Die Wälder von Nynn I - Sven Beling - E-Book

Die Wälder von Nynn I E-Book

Sven Beling

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Beschreibung

Die Wälder von Nynn I Eine Fantasy Geschichte eines jungen Mädchens, dass über sich hinauswachsen, Gefahren überstehen muss. Schweißnass schreckte Nynn aus dem Albtraum auf: ein weißer Hirsch, ein Steinkreis, eine Burg in Flammen... Was hatte das alles zu bedeuten? Unheimliche Dinge gingen in ihrem Wald vor, indem sie sich bisher sicher und glücklich gefühlt hatte. Die Ereignisse zogen sie unaufhaltsam in einen Sog, der ihr Schicksal entscheiden würde. Ist sie ein Kind des Waldes oder ist ihr Leben in Gefahr?

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Seitenzahl: 352

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für Lilli und Philipp ohne die ich den Wald nie betreten hätte

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: In Kälte erstarrt

Kapitel 2: Den Flammen entkommen

Kapitel 3: Erinnerungen in Flammen

Kapitel 4: In dunklen Hallen

Kapitel 5.: Zeremonie und Zwist

Kapitel 6: Anbeginn der Blüten

Kapitel 7: Dunkle Wege

Kapitel 8: Absturz mit Folgen

Kapitel 9: Der geheime Baum

Kapitel 10: Herrscher mit Krone

Kapitel 11: Farben im Wind

Kapitel 12: Sommerfunken

Kapitel 13: Sonnenrad

Kapitel 14: Neue Freunde jenseits des Waldes

Kapitel 15: Die Versammlung

Kapitel 16: Mondrunen

Kapitel 17: Die Früchte des Sommers

Kapitel 18: Böse Spuren im Wald

Kapitel 19: Verborgen bei Nacht und Nebel

Kapitel 20: Mondleuchten

Kapitel 21: Nynns Ehrentag

Kapitel 22: Licht im dunklen Winter

Kapitel 23: Feuermond am dunklen Morgen

Epilog Ein neues Leben und alte Träume

Anhang

Personen

Orte

Im Jahr 1198 nach der Gründung von Venaetyca, Hauptstadt von Aremarica

Kapitel 1: In Kälte erstarrt

Nynn hatte die Felle im Halbschlaf fest über den Kopf gezogen. Im Zimmer schien etwas seine eisigen Finger nach ihr auszustrecken. Die bittere Kälte kroch bis unter ihre Winterdecken. Sie krümmte sich zusammen, um ihre tauben Füße aufzuwärmen. Die Nacht war schrecklich gewesen und sie hatte kaum geschlafen.

Da war etwas Dunkles in den Ästen ihres Traumbaums gewesen. Es hatte sie beobachtet, wodurch sie sich unwohl gefühlt hatte. Sie wollte weg davon, doch überall um sie herum befand sich in ein dunkler Schattennebel, der an ihr hochkroch. Immer noch wurde sie beobachtet. Belauert. Etwas wand sich und glitt durch diese Schatten hindurch. Der Wind hatte um ihr Turmzimmer geheult und an den Holzschindeln der Fassade gerüttelt.

»Nur noch ein kleines bisschen …«, murmelte sie im Halbschlaf und drehte sich müde auf die andere Seite. Wenigstens lag etwas Kleines, Pelziges an ihren Füßen und gab ihr das Gefühl von Wärme und Geborgenheit.

»Nynn, endlich aufstehen«, erklang die Stimme ihrer Mutter Sylva von unten herauf.

Plötzlich sprang dieses Pelzige auf ihren Rücken und begann, an ihren Fingerspitzen zu schnuppern und zu knapsen. Das kitzelt so, das ist unfair, kicherte Nynn unter der Decke in sich hinein.

Na gut, dachte sie. Die Herrin der Kälte mit ihren blöden Träumen und ihren unerbittlich schnurrenden Waldgeistern haben sich alle gegen mich verschworen.

Missmutig schlug sie die Decke zurück und sah in die schönsten bernsteinfarbenen Augen der weiten Welt. Zudem wurde sie angestupst und beharrlich beschnurrt. Nynn wunderte sich, dass ihre kleine Wildkatze sie so verschmust wecken wollte, da sie sonst eher ein verschlossenes, kratzbürstiges Wesen hatte.

»Flidy, was ist denn los mit dir? Du bist genauso schwer zu verstehen wie meine Träume. Sonst weckst du mich doch auch nicht. Obwohl du das gerne öfter machen könntest. Warte kurz, ich hatte gerade einen seltsamen Traum … Ich stehe ja schon auf und hole dir gleich etwas zu Fressen in der Küche.« Und schon war sie aus dem Bett draußen.

»Ach du dunkle Winterfae, was für eine Todeskälte im Zimmer«, fuhr sie erschrocken zusammen.

»Nynnnnnn«, hörte sie erneut den Weckruf ihrer Mutter.

»Augenblick noch, Mama«, rief sie hinunter. Rasch entledigte sie sich ihres Nachthemdes und zog ebenso schnell ihre Lieblingskleidung an. Sie mochte die weiche Wildlederhose mit den seitlichen Schnürungen wirklich gerne. Dazu ein frisches Hemd und ihre Wildlederjacke mit der verzierten Knopfleiste an der linken Seite, damit sie nicht überall hängenblieb, und dem bestickten, kleinen Kragen. Jetzt nur noch der weiche Schal. Gleich wurde ihr wärmer. Hastig kämmte Nynn ihre zerzauste, fuchsblonde Lockenmähne. Dann ging sie zur Galerie, wo die lange Ecktreppe von der ersten Etage runter in die Eingangshalle führte. Ihre Wildkatze folgte ihr auf dem Fuße.

Sie lebte mit ihren Eltern und ihrem Bruder tief im Wald in einem alten Jagdhaus aus Holz. Wie ihr die Eltern immer erzählten, handelte es sich bei ihrem Zuhause nicht um eine schlichte Jagdhütte, eher war es ein kleiner Landsitz mit schönem Hauptgebäude und meist ungenutzten Nebengebäuden. Mama meinte einmal, er müsste fünfhundert Jahre, vielleicht auch älter sein, und Papa fügte damals hinzu, dass der Baustil sogar noch älter sei, ländlich rustikal, aber mit dem typischen, leicht südländisch verzierten Flair. Noch immer war sich Nynn nicht ganz sicher, was er damit gemeint hatte. Vielleicht bezog sich das auf den Eingang und die danebenstehenden Säulen, in die geschwungene, geflochtene Verzierungen von rankenden Pflanzen und Waldtieren hineingeschnitzt waren. Oder hatte er das doch eher wegen der großen, hohen Eingangshalle mit der Galerie im oberen Stockwerk gemeint, die getragen wurde von vier großen, ebenfalls reich verzierten Baumstammsäulen?

Nynn erreichte den unteren Treppenabsatz. Ihre Mutter Sylva saß am großen Tisch, der sich in unmittelbarer Nähe des mannshohen Kamins befand, und kämmte sorgfältig ihre schwarzen Haare. Ihre dunklen Augen blickten etwas abwesend in die Glut des Kamins. Das Licht ließ sie noch dunkler erscheinen. Vorher war anscheinend ihr Schwert mit der Pflege dran gewesen, da es glänzend vor ihr auf dem Tisch lag. »In der Küche steht etwas zum Frühstücken für dich, du hast ziemlich getrödelt. Dein Vater und dein Bruder sind zur Jagd und machen ihren Rundgang durch den Wald.«

Das machten sie schon immer so, zumindest soweit sich Nynn daran erinnern konnte. In der Küche, die sich an die Eingangshalle anschloss, war es wohlig warm und nun bemerkte Nynn auch ihren Hunger. Bevor sie jedoch selbst etwas aß, bereitete sie etwas für ihre Katze vor, was Flidy natürlich dazu trieb, Nynn klagend maunzend um die Beine zu streichen.

Nynn ließ sie gewähren, stellte ihr das Futter hin, und machte sich anschließend über ihre lauwarmen Haferflocken mit Nüssen und etwas Trockenobst her.

Plötzlich sprang ihr Kätzchen von ihrem Schälchen auf, hoch zum Fensterbrett. Es fauchte aus dem leicht geöffneten Fenster und war sogleich nach draußen verschwunden.

»Och neiinnn, was hat denn diese verrückte Katze«, stöhnte Nynn auf und schlang den Rest ihres Essens in sich hinein.

»Königliche Hoheit, Prinzessin Nynn Sylvania Garaparth von Erynn, schling nicht so!«, schalt sie ihre Mutter, die von der Halle aus ihr hektisches Löffelgeklapper gehört haben musste.

Nynn zuckte immer etwas zusammen, wenn ihre Mutter ihren vollen Adelstitel benutzte. »Ja, ist gut, Mama«, stammelte sie mit vollem Mund.

Trotzdem stand sie auf, während sie noch kaute, und brachte ihre Schale zur Ecke für benutztes Geschirr am Spülstein. »Ich muss los, Mama, die Katze …«

»Nein, du bleibst hier und machst heute mehr Unterricht. Hilfst mir bei den Stickereien des Wandteppichs und im Haushalt. Du weißt genau, dass …«

»Ja, Mama, ich weiß, dass ich noch viel zu lernen habe«, erwiderte Nynn trotzig und stürmte zur Tür hinaus. »Ich bin mittags zurück.«

An der großen, schweren Holztür in der Eingangshalle schnappte sie sich ihren Bogen und Köcher, die in der Ecke standen und schlüpfte schnell ins Freie.

Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Die frostig kalte Luft kitzelte in ihrer Nase und das Licht fühlte sich noch nicht warm an auf ihrem Gesicht. Der Himmel war bleigrau. Er vernebelte durch ihren Atem und ein paar dunkle Wolken lagen dickbäuchig darüber wie ein vollgefressener Drache. Eine Windböe verstrubbelte ihr die wilden Locken. Nynn band sie sich mit einem geflochtenen Lederband zusammen und sprang die Verandatreppe hinunter.

»Aber nicht später als Mittag, verehrte Prinzessin«, hörte sie plötzlich die leise Stimme ihrer Mutter hinter sich. Also war sie ebenso schnell zur großen Tür gegangen. »Und vergiss das hier bitte nicht.« Sylva hatte die gefütterte, bestickte Kapuzenhaube in den Händen.

»Ja, danke, Mama.«

»Meine kleine, geliebte …«

»Nicht ‘klein‘, Mutter!«, trotzte Nynn wieder genervt dazwischen.

»Also gut, nicht klein. Meine dickköpfige, zauberhafte Prinzessin, wir wissen beide, dass dir der Unterricht schwerfällt. Du lässt dich schnell ablenken und übst zu wenig deine Vokabeln und Texte. Zum Mittag bist du zurück und die nächsten Tage wird wieder mehr Unterricht gemacht.«

Nynn ging zur Veranda zurück, sie konnte sich der sanften, aber bestimmenden Art ihrer Mutter kaum entziehen, umarmte sie kurz fest und lief los.

Kapitel 2: Den Flammen entkommen

Sylva stand noch einen Moment in ihren schweren Pelzmantel gehüllt auf der Veranda. Die schrägen Strahlen der Sonne brachen durch die tiefe Wolkendecke wie warme Bronze, aber sie brachten keine Wärme. »Wie schön und friedlich es hier eigentlich ist«, seufzte sie gedankenverloren in sich hinein. Doch trotz der eisigenStille breitete sich jeden Winter in diesem Wald eine Dunkelheit groß und drohend in ihren Gedanken aus.

Die Ruhe verblasste und wurde von ihrem jahrelangen Groll erstickt, der in ihr Erinnerungen hochkommen ließ, wie es zu all dem hatte kommen können.

Es war ein warmer Sommer gewesen im Jahr 1188 und das Königreich Erynn hatte geblüht. Dem Volk ging es gut und bis auf kleinere Grenzstreitigkeiten zwischen den eigenen Adligen gab es mit keinem anderen Königreich kriegerische Auseinandersetzungen. Die großen Schlachten hatten der Großvater Bearach sowie der Vater ihres Mannes, König Aeron Bearachion von Erynn, ausgefochten, gewonnen oder glücklich überstanden. Wenn nicht auf dem Schlachtfeld, dann mit ausgefuchstem Geschick. Damals lebte sie mit ihrem Prinzgemahl Branan seit acht Jahren auf der Burg von Erynn, und sie hatte sich dort trotz der mangelnden .Wärme, mit der sie im Süden aufgewahsen war, richtig wohlgefühlt.

Das Königreich Erynn war groß und landschaftlich sehr unterschiedlich. Weite, sanfte Hügel mit Wiesen und Weiden. Diese Weiden und Felder gingen fließend in ein raues, schier unendliches Gräsermeer über, angrenzend mit den tiefen Dunkelwäldern und den kalten Wäldern im hohen Norden. Die großen Wälder von Erynn, wie der ‘Flüsterwald‘ grenzten im Südosten an ihr Fürstentum Firennia. Dazwischen lag aber ein hohes Gebirge, die schneebedeckte Phalanier Bergkette. Man nannte sie auch die ‘Berge des Lichts in der Morgendämmerung‘. Die Bergkette schützte Firennia vor den kalten Winden des Nordens. Dort führten nur schmale Passstraßen hindurch nach Süden in das Fürstentum Firennia, aus dem sie stammte.

Ihre jetziges Reich entsprach nicht im Geringsten ihrer sonnenverwöhnten Heimat. Mit seinen weiten, sonnendurchfluteten Tälern, Weinbergen und Flüssen, dem riesigen, fischreichen See und steilen Hügeln mit Felsenkuppen und kleinen Bachläufen, war Firennia eine gänzlich andere Umgebung. Dort regierte ihre Schwester Alania.

Im Nordwesten und Westen grenzte Erynn mit der Küste an ein flaches, kaltes Meer.

Die alte Hauptstadt von Erynn mit ihrem Königssitz lag an dem Flüsschen Dubhglas unweit des Meeres. Die Königsburg befand sich an einem steilen Felsmassiv angelehnt und lag über der Stadt Caisleán Hornfels.

Der Höhepunkt eines jeden Jahres waren das Pferderennen und der Markt zum Sonnenradfest im Hochsommer. Zu diesen Festivitäten luden die Könige von Erynn auch die Adligen aus Nachbarländern ein. Die Pferderennen waren berühmt in allen Ländern. Es gab verschiedene Distanzen. Beim längsten und aufregendsten, das einmal um die gesamte Stadt führte, durften sich die Gegner auch gegenseitig mit hölzernen Waffen bekämpfen und vom Pferd stoßen. Zu diesem Anlass wurden die besten Pferde gehandelt, Söhne und Töchter wurden verheiratet.

Zu einer solchen Gelegenheit waren Sylva und ihr Gemahl sich zum ersten Mal begegnet, nämlich 1181 bei einer Gesandtschaft ihres Landes zu ihm nach Erynn. Seine Händler verkauften ihrem Hof die berühmten Pferde seines Landes. Der Prinz und einige Adlige begleiteten diese Reise. Er war wortgewandt und charmant, aber auch ein Träumer, der von der Vielfalt ihrer südländischen Kultur überwältigt war.

Als die Gesandtschaft ihres Vaters nach Wochen endlich ankam, wollte Sylva nichts anderes, als ein heißes Bad genießen, bevor sie dem König ihre Aufwartung machen würden. Sie war gerade dabei gewesen, sich mit den einfachen Gemächern abzufinden, als ein junger Ritter hineinstolpert kam. Offenbar hatte er sich in der Tür geirrt. Sofort ließ sie ihn durch eine Kammerzofe hinauswerfen.

Bei der Audienz stellte sie dann fest, dass der junge Ritter niemand anderes war als der Kronprinz Branan Aerion selbst. Verschmitzt schmunzelte er Sylva an und ihr wurde bewusst, dass er sich nicht wirklich geirrt hatte. So also hatten sie sich kennengelernt und dann auch ineinander verliebt. Manchmal kam Bran ihr wie ein ungehobelter Wilder vor, völlig unkultiviert, aber auch sehr romantisch.

Andererseits konnte sie ihn nicht mit ihrem Auftreten, den Gewändern und ihrer Kultur aus Firennia beeindrucken. Er wollte mit ihr reiten gehen. Das musste Sylva aber erst noch lernen. Zuerst fiel es ihr schwer, aber nach einiger Zeit fand Sylva es himmlisch, mit ihm über die Weiden und die Graslandschaft zu fliegen. Ein Skandal, wenn man zu Hause wüsste, dass sie ihre Haare offen trug. Nach einer Weile brachte er ihr den Schwertkampf bei. Ein Fehler, den er mit einigen leichten Blessuren schmunzelnd bereute, denn sie wurde seinem Urteil nach und zu seiner Verwunderung viel zu gut. Er beklagte sich einmal, sie hätte ihm im Training beinahe die Hand abgehakt. Sylva hingegen war davon überzeugt, dass er nur etwas gepflegt werden wollte. Diese Welt von Erynn war zu Anfang so ungewohnt für sie. Ein kompletter Gegensatz zu ihrem mit Licht überschütteten Firennia mit seinen leuchtenden Farben. Hier war es rau, ungehobelter, aber auch freier.

Kapitel 3: Erinnerungen in Flammen

Bis Sylva 1181 in der erynnischen Ritterschaft die ersten Frauen als Ritter kennenlernte, hätte sie dies nie für möglich gehalten. In Firennia war dieser Stand Männern vorbehalten. So stolzierten die Ritter bei Hofe wie Pfaue in der neusten Mode umher. Ihre Rüstungen glänzten, dass man sich darin spiegeln konnte. Im Gegensatz dazu bemerkten sie in Erynn erst nach Wochen, dass ihr Umhang schmutzig war.

Trotzdem fühlte Sylva sich unglaublich wohl, auch wenn sie gern ein wenig Kultur ihrer Heimat beibehielt. Lieder, Dichtkunst, ihre Schneiderin und der Wein waren das mindeste. Ihr Sohn Thauran war zwei Jahre nach der Hochzeit zur Welt gekommen, ihre Tochter Nynn zwei weitere Jahre später. Die Kinder waren gesund und das Volk freute sich mit der Prinzenfamilie. Sie waren glücklich.

König Aeron sah seine Enkelkinder selten. Das ärgerte Bran. Er hatte anscheinend keine leichte, innige Beziehung zu seinem Vater gehabt. Sie waren sich oft uneins gewesen. Eine Begebenheit war Sylva besonders in Erinnerung geblieben.

An diesem Tag waren fremde Schiffe aus dem Süden vor der Küste gemeldet worden, die anlandeten. In friedlicher Mission kam ein Prinzenpaar der Aulil da Sul Inseln zum Sonnenrad Pferderennen und um beim König eine Audienz zu erbitten. Begleitet wurde das Prinzenpaar von Prinzessin Sayvraen da Brezh von Aremarica. Die Adligen aus dem sonnigen Königreich im Südwesten trugen die elegantesten Gewänder, so leicht, dass sie bei jedem Lufthauch raschelten. Sie waren sich des Stands ihrer Kultur sehr wohl bewusst und zeigten es gern. Prinzessin Sayvraen war aber nur an Aerons Hof, um das Anliegen der Auliler zu belegen und zu unterstützen.

Die Auliler und Prinzessin Sayvraen von Armarica erschienen im Thronsaal in ihren leichten, leuchtenden Seidengewändern, die sich wunderschön von der dunklen Hautfarbe und ihren feinen Gesichtszügen abhoben. Das Glitzern des Sonnenscheins auf der Meeresbrandung flutete in den schummrigen Thronsaal. Die Gäste zogen die Blicke auf sich wie ein Strudel das Wasser und ein Raunen ging durch den Saal. Hinter ihnen folgten ihre Gardesoldaten mit ihren Bannern und Fahnen. Ein Farbenmeer floss zwischen die dunklen Säulen des Thronsaals. Die Wappen von Armarica mit dem weißen Greif und den silbernen Sternen auf dunkelblauen Grund und die Fahnen der Aulil da Sul Inseln mit dem Sternenhimmel und dem darunter springenden Delphin auf türkisblauen Grund füllten den Raum neben den Standarten von Erynn mit den silbernen Wölfen auf grasgrünem Grund und einer Standarte von Firennia mit einer silbernen Eule im grünem Baum auf korngelben Grund.

Mit dem Stolz eines ruhmreichen Seefahrervolks im Gesicht warteten die Auliler im Thronsaal auf König Aeron. Der Prinz trug über den Gewändern einen hölzernen Rüstungspanzer mit Silberverzierungen, die wie Fischschuppen glänzten. Arm- und Beinschienen waren aus einem sehr festen Holz und Kokosgewebe und ebenfalls silbern verziert. Bran argwöhnte leise, ob sie sich keine Rüstungen aus Eisen leisten könnten. Sylva zischte ihn kurz an, dass sie Branan als Seefahrer gerne in einer Eisenrüstung über die Meere segeln sehen mochte …

Er schwieg augenblicklich.

Sie kannte die Kultur der Auliler aus ihrer Heimat besser als er, denn Händler von den Inseln der Winde kauften in Firennia gern den berühmten Wein ein.

König Aeron Bearachion aus der Dynastie der Garaparthen erschien und die versammelten Soldaten und Berater verneigten sich. Bei offiziellen Anlässen trug Aeron seinen Wolfsumhang mit der königlichen Bordüre und dem großen Wolfsfellkragen. Darunter hatte er nur sein leichtes Lederwams angelegt, das auf der Brust mit prächtigen Verzierungen versehen war. Am Gürtel sein großes Schwert und in der Hand sein langer Speer, den er nicht nur für Zeremonien benutzte. Trotz seines Alters, das man ihm nur wegen seines grauen Barts ansah, war er eine imposante Erscheinung mit wachen, kritischen Augen. An den selten vorkommenden Anlässen neigte er dazu, sich etwas zu sehr in seiner Macht zu sonnen.

Das prahlerische Gehabe erinnerte Sylva leidlich an Firennia.

Zu seiner Seite standen Hoerne Grimm, sein Jagdaufseher und Jugendfreund, sowie der Hauptmann der Wolfsgarde, Sire Baedwyr Phelan.

Dieser begrüßte das Prinzenpaar der Aulil Inseln. Baedwyr Phelan trug seine alte zerkratzte Rüstung und den Wolfsumhang. Seinen zu einem Wolfskopf verzierten, glänzenden Helm hielt er im Arm. Ausnahmsweise war sein grauer Bart frisch gestutzt. Er stützte sich auf seine lange schmale Axt, die er auch als Gehhilfe benutzte. Das Prinzenpaar wurde nochmals von ihrem adligen Legaten Paraygh vorgestellt. Man bedankte sich und lobte das spannende Sonnenrad Turnier, die Festlichkeiten und die schönen Pferde. Die Auliler hatten noch nie Pferde für ihr Königreich gekauft, da sie auf den Inseln keinen Nutzen hatten.

Nach wohlwollendem Kopfnicken Aerons wurden sie ernst und berichteten von der bedrohlichen Situation in Armarica. Der neue junge Hohepriester des Sonnenkults von Aremarica stachelte den alten König auf, einen Seekrieg gegen ihre Inseln zu führen. Einen Krieg, den beide Völker nicht wollten und bei dem es nur Verlierer geben konnte. Er bedrohte ihr Land sowie ihre Freiheit und sie baten um Hilfe.

Prinzessin Sayvraen bestätigte die gefährliche Situation und zog sich zurück. König Aeron Bearachion grübelte lang, anscheinend unschlüssig und in Gedanken versunken. Der Hofstaat wurde unruhig und man tuschelte.

Schließlich erhob er sich mit einem Ruck und musste mit Bedauern ablehnen, da er sein Land nicht in den Krieg hineinziehen wollte. Der Prinz der Aulil Inseln versuchte verzweifelt, Aeron umzustimmen, doch der König blieb hart.

Währenddessen wurde Macheáia, die Auliler Gemahlin des Legaten, unruhig, als sie den Thronsaal mit Blicken absuchte. Leise, aber mit bestimmendem Ton befragte sie ihre Bediensteten. Sie vermisste ihre kleine Tochter. Auf einmal war die Aufregung groß, denn diese war nirgends zu finden. Unruhe machte sich in der Menschenmenge breit. Man suchte im ganzen Thronsaal und den umliegenden Gängen. Endlich fanden sie die Kleine im kleinen Burggarten seitlich des Thronsaals.

Die kleine Qushana saß auf dem Boden und spielte mit der gleichaltrigen Nynn und dem kleinen Prinzen Tarys von Armarica zwischen den Obstbäumen.

Tarys Mutter Sayvraen hatte sich nach ihrer Bestätigung der Schilderung des Prinzen von Aulil zurückgezogen und den Kindern erlaubt zu spielen. Die Mädchen verstanden sich sofort und Tarys war sehr lieb zu Nynn. Die Mütter waren froh, ihre Kinder spielen zu sehen. »Qushana, Fuacuore …‘erzchen. Was machst du auf dem Boden? Die Kleider …«

Prinzessin Sayvraen musste milde lächeln. »Entschuldigt, verehrte Gesandtin Macheáia, in diesem Land erlauben sie den Kindern, auf dem Boden zu spielen.«

»Sie tragen aber auch selten so schöne Kleider wie Qushana«, beschwichtigte Sylva Micheáia.

Diese lächelte. »Eines Tages, werden sich unsere Kinder zur Hilfe kommen «

»Das will ich hoffen«, sagte Sylva entschuldigend an sie gewandt.

Nur wiederwillig gingen die Erwachsenen, ohne die Kinder, zurück zur Audienz und zu dem Streit. Da Aeron hart geblieben war, zogen sich die Auliler unzufrieden auf ihre Gemächer zurück. Bran war nach der Audienz aufgebracht, da er den Aulilern gerne geholfen hätte, und zwischen Vater und Sohn entbrannte ein Streit. König Aeron gab aber auch nach einigen Tagen nicht nach und die Auliler reisten enttäuscht ab.

Wenige Wochen später kam es jedoch zu einem Ereignis, das alles ändern sollte. König Aeron hatte einen schweren Jagdunfall. Als leidenschaftlicher Jäger ging er manchmal leichtsinnig Risiken ein. Bei einer Jagd setzte er sich von den ihn begleitenden Rittern ab und verfolgte im Gräsermeer eine kleine Herde Wisents, die heimischen wilden Büffel. Was danach passierte, konnte nur vermutet werden. Der König erlegte offenbar mit seinem Speer ein junges Wisent. Als er vom Pferd gestiegen war, überraschte ihn wohl ein gewaltiger Wisentbulle. Die Hufabdrücke, die das Tier im Gras hinterlassen hatte, waren unglaublich.

Es gab die Legende von einem riesigen Wisentbulle im Gräsermeer, bei dem es sich um den ‘König der Büffel‘ handeln sollte. Man nannte den Büffel Donnachadh. ‚Donnach der Donnerer‘, weil unter seinen Hufen angeblich die Erde erzitterte. Er galt als unbesiegbar und schützte seine Herden. Die pure Kraft des Landes sollte ihn durchströmen.

König Aeron war nur mit Jagdmesser und Speer bewaffnet gewesen. Er schien nicht zum Pferd zurückgelaufen zu sein, sondern wollte wahrscheinlich den Kampf mit dem Bullen aufnehmen. Sein Leichtsinn kam ihm teuer zu stehen. Den Spuren nach preschte der Bulle nur einmal auf ihn los. Er verletzte ihn schwer mit einem Horn und trampelte über ihn hinweg. Die Jagdgefährten fanden den blutenden König bewusstlos und brachten ihn in die Burg zurück. Die Bevölkerung am Wegesrand war zutiefst erschrocken. Man brachte ihn in seine Gemächer. Bran und Sylva eilten zu ihm. Die Hofheiler machten ihnen keine Hoffnung, zu schwer waren seine Verletzungen. Seinen Gesichtsausdruck konnte man kaum deuten, so schwach war er.

Der König winkte Bran zu sich heran und flüsterte: »Ich habe immer nur das Beste gewollt, für das Land, das Volk … für dich … Bitte verzeih mir, dass ich das als Vater und Großvater nicht besser konnte …«

Um mit Vorwürfen zu antworten, war es zu spät, deswegen nickte Bran einfach nur und drückte seine Hand. Danach verließ er wortlos die Gemächer. Er trauerte, aber nicht bitter.

In einer feierlichen Zeremonie wurde König Aeron Bearachion Garaparth von Erynn im Hügelgrab der Familie Garaparth vor den Toren der Stadt bestattet und Prinz Branan Aerion Garaparth zum König von Erynn gekrönt.

Bei der Bestattung entstand plötzlich unruhiges Gemurmel. Es fiel auf, das König Aerons Speer fehlte. Der sollte dem Verstorbenen eigentlich mit ins Grab gelegt werden.

Bran interessierte diese Tatsache nicht und er ließ die Zeremonie weiterführen. Er gelobte, das Land und seine Bevölkerung zu schützen, und beschäftigte sich in den folgenden Wochen mit dem Hof.

Für eine kurze Weile schien es wieder friedlich zu sein. Bran versuchte den Aulilern Nachrichten zukommen zu lassen, doch die Botschaften schienen nie anzukommen.

Im Spätsommer hing die Hitze schwül und dumpf, fast gewitterschwer über dem Land. Zu dieser Zeit wurde von einer unkontrollierten Ausdehnung der Rattenplage im Land berichtet und Krankheiten breiteten sich aus. Der junge Sohn des neuen Königspaares Thauran wurde ebenfalls schwer krank. Der Junge hat tagelang Fieber und konnte sich kaum bei Kräften halten.

Die Hochdruidin Vyleada und ihre Hofheilerinnen waren ratlos und wollten die Orakel befragen.

Dann hörte man in der Stadt von einer alten Frau aus der Fremde, die Kranke auf dem Markplatz heilen würde. Die Menschen fühlten sich nach einem Besuch bei ihr angeblich gesünder, kräftiger und von ihren Leiden geheilt. Bran und Sylva ließen in ihrer Not nach ihr rufen.

Im Thronsaal wartete die alte Frau, gebückt und gebrechlich wirkend. Im Gegensatz dazu funkelten ihre hellen Augen wach, auch wenn Strähnen ihres grauen Haars das hagere Gesicht halb verdeckten. Der dunkle Umhang, in den sie gehüllt war, schien abgetragen und wies einige Flecken auf. Wie sie dastand, gestützt auf ihren Stock, wirkte sie verletzlich.

Zunächst hatte die Königsfamilie wenig Zutrauen. Sylva hielt Thau auf dem Arm.

»Ihr seid also die Frau, die man auf dem Markt die Kräuterkundige nennt?«, fragte König Branan abschätzend.

»Nun ja, Sire … ähh Majestät …«, verbesserte sie sich.

Sylva betrachtete die Nennung des falschen Titels als Beleidung, behielt diese Meinung aber für sich.

»Man sagt so einiges über mich, obwohl ich doch nur ein wenig über Kräuter weiß«, gab sie bescheiden zu.

Sylva zögerte, doch dann weinte Thau plötzlich leise und sie ging einen Schritt auf die angebliche Heilerin zu »Gute Frau, was fehlt unserem kleinen Prinzen? Bitte, können Sie etwas tun?«

Die Alte betrachtete ihn lange und berührte ihn mit ihren knochigen Fingern an der Stirn und den Wangen. »Ich kann nichts Ungewöhnliches an dem Jungen erkennen, euer Hoheit.«

Doch Thau war plötzlich munter und aufgeweckt. Wie geheilt, kaum dass die Frau ihn berührte hatte. Sylva konnten es kaum fassen. »Ich bin sprachlos … Wir hatten fast alle Hoffnung schon verloren«, sagte sie erlöst und war überglücklich. Vor Glück liefen ihr Tränen über die Wangen. »Wie ist Euer Name? Was sind das für Heilkünste? Wie können wir Euch jemals danken, gute Frau?«

Da erhob die alte Frau ihre Stimme, erst ganz leise kichernd dann schallend lachend und eine tödliche Kälte war plötzlich in der Halle zu spüren.

»Mein Name ist Morna, die Schattenflüsterin und Herrscherin der Dunkelheit, euer Hoheiten, und Ihr könnt mir danken. Da ich Eures Prinzen Leben gerettet habe, gehört er nun mir! Der Thronfolger des Königreichs von Erynn ist in meiner Hand. Sein Leben werde ich verschonen, wenn Ihr meine Bedingungen erfüllt.«

Wie vom Blitz getroffen erstarrte Sylva.

Bran wurde zornig und zückte sein Schwert, um die alte Frau zu erschlagen. Bevor er jedoch ausholen konnte, begann Thau leise zu wimmern, als hätte er Schmerzen.

Sylva hielt ihn schützend im Arm, ging dazwischen und zischte die Hexe an: »Und wenn es das Letzte ist, was ich vor meinem Tod vollbringe, so werde ich Euch mit bloßen Händen töten, wenn Ihr meinem Kind noch mal zu nahekommt oder ihm Schmerzen bereitet.«

Morna schien etwas verunsichert, wartete. Doch dann erwiderte sie leise: »Es gibt nichts, das Ihr machen könnt, euer Hoheit … Euer aller Leben endet heute auf der Burg, hier.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und schritt hocherhobenen Hauptes aus dem Thronsaal. Ihr Gang und ihre Haltung waren alles andere als gebrechlich eher königlich. Bran wollte sie aufhalten lassen, doch Sylva hielt ihn davon ab.

»Lasst sie gehen und geleitet sie aus der Burg!«, rief sie den Wachen zu.

Sie zogen sich auf ihre Gemächer zurück, wo die Amme mit Nynn wartete. Thau ging es wieder gut, als wäre er nie krank gewesen. Die Amme verließ die Gemächer. Schockiert von dem, was eben passiert war, setzten Bran und Sylva sich aufs Bett. Nach einiger Zeit seufzte sie.

Euer aller Leben endet heute auf der Burg hier.

Die Worte hallten immer noch in ihrem Kopf. Wie war das möglich? Warum?

»Wir müssen etwas unternehmen, meine Flamme.«

»Nur was, Bran?«

Der König zuckte mit den Schultern.

»Sie hat die Kraft, aus der Ferne anderen, vor allem Thau, Leid zufügen zu können. Sie wird wiederkommen – vielleicht schon morgen!«, befüchtete Sylva und ließ sich mit dem Rücken aufs Bett sinken. Thau sprang einfach auf und spielte mit Nynn. Die beiden waren so süß anzusehen.

Bran betrachtete sie auch. »Wenn wir nicht kämpfen können, ist die Lage also aussichtslos«, bemerkte er trocken.

Sylva hing bleiern ihren Gedanken nach. Nach langer Zeit des Grübelns sagte sie: »Wir müssen hier und heute sterben, um zu leben, mein Geliebter.«

»Was? Aufgeben?« Er sprang auf und schaute sie entsetzt an.

»Nein, beruhige dich bitte, Bran. Ich weiß, dass du kämpfen möchtest. Aber ich sehe keinen Ausweg. Wir müssen die Kinder retten. Das Königreich ist ab heute verloren.«

In dem Augenblick kam die kleine Nynn zu Sylva herüber getapst. »Ninni un Thau Ve‘teck spien?«, brabbelte sie und schaute ihre Eltern mit ihren großen hellblauen Augen bittend an.

»Nein, mein Schatz, wir können nicht.« Sylva erhob sich vom Bett und sagte mit klarer, deutlicher Stimme: »Branan Aerion, mein geliebter Mann und König, wenn wir heute sterben müssen, dann werden wir das tun!«

»Bist du von Sinnen, Syv?«

»Nein, ich sehe ganz klar. Nynn hat mich eben auf die Idee gebracht. Wir müssen fliehen. Dazu täuschen wir unseren Tod vor und verstecken uns im Flüsterwald auf dem alten Landsitz meiner Verwandten.«

»Bist du verrückt? Du weißt, wie weit der Weg dorthin ist, außerdem ist es zu gefährlich im Flüsterwald.«

»Hast du einen besseren Vorschlag, Bran? Ich war das letzte Mal als kleines Mädchen dort und erinnere mich kaum. Aber ich weiß sehr wohl, dass der Wald früher ein Teil von Firennia war. Er gehört schon lange zu Erynn, aber die einfachen Leute fürchten ihn immer noch.«

Bran grübelte, erhob sich langsam und ging dann wortlos zur Kammertür, um nach der Amme zu rufen. »Bringt uns glühende Kohlen für den Kamin. Der Königin ist kalt.« Er schloss die Tür, lächelte sie wissend an. »Ein Feuer, also …«, meinte er nachdenklich.

Wortlos eilte Sylva zu den Kleidertruhen und fing an, das Nötigste zu packen. Bran suchte Waffen und die Kuscheltiere der Kinder zusammen. »Wo ist das verd- Holzpferd?«

Es klopfte an der Tür ihrer Schlafgemächer. Er öffnete. Die Amme stand mit geröteten Augen und zwei schweren Blecheimern mit glühenden Kohlen in den Händen vor der Tür. »Ist das wahr, was man sich in der Küche erzählt EuerMajestät?«, schniefte sie.

Bran nahm ihr die Eimer ab und Sylva schloss sie in die Arme. »Ja, es ist wahr, Amme Maren. Wir werden von einer schrecklichen Hexe bedroht.« Sie streichelte ihr beruhigend über den Rücken.

Nynn zupfte währenddessen an dem Rock von Maren. »Mare spieeen?«

»Amme, machen Sie sich bitte keine Sorgen. Eines Tages wird alles gut. Aber bitte bringen Sie die Kinder zum Baden.

»Danke.« Die Amme schniefte nochmals und nahm die Kinder an den Händen, die sich plötzlich aufs Baden freuten, und verließ die Gemächer.

Bran schloss die Tür ab, drehte sich zu seiner Gemahlin um und sie fielen sich in die Arme, weinten und küssten sich. Bran füllte den Kamin mit den Kohlen und packte noch Holz darauf. Kleider und Waffen wickelten sie in Decken ein und ein paar persönliche Dinge packten sie in Säcke. Danach verstauten sie alles im Nebenraum und riefen nach den Bediensteten.

»Wir möchten in unseren Gemächern zu Abend essen, nicht im Speisesaal.«

Die Amme brachte etwas später die gutgelaunten Kinder und die Diener servierten ein üppiges Abendessen.

»Danke, wir möchten nach dem Essen nicht mehr gestört werden«, sagte Bran zu den Bediensteten. »Bringt uns Wein.«

»Mehr Wein!«, fügte Sylva schnell hinzu.

Sie aßen schweigend, aber entschlossen und drückten sich zwischendurch die Hand. Dann legten sie die Kinder zum Schlafen im Nebenraum in ihre Betten. Thau rieb sich die Augen, wunderte sich kurz über die Säcke und Deckenbündel, war aber zu müde, um danach zu fragen. Nynn war nach dem Baden und Abendessen schon fast eingeschlafen. Bran öffnete noch eine Flasche Wein, schenkte ihnen ein und verstaute den Rest tief in einem der Säcke.

Die Gemächer im Burgfried grenzten mit einem Fenster nah an einen Teil der darunterliegenden Burgmauer. Als die Kinder eingeschlafen waren, tranken sie aus und verabschiedeten sich mit Wehmut von ihrem alten Leben.

»Der Tag wird kommen, an dem wir kämpfen können, aber er ist nicht heute und auch nicht morgen«, tröstete Sylva ihren Mann.

Beide zogen ihre robuste Jagdkleidung an.

Bran warf ein Seil aus dem Fenster und befestigte es innen an einem Fachwerkbalken. Traurig fragte er: »Wo sind deine Festkleider, Liebes?«

»In dem Sack, den du als Erstes fangen wirst!«, blaffte Sylva ihn kurz an und legte mehr Holz in den Kamin. »Ein einziges Kleid, Liebster, die anderen liegen in der Wohnstube, vor dem Kamin, auf dem Boden … Sie werden gut brennen.«

»Alles gut. Ich hoffe, wir haben auch an die wichtigen Sachen gedacht«, meinte er zustimmend. Aufgeschreckt sprang er zurück zur großen Truhe und nahm einen großen Lederbeutel mit Wappenstickerei und seinen Wolfsumhang heraus und sah sie verlegen an.

»An alles gedacht, der Herr?«, hakte sie bissig nach.

Er reichte ihr den Beutel und schaute nachdenklich auf den dunklen Mantel in seinem Arm.

»Schatz, der Mantel ist zwar groß und schwer, aber ein Zeichen deiner Ritterwürde. Nimm ihn mit.«

»Nein, aus genau diesem Grund muss er bleiben!«, sagte er trotzig zu sich selbst, warf ihn auf den hochlehnigen Stuhl am Esstisch und seufzte kurz.

Sylva wusste, wie sehr er an dem Mantel hing. Er war ihm in einer feierlichen Zeremonie als junger Mann vom Jagdaufseher und im Beisein der königlichen Familie verliehen worden. Obwohl er wegen seines eigenen Kopfes immer ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater gehabt hatte, erfüllte Brans Aufnahme in die Ritterschaft beide mit Stolz. Vermutlich, weil sein Vater immer geglaubt hatte, Bran wäre nicht reif, für die Ritterwürde.

Aber er hatte völlig recht damit, seinen Umhang zurückzulassen. Niemand würde glaube, dass er ohne diesen geflohen wäre. Ein Wolfsritter lässt seinen Umhang nicht zurück.

Als es dunkel war, seilte sich Bran zum offenen Wehrgang der Mauer ab.

Sylva hatte die schlafende Nynn in ein Deckenbündel geschnürt. Zum Glück hat sie einen tiefen Schlaf, dachte sie sich und warf Bran einige Säcke zu, wiederum andere seilte sie ab. Dann ließ sie Nynn zu Bran hinunter, der sie unten behutsam zwischen die Säcke legte. Zum Schluss weckte sie Thau und erklärte ihm das nächtliche Abenteuer.

Er zog sich an und sie band ihn mit einem Seil an und ließ ihn zu Bran hinab. Nach einem letzten Blick in ihre Gemächer entzündete sie eines ihrer schönen Kleider und warf es auf den Teppich unter dem Holztisch, ein weiteres ins Bett und noch eines in die Holztruhen. Sie wischte sich eine Träne ab, als die Flammen plötzlich aus einem leichten ersten Züngeln aufschossen und seilte sich ab. Unten auf dem Wehrgang konnte man schon den Feuerschein aus dem Fenster erkennen.

»Gut gemacht, Syv.«

Unterhalb dieses Mauerabschnitts waren in den letzten Jahren starke Sträucher gewachsen, in die sie die Säcke hineinwarfen. Wieder seilte sich erst Bran, dann die Kinder und Sylva zuletzt ab.

Unten angekommen, blickten sie kurz zurück und sahen die Flammen aus den Fenstern lodern. Die Wachen schlugen Alarm. Der Burghof war in Aufruhr.

Während des Abseilens hatte die kleine Nynn noch geschlafen, doch mittlerweile hatte sie die Augen aufgeschlagen und sah direkt in die Flammen. Bran beruhigte sie und Nynn schlief wieder ein.

»Wir schleichen uns in dem Durcheinander zu unserem Jagdaufseher Hoerne Grimm durch. Sein Hof liegt kurz vor der Stadt«, sagte Bran entschlossen.

Sie versteckten die Säcke unter den Sträuchern und zogen, in die alten dunklen Umhänge gehüllt, durch die engen Gassen in Richtung Stadttor. In der Gegend rund um den Marktplatz war die Aufregung inzwischen ebenfalls zu hören.

Sylva erschrak zutiefst, als ihr eine ganze Rotte von Mäusen oder anderen Nagetieren über die Stiefel huschte.

»Hast du die Viecher gesehen?«, fragte Bran. »Ich muss unbedingt dem Hauptmann Murchardh der Stadtwache ... Nein, darum müssen sie sich selbst kümmern«, stockte er bitter.

Sie huschten weiter von Hausecke zu Hausecke.

»Wann ist das Abenteuer denn fertig?«, fragte Thau.

»Wir müssen es bis zum Weidentor schaffen, das ins Landesinnere führt«, erklärte Sylva ihm.

»Ach sooo, Mama. Warum sagst du das nicht gleich? Wir nehmen den falschen Weg. Der hier ist kürzer.«

Verwundert schaute Sylva ihren Mann an und sie folgten ihrem fünfjährigen Sohn, der die Gassen offenbar besser kannte als Bran oder sie. Er spielte oft mit seinen Freunden am Marktplatz und den angrenzenden Gassen und Höfen. Nach vielen engen verwinkelten Hinterhöfen und schmalen Wegen waren sie kurze Zeit später tatsächlich am Stadttor angekommen.

Die Wachen gestikulierten aufgeregt in der Ferne. Das Feuer im Wohnbereich der Burg war weithin zu sehen. So spät am Abend beachteten die Wachen sie mit der Aufmerksamkeit, die man einfachen Bauern entgegenbringt.

Niemand hielt sie auf, sie konnten einfach passieren.

Kaum traten sie mit den Kindern durch das Stadttor, bemerkten sie eine flackernde Helligkeit am Nachthimmel hinter ihnen.

Sylva drehte sich noch einmal um und sah auf dem Burgberg in der Ferne ihr Zuhause lichterloh in Flammen stehen. Tränen schossen ihr in die Augen und sie wollte sich zwingen, den Blick abzuwenden, um nicht zusammenzubrechen, schaffte es aber nicht.

Bran bemerkte, wie sie verharrte, nahm sie sanft an den Schultern und drehte sie um.

Auf einmal ging alles, was sie sicher geglaubt hatten, in Rauch auf.

Thauran war schon vorausgelaufen und Nynn schlief in ihrem Deckenbündel. Das war jetzt wichtiger …

Die beiden Wachen riefen ihnen noch irgendetwas hinterher, aber sie gingen in ihren dunklen Kapuzenumhängen weiter und hofften, den Eindruck von einfachen Leuten aufrecht halten zu können. Die Stadtwachen interessierten sich glücklicherweise mehr für das Feuer und ließen sie schließlich in Ruhe.

Obwohl er gerade gesehen hatte, wie die Burg seiner Vorfahren in Flammen aufging, war Bran unglaublich gefasst.

Als sie am Gehöft von Hoerne Grimm ankamen, war es bereits tiefe Nacht. Nynn war aufgewacht und ziemlich unruhig.

Zu ihrer Erleichterung öffnete Hoerne selbst die Tür und nicht einer seiner Jagdgehilfen, die manchmal noch spätabends bei ihm zu Gast waren.

Sie schlüpften hinein.

Die erste Last fiel von Sylva ab und sie musste sich setzen. Sie schluchzte tief in ihre Hände und verbarg das Gesicht, um sich zu sammeln. Glücklicherweise lebte der alte Griesgram allein, seit seine Frau gestorben war.

Die Kinder hatten Hunger und es duftete köstlich. Hoerne hatte Kanincheneintopf mit Kräutern und Gemüse gekocht. Alle aßen noch mal mit Appetit und es gab Bier für die Erwachsenen sowie Milch für die Kinder, die aber schnell müde wurden.

Normalerweise mochte Sylva das dunkle Bier in diesem Land nicht sonderlich und bevorzugte den Wein ihrer Heimat, aber an diesem Abend schmeckt es ihr wunderbar. Sie stürzte den ersten Becher mit großen Schlucken herunter.

»Schatz, das hättest du früher sagen können, dass wir erst unsere Burg anzünden müssen, bis dir unser Bier schmeckt«, neckte Bran sie und streichelte ihre Hand.

Hoerne musste trotz der Gefahr, in der alle schwebten, auch kurz schmunzeln. Er war nie nur ein höfischer Diener der Königsfamilie gewesen, sondern eher ein väterlicher Freund. Den Sohn des Königs hatte er aufwachsen gesehen, ihm Reiten, Kämpfen und Jagen beigebracht und ihn außerdem auf die Wolfsgarde vorbereitet.

Nach dem Essen legten sie die Kinder wieder ins Bett und erklärten Hoerne, was vorgefallen war und ihren Plan. Er hielt viel von der Idee, im Flüsterwald Zuflucht zu suchen, da sich nur wenige Leute dort hin trauten.

Der Wald galt als düster und geheimnisvoll.

Sylva wurde mulmig, denn den Weg dorthin kannte sie nicht mehr. Aber mit der Aussicht auf eine geheime Zuflucht nahm sie noch einen Schluck.

Hoerne tätschelte väterlich ihre Hand mit einem Augenzwinkern, schenkte ihr nach und blickte ins Feuer des Kamins. »Der Wald wird seit alters her von mehreren undurchdringlichen Baum- und Dornenhecken geschützt. Die Bäume sind bizarr verdreht und haben dicke Stämme. Die Hecken sind unheimlich und sehr dornig. Ein Bach entspringt hinter den Hecken, im Wald und fließt durch die Hecken hindurch. Den Weg durch diese Hecken zu finden ist unmöglich. Aber ich kenne ihn. Man erzählt, dass diese Hecken vor Hunderten von Jahren wuchsen. Der Wald gehörte damals noch zu Eurem Fürstentum Firennia und man wollte sich vor dem feindlichen Erynn und seinen wilden Reitern schützen. Damals gab es im Wald noch viele kleine Siedlungen, die später allmählich alle verschwanden. Der Wald weckte viele Begehrlichkeiten bei den alten Erynniern, denn Holz als Baumaterial war für die Könige sehr wichtig. Doch die Firennier pflanzten eine dichte Hecke, manche sagten, mit Zauberei. Deswegen dichtete man ihm die geisterhaftesten Geschichten an.«

Hoerne zögerte keine Sekunde mit seiner Antwort: »Ihr könnt Euch immer auf mich verlassen, Bran und Euer Majestät Königin …«

»Nennt mich bitte einfach Sylva, Meister Hoerne.«

»Gern, für die Zukunft, Dame Sylva, aber jetzt gönnt euch alle etwas Ruhe. Ich bereite alles für morgen früh vor.«

Vor Morgengrauen weckte er sie mit einem kleinen Frühstück und vier gesattelten erynnischen Pferden im Stall. Eines davon war schon mit den Säcken bepackt, die sie unter den Sträuchern versteckt zurückgelassen hatten.

»Thauran, das Abenteuer geht noch etwas länger, mein Schatz. Heute werden wir reiten.«

Bevor sie gemeinsam aufbrachen, übergab Bran Hoerne den Lederbeutel mit der Wappenstickerei. »Falls uns etwas zustößt, darf sie nicht in ihre Hände kommen.«

Der Jagdaufseher blickte in den Beutel. »Eure Entscheidung, Bran. Es muss schmerzen und beweist doch große Weisheit. Die Krone von Erynn wird niemals in ihre Hände kommen, das verspreche ich Euch.« Er griff in den Beutel, entnahm ihm die schmale goldene Krone und riss plötzlich energisch etwas heraus.

Bran erschrak.

»Und jetzt, Sire, passt sie auch niemanden mehr außer dem rechtmäßigen König von Erynn.« Damit übergab er Bran das gestickte Lederband, mit dem die Krone am Kopf des Trägers hielt.

Diese Stirnbinde trug Bran seitdem jeden Tag.

Die Familie und Hoerne ritten bis in den Mittag hinein und hielten sich von allen Siedlungen fern. Allen Gehöften auf ihrem Weg wichen sie aus und erklärten den Kindern, dass sie nur einen Ausflug machen würden.

Es schreckte Sylva sehr, denn es schien Thauran wieder schlechter zu gehen. Er war gerötet, fieberte und war kaum noch bei Bewusstsein. Sie trieb ihr Pferd an.

An der Grenze zum Wald angekommen, mussten sie sich kurzzeitig vor einem Schweinehirten verstecken, der seine Tiere am Waldrand fressen ließ. Dann waren sie allein. Der Wald lag vor ihnen wie eine dunkle, lebende und sich bewegende Festungsmauer. Ob die Bäume sie beobachteten? Wie wollten sie hier eigentlich ohne Hoernes Hilfe durchkommen?

Der Jagdaufseher zeigte ihnen einen niedrigen Durchschlupf, der einem Wildwechsel von kleinen Tieren zu folgen schien. An dieser Stelle mussten alle kriechen und unter Wurzeln hindurch krabbeln. Hoerne kroch voraus und der Pfad änderte oft seine Richtung, überquerte tiefliegende Wurzeln in andere Richtungen und ging mehrmals auch nicht am Boden, sondern in den Ästen weiter. Wegen der Kinder mussten sie mehrere Pausen machen und ihnen helfen, über größere tiefhängende Äste nach oben und von Baum zu Baum zu klettern, bis ein neuer Wildwechsel sich in anderer Richtung fortsetzte.

Ohne Hoerne hätten sie sich völlig verirrt, nicht mehr vor noch zurück gewusst. Sie wären mitten in diesen Hecken verhungert.

Als sie sich aufrichten konnten, war es dunkel um sie herum. Sie standen in einer riesigen dunklen Halle von Bäumen.

Die in Ehrfurcht gebannte Stille wurde plötzlich von Nynns Prusten durchbrochen: »Mam, ganz ‘mutzig« sagte sie und fing an zu glucksen.Thauran fiel in Nynns Prusten ein und sah seine Mutter mit wachen Augen an

»Aber wir bekommen geschimpft, wenn wir uns schmutzig machen …«

Vor Glück traten Sylva die Tränen in die Augen, war der Fluch etwa gebrochen? Das wussten sie nicht. Vielleicht glaubte die Hexe, sie wären tot.

Auf jeden Fall waren sie völlig verdreckt. Mit einer stummen Umarmung verabschiedeten sie sich von Hoerne. Bevor er den Rückweg zu den Pferden antrat, drehte er sich noch einmal kurz zu ihnen zu, nickte, ging in die Hocke und verschwand kriechend in den dichten Hecken.