DIE VOGELLEGENDE - Drago Tešević - E-Book

DIE VOGELLEGENDE E-Book

Drago Tešević

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Beschreibung

Ilians, die Helden der Vogellegende, obgleich phantastisch und andersartig, zeigen uns, dass sich mit Liebe mehr, viel mehr erreichen lässt . Dieses Volk hochintelligenter, menschenähnlicher, sanftmütiger Wichtelwesen geheimnisumwobener Herkunft, lebt seit Weltgedenken auf unserem Planeten und zwar in einzigartigen Behausungen – in einer Art Wohnbäumen, die sie von ihrem Heimatplaneten Xamoran mitgebracht haben, eher er beim Zusammenstoß mit einem Wandernstern im Flammenmeer galaktischen Infernos für immer verschwand. Diese Winzlinge, behaupten, sie seien Nachfahren der ältesten Zivilisation in unserem Universum. Aufgrund ihrer sagenhaften Weisheit sind die Ilians zu den Hütern der wichtigen Überlieferungen aus der Märchen- und Tierwelt erkoren worden, darunter auch unserer uralten Vogellegende. Es ist kein Zufall, dass wir die Erzählung aus dem Munde eines Kindes hören, welchem sie im Traume eingegeben wurde. Das menschliche Träumen, dieses zauberhafte und rätselhafte Medium, ist der einzige Weg, über den die verloren geglaubte Vogellegende in unserer Welt auftauchen konnte. Denn im Gedächtnis dieses Kindes wird die Geschichte nur so lange aufbewahrt bleiben, bis sie einem anderen Menschen weitererzählt oder von jemandem niedergeschrieben wird.

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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Drago Tešević

DIE VOGELLEGENDE

Text © 2006 by Drago Tešević

Illustration der Titelseite © Ljubinka Bilić

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf

in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Autors

reproduziert oder unter Verwendung elektronischer

Systeme verarbeitet, vervielfacht oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-7375-4741-3

für Nenad,

in tiefster Dankbarkeit

E r s t e s  B u c h

PROLOG

In nebelverhangenen Vorzeiten, vor vielen, vielen tausend Jahren, als die Erde noch von allerlei Monstern und Fabelgestalten bevölkert wurde und die nackten, umherzitternden Urmenschen ebenso wild, blutrünstig und ungehobelt waren wie heute, doch weder das Feuer noch die Sprache beherrschten, lebte verstreut über die unermesslichen Gefilde des heutigen Sibiriens ein zahlreiches Volk kleinwüchsiger Geschöpfe, die sich xamoranische Ilians nannten.

Friedlich und hilfsbereit gegenüber allen Lebewesen, einerlei ob Getier, Märchengeschöpf oder Vogelvolk, genossen diese frühesten vernunftbegabten Bewohner unserer Erde überall große Beliebtheit. Dank ihrem sagenhaften Reichtum an Verstand, Gelehrtheit und Weisheit wurden sie von den übrigen Erdbewohnern zu den Chronisten wichtiger Ereignisse der Tundrawelt erkoren. Außerdem galten sie als Hüter jener wunderlich verworrenen Vogellegenden und anderer Tierüberlieferungen aus der Märchenwelt, die heute ausnahmslos verloren gegangen oder in Vergessenheit geraten sind.

Wie weiträumig und dünn bevölkert die Tundraregionen auch waren, diese sanftmütigen Wichtelchen kannten doch stets sämtliche sibirischen Ereignisse bis ins kleinste Detail: Wann, wo und wie sich die einzelnen Vorfälle zutrugen, wer sie verursachte und wie sich ihre Folgen auf die Gebiete und ihre Bewohner auswirken würden. Die selbstlose Hingabe dieser winzigen und edlen Geschöpfe an die Natur war und blieb einmalig, und nicht minder bewundernswert und rührend würden die vergeblichen Bemühungen ihrer unglückseligen Nachkommen sein, wenn sie viel, viel später, gar um den Preis ihres eigenen Aussterbens, versuchen würden, die Erde vor den Wurgen zu schützen. Wurgen, so nannten die damaligen Erdbewohner eine gewalttätige und feindselige Zweibeiner-Gattung, die sie als selbstherrliche, zerstörungswütige, hartherzige und geistesarme barbarische Eroberer beschrieben. Allem Anschein nach traf diese unrühmliche Beschreibung auf den Frühmenschen zu.

Weder zuvor noch irgendwann danach hatte je ein Lebewesen in solch vollkommener Harmonie mit seiner Umwelt gelebt wie die Ilians. Obwohl die weisen Winzlinge seit ururältesten Zeiten in diesen unüberschaubaren Landstrichen lebten, hatte die Natur noch nicht das Geringste ihrer majestätischen Reinheit eingebüßt, die ihr der Schöpfer einst verliehen hatte.

Dass jene Welt, in der die Winzlinge lebten, unzerstört war und die Natur ihre Unschuld noch nicht verloren hatte, war jedoch nicht irgendeinem höheren Geschick, sondern wohl eher dem simplen und harmlosen Umstand zu verdanken, dass ihr Erzfeind und vornehmlichster Zerstörer, der Mensch, sich zu jener Zeit noch auf allen Vieren fortbewegte und in seinem verheerenden Werdegang schlicht noch nicht so weit fortgeschritten war. Doch keine Sorge, scherzten die ilianischen Schamanen in prophetischer Inspiration, dieses im Vergleich zu seinen anderen großartig gewaltigen Missetaten geringfügige Versäumnis würde er, herangereift in seinem selbstzerstörerischen Wahn einige Jahrhunderttausende später, also rechtzeitig zur Vollendung seines Vernichtungszuges, längst reichlich wettgemacht haben.

Zur Zeit der Entstehung dieser Legende war der Mensch, weit, weit unterentwickelt, soeben im Begriffe, seine ersten wackeligen Schritte in aufrechter Haltung mühsam zu üben, denn wie sonst sollte er seinen bis dahin an Schlamm und Staub gerichteten Blick dermaleinst zum Schöpfer und dessen Sternen emporheben? In seinem infantilen, in dunkelste Nebel gehüllten, noch nicht erwachten Geiste entfachten und versprühten sich gerade die ersten blassen Funken des Verstandes, der es ihm nach und nach ermöglichen würde, sich einen vagen Begriff von der Bedeutung des Wärme spendenden Wunders des Feuers zu machen.

Diese seine allererste Erleuchtung, so hofften die ilianischen Wichtel, würde dem Menschen bei der Bewältigung einer lebenswichtigen Aufgabe helfen: sich der Jahrtausende währenden Finsternis in seinem Kopf zu entledigen, damit er eine tiefere Erkenntnis über die rätselhaften und verheerenden Kräfte des Feuers gewänne und dieses endlich zu seinem eigenen Wohle zähmen könnte.

Die Zähmung des Feuers, dieser erste Schritt eines jeden Lebewesens in seinem Werdegang zur Bewusstseinsbildung, war den Ilians aus eigener Erfahrung bestens vertraut. Niemand beobachtete so sorgsam wie sie die Entwicklung zahlreicher anders gearteter intelligenter Wesen und verfolgte ohne jede Einmischung die Entfaltung einer werdenden Kultur. Daher wohl galt ihre besonders aufmerksame Achtung all jenen Geschöpfen, die sich des Feuers, dieser kostbarsten aller göttlichen Gaben, eigenständig zu bemächtigen verstanden.

³So sollte es mit den Menschen geschehen, hatten die Ilians zumindest erwartet und gehofft.

Aber der Mensch, das wissen wir heute, verhöhnte derlei Gottesgeschenke, weil er so viel Güte schlichtweg nicht ertragen konnte. Statt sein Wesen durch jenes winzige am göttlichen Feuer des Blitzes entzündete Seelenflämmchen zu veredeln, ließ er auch diesen Funken kostbaren Lichts in seiner Brust mit der Zeit völlig verwahrlosen, um endlich, in Gewissenlosigkeit geläutert, ungehindert zu seinen barbarischen Urtrieben zurückzukehren. Und je reifer er wurde, umso besessener beharrte er darauf, sich seinen Weg ins Verderben eigenhändig zu ebnen. Unbelehrbar, taub und wüst steht er nun in seinem glorreichen Elend am Rande des Abgrunds, und nur ein kleiner Schritt trennt ihn noch von seinem unumkehrbaren Fall ins Nichts.

Doch für die bevorstehenden Geschehnisse ist diese rabiate, sich als etwas Besonderes wähnende Spezies ohnehin von keinerlei Bedeutung.

Den Beschreibungen ilianischer Chronisten zufolge, war die Tier- und Märchenwelt der Erde, als sie vor vielen Jahrtausenden von ihrem Volk besiedelt wurde, unfassbar vielfältig. Allerlei Fabelgeschöpfe und Drachenarten bevölkerten Grotten und Wälder, Lüfte und Meere, Seen und Flüsse. Seltsamerweise gehörten jene Drachen fast ausnahmslos einem sanftmütigen und friedfertigen Geschlecht an. Gleichgültig ob Wasser-, Erd- oder Feuerdrachen, konnten sie zwei oder drei, manchmal gar noch mehr Köpfe haben. Und ein einziges Lebewesen, besessen von einem krankhaften Siegeswahn und dem albernen Drang, ständig mit allem und jedem seine Kräfte zu messen, hatte diese edlen Geschöpfe als böse Bestien gebrandmarkt – der Mensch.

Einige dieser Drachen jedoch, berichteten die Schreiber der Ilians weiter, galten als direkte Nachkommen jenes schrecklichen fleischfressenden Großechsengeschlechts, das Jahrmillionen lang die Erde vor Furcht erzittern ließ. Diese Drachenart war zwar äußerst selten geworden, doch im Gegenzug schien ihre tollwütige Natur von Tag zu Tag stärker hervorzubrechen, gerade so, als ob sie ihren bevorstehenden Untergang ahnten und sich dafür an den übrigen Lebewesen rächen wollten. Wenn sie sich gelegentlich sehen ließen, glitzerten ihre gigantischen, beschuppten Leiber in allen erdenklichen Farben. Gewaltig gähnten ihre Mäuler voll säbelscharfer Zähne, die in drei Reihen hintereinander standen und die eines Säbelzahntigers an Größe und Reißkraft mehrfach übertrafen.

So beschrieben die ilianischen Gelehrten diese einzige gewalttätige Spezies unter den damaligen Drachengattungen. Allem Anschein nach musste auch der zornmütige und unbeliebte Drachen-Vogelzar-Zauberer, dessen weltweites Wüten unsere Vogellegende schildert, ein entfernter Spross jener blutrünstigen Lindwurmbrut gewesen sein.

Dennoch, wenn jemals ein Goldenes Zeitalter unseren blauen Planeten beschienen haben sollte, dann waren es jene elysischen Millennien, während derer die Ilians und all die phantastischen Wunderwesen, die sie von ihrer fernen Welt mitgebracht hatten, auf ihm weilten. Denn noch nie hatten die Bewohner der Berge, Wälder und Gewässer auf Erden in derartiger Eintracht gelebt und die Herrlichkeit seiner grenzenlosen Weite mit einer ähnlichen Selbstlosigkeit gehütet.

Bevölkert von einer atemberaubend bunten Artenvielfalt, lebte die einstige Vogelwelt in vollkommener Freiheit und kannte keinerlei Herrscher. Zweimal im Jahr gab es große Vogelversammlungen: im Herbst, wenn es für viele galt, vor dem grimmigen Winter nach Süden zu fliehen, und im Frühjahr, wenn das ewige Mysterium des Werdens und Vergehens aufs Neue begann. Zu dieser Zeit ließen sich die schönsten Vogeldamen eines jeden Vogelstammes zu Prinzessinnen küren, und dies wurde alljährlich mit einem Tanzball bei Vollmond drei Nächte lang gefeiert.

Eines Tages, berichteten die Chroniken weiter, tauchte wie vom Himmel gefallen ein zornmütiges, schreckenerregendes Ungetüm in Drachengestalt in der Tundra auf. Kristallene Schuppen liefen doppelgereiht auf seinem Rücken entlang, und sein Bauch leuchtete gleißend wie Neuschnee. Es glitzerte und klirrte wenn es sich bewegte und seine ganze Erscheinung glich einem wandelnden Kandelaber. ”Der weiße Drache...“, durchbrauste ein angsterfülltes Raunen die Tundra. Wieder hatte sich eine uralte Prophezeiung bewahrheitet: der Schneedrache, wie er fortan genannt wurde, war da.

Mürrisch und eisnebelspeiend ließ er seine gefiederten Untertanen zusammentrommeln und verkündete mit donnernder Stimme, sein Name sei Großer Aisguhr, und nur so wolle er angeredet werden. Unsterblich sei er im Übrigen und Zauberer von Weltformat noch obendrein. Wehe dem, der das vergessen sollte!

Es dauerte nicht lange, da ergriff der rücksichtlose Drache die Macht über die Vögel und ernannte sich selbst zum Ersten Vogelzaren der Welt. Doch damit noch lange nicht zufrieden, kam es ihm auch noch in den Sinn, sich mit der schönsten Vogeljungfrau zu vermählen. Und aus diesem Anlas sollte es, wie es einem Zaren gebührte, einen glanzvollen Vogelball geben.

Gefolgt von den anmutigsten Grazien seines immensen Vogelimperiums, mussten allen voran jene gerade in diesem Frühjahr zu Prinzessinnen gewählten Vogeldamen am Hofe des grimmigen und unberechenbaren Weltherrschers erscheinen. Und obgleich er im ganzen Vogelreich wie kein anderer verhasst war, wagte keine der Geladenen seine Aufforderung auszuschlagen. Gleich ob von nah oder fern, sie kamen alle!

In ihrer ursprünglichen Form schilderte die Vogellegende eindringlich eine wirre Folge von Ereignissen, deren Höhepunkt die Verzauberung einer einzigen Vogelprinzessin gewesen sein muss. Sie erfolgte während jenes Tanzfestes, das zu undenklichen Vorzeiten im Palast des mächtigen Vogelzaren und Zauberers stattgefunden haben soll.

Bis vor kurzem aber blieb schleierhaft, warum aus der ganzen kaum überschaubaren Schar von Vogelprinzessinnen nur eine einzige verzaubert wurde, wo sie doch alle ausnahmslos es zuvor abgelehnt hatten, das jähzornige Großechsenscheusal, den bösen Drachen-Zauberer-Vogelzaren, den ersten und letzten Herrscher aller Vögel und Kriechtiere zum Manne zu nehmen. Vielleicht kannte keiner der Chronisten den eigentlichen Grund, warum es nun ausgerechnet jene namenlose Vogelschönheit traf, noch schien irgendjemand zu wissen, aus welcher Gattung sie stammte – oder hatten sie es alle lediglich versäumt zu erwähnen?

Einige Quellen behaupteten sogar, dass hier womöglich einer der vielen Schlüssel zur Enträtselung der Vogellegende läge.

Die einzigen Lebewesen, deren Kenntnis damaliger Weltverhältnisse sich bis in das kleinste Detail erstreckte, waren die ilianischen Wichtel. Sie allein kannten mit Gewissheit die Ursachen dieser Verzauberung und wussten, welche Schuld die Vogelprinzessin selbst daran trug. Doch darüber schwiegen die Wichtel beharrlich.

Diese uralte Vogellegende, die ebenso spurlos verschwunden schien wie viele andere mündliche und schriftliche Überlieferungen aus den Chroniken zur Tierwelt Iliens, blitzte jüngst im Geiste eines kleinen, vom Schlaf gezähmten Mädchens wieder auf, erstrahlte in dessen Gedächtnis so hell wie unsere Milchstraße in den bitterweißen mondlosen Winternächten und sollte darin für eine Weile aufbewahrt bleiben.

Die kleine Tara, so hieß das Mädchen, beteuerte ihrer aufmerksamen Zuhörerin, sie habe den ersten und den letzten Teil der Vogellegende in Form einer sehr langen und fürchterlich verworrenen Ballade gehört, die ihr in einer fremden, aber seltsamerweise doch verständlichen Sprache von einem Chor unnachahmlich sanfter Stimmen gesungen worden sei. Jene Stimmen jedoch ließen sich leider mit keinem bekannten Laut vergleichen, und auch die vom Chorgesang durchwirkte Melodei lasse sich durch keinerlei irdische Klänge nachahmen oder auf einem herkömmlichen Musikinstrument wiedergeben. Dennoch klängen die Töne dieser eigenartigen und unvergesslichen Harmonien immer noch deutlich in ihren Ohren, und sie könnte, schwor die kleine Tara ihrer erstaunten Großmutter bei allen Kinderheiligtümern, das ganze Lied sogleich vorsingen, wenn sie nur eine Kehle für derlei Laute besäße! 

Verhaspelt zu einem Knäuel aus Regenbogenbändern, ruht die Vogellegende nun in ihrem Herzen. Alle ihre sinnlichen Dimensionen, jede Farbe, jeder Laut, jeder Geruch, jede Empfindung, jede Bewegung seien noch genauso frisch wie in jenem Augenblick, als sie in ihrem seltsamen Traum aufleuchteten. Doch sie könne leider, entschuldigte sich die kleine Tara, nur den Wortlaut der Vogellegende, nicht aber ihre Musik wiedergeben, deren Weisen auf höchst seltsamen Instrumenten von bezauberndem Klang gespielt worden seien. Diese Musikinstrumente waren entweder aus edlem Holz und Silber gefertigt oder aus klirrenden, außergewöhnlich raren, wer weiß aus welcher Ecke des Weltalls hervorgezauberten Juwelen geschliffen.

Noch etwas erwähnte die kleine Tara, bevor sie mit dem Erzählen begann: Diese Mär würde so lange in ihrem Gedächtnis haften bleiben, bis sie ihren Inhalt an ein anderes Menschenkind weitergegeben habe. Danach müsse jene Person allein die ganze Verantwortung für das ungewisse Schicksal des Erzählguts, für seine Bewahrung und Überlieferung tragen. Versäume man die Vogellegende weiterzuerzählen, erlösche sie – dieses Mal unwiderruflich – und falle für immer der Vergessenheit anheim.

Gewirkt aus dem zartesten Garn eines Traumgespinstes und erzählt in der allumfassenden und vergessenen Sprache der Liebe, hatte die Legende, welche die kleine Tara in einem Guss geträumt hatte, jahrtausendelang im Gedächtnis beinahe aller Vogelvölker der nördlichen Breiten Iliens, wie man damals das heutige Sibirien nannte, überlebt. Mündlich überliefert durch zahllose Vogelgenerationen, hatte sie sicherlich nichts von ihrer Frische und Dramatik verloren, obwohl ihre Erzähler im Eifer der Schilderung schwelgend keine Gelegenheit ausließen, ihr hin und wieder kleinere Veränderungen nach eigenem Gutdünken hinzuzudichten. Besondere Beliebtheit genoss die Vogellegende seit jeher bei den stolzen Schwanen- und Graugansvölkern, wo die brutschützenden Väter sie als einfache Graugansgutenachtgeschichte bis zum heutigen Tage ihrer braven, im Ei schlummernden Nachkommenschaft immer von neuem erzählen müssen. So viel wusste wohl jedes Vögelchen in Ilien darüber.

Das Unglaublichste in dem Traum der kleinen Tara war jedoch ihr Gefühl, die ganze Zeit wie in einer Theatervorstellung Seite an Seite mit den Hauptdarstellern selbst zugegen zu sein und deren verborgenste Gedanken und Gemütsregungen in ihrer eigenen Seele zu spüren. Leicht wie das Licht und unsichtbar für die meisten jener einzigartigen Geschöpfe, die ihr unterwegs begegneten, war die kleine Tara über endlose Weiten unbekannter Landschaften dahingeschwebt, bis sie ein Nest erreichte, in dem der eigentliche Held dieser Geschichte – ein Graugansei! – von seiner verzauberten Vogelprinzessin schwärmend lag. Wenn sie jetzt jene Landschaften, und sei es auch nur für einen Augenblick noch einmal sähe, sie würde jeden Flecken davon sofort wieder erkennen – behauptete das Mädchen.

Bereits damals schien mir, der ich die Traumerlebnisse der kleinen Tara niederschreiben darf, dass jener seltsame Traum ihr nicht ganz zufällig beschert worden sein konnte. Heute, während ich diese Zeilen verfasse, bin ich jedoch überzeugt, dass nur höhere Mächte oder die göttliche Vorsehung es vermochten, die Fäden der Geschehnisse derart feinfühlig zu ziehen und diesen Traum hervorzuzaubern. Später bestätigte sich meine Überzeugung, und zwar auf folgende Weise:

Es war Ende Juni, und seit Wochen herrschte eine unerträgliche Hitze, als eines Freitags nach dem Mittagstisch Großmutter Olga beiläufig zu ihrer Enkelin sagte:

”Tara, Liebling, gleich nach dem Abendessen solltest du zu Bett gehen, denn morgen fahren wir ins Dorf, um meine Schwester, deine liebe Großtante Bojana, zu besuchen. Nur wenn wir zeitig, noch vor Tau und Tag, aufbrechen, werden wir vielleicht der großen Hitze entgehen und schon am frühen Nachmittag das Dorf erreichen.“

Den letzten Worten verlieh Großmutter Olga mit dem Zeigefinger besonderen Nachdruck, dann fuhr sie fort:

”Dort darfst du in dem großen Obstgarten Kirschen pflücken und mit den Dorfkindern spielen oder deiner neuesten Lieblingsbeschäftigung nachgehen: Tante Binka bei ihrer Arbeit zuschauen. Ich habe heute auf dem Wochenmarkt von einem ihrer Dorfnachbarn erfahren, sie arbeite noch immer an demselben Monsterbild, das sie begonnen hat, als wir vor einigen Monaten bei ihr waren. Du durftest damals ja überhaupt als einzige den ersten Entwurf sehen. Morgen soll es eine schöne Überraschung geben. Neben lieben Grüßen lässt uns Großtante Bojana ausrichten, dass wir alle zum Kirschenerntefest eingeladen sind.“

Den Rest des Nachmittags schwebte die kleine Tara vor lauter Freude wie auf Wolken und erzählte jedem, der es hören oder auch nicht hören wollte, welch aufregendes Ereignis ihr bevorstehe. Sie konnte den Aufbruch wie immer, wenn es Großtante Bojana zu besuchen galt, kaum erwarten, denn nirgendwo auf der Welt gab es so viele wunderschön bebilderte Bücher wie bei ihr. Außerdem war ihr Obstgarten wegen seiner erlesenen Birnen, Äpfel und insbesondere Kirschen, allgemein bekannt.

Und erst Tante Binka, ihre Lieblingstante! Wie sie mit ihrem Pinsel alles zu beleben vermochte: Wusch! Wusch!! Wusch!!! – und fertig. Man konnte nicht anders, als gebannt und mit pflaumengroßen Augen staunend zuzusehen.

Obwohl sich damals auf ihrem neuen, wandgroßen Bild kaum etwas hatte erkennen lassen außer einigen blassen Umrissen geheimnisvoller Märchengestalten und einer ganzen Menagerie makabrer Fabelvögel und gespensterhaften Gruselgetiers, hatte sie dieselben Wesen um so deutlicher als Skizzen auf unzähligen Zeichenblockblättern entworfen.

”Ich werde all diesen Kleinkram nacheinander auf das große Bild übertragen und zu einer sinnvollen Komposition verschmelzen. Gedulde dich, bis es vollendet ist, und du wirst staunen, wie märchenhaft schön Bilder sein können, mein Kleines“, hatte Tante Binka zur kleinen Tara gesagt.

Die kleine Tara hatte (aber wirklich!) die ganzen letzten Wochen und insbesondere den gestrigen Tag, so gut sie es nur konnte, Geduld geübt, und nun war der versprochene, langersehnte Frühe Nachmittag endlich da. Alle drei, Tara und ihre Großmutter und Großtante, standen in Tante Binkas Atelier mit dem Rücken zu einem hinter mehreren schneeweißen Bettlaken verborgenen, gigantischen Bild, das jetzt von Tante Binka eigenhändig enthüllt wurde. Eine einzige Handbewegung reichte, und, bitte schön, sie durften sich umdrehen.

Mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern starrten sie schweigend Tante Binkas monumentales Meisterwerk an. Nach einer Weile hielt es Großmutter Olga nicht mehr aus und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Erschrocken dämpfte sie ihre schöne Sopranstimme zu einem kaum vernehmbaren Wispern und murmelte ein Gebet... dann stieß sie halblaut und zitternd aus: