Die Waisen von Schloss Hohenhorst - Regine König - E-Book

Die Waisen von Schloss Hohenhorst E-Book

Regine König

0,0

Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. »Hallo, he… wer ist da?« Keine Antwort. Nur ein Rascheln des riesigen Fliedergebüsches unmittelbar an der hohen Mauer des alten Weser-Renaissance-Schlosses. Und dann schwieg auch dies Rascheln und Rauschen in dem dicken Blätterwerk. »He! Ich habe es deutlich gehört. Einer sitzt zwischen den Zweigen!« Eine helle Jungenstimme forderte energisch Antwort. »Hier kann nicht jeder über die Mauer steigen und Flieder stehlen!« Ronald hob das magere Jungengesicht gegen das uneinsehbare Gebüsch. Seine scharfen blauen Augen versuchten das Gewirr zu durchdringen. Aber das Blätterwerk war so dicht, da es niemals von kundiger Gärtnerhand zurechtgestutzt wurde, daß man in dem kühlen, dunklen Grün, aus dem sich süß duftend die dunkellila Fliederdolden hervorhoben, auch mit den schärfsten Augen nichts erspähen konnte. »Aber es hat so gerauscht, als stecke ein Mensch darin. Das war nicht der Wind!« »Glaube ich auch nicht!« Das goldhaarige kleine Mädchen neben dem Jungen stellte sich graziös auf die Zehenspitzen, reckte sich hoch. »Ich sehe auch nichts, Rony!« »Wenn ich schon nichts erkennen kann!« Er trumpfte auf wie alle zwölfjährigen Jungen, die sich über kleine Schwestern von acht Jahren erheben. Schließlich reichte ihm, dem Hochaufgeschossenen, die kleine, graziöse Schwester auch nur bis zur Schulter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 140

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fürstenkinder – 32 –

Die Waisen von Schloss Hohenhorst

Sie brauchen eine zärtliche Hand

Regine König

»Hallo, he… wer ist da?«

Keine Antwort. Nur ein Rascheln des riesigen Fliedergebüsches unmittelbar an der hohen Mauer des alten Weser-Renaissance-Schlosses.

Und dann schwieg auch dies Rascheln und Rauschen in dem dicken Blätterwerk.

»He! Ich habe es deutlich gehört. Einer sitzt zwischen den Zweigen!«

Eine helle Jungenstimme forderte energisch Antwort.

»Hier kann nicht jeder über die Mauer steigen und Flieder stehlen!«

Ronald hob das magere Jungengesicht gegen das uneinsehbare Gebüsch. Seine scharfen blauen Augen versuchten das Gewirr zu durchdringen. Aber das Blätterwerk war so dicht, da es niemals von kundiger Gärtnerhand zurechtgestutzt wurde, daß man in dem kühlen, dunklen Grün, aus dem sich süß duftend die dunkellila Fliederdolden hervorhoben, auch mit den schärfsten Augen nichts erspähen konnte.

»Aber es hat so gerauscht, als stecke ein Mensch darin. Das war nicht der Wind!«

»Glaube ich auch nicht!«

Das goldhaarige kleine Mädchen neben dem Jungen stellte sich graziös auf die Zehenspitzen, reckte sich hoch.

»Ich sehe auch nichts, Rony!«

»Wenn ich schon nichts erkennen kann!« Er trumpfte auf wie alle zwölfjährigen Jungen, die sich über kleine Schwestern von acht Jahren erheben. Schließlich reichte ihm, dem Hochaufgeschossenen, die kleine, graziöse Schwester auch nur bis zur Schulter.

Die kleine Barbara wollte sich zur Wehr setzen. Auch kleine Schwestern besaßen Waffen.

Ich brauche ihn jetzt nur ganz sacht am Arm zu streicheln! durchfuhr es Barbara. Dann geht er in die Höhe! Das kann er nicht vertragen, der große Ronald.

Einen Augenblick hielt Barbara die kleine, zärtliche Hand hoch, um den Bruder zu reizen. Dann ließ sie sie wieder sinken. Die Hand war ein wenig schmutzig, dornenzerkratzt. Ja, und diese kleine Hand wäre so gern einmal zärtlich gestreichelt worden.

Barbara wußte nicht, daß sie sich auf eine geheimnisvolle Weise in diesem Augenblick nach ein wenig Zärtlichkeit sehnte.

Sie war sie nicht gewohnt. Die Großmutter, die unnahbare Gräfin Clarissa Falk von Hohenhorst, predigte Haltung und Anstand. Tante Elisabeth erlaubte kaum ein lautes Sprechen oder Singen. Ja, und Eltern, die vielleicht für Zärtlichkeiten zuständig waren, wie Ronald es sicher sehr nüchtern ausgedrückt hätte, besaßen die Kinder nicht.

Barbaras kleine Hand sank langsam herab. Instinktiv fühlte das Kind, daß die beabsichtigte kleine Zärtlichkeit, mit der sie den Bruder reizen wollte, eigentlich unangebracht war. Und zudem –, jetzt raschelte es wieder in den Fliederbüschen.

»Hallo – herunterkommen!« Ronald strengte seine Stimme an. Er schrie beinahe.

Niemand aber zeigte sich.

»Na, wir werden Barry holen!« erklärte er jetzt laut. »Denn da ist jemand, ganz gewiß!«

Ronalds Gesicht glühte. Alle gelesenen Abenteuerbücher wurden in seinem Kopf lebendig. Donnerwetter – wenn wirklich ein Einbrecher oben im Gebüsch lauerte, und er würde es herausfinden.

Er steckte Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und pfiff so gellend, wie es nur zwölfjährige Jungen können.

Wieder bewegte sich das Blättergestrüpp der Fliederbüsche.

Lieber Gott, schick mir eine Tarnkappe! Wenn der Hund kommt, geht er mir ans Leben! Die fast knabenhaft schlanke Mädchengestalt im Fliedergebüsch preßte sich dicht an die Äste.

Au! Ein dürrer Zweig ritzte ihr zartes ovales Gesicht, in dem die riesigen grünen Augen, denen bei Licht Goldfunken strahlend aufgesetzt waren, alles andere beherrschten.

Au! Beinahe hätte Kathi laut aufgeschrien. Stehlen ist gar nicht so einfach!

Aber was ist mir schon anderes übriggeblieben?

Ich muß einen Busch Flieder mitbringen und dazu möglichst noch einen Strauß Goldregen, der ein paar Schritte weiter entfernt an dem verwilderten Weg blüht. Sonst können wir heute abend nicht Theater spielen.

Buschwerk gehört nun mal zum Bühnenbild des Käthchens von Heilbronn, das einen richtigen Holunderbusch und eben auch noch andere Blüten ringsum nötig hat.

Und die hier in diesem Schloßpark haben alles im Überfluß! Wahrhaftig, die brauchten nicht nach Hunden zu rufen, um mich zu vertreiben! Kathi kniff die großen Augen auf einen schmalen Spalt zusammen, aus dem heraus Mut und Tatkraft funkelten.

Kathi duckte sich jetzt so eng ins Gesträuch, daß kein Untenstehender sie hätte wahrnehmen können.

Einen Augenblick schloß das Mädchen die Augen völlig. Ihm war, als fliege es weit, weit weg. Auf den goldenen Flügeln, die die Vögel im Märchen besitzen.

Da war dies Märchenland, in dem Kathis Eltern noch gewohnt hatten, ein Land mit weiten Seen und weiten Wäldern. Der Krieg war darüber hinweggezogen. Und niemand fragte, ob es dem Grafen Rostow beliebte, diese Heimat zu verlassen.

Kathi kannte die schöne ostpreußische Heimat schon nicht mehr. Sie kannte den Alltag, das Rechnen mit dem Pfennig und den Tod der Eltern.

Oh, wie süß duftete der Flieder, betäubend. Eine Traumwelt erstand.

Alle sagten mir, Phantasie und Zeichnen, das ist meine Welt.

Kathis Mund öffnete sich leicht. Es sog genau wie die feingeschnittene Nase in dem zarten, schmalen Gesichtchen den Duftrausch des Fliedergebüsches ein.

Phantasie…

Zeichnen…

»Begabt, begabt!« hatten alle Lehrer auf der Werkkunstschule gesagt, die Kathi besuchte. Aber – man mußte auch bei einer Begabung klein anfangen.

Direktor Knut Jungblut!

Kathi lächelte plötzlich.

Wer war schon dieser Knut Jungblut, der in einer Millionenstadt ein Privattheater so gerade eben über Wasser hielt und in den Sommermonaten die Kurorte bereiste. Für Knut Jungblut gab es keine Ferien.

»Idealistin müssen Sie sein, kleines Fräulein!« hatte er gesagt, als Kathi sich um eine Stelle bei ihm bewarb.

»Bin ich!« behauptete die kleine Komteß Rostow.

»Und das Theater liebe ich!«

»Schließen wir ab!« sagte Knut Jungblut und war sich durch sein schönes schneeweißes Haar gefahren. Kathi unterschrieb einen Vertrag. Kleines Gehalt, viel Idealismus.

Ach, wenn man jung war, dachte man nicht unaufhörlich an Geld!

Man wollte schaffen, man wollte Träume verwirklichen.

»Zum Träumen gehört auch Geld!« hatte kurz nach Kathis Einstellung Philipp, der Sohn des Direktors, gesagt.

Er war ein eigenwilliger Kopf und nicht immer einverstanden mit seinem Vater.

»Wir müssen etwas auf die Beine stellen!« hatte er gesagt.

»Gemacht!« Kathi war bereit, sich auch mit Nachtstunden für alles im Theater ›Omnibus‹ einzusetzen.

Sie beharrte auch nicht auf ihrem Vertrag, der sie als Gewandmeisterin und Kostümbildnerin gleichzeitig verpflichtete.

Stillschweigend spielte sie auch die Garderobiere.

Nun, und heute – ja, heute hatte sie sich sogar auf die schiefe Bahn der Diebe begeben.

Am Abend sollte im großen Saal des Kurhauses Kleists unsterbliches »Käthchen von Heilbronn« über die Bretter gehen. Und es gab nichts Grünes, nichts, das die Kurverwaltung bereitstellte. Gewiß hatte sie ein paar Kübel mit kümmerlichen Palmen gestiftet. Aber – genügte das? Das Käthchen von Heilbronn mußte im Duft von Holunder, Flieder und auch Goldregen dem Grafen Wetter von Strahl begegnen.

So ein Pech!

Die kleine, schmale Gestalt im verwilderten Gebüsch des Hohenhorster Schloßparkes krümmte sich, den Ästen anschmiegend, denn zu Füßen des Gebüsches tauchten Kinder auf, die nach einem Hund riefen.

Kathi schlug die grünlichen Augen auf, die ihr zartes Gesichtchen beherrschten.

Lieber Gott, holen sie wirklich den Hund, diese… diese… oh, diese gräfliche Teufelsbrut von Schloß Hohenhorst! Dann ist es eben um mich geschehen. Der gräßliche Köter wird mich nicht nur durch Anbellen stellen, er wird mich vielleicht herunterreißen. Ich werde…

Lieber Gott!

Die kleine Kathi faltete die Hände, mit denen sie sich eigentlich im Gebüsch festhalten sollte. Und weil Kathi die Hände faltete, schwankten die Äste und Zweige des seit Jahren längst verholzten Fliedergebüsches, dessen dunkellila Dolden betäubend dufteten.

Unten aus dem Park erklang jetzt das gefährliche Bellen eines riesigen Schäferhundes.

»Ho, he, Barry, faß!« befahl Ronalds spröde Jungenstimme. »He, faß, Barry, im Gebüsch sitzt einer, einer, der stehlen will.«

Die kleine Kathi im Gebüsch zitterte. Ihr Gesichtchen war plötzlich sehr weiß. Helle Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn.

Kathis kleine Hände suchten von Ast zu Ast. Wo war denn nur der Mauervorsprung, über den sie eingestiegen war?

In diesem Augenblick schwankten die Äste des Fliederbusches so stark, daß sie die junge Kathi, die sich fürchtete, als Diebin entlarvt zu werden, endgültig über die Mauer schnellten.

Das Mädchen fiel, und es wurde ihr schwarz vor Augen.

*

»Nanu, kleines Mädchen!« sagte der hochgewachsene Mann, der durch einen lächerlichen Zufall an diesem Frühsommertag an der Mauer des Hohenhorster Schloßparkes zu Fuß dahinschritt.

»Nanu, woher kommst du, kleines Mädchen?«

Julius Graf Falk von Hohenhorst vergaß die Welt um sich, als er in seinen Armen dieses kleine, federgewichtige Mädchen auffing, das einfach von der Parkmauer von Schloß Hohenhorst herabfiel. Und das gerade in seine Arme.

Der Mann lachte und wiegte das Mädchen hin und her.

Kathi hatte den Schrecken überwunden und auch das Schwindelgefühl, als sie aus dem Gebüsch jenseits des Schloßparkes von Hohenhorst herabstürzte.

Der Mann hatte die leichte Gestalt vom Arm herabgleiten lassen, sie auf die zierlichen Füße gestellt, die in billigsten Sandalen steckten, an denen jetzt auch noch das haltende Riemchen abgerissen war. Das kurze Kleidchen war aus bescheidenstem Stoff.

Trotzdem schien diese kleine Person von einer adligen Anmut, wie man sie selten fand.

Julias Graf Falk von Hohenhorsts schmales gebräuntes Gesicht verlor plötzlich das Strenge, die vor sich selber kaum eingestandene Einsamkeit seiner dunkelgrauen Augen, die seine Geschäftspartner an polarische Eisblöcke, seine weiblichen Bekannten an durch Zynismus geschützte Unnahbarkeit erinnerten. Sie gewannen eine gewisse Wärme.

Sein Blick umfing die schmale, jetzt ein wenig klägliche Gestalt, die am Rand einer Schloß Hohenhorst vorgelagerten Wiese hockte und versuchte, die Sandalette mit Grashalmen zu flicken.

Kathi hob den Kopf.

»Was tun Sie schon heute morgen hier?«

»Ich… ich gehe spazieren!« Dem Mann fiel nichts anderes ein.

Er hätte sagen können: Mich hat es an diesem Tag auf den Weg nach Hohenhorst getrieben, weil es einmal meine Heimat war. Ich wuchs dort einmal als Kind auf und erkannte sehr früh, daß mein Vater allzusehr an den alten Traditionen hing. Er starb und hat mich enterbt, weil er mich für einen fanatischen »Neuerer« hielt. Zudem konnte man dem einmal unermeßlich reichen Besitz, der in Generationen verwirtschaftet wurde, keinen Pfennig entziehen. Für einen jüngeren Sohn blieb ohnehin nichts übrig.

Des Mannes Augen zogen sich jetzt ganz schmal zusammen.

Aber ich habe bewiesen, wie man auch ohne Erbe in der Welt bestehen kann. Wenn man tüchtig ist.

Er hatte ein Weltunternehmen aus dem Nichts geschaffen und war ständig in allen fünf Erdteilen unterwegs.

»He… Sie…« Kathi war jetzt aufgestanden, legte die kleine, blutgeritzte Hand auf des Fremden Arm. »Hören Sie, die Kinder und der Hund!«

Die Kinder!

Das müssen die Kinder meines einzigen Bruders sein! durchfuhr es den Mann. Die Kinder von Adolf, der den gleichen veralteten Traditionen anhing wie sein Vater und der nicht einmal die einzig mögliche Schlußfolgerung aus der wirtschaftlichen Not seiner überschuldeten Besitzungen zog und reich heiratete. Einen stolzen Namen erheiratete er mit der jungen Fürstin Renata, aber nicht einen Pfennig Geld.

Und als er keinen Ausweg mehr sah, soll er sich mit ihr erschossen haben. Getarnt als Jagdunfall.

Einer Eigenschaft der Grafen Falk von Hohenhorst hat er auf jeden Fall nicht angehangen: der unbedingten Tapferkeit. Denn konnte es feiger sein für einen im besten Mannesalter stehenden überschuldeten Besitzer, als sich und seine Frau zu erschießen und die unmündigen Kinder, eine alte Mutter und eine unverheiratete Schwester zurückzulassen?

Eine Hintertreppengeschichte! dachte der schweigsame Mann, dessen Blick jetzt zurück zu dem Fliedergebüsch an der halb zerfallenen Parkmauer wanderte.

Aber es ist darüber hinaus auch die Geschichte eines Mannes, der jahrelang um all dies Unglück seiner Familie wußte und sich nicht zur Hilfe anerbot!

Der Blick der grauen Augen verhärtete sich.

Aber hatte er nicht eine Entschuldigung? Der Vater hatte ihn enterbt, Mutter und Schwester wandten sich von ihm ab, als sie vergeblich von ihm verlangten, er solle zur Rettung des Besitzes eine reiche Heirat eingehen.

Wieso ausgerechnet ich, der Enterbte? hatte er damals kalt gesagt. Dies Opfer steht dem Erben an.

Er war hinausgezogen in die Welt. Er war ein Mann, der in diesen Tagen aus der Industrieausstellung in Hannover einen eigenen, riesigen Pavillon der Welt vor Augen führte, in dem er seine Leistung auf dem Gebiet der modernen Landmaschinen dokumentierte. Ja, er war angesehen geworden, er, Julius Graf von Hohenhorst, der seit Jahren nichts von seiner Familie gehört hatte und es auch nicht wollte.

Aber Hohenhorst lag nicht allzu weit entfernt von Hannover. Mit einem schnellen Wagen…

Den habe ich unten stehenlassen! Der Mann war froh darüber. Denn sonst wäre ihm dieses Mädchen, das ihn seit einer Zeit nachdenklich betrachtete, nicht in den Arm gefallen.

»Meinen Sie, der Hund wäre jetzt fort?« Kathi schaute zu dem Mann auf, riß ihn aus seinen Träumen, in denen er sich nicht eingestehen wollte, daß ihn letzten Endes ein Gefühl des Heimwehs zu dem alten Renaissance-Schloß mit den einzigartigen Treppengiebeln gezogen hatte, wie man sie nur im Weserraum antraf.

Graf Julius schrak zusammen.

Er hatte das Mädchen beinahe vergessen.

»Wieso?« fragte er ein wenig geistesabwesend.

»Na – ich muß doch noch mehr Flieder haben. Mit einer Dolde kann man doch kein Gebüsch vortäuschen!«

Des Mannes Blick senkte sich zu Kathi hinab. Die stand jetzt barfuß vor ihm. Die Grashalme hatten die Sandaletten nicht halten können. Ein ganz leichter Wind wehte durch das billige Kleidchen. Und dennoch war es dem Mann, als habe ihn noch niemals ein Mädchen so gefesselt, ja, verzaubert.

Er schaute in diese grünen Augen, märchenhafte, fast magische Augen.

»Also Flieder wollen Sie stehlen?« Julius Falk von Hohenhorst rief sich selber barsch zur Ordnung.

Gut, daß keiner seiner Geschäftspartner ihn hier auf der staubigen Landstraße an einer verfallenen Parkmauer stehen sah, wie er sich mit einer kleinen Gartendiebin unterhielt.

»Ich brauche den Flieder!« beharrte Kathi. »Holunder wäre besser, aber ich kann keinen finden. Es ist wohl auch noch nicht die richtige Zeit. Und hier ist es ohnehin schattig!«

»Und was man braucht, nimmt man sich einfach?« Plötzlich lachte der Mann. Und dann, ehe die kleine Kathi es sich versah, gab er ihr einen Kuß.

»Und den brauchte ich, kleines Fräulein«, behauptete der Mann, hielt die zum Schlag erhobene zarte Hand fest, bevor sie ihre Tat ausführen konnte.

»Sie… sie…« Kathi begann zu fauchen. Ihre Augen weiteten sich noch mehr.

»Pst!« Dem Mann war es, als beginne sich etwas in ihm zu lösen. War es die Nähe der Kinderheimat, in der er vor vielen Jahren auch einmal an alten Mauern herumgeklettert war, in Fliedergebüschen hockte, um den Schulunterricht zu schwänzen?

»Pst! Nichts sagen!« Auf eine geheimnisvolle Weise schien er wieder zum Buben zu werden, der in aller Morgenfrühe Erdbeeren pflückte, die eigentlich zum Markt der nahen Großstadt gebracht werden sollten. »Pst, kleine Katze, wenn du brav bist, verschaffe ich dir Flieder, soviel du magst!«

Unwillkürlich verfiel der große Graf Julius in das Du eines Komplicen der kleinen Fliederdiebin.

»Haben Sie denn keine Angst vor dem Hund?«

Kathi überhörte das Du.

»Sehe ich nach Furcht aus?« gab der Mann als Gegenfrage zurück. »Zudem bin ich viel größer als Sie und« – jetzt lachte er übermütig wie ein Junge – »besser ausgerüstet bin ich für derlei Angelegenheiten wohl auch.«

Graf Julius hatte sein Taschenmesser gezückt.

Der Mann erspähte einen Stein, schwang sich hinauf.

Nun war er groß genug, um den schönsten Fliederbusch abzuschneiden, den Kathi je in ihrem Leben im Arm gehalten hatte.

»Oh, lieber Gott, Sie… Sie können ja etwas!« stammelte das Mädchen.

»Gut, daß du es einsiehst, kleine Katze! Und nun – nun müssen wir wohl alle beide Reißaus nehmen!«

Julius Graf Falk von Hohenhorst faßte das Mädchen an der Hand.

»Losgelaufen! Oder willst du, daß sie uns schnappen?«

Da legte Kathi die geschundene kleine Hand in die große des ihr fremden Mannes.

»Ob sie den Hund auf uns loslassen?«

Ihre grünlichen Augen schienen dunkel zu werden.

»Sollen sie nur!« erklärte der Mann. »Wir sind viel schneller als sie.«

Er wies auf einen am Wegrand parkenden Wagen. Ausländisches Modell. Schneeweiße Karosserie. Schnittige Form.

»Nehmen wir den?« fragte der Mann.

»Sie… ich… wir…« Kathi stammelte.

Nein, das ließ sie nicht zu, daß man dem gestohlenen Flieder nun auch noch einen gestohlenen Wagen hinzufügte.

»Wir können zu Fuß gehen!« behauptete sie, versteckte das zarte Oval des bräunlichen Gesichtes hinter dem Fliederbusch, der groß war wie ein Gebüsch.

»Mit dem Wagen ist’s besser!« behauptete der Mann.

»Und die Polizei?« Kathi schaute zu dem Mann auf. Von fern her bellte dunkel, beinahe sonor, ein Hund. Der Hund, den die Kinder hinter der Parkmauer herbeigerufen hatten, weil Diebe im Fliedergebüsch steckten.

»Sie… Sie…« Kathi tippte dem Fremden auf den Arm – »ob der uns kriegt, der Hund, der so bellt?«

»Mit dem Wagen?«

Wieder antwortete der Mann mit einer Frage.

»Schöner Wagen!« Kathi lehnte sich lässig zurück.

»Mein Wagen!« erklärte der Mann am Steuer kurz.

»Ihr Wagen?« Kathi staunte. »Und… und…« – sie stotterte plötzlich – »Sie haben einen solchen Wagen und dann – dann stehlen Sie Flieder mit mir?«

»Übers Stehlen sprechen wir später!« sagte der Mann am Steuer. »Vorab erklären Sie mir, wohin ich Sie fahren soll!«

Plötzlich sagte Julius Graf Falk von Hohenhorst »Sie«.

Er fuhr nun seinen großen Wagen. Neben ihm saß ein junges Mädchen, wenn auch noch knabenhaft gebaut, so doch ein erwachsenes Mädchen. Ein Mädchen, das einen Mann verzaubern konnte.

Es war nicht nur ein Mädchen, das zerschrammt und zerkratzt Flieder stahl, sondern ein Mädchen, das…

Julius Falk von Hohenhorst schaute kurz zu seiner Beifahrerin hinüber.