit, dachte sie. Wo war seine dunkle Seite?

Bei allem, was er tat, riskierte er sein ganzes Herz. Selbst wenn er in seinem Job schießen musste. Er streckte einen Attentäter nieder, mischte sich in einen Bandenkrieg ein oder setzte sich zur Wehr, wenn jemand ihn mit einer Waffe bedrohte. Von ihm lernte Iris mit ruhiger Hand und vollster Konzentration zu zielen und abzudrücken.

»Manche schwanken, stehen mit einem Bein überm Abgrund«, erklärte er ihr, nachdem er einem jungen Geiselnehmer ins Knie geschossen hatte, um ihn auszuschalten. »Wer sich für die andere Seite entscheidet, fordert dich zum Kampf auf. Du musst dich für die engagieren, die auf deiner Seite sind.« Durch seine Augen betrachtet, war alles leicht. Es gab keine Unklarheiten. Ob Halbautomatik oder Präzisionsgewehr, Jeff lehrte sie, mit dem »richtigen Besteck« umzugehen. »Ist der Lauf krumm, dann nutze diese Eigenheit, und berechne sie mit ein.« Diese Kenntnisse fand sie Jahre später in einem anderen Mann wieder, aber anders als Jeff, der aus Liebe zum Leben Polizist geworden war, perfektionierte Salamander das Töten, nac ...

NOCH 23 SEKUNDEN

Am gleichen Strang zu ziehen, heißt noch gar nichts.

Auch Henker und Gehenkter tun das.

Helmut Qualtinger

Kapitel 5

Carina drückte die Pause-Taste und wandte sich an ihren Vater. »Lag der Tote auf dem Rücken oder auf der Seite, als du in die Zelle kamst?«

»Auf dem Rücken. Mund-zu-Mund-Beatmung, Herz-Druck-Massage und was weiß ich, was dieser Trotha-Trottel noch alles versucht hat, obwohl er längst keinen Puls mehr gespürt hat.«

»Gibt es einen Abschiedsbrief?«

»Ich habe jedenfalls keinen gefunden. Das ist es ja, der Wenn-wir-Kurti schrieb zwar nicht gern, redete aber um so mehr. Und so ein Schwätzer wie der hätte die Welt niemals ohne letzte Worte verlassen. Entweder ist der Brief vernichtet worden oder in den unendlichen Archiven des BKA verschollen.«

Carina las den Totenschein, den Nusser bereits aus dem Umschlag gezogen hatte. »Der Notarzt hat sich Zeit gelassen, er hat den Tod erst um 8.43 Uhr bestätigt. Und wann warst du vor Ort?«

»Um Viertel nach neun. Schneller ging es nicht, weil ...«

»Wer hat ihn zuletzt lebend gesehen und wann, weißt du das?«, unterbrach sie ihn.

»Trotha hat berichtet, dass Kurti so gegen elf über Kopf- und Gliederschmerzen geklagt hat und ein Schmerzmittel verlangte. Er hat ihm aber keins gegeben, das dürfen sie ohne ärztliche Genehmigung in St. Adelheim nicht. Außerdem glaubte er, es sei nicht weiter schlimm, der Kurti hätte immer irgendwelche Wehwechen gehabt, behauptet er. Da muss ich ihm allerdings recht geben, Kurti war auch schon damals bei der Kripo etwas zartbesaitet. Mal tat ihm ein Knie weh, mal der Rücken. Er benutzte auch kein Deo, weil er Angst vor den Inhaltsstoffen hatte, und war ständig in Panik, dass er irgendwelche Viren von Kollegen mit Kindern aufschnappen könnte. ›Was, wenn ich das und jenes kriege‹, mir klingt sein Gesülze noch im Ohr. Nicht umsonst wurde er von uns allen Wenn-wir-Kurti genannt. Einmal ...«

»Papa«, ermahnte ihn Carina. »Kann ich weitermachen?«

»Ja, jedenfalls hat er gestern Nacht sogar einen Arzt gefordert, aber um diese Uhrzeit sei das, laut Trotha, nicht mehr möglich gewesen.«

»Hat ihn der Wärter nur gehört oder auch gesehen?«

»Zu ihm in die Zelle reingegangen ist er nicht. Trotha hat diese Klappe in der Gefängnistür geöffnet und Kurti mit der Taschenlampe angeleuchtet. Das Licht schalten die dort um zweiundzwanzig Uhr ab. Bettruhe für alle. Kurti hat sich anscheinend auch wieder eingekriegt und in den folgenden Stunden nicht mehr gestört.«

»Das war aber eine lange Nachtschicht.«

»Ja, Trotha hat einen Kollegen vertreten. Doppelschicht. Er wollte eigentlich nach der Frühstücksausgabe nach Hause gehen.«

»Danke.« Sie drückte wieder auf die Aufnahmetaste. »Zur Vorgeschichte ist bekannt, dass Kurt Krallinger wegen eines ihm angelasteten Tötungsdeliktes und wegen Mordversuchs in Untersuchungshaft saß. Absatz. Im Totenschein ist ein nicht natürlicher Tod attestiert, daneben Selbsttötung und Strangulation am Hals.« Matte pfiff bei dem Wort »Selbsttötung« durch die Zähne, Carina versuchte es zu ignorieren. Nusser hatte das Gewicht auf dem Umschlag des Leichenschauscheins notiert, als er den Leichnam von den Bestattern übernommen und auf der Körperwaage am Eingang zum Seziersaal gewogen hatte. Nun legte er ein Maßband an eine Fußsohle des Toten und maß ihn bis zum Scheitel. Anschließend widmete er sich Taille und Hüfte. Unter dem Stichwort »äußere Besichtigung« sprach Carina Nussers Angaben auf Band. »Erstens. Die einhundertsechsundachtzig Zentimeter lange und achtundneunzig Kilogramm schwere, unbekleidete Leiche eines Mannes in den Fünfzigern ist in ausreichendem Pflege- und gutem Ernährungszustand. Zweitens. Der Leiche ist ein Strangwerkzeug mitgegeben.« Sie wandte sich dem Tisch mit Mattes Asservat zu. »Es handelt sich um zusammengeknotete Handtuchstreifen aus hellgrau-dunkelgrauem Stoff mit Würfelmuster. Der gesamte Streifen, der um den Hals des Toten gelegt war, ist auf der linken Seite, aus Sicht des Leichnams gesehen, durchtrennt worden. Die Enden wurden fachgerecht gesichert, sodass die Schlingenlänge vierunddreißig Zentimeter bis zum Knoten beträgt. Danach schließt sich eine zweiundvierzig Zentimeter lange Handtuchstrecke an, die an einer Stelle vollständig durchtrennt ist. Die Breite des linken Streifens beträgt über den gesamten Verlauf zwei Komma drei und die des rechten Streifens drei Komma vier Zentimeter.« Sie betrachtete den Stoff mit einer Lupe. »Bis auf die aufgeraute, verwaschene Beschaffenheit weist das Stoffgewebe keine spezifische Struktur auf. Es zeigen sich äußerlich keine auffälligen Antragungen.«

»Keine? Was soll das heißen?« Matte stupste sie mit dem Handy an, legte es zur Seite und riss ihr die Lupe aus der Hand, um selbst nachzusehen. »Da müssen doch Haare dran sein, Kurti hat zwar nicht mehr viele, aber die paar müsste es ihm doch eingezwickt haben, als sie ihn aufgehängt haben, oder glaubst du, er war schon bewusstlos oder dass sie ihn vielleicht sogar postmortal ...?« Er schüttelte den Kopf und sah auf. »Aha, also darauf willst du hinaus?«

»Ich will auf gar nichts hinaus. Nimm mir bitte nicht noch mal eines meiner Werkzeuge weg, ja?« Carina schnaubte. So etwas war ihr bisher noch nie bei einer Obduktion passiert. Ihre Aufgabe war es, sachliche Feststellungen zu treffen, und nicht zu spekulieren. Zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht, solange die Untersuchung noch nicht abgeschlossen war. Und sie wollte sich davon nicht abbringen lassen, auch wenn die gesamte Situation mehr als ungewöhnlich war.

»Herr Kyreleis, bitte gedulden Sie sich noch etwas, gleich wissen wir mehr.« Nusser versuchte ihr beizustehen.

Matte wedelte mit dem Handy. »Entschuldigt, ich dachte nur ..., ich meine ..., das ist nicht mein erster Erhängter und auch nicht der Erste, bei dem ein Mord mit vorgeschobenem Suizid vertuscht werden soll.« Er blieb stur. »Es müssen mehrere gewesen sein, die ihn überwältigt haben. Wie sieht es mit Abwehrspuren aus? Wir müssen was finden.«

»Wurde der Leichnam im Gefängnis abgeklebt?«, fragte Carina.

»Nein, leider. Unsere Spurensicherung durfte nicht in die Zelle, da war vielleicht ein Aufgebot an Sicherheitsbeamten, die uns abgewehrt haben, so etwas hab ich noch nie erlebt. Es musste alles sehr schnell gehen, wie soll ich sagen, wir haben uns regelrecht um den Toten gestritten. Hätte mich nicht der Rüppner Fonse, die Wachablöse vom Trotha und ein Kumpel von mir, angerufen, hätte das BKA den Leichnam klammheimlich fortgeschafft. Kurtis gesamte Kleidung ist futsch, nicht mal die Faserspuren konnten wir sichern.« In dem Fall war es gut, dass ihr Vater überall Freunde hatte, als sie noch in Mexiko arbeitete und von ihm sogar aus Übersee kontrolliert wurde, hätte sie lieber darauf verzichtet.

»Haben wir Klebeband?« Sie wandte sich an Nusser.

Der Präparator durchsuchte die Schubladen. »Hier sind nur alte Schreibmaschinenbänder, ah, hier hinten, sieht wie Tesa aus, scheint aber noch Vorkriegsware zu sein, so vergilbt wie das ist.«

»Macht nichts, gib her.« Carina schnitt sich ein paar Streifen des Klebebandes ab, dass sich wirklich etwas zäh von der Rolle löste, wickelte es sich mit der Klebeseite nach außen um die Hand und begann Krallingers Handinnenflächen abzutupfen.« Dann legte sie den Streifen auf den Lichttisch und hielt ein Vergrößerungsglas darauf. »Komisch.«

»Was ist?«

»Sieh dir das an.«

Jetzt, wo sie es ihm erlaubte, nahm er nur zögernd die Lupe. »Ich sehe nichts.«

»Eben. Ich auch nicht.« Carina beugte sich hinunter und schnupperte an Krallingers Händen. »Sie riechen sogar nach Seife und ein bisschen nach Zitrus, das heißt, es muss ihm jemand die Hände gereinigt haben.« Sie holte ein Wattestäbchen und strich damit in die Fingerfalten, um es im Labor untersuchen zu lassen.

»Das wird ja immer besser. Die reinste Inszenierung.« Matte rieb sich die Stirn.

Carina ging nicht weiter auf ihn ein, löschte einige Sekunden der Aufnahme auf dem Diktiergerät und sprach ihre eben gewonnenen Erkenntnisse auf Band: »Die Totenstarre ist in sämtlichen Gelenken vollständig ausgebildet.« Sie drückte auf die Flecken an verschiedenen Stellen des Körpers und wartete auf die Reaktion. Verschwanden sie, sprach das für einen Todeszeitpunkt vor zirka zehn bis zwanzig Stunden, so war es auch. »Die Leichenflecken sind von kräftig dunkelvioletter Farbe und befinden sich an den gesamten unteren Gliedmaßen bis zum Bauchnabel.«

»Ist das nicht ungewöhnlich?«, funkte ihr Vater erneut dazwischen. »Ausgerechnet jetzt, kurz vor Prozessbeginn? Er hing am Fenstergitter, ohne irgendwo aufzusitzen oder etwas mit dem Fuß zu berühren. Da war kein Stuhl in seiner Zelle, auch kein Brett oder Schemel, nichts. Wie hätte er sich denn selbst an dem zwei Meter hohen Fenstergitter aufhängen sollen?« In Carina begann es zu brodeln. Nur schwer konnte sie unterdrücken, was ihr auf der Zunge lag und was sie ihm am liebsten entgegengeschleudert hätte. Sie tastete Krallingers Gesicht ab. Das Skelett war intakt, sie ertastete keine Knochenbrüche, auch seine Nase war unbeschädigt, die Nasenlöcher frei von Blut. Hinter beiden Ohren bemerkte sie kleine rote Punkte. Stauungsblutungen, die zwar bei einem Tod durch Ersticken typisch waren, aber kein Beweis für ein Fremdverschulden. Kleine Blutgefäße konnten auch bei einem starken Hustenanfall platzen und kirschrote Punkte in der Mundschleimhaut, den Augenlidern oder auf der Gesichtshaut hinterlassen. Sie untersuchte die halb geöffneten Augen und zog mithilfe einer Pinzette die Lider nach oben, um nach Unterblutungen zu suchen. »Drei flohstichartige Rötungen am rechten Oberlid«, sprach sie ihre Entdeckung laut aus.

»Nur rechts? Das heißt nun, zusammen mit den Flecken hinter den Ohren, dass er sich gewehrt hat, oder? Wenn nicht, dann muss er betäubt gewesen sein. Erfahren wir das anhand einer Blutuntersuchung nicht schneller? So ein bisschen Blut und andere Proben könnt ihr doch gleich mal abnehmen und zur Analyse weiterschicken, sonst dauert die Auswertung doch wieder ewig.« Ihr Vater plapperte und plapperte. Carina reagierte nicht, obwohl sie innerlich inzwischen kochte. Er wandte sich an den Präparator, der mit dem Einschneiden der Kopfschwarte begann. »Herr Nusser, wenn meine Tochter schweigt, dann wende ich mich halt an Sie. Was ist, was halten Sie von der Sache?«

»Es reicht.« Carina schob sich den Mundschutz unters Kinn. »Schluss jetzt. Geh. Raus.« Ihr Puls raste, als wäre sie einen Marathon gelaufen.

Matte starrte sie an. Es dauerte einige Sekunden, bis er weitersprach: »Aber wir müssen doch noch die Handtuchstreifen mit der Strangmarke vergleichen, da ist doch ...«

Sie fixierte ihn weiterhin. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe. Ich meine es ernst, verschwinde. Jetzt. Sofort. Du kannst draußen warten oder sonst wo, aber nicht hier.« Carina stapfte zur Ablage, kniete sich hin und fischte Mattes Walkingstock unter dem Schrank hervor. Ihr Vater wollte noch etwas sagen, öffnete schon den Mund, schloss ihn wieder, legte ihr Handy auf den Tisch und riss ihr den Stock aus der Hand. Schnaubend setzte er sich in Bewegung. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie auf und wartete kurz, bis sich ihr Puls normalisierte. »Okay, Rudi, lass uns weitermachen.« Sie schob ihren Mundschutz wieder vors Gesicht und löschte noch einmal alles Überflüssige vom Diktiergerät. Dann fuhren Nusser und sie mit der Obduktion fort. Carina untersuchte Krallingers Haut im Verlauf der Blutgefäße. Zwischen den dichten Härchen auf Armen und Beinen übersah man leicht die Einstichstelle einer Injektionsnadel, doch da war nichts zu finden. Auch in der Leistenbeuge, zwischen den Fingern und Zehen und unter der Zunge suchte sie danach, ohne Ergebnis. Nun konnte ihnen der Geruch weiterhelfen. Carina zog ihren Mundschutz von der Nase und schnupperte. Der ungeöffnete Leichnam roch nicht anders, als man es bei einem Mann mittleren Alters vermutete. Eine Mischung aus Schweiß, länger getragener Kleidung und einem schwachen Hauch von Alkohol, was aber vom Rasierwasser stammen könnte, denn Bartstoppeln hatte Krallinger keine, Wangen, Hals und Kinn waren glatt und wirkten frisch rasiert. »Kein Knoblauch, oder?«, fragte Carina. Dies könnte nicht nur ein Hinweis auf die letzte Mahlzeit sein, sondern auch auf eine Vergiftung mit Insektiziden.

Der Präparator schob seine Nase an die Leichenhaut. »Welch Glück, dass ich gestern Abend doch nicht beim Griechen war, sonst würde ich überhaupt nichts riechen. Ja, du hast recht, kein Knoblauch. Dann lass uns mal ins Köpfchen schauen.« Er setzte das Messer an und zog die Kopfschwarte ab. Beide bemerkten es sofort. Carina roch an der Schwarte. Äußerlich hatte sie nur einen Hauch davon wahrgenommen, aber unter der Kopfhaut strömte der Geruch wie aus einer dichten Wolke heraus.

»Aromatisch.«