Die wahre Geschichte vom Rotkäppchen - Mohr A. - E-Book

Die wahre Geschichte vom Rotkäppchen E-Book

Mohr A.

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Beschreibung

Eine einfühlsame Neuerzählung voller poetischer Bilder und unerwarteter Wendungen Grau und schwarz, so ist die Welt in ihrem Dorf. Grau ist der Alltag, schwarz sind ihre Ängste und Selbstzweifel. Eines Tages läuft sie einfach los in den Wald, der ihr verboten ist. Dort begegnet sie dem Wolf und ... Das wilde Tier in ihr wird geweckt und plötzlich ist ihre Welt voller Rot: das Rot der Rosen, der Liebe und des Lebens. In jedem Märchen steckt etwas Wahres. A. Mohrs Rotkäppchen erzählt uns von den Wahrheiten des Frau-Werdens. Das Mädchen fühlt sich fremd im eigenen Körper, in ihrem Dorf, in ihrem Leben. Die Gefahr trägt ein schönes Gesicht und die wahre Liebe ein wildes. Mutter und Großmutter müssen zusammen mit der jungen Frau wachsen und ihr eigenes Glück finden. Und Rotkäppchen lernt, wie gut es tut, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen und einfach mal mit den Wölfen zu heulen! Für Erwachsene, Heranwachsende und alle, die sich selbst suchen Ich bin eine Rose. Ich bin eine Wölfin. Ich bin Rotkäppchen.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wenn du dich selbst nicht siehst,

wer soll dich dann sehen,

Wenn du dich selbst nicht hörst,

wer soll dich denn hören,

Wenn du dich selbst nicht fühlst,

wer soll dich denn fühlen?

Der Wolf

Wenn du selbst nicht an dich glaubst,

wer soll an dich glauben?

Wenn du selbst nicht an dich glaubst,

an was kannst du dann glauben?

Wenn du schon mal geliebt hast,

dann weißt du, an was du glaubst …

An die Liebe …

Für alle, die, egal wo sie sind und wie grau oder schwarz es um sie steht, die rote Blume der Liebe in sich tragen

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 1

Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie dem Kind alles geben sollte. Einmal schenkte sie dem Mädchen ein Käppchen aus rotem Samt. Und weil das der Kleinen so wohl stand und sie nichts anderes mehr tragen wollte, hieß sie nun Rotkäppchen.

Das Mädchen lebte zusammen mit der Mutter in einem großen Dorf unweit eines Waldes. Die Großmutter wohnte auf der anderen Seite des Forstes in einem kleinen Haus am Berghang. Um zu ihr zu kommen, musste Rotkäppchen durch den Wald und der Weg war ihr schon so vertraut, dass sie ihn auch blind gefunden hätte. Er war breit und gut zu sehen, da er jenseits des Berges zu einem anderen Dorf führte. Ab und zu fuhren ein Bauer oder eine Bäuerin mit ihrem Wagen auf dem Weg vorbei und nahmen das Mädchen ein Stück mit. Rotkäppchen lief aber auch gern allein; dabei summte oder sang sie das eine oder andere Lied. Für sie verwandelte sich der Wald in ein großes Haus. Zu Beginn des Weges war das Gehölz etwas dunkler, da zwischen den Kiefern und Holunderbäumchen auch viele kleine Tannen, Birken und Brombeersträucher standen. Das war für das Mädchen wie ein dunkler Flur in ihrem Haus. Danach wurde es heller, weil dort größere Birken, Buchen und Kiefern wuchsen. Der Boden war weich und mit Moos bedeckt, der Wald lichter und einladend. Für das Mädchen war dieser Teil des Forsts wie ihre Wohnstube, wo es immer etwas Feines zu essen gab. Dort fand sie viele Birken- und Steinpilze, auch Himbeeren, Brom- und Blaubeeren. Zwischen den Stämmen war viel Platz, um zu laufen und zu spielen. Es war hell und gemütlich; die Kleine konnte sich sogar auf das weiche Moos legen, wenn sie einmal müde war. Das machte sie auch gern mit der Großmutter, wenn die beiden im Wald unterwegs waren. Von der Waldwohnstube aus war es nicht mehr weit bis zum Häuschen der Groß mutter. Darauf freute sich die Enkelin am meisten; die Großmutter hielt immer ein paar Leckereien für sie bereit.

Rotkäppchen liebte ihr Waldhaus und auch ihre Großmutter liebte sie sehr. So nutzten die zwei jede Gelegenheit, sich gegenseitig zu besuchen. Allerdings hatte die Großmutter alle Hände voll zu tun, da sie eine angesehene Kräuterfrau und Hebamme war. Ihre heilsamen Mittel und ihre sanften Hände hatten sich überall herumgesprochen; von weither kamen die Menschen zu ihr.

Am liebsten wäre Rotkäppchen jeden Tag zu ihrer Großmutter gegangen. Der Mutter kam das gelegen, sie konnte dem Kind etwas Gebäck für die Großmutter mitgeben und bekam wirkungsvolle Kräutermischungen und Tinkturen im Gegenzug.

Einmal wurde die Großmutter krank und die Mutter sprach zu der Tochter: »Hier hast du Kuchen und Wein. Großmutter geht es nicht gut, also bring ihr die guten Sachen hinaus. Sie wird sich freuen und wird dadurch schneller gesund. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du durch den Wald läufst, so gehe hübsch und sittsam und komme nicht vom Wege ab.«

»Ja, Mutter. Ich will schon alles richtigmachen«, sagte das Mädchen und tat, wie die Mutter ihr geheißen hatte.

Als Rotkäppchen in den Wald kam und wie gewohnt ihre Lieder zwitscherte, begegnete ihr ein Wolf. Erst einmal lief er in einer gewissen Entfernung neben ihr her. Sie fand das lustig, wünschte sich aber sehnlich, dass er näher herankäme. Also lockte sie ihn mit einem Stück Kuchen. Da näherte sich der Wolf und blickte das Mädchen an; sie nickte ihm nur zustimmend zu und er fraß den Kuchen auf. Das machte ihr noch mehr Spaß. Da das Mädchen nicht wusste, dass der Wolf böse sein könnte, sprach sie ihn an. Der Wolf erwiderte Rotkäppchens Gruß und wünschte ihr einen guten Tag. Sie fand das lustig und unterhielt sich auf dem Weg zu ihrer Großmutter die ganze Zeit mit ihm.

Der Wolf war dem Mädchen wohlgesonnen. Er zeigte ihr die schönsten Blumen, die sie für ihre Großmutter pflückte. Rotkäppchen fand Gefallen daran, mit ihm zu laufen, und erzählte ihm Dinge über sich selbst, die sie sonst niemandem mitteilte. Das Beste war: Der Wolf hörte ihr geduldig zu und nickte bestärkend. Und weil er so einnehmend war, bot sie ihm die Freundschaft an.

Als Rotkäppchen bei der Großmutter angekommen war, berichtete sie ihr über die Begegnung mit dem Wolf. Der Großmutter entging nichts, doch sie war sehr überrascht, dass ihre Enkeltochter ohne jegliches Anzeichen von Angst von dem Wolf sprach. Vielmehr klang sie begeistert.

»Sie erzählt von diesem Wolf wie von einem Freund. Vielleicht hat sie meine Gabe geerbt, Tiere zu verstehen. So glücklich und ausgelassen, wie mein Mädchen gerade ist, möchte ich sie immer sehen. Man weiß nicht, wozu das alles gut ist. Wölfe sind schlaue Tiere und wissen, wer es gut und wer es schlecht mit ihnen meint. Ich selbst habe keine Angst und mir hat noch nie ein Tier etwas Böses angetan. Doch mein Mädchen ist noch klein. Wie kann ich sie beschützen? Wie bewahre ich sie vor dem Bösen? Was ist wichtiger? Ihre Freude oder meine Angst?«

So überlegte die Großmutter, aber dann sagte sie nur: »Lass dich auch weiterhin nicht von deinem Weg ab bringen, egal ob Wolf oder Mensch. So wird dir nichts passieren.«

Die Großmutter redete dem Rotkäppchen Mut zu, und die Freude dieser Begegnung blieb für lange Zeit im Herzen des Mädchens. Doch die Mutter des Rotkäppchens teilte diese Freude nicht. Als ihre Tochter von ihrem Erlebnis erzählte, verbot ihr die Mutter, weiterhin in den Wald zu gehen.

Sie durfte die Großmutter nicht mehr allein besuchen und musste nun im Hof spielen. Als dann ihr rotes Käppchen kaputt ging, nähte die Mutter ihr ein anderes, ein graues, das viel besser aussähe als das alte, wie die Mutter fand. Nun war das Mädchen wie all die anderen im Dorf, denn die meisten dort kleideten sich grau und braun. Doch als die Mutter das alte rote Käppchen wegwerfen wollte, konnte sie es nirgends finden, denn das Mädchen hatte es versteckt und bewahrte es heimlich und liebevoll in einem Kästchen auf.

Die Zeit verging und das Mädchen wuchs heran. Sie vermisste die Zeit mit ihrer Großmutter, sie vermisste ihr großes Waldhaus. Auch wenn Mutter und Tochter öfters gemeinsam bei der Großmutter zu Besuch waren, so war es nie mehr so gemütlich wie früher. Jedes Mal brachten sie der Groß mutter etwas Leckeres zum Essen oder zum Trinken mit und be kamen Tee- und Kräutermischungen mit nach Hause. Leider dauerte der Besuch nie lange; die Mutter hatte keine Zeit und außer einem kurzen Wortgefecht zwischen den beiden Frauen und einem Abschiedskuss für die Großmutter blieb nichts mehr übrig.

»Du kannst doch das Mädchen bei mir übernachten lassen, da hättest du auch mal Zeit für dich«, schlug die Großmutter ab und zu vor.

»Dafür ist sie noch zu klein. Und du bist viel zu unvorsichtig. Du weißt doch noch von der Geschichte mit dem Wolf!«, gab Mutter einmal scharf zurück, und damit endete das Gespräch abrupt.

Früher hatte Rotkäppchen oft den Eindruck gehabt, im Häuschen ihrer Großmutter würde die Zeit stehen bleiben, aber auch dieses vertraute wohlige Gefühl blieb nun aus. Doch trotz allem war sie immer noch gern draußen bei der Großmutter. Jedes Mal, wenn sie und ihre Mutter an dem kleinen Häuschen am Berghang ankamen, lief sie sofort in den umgebenden Wald, auch wenn sie in der Nähe des Hauses bleiben musste. Voller Liebe begrüßte sie die Bäume und die Tiere und erfreute sich an deren Schönheit. Auch hoffte sie, ihren Wolf einmal wiederzusehen. Und wenn sie einmal Wolfsgeheul hörte, so war ihr das Musik in den Ohren; sie dachte, dort, weit weg, wäre ihr Freund unterwegs. So wusste sie, sie war nicht allein im Wald und auf der Welt.

Die Erinnerungen waren so allgegenwärtig, dass sie ihre Mutter eine Zeitlang immer wieder bat, ihr einen Wolf zu schenken oder wenigstens einen Hund.

»Mutter, wieso habe ich keinen Hund? Rosa von nebenan hat zwei. Ich möchte auch einen Hund als Freund zum Spielen und Kuscheln.«

Als die Mutter das hörte, traute sie ihren Ohren nicht. »Einen Hund zum Kuscheln! Hat meine Tochter den Verstand verloren? Jeder, der im Dorf einen Hund hat, hält ihn im Hof an der Kette, um das Haus zu bewachen. Alle werden auf uns mit Fingern zeigen, wenn mein Kind mit dem Hund kuschelt. Was für seltsame Wünsche meine Tochter hat!«

Schnell hatte die Mutter eine Ausrede parat: »Hunde hält man zum Bewachen, nicht zum Spielen. Wir haben nicht viel, somit gibt es bei uns nichts zu bewachen. Schlag dir das aus dem Kopf. Ich nähe dir lieber eine Puppe.«

Die Mutter änderte ihre Meinung nie. Aus diesem Grund bekam das Mädchen keinen Hund und tröstete sich mit der selbstgenähten Puppe, die in ihren Spielen die Rolle der Großmutter übernahm. Von einem Wolf oder Hund sprach sie nie wieder. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie damals, als sie vom Wolf erzählt hatte, etwas falsch gemacht hatte. Nur was war falsch daran gewesen? Dass sie mit dem Wolf gelaufen war oder dass sie darüber gesprochen hatte?

Seitdem hatte die Kleine das Gefühl, selbst an allem schuld zu sein, was ihr widerfuhr; dies behielt sie jedoch für sich. So lernte das Mädchen: Bevor sie falsch verstanden wurde, sagte sie lieber gar nichts.

Sie wusste auch, dass die Mutter ihr nichts Böses wollte, es gut mit ihr meinte, sie nur beschützen wollte. Dieser Schutz erdrückte die Tochter, er war wie eine Glocke aus Glas, die sie vor der ganzen Welt abschirmen sollte, sie aber auch von der Welt trennte. Im Beisein der Mutter spürte das Mädchen Angst, als würde etwas Dunkles sie bedrohen. Diese Angst machte sie schwach und klein. Und dabei hatte sie sich nicht vor dem Wolf gefürchtet, nicht einmal vor seinem Geheule!

Diese Angst hatte nichts mit dem Wolf zu tun, denn das Mädchen wusste, dass er sie beschützt hätte. Leider war der Wolf nicht mehr da. Mit der Zeit vergaß das Mädchen die einmalige Begegnung mit ihrem Freund. Nur eins beschäftigte sie weiterhin. Immer löcherte sie die Mutter mit ein und derselben Frage: wann sie endlich wieder allein zu ihrer Großmutter dürfe.

Die Mutter tröstete sie mit der immer gleichen Antwort: »Sobald du erwachsen bist. Der dunkle Wald ist nichts für kleine Mädchen.«

So wartete die Kleine geduldig auf das Erwachsensein, trug ihr graues Käppchen und war wie die restlichen Kinder. Bloß in einer Sache war sie nicht wie die anderen: Sie ging nicht gerne unter Leute. Sie hatte keine Freundin, auch keinen Freund. Wenn sie mit ihrer Mutter unterwegs war, wich sie ihr nicht von der Seite. Ihrer farblosen Erscheinung wegen oder dank des Namens, den sie früher getragen hatte, wurde sie nun Graukäppchen genannt. Sie widersprach nicht.

Das Mädchen wuchs und alles an ihr wuchs mit. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah. Alles an ihr und in ihr war ihr fremd, sie konnte nichts mit sich selbst anfangen. Ihr Gesicht, ihr Körper, ihr ganzes Dasein veränderte sich. Die Beine waren auf einmal zu lang und gehorchten ihr nicht, sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen, ihre Nase störte sie mitten im Gesicht und über ihre Lippen stolperte sie beim Sprechen. Auch ihr Hinterteil wuchs und wurde breiter und dicker, und obwohl sie kaum mehr etwas aß, konnte sie das nicht beeinflussen. Das war das Schlimmste dabei. Ihr kam es so vor, als ob niemand sie mehr freundlich ansah, so wie früher. Sie war kein kleines Kind mehr.

Abends verbrachte Graukäppchen viel Zeit vor dem Spiegel. »Warum habe ich so eine große Nase? Warum habe ich so große Augen? Warum habe ich so einen großen Mund? Keiner mag mich.«

Alles in allem fand sie sich hässlich und blass. Sie nahm das in sich auf und spiegelte es nach außen.

»Du bist unansehnlich und langweilig, ungeschickt und staksig, schlimmer als ein Sack Kartoffeln. Du wirst erwachsen«, redete ihr eine innere Stimme ein.

Der Gedanke ans Erwachsensein hatte auch etwas Gutes; jetzt konnte sie endlich wieder alleine zu der Großmutter gehen, die sie so sehr vermisste.

Graukäppchens Mutter war Näherin und pflegte einen sittlichen und anständigen Umgang mit den Leuten. Für sie war es alltäglich, andere Menschen anzufassen, um Maß zu nehmen. Diese Art körperlicher Nähe, die rein geschäftlich und gefühlsfrei war, beobachtete Graukäppchen Tag für Tag. Ihre Mutter war ihren Kunden gegenüber immer freundlich und zuvorkommend. Wenn die Kunden weg waren, war die Mutter still und arbeitete weiter an den Kleidungsstücken oder kümmerte sich um den Haushalt. Graukäppchen konnte sich gar nicht vorstellen, dass ihre Mutter lachte oder sich freute.

»Arme Mutter, sie muss immer so viel machen. Ich sollte ihr helfen, damit sie sich einmal freut«, dachte sich das Mädchen und ahmte ihre Mutter nach. Nach außen war sie ruhig und freundlich, hielt ihren Blick gesenkt und hatte immer ein Lächeln für andere. Aber das, was sie quälte und ängstigte, ihre unsichere Innenwelt, versteckte sie gekonnt. Mutter und Tochter waren die Besten, wenn es darum ging, die eigenen Gefühle herunterzuschlucken und ihre Gedanken zu verbergen.

Die Mutter arbeitete von morgens bis abends, damit sie und ihre Tochter genug zum Leben hatten. Genug zum Leben, nur nicht genug zum Glücklichsein. Zwischen den nicht ausgesprochenen Worten nistete die Angst, die ihr immer zuflüsterte, dass eines Tages das Geld nicht reichen oder etwas Schlimmes passieren würde. Zwischen Mutter und Tochter gab es keine Umarmung oder Berührung, keine Küsse oder Streicheleinheiten. Für die Mutter war die Arbeit eine Art Flucht vor ihren Gedanken und Gefühlen. Auch um zu vergessen, dass sie jemals gestreichelt, geküsst und liebkost hatte werden wollen. In ihrem Herzen waren die alten Schmerzen noch allgegenwärtig. Jeden Abend, wenn sie allein im Bett lag, sah sie sich in den Armen des Mannes, den sie geliebt hatte. Die Erinnerungen an das unendlich schöne Gefühl, sich von ihm tragen zu lassen, kamen aus dem Nichts. Aber darauf folgte der bittere Schmerz des Verlassenseins und die Ungewissheit. Warum musste sie für ihr kurzes Glück so teuer mit Enttäuschung und Einsamkeit bezahlen?

Lange Zeit hatten ihre Empfindungen zwischen Liebe und Enttäuschung gewechselt, bis sie sich schließlich für die Enttäuschung entschieden hatte. Von da an war sie hart zu sich selbst, als würde sie sich für ihre Schwäche bestrafen. Und so ließ Graukäppchens Mutter auch keine Zärtlichkeiten bei ihrer Tochter zu. Ihre Tochter wusste doch sowieso, dass die Mutter sie liebte!

»Das ganze Geknutschte würde sie nur verweichlichen. Das Leben ist hart genug. Wenn ich streng zu ihr bin, werde ich sie stärker machen. Und es schadet ja nicht, stark und hart gegen die große, ungerechte Welt zu sein«, dachte die Mutter.

Sie war insgeheim froh, dass ihre Tochter sich nicht für Jungen interessierte.

»So erspart sie sich viel Enttäuschung«, dachte die Mutter, bemerkte aber doch, dass Graukäppchen viel Zeit zu Hause verbrachte: »So bekommt sie gar keinen Mann, weder einen guten noch einen schlechten!«

Die Mutter rätselte, was für ihre Tochter besser wäre: Enttäuschung mit einem Mann oder Enttäuschung ohne. Wie jede gute Mutter sorgte sie sich um ihre Tochter. Das waren ihre großen Ängste: Wenn sie nur zu Hause hockt, findet sie keinen Mann. Wenn sie keinen Mann findet, bekommt sie keine Kinder. Und wenn sie doch einen Mann findet, könnte der ein schlechter Mensch sein.

Letzten Endes kannte sie wie all die anderen Frauen im Dorf nur einen Weg zum glücklichen Leben: einen guten Mann heiraten und mit ihm eine Familie gründen, Kinder bekommen und zusammen durch dick und dünn gehen. Also war sie bemüht, ihrer Tochter diesen Weg zu ermöglichen.

»Ich möchte nur, dass du glücklich bist«, pflegte sie zu ihrer Tochter zu sagen. Bei sich dachte die Mutter: »Ich muss ihr helfen, muss sie vor meinen Fehlern bewahren.«

Graukäppchens Mutter war streng zu sich selbst und noch mehr zu ihrer Tochter. Sie wollte ihrem Kind eine Lehrmeisterin sein. Das führte dazu, dass ihr bei den alltäglichsten Dingen jeder Fehltritt, jede Ungeschicklichkeit ihrer Tochter ins Auge stach. Nichts davon vergaß sie über den Tag und abends, wenn keine Kunden mehr da waren, schmierte sie der Tochter ihre Fehler aufs Brot. So kleidete sie in Wahrheit ihre Sorgen in Worte. Es schmerzte sie sehr, dass ihr Mädchen beim Nähen ungeschickt und ungeduldig war. Sie fühlte sich hilflos, weil es ihr nicht gelang, der Tochter das Nähen beizubringen, und so wurde sie noch strenger und unzufriedener.

»Dauernd zerschneidest du den teuren Stoff oder nähst die Teile falsch zusammen. Wieso bist du so ungeschickt? Du hast wohl zwei linke Hände. Was soll aus dir werden? Du solltest etwas lernen, wo du nicht so viel kaputtmachen kannst. Nur was?«

Diesen Sermon wiederholte sie immer und immer wieder. Die Mutter glaubte, je häufiger sie diese Dinge aussprach, umso schneller würde Graukäppchen sich bessern. Das Gegenteil trat ein. Die Worte der Mutter machten das Mädchen ungeschickt. Sie vergifteten Graukäppchens Dasein, saßen wie Spinnen im grauen Netz des Gehirns fest und warteten nur darauf, beim nächsten Fehler die Fesseln noch stärker anzuziehen.

Eigentlich wollte die Mutter das Beste für ihre Tochter. Wo es nur ging, übernahm sie mehr Arbeit, damit Graukäppchen auch Zeit für sich haben konnte.

»Am Samstag und Sonntag brauche ich deine Hilfe nicht. Und du kannst tun, was dir Spaß macht. Geh mit den anderen aus. Wenn du erst einmal verheiratet bist, wirst du keine Zeit mehr für dich haben«, pflegte sie zu sagen.

Der Mutter war nämlich schon häufig aufgefallen, dass Graukäppchen keine Zeit mit den anderen Mädchen und Jungen im Dorf verbrachte. Auch deswegen machte sie sich Sorgen und dachte bei sich: »Wie soll das alles gutgehen? Sie ist schon in dem Alter, in dem Mädchen an jungen Männern Gefallen finden und auch umgekehrt. Als ich so alt war, wollte ich nie zu Hause bleiben.«

»Warum gehst du nicht mal raus?«, sagte die Mutter mit verhärmtem Gesicht zu ihrer Tochter. »Du bist schon groß genug und kannst dich mit den anderen unterhalten. Sie treffen sich jeden Abend hinter der Kirche. Geh auch mal dorthin, es wird dir bestimmt Spaß machen.«

»Kann ich dann auch die Großmutter besuchen? Wenn ich alleine zum Kirchplatz darf, darf ich auch in den Wald?«, fragte da Graukäppchen und ihre Augen leuchteten.

»Ja, schon, aber zum Kirchplatz ist es immerhin nicht so weit und nicht so gefährlich wie zu der Großmutter«, meinte die Mutter etwas voreilig.

»Na, dann habe ich heute keine Lust, Mutter. Morgen vielleicht«, sagte die Tochter enttäuscht.

Tatsächlich verhielt es sich so: Graukäppchen traute sich nicht auszugehen, weil sie fürchtete, dass sie von den anderen dasselbe hören würde, was sie sich selbst jeden Abend einredete. Viel lieber hielt sie sich in der Küche auf als bei Gleichaltrigen. Besonders gerne war sie am Backen.

Während Graukäppchen den Teig knetete, dachte sie: »So wie ich aussehe, werden alle sich von mir abwenden. Was soll ich da sagen? Viel lieber backe ich etwas für morgen, da freut sich meine Mutter und vielleicht kann ich bald meiner Großmutter auch etwas vorbeibringen.«

Immer wieder fragte Graukäppchen nach, ob sie nicht doch die Großmutter besuchen dürfe. Die ständige Frage leid, gab die Mutter tatsächlich nach, da auch die anderen Mädchen im Alter ihrer Tochter schon längst ihre eigenen Wege gingen.

»Hier hast du eine Schürze und eine neue Haube für die Großmutter. Ich habe noch sehr viel zu tun. Bring ihr diese Kleidungsstücke vorbei, danach bist du ja schnell wieder zu Hause«, sagte sie eines Tages zu ihrer Tochter.

»Ja, Mutter. Und meine frischgebackenen Brötchen nehme ich auch mit. Da wird sich die Großmutter freuen«, antwortete diese fröhlich.

Es war wie ein Festtag für Graukäppchen, als sie mit ihren Geschenken den bekannten Weg ging. Angesichts des frisch aufgehobenen Verbots wollte sie nichts falsch machen. Als sie angekommen war, sagte sie zu der Großmutter: »Hier sind die Haube und die Schürze, die hat Mutter für dich genäht, und die Brötchen habe ich für dich gemacht. Ich bin so froh. Jetzt bin ich schon erwachsen und darf dich allein besuchen.«

Daraufhin fragte die Großmutter: »Backst du so gut? Und macht dir das Backen Spaß? Deine Brötchen sehen lecker aus. Die lasse ich mir gleich mit kalter Milch schmecken.«

Die Großmutter lächelte und umarmte das Mädchen herzlich. Doch Graukäppchen verabschiedete sich schnell wieder, um zurück nach Hause zu eilen, ehe die Mutter es sich wieder anders überlegte und ihr den nächsten Besuch verbot.

»Oh, wie glücklich war die Großmutter, wie hat sie sich über meine Brötchen gefreut«, dachte sie und erinnerte sich, wie ihre Großmutter ihr das Backen beigebracht hatte.

Das war an einem verregneten Vormittag gewesen, als Großmutter an der Haustür klopfte. Graukäppchen öffnete die Tür, weil die Mutter nicht zu Hause war. Sie verkaufte ihre Schneider ware auf dem Bauermarkt.

Großmutter stand tropfend vor der Tür und lachte. Sie meinte, sie wäre so durchnässt wie eine Waldmaus und man könnte sie samt ihrer Kleidung an die Leine hängen. Sie wäre in der Gegend gewesen und hätte Kräuter gesammelt, als der Schauer sie erwischte; sie würde gern bleiben und sich aufwärmen, während die Mutter ihre Schneiderware auf dem Bauernmarkt verkaufte.

Nachdem sich die Großmutter umgezogen und eine heiße Tasse Tee getrunken hatte, fragte sie ihre Enkelin, ob sie Lust auf Pfannkuchen hätte. In der Tat war das eine von Graukäppchens Leibspeisen. Die Großmutter zeigte ihrer Enkelin, wie man den Teig zubereitete, und das Mädchen durfte auch selbst ein paar Pfannkuchen machen. Diese gerieten ihr nicht ganz rund, sondern verwandelten sich in lustige Kreaturen. Graukäppchen und die Großmutter gestalteten Pfannkuchengesichter und hatten viel Spaß beim Essen. So etwas durfte das Mädchen bei der Mutter nie tun. Zum Glück war diese immer noch nicht nach Hause gekommen; so blieb die Großmutter auch länger als sonst und zeigte Graukäppchen, wie man Hefeteig macht. Es sollte eine Überraschung für die Mutter werden.

»Beim Backen lass dir Zeit, so klappt es am besten«, sprach die Großmutter ihrer Enkelin Mut zu.

Zu backen erfüllte sie mit Zufriedenheit; nach Lust und Laune konnte sie ihre Hefeteile schaffen und formen. Am besten gelangen ihr die Semmeln, die sie schließlich sogar auf dem Markt verkaufen durfte; das hatte die Mutter Graukäppchen erlaubt, so gut schmeckten selbst ihr die kleinen Brötchen. Graukäppchen fand Backen beruhigend und erfrischend zugleich. Einmal war ihr einfach so danach, da drehte sie den Teig zu Würstchen und formte witzige Formen daraus. Sie nannte das Ganze Kringel und nahm welche zum Verkaufen mit. Doch bei den Dorfbewohnern kam die ungewohnte Kreisform nicht so gut an. Entweder glaubten die Frauen, Graukäppchen wolle Teig sparen, oder die Männer meinten, sie hätte sich einen Scherz erlaubt und mache Semmeln mit Löchern. Da verstanden die Dorfbewohner keinen Spaß. Sie wollten alles so haben, wie es schon immer gehandhabt wurde.

»Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht«, sagte der eine oder andere.

Doch dann brachte eines Tages Stefan, der Dorfliebling, fast das gleiche Gebäck von einer Reise zum Königshof mit. Dort hatte er am Hoffest teilnehmen dürfen und erzählte stolz, er hätte das Wundergebäck vom König höchstpersönlich bekommen, als er an einem Stand vorbeilief. Stefan nannte das Teilchen eine Brezel und schwärmte, dass es sich landauf, landab der größten Beliebtheit erfreute. Der Dorfbäcker ergriff die Gelegenheit beim Schopfe, buk selbst Brezeln und verkaufte sie in seinem Laden. Die Sache sprach sich herum, und bald kamen selbst aus den Nachbardörfern die Leute zu ihm, um seine Brezeln zu erwerben.

Dieser Erfolg machte Graukäppchen stutzig. Sie grübelte: »Egal was ich mache, es ist so hässlich wie ich. Ein anderer dreht seine Kringel etwas anders, nennt sie Brezeln und schon hat er Riesenerfolg. Dann backe ich eben auch Brezeln.«

Auf dem Markt hatte es Graukäppchen ohnehin nicht leicht. Zunächst lief sie unsicher mit ihrem Verkaufskorb hin und her und wartete, bis jemand auf sie zutrat. Eines Tages jedoch merkte sie, dass die anderen Verkäufer nicht so schüchtern waren und ihre Ware lauthals anpriesen, oft mit lustigen und lockeren Sprüchen. Das gefiel den Leuten, und wenn eine Person bei dem jeweiligen Schreihals stehen blieb, kamen schon die anderen dazu und wollten das Gleiche kaufen. Das war witzig anzuschauen, und Graukäppchen wollte sich auch darin versuchen.

Erst einmal sehr verlegen und ungeschickt rief sie: »Kauft die Semmellein, die warmen Semmellein …«

Doch tatsächlich konnte sie so auf sich aufmerksam machen. Sie fand daran Gefallen und rief noch lauter. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und sie verkaufte mehr. Wenn Graukäppchen guter Laune war, sang sie sogar »Kauft die Berzellein, die warmen Brezellein«, die sie auch in ihrem Korb hatte.

Das Dorf war das größte in der Gegend. Deswegen kamen die Händler von allen naheliegenden Ortschaften zum hiesigen Markt, selbst unter der Woche. Es gab ein paar feste Stände, die vor allem von den wohlhabenden Geschäftsleuten aus dem Dorf betrieben wurden, so vom Metzger und vom Schmied. Auch der Bäcker hatte einen Stand. Graukäppchen war für ihn keine Konkurrenz, denn was sie an einem Tag verkaufte, ging bei ihm in einer Stunde weg.

An manchen Tagen brachte Graukäppchen alle ihre Backwaren an den Mann, dann war sie stolz auf sich und buk fröhlich mehr für den nächsten. Leider kannte sie auch andere Tage, an denen sie auf ihren Leckereien sitzen blieb, weil das Wetter schlecht war oder die Leute etwas anderes essen wollten. Dann stand sie allein auf einem Fleck in der Hoffnung, doch noch das letzte Gebäckstück loszuwerden. Bei solchen Gelegenheiten hörte sie immer öfter ihre eigene Stimme, die sie beschimpfte und niedermachte, ihr sogar Angst einjagte.

»Sei lustiger und freundlicher, steh nicht so dumm rum und warte! So gehen alle Leute an dir vorbei, ohne dich und deine Ware anzusehen. Mach es wie die anderen, schreie laut und sprich mit den Menschen. Sing doch, das macht dir doch Spaß.«

So redete Graukäppchen sich an solchen Tagen selbst zu, bekam aber dann keinen Ton raus.

Auf dem Markt lernte Graukäppchen auch Stefan kennen, der die Brezeln vom Königshof in das Dorf gebracht hatte. Nein, ein Kennenlernen war das nicht. Sie sah ihn dort und vom ersten Augenblick an war sie von ihm verzaubert. Alle ihre Gedanken drehten sich nur noch um ihn.

Stefan war wie ein Wirbelwind. Egal wo er war, es waren immer Leute um ihn herum, Männer wie Frauen. Er sprudelte vor Selbstvertrauen nur so über, wenn er sprach, und war von allem überzeugt, was er tat. Seine goldblonden Haare leuchteten und fesselten alle Blicke. Ohne es zu beabsichtigen, beeindruckte Stefan Graukäppchen so, dass sie nur noch Augen für ihn hatte. Er merkte das nicht einmal und beachtete sie nur, wenn er Semmeln bei ihr kaufte. Im Vorbeigehen bemerkte er eines Tages spaßeshalber, die Semmeln wären nicht süß genug für ihn. Gleich am nächsten Tag machte sie süße Rosinenbrötchen, die ihm viel besser schmeckten. Seitdem verkaufte Graukäppchen auch Rosinenbrötchen. Für Stefan hob sie stets welche auf, die sie selbst aß, wenn er einmal nicht gekommen war.

Graukäppchen musste früh aufstehen, um zu backen, und so ging sie auch früh ins Bett. Also hatte sie unter der Woche keine Zeit auszugehen. Am Samstag und Sonntag aber übernahm ihre Mutter das Verkaufen des Gebäcks für sie. Graukäppchen hatte somit an diesen Tagen frei und konnte zu den abendlichen Treffen der Dorfjugend gehen, wo die Mädchen in ihrem Alter nur darauf warteten, angeschaut und angefasst zu werden.

»Geh heute Abend mit den anderen aus. Rosa kann dich mitnehmen. Ich habe sie schon gefragt. Hier gibt es nichts mehr zu tun und abends kommt noch eine wichtige Kundin zu mir, mit der will ich in Ruhe den Auftrag besprechen«, drängelte die Mutter und Graukäppchen gab nach. »Hier, nimm mein Tuch, das mit den Rosen. Es wird dir stehen, damit bin ich in deinem Alter auch gern ausgegangen.«

Als Graukäppchen zu Rosa von nebenan ging, musste sie mit sich kämpfen und ihre Angst verstecken; das kostete ihren ganzen Mut. Rosa merkte das nicht und gab ihr viele freundliche Ratschläge: »Geh nicht mit dem Erstbesten. Glaub nicht alles, was die Jungen dir erzählen, am wenigstens denen, die am lautesten schreien. Das sind die Schlimmsten. Wenn du bei mir in der Nähe bist, werde ich dir am Anfang helfen. Danach musst du dich selbst durchbeißen.«

»Rosa hat überhaupt keine Angst. So möchte ich auch sein«, dachte Graukäppchen.

Sie wollte Rosa noch fragen, was sie sagen sollte, wenn die anderen sich erkundigten, wo sie die ganze Zeit abgeblieben war. Doch dann erzählte ihr Rosa, dass sie sich einen Jungen ausgeguckt hatte und hoffte, ihn auf dem Kirchplatz anzutreffen. Graukäppchen war jedoch mit ihrer eigenen Ver legenheit beschäftigt und hörte ihrer Nachbarin gar nicht richtig zu. Sie wusste nicht, was auf sie zukommen würde. Die Ungewissheit machte Graukäppchen ein Kribbeln im Magen. Im Kopf spielte sie Szenen durch und überlegte sich mehrere Ausreden. Zu ihrer großen Erleichterung krähte aber kein Hahn danach, wo sie die ganze Zeit gewesen sein mochte. Niemand nahm groß Notiz von ihr, so als wäre sie gar nicht da.

»Gut, dass mich keiner etwas fragt«, dachte sie erleichtert.

Somit hatte sie Zeit, sich umzuschauen, und es fühlte sich gar nicht schlecht an, dabei zu sein. Der Platz hinter der Kirche lag etwas abseits und war mit Bäumen und Büschen bewachsen; so fühlten sich die Jungen und Mädchen unbeobachtet. Ein Trampelpfad ging zu dem kleinen Dorfbach hinunter. Eine Brücke führte darüber, auf der gerade auch ein Pärchen stand. Graukäppchen konnte kaum erahnen, wer es sein mochte. Im Schatten der Bäume stand sie mit anderen Mädchen bei einer größeren Gruppe; die Burschen saßen auf zwei Bänken, die nebeneinander aufgestellt waren, die Mädchen standen ringsum. Zwei, drei Mädels saßen auf dem Schoß je eines Jungen und lachten laut dabei.

Obwohl Rosa gleich mit jemandem verschwunden war und ihr keine guten Ratschläge mehr geben konnte, war Graukäppchen froh, den Gesprächen der anderen zuzuhören. Sie sah, wie die Jungen mit den Mädchen schäkerten, tanzten oder sangen. Auf eine unerklärliche Weise fühlte sie sich gut dabei. Sie musste nicht einmal etwas erzählen, das über nahmen die anderen für sie. Dabei erfuhr sie viel Interessantes über die Leute, die sie kannte, und auch über die, die sie nicht kannte. Im Dorf war es üblich, über diejenigen zu reden, die nicht da waren. Manches Mal waren die Geschichten witzig und alle lachten. Als ein dunkelhaariger Junge mit einem Akkordeon begann, traurige und lustige Lieder zu singen, hätte Graukäppchen am liebsten mitgesungen. Er kam aus einem der anderen Dörfer und sie kannte ihn gar nicht. Doch als Stefan zu der Gruppe stieß, vergaß Graukäppchen alles um sich herum und starrte ihn an. Die Übrigen begrüßten ihn begeistert. Offensichtlich war er schon länger nicht mehr bei den Treffen gewesen. Lauthals tönte er, wie beschäftigt er sei.

Stefan stach aus der Gruppe heraus, nicht nur weil er etwas älter als die meisten der Anwesenden war. Er genoss seine gehobene Stellung und hatte viel zu sagen. Graukäppchen merkte nicht einmal, wie lange sie so stand, während sie Stefans Geschichten zuhörte. So wie auf dem Markt, wo er allerlei Waren verkaufte, wusste er auch bei den Treffen am besten über alle und alles Bescheid. Er konnte so gut erzählen,