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Jukka - halb Hund, halb Kojote - findet sich im Schlaf stets in der Weißen Hölle wieder: einer surrealen und bedrückenden Welt. Sie wieder zu verlassen, scheint jedes Mal schwieriger zu werden. Eines Nachts begegnet er dort dem Kojoten Kaifek. Obschon Kaifek alles andere als vertrauenswürdig ist, könnte er Jukkas einzige Hoffnung sein, sich endlich von der Weißen Hölle loszusagen. Doch welches Ziel verfolgt Kaifek - will der Kojote ihm tatsächlich helfen? Und was für ein Ort ist die Weiße Hölle wirklich? Eine surreale Phantastik-Novelle über Schuld und Verantwortung, Zuversicht und Verzweiflung.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Sarah. Möge die Weiße Hölle dir für immer fernbleiben.
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
Jukka
Kaifek
An dich
Jukka war unwohl zumute.
In letzter Zeit fühlte er sich immer so, kurz bevor er schlafen ging. Unruhig, nervös … gar ängstlich?
Blödsinn.
Weshalb sollte er ängstlich sein? Nur wegen dieser bizarren Welt, in der er sich im Schlaf wiederfand? Nein, auf keinen Fall! Selbstverständlich fürchtete er sich nicht vor dieser fremden Welt, ganz und gar nicht. Klar, sie war auf eine gewisse Art unheimlich, und Jukka hatte nicht die geringste Ahnung, warum er während des Schlafens immer wieder dort landete. Aber nichtsdestotrotz war diese Welt ein Traum, sie existierte nur in seinem Kopf. Nur Welpen fürchteten sich vor Träumen, und er war kein Welpe mehr, er war erwachsen. Er hatte einen flinken und starken Körper, einen kräftigen Kiefer voller Zähne, und er wusste sie zu benutzen. Warum also hätte er sich fürchten sollen? Allein die Vorstellung war unsinnig.
Abgesehen davon … war er noch gar nicht sonderlich müde. Schlafen konnte er später. Der Sonnenuntergang war viel zu prächtig, als dass er ihn versäumen wollte. Über diese Unannehmlichkeit mit der Traumwelt konnte er sich wieder Gedanken machen, sobald es so weit war.
Gemächlich trottete er über die Wiese zurück zum Schrein. Er hatte dem Bach noch einen Besuch abgestattet, um seinen Durst zu stillen, und jetzt befand er sich auf dem Rückweg. Die Abendsonne schien hinter den niederen Bergen hervor, warf ihre gebündelten Strahlen über das Tal und färbte alles in orangenes Licht. Jukkas Pelz wärmte sich angenehm auf, und er kniff die Augen zusammen, als die aufdringliche Helligkeit ihn blendete. Tief atmete er die würzigen und zitrischen Düfte der Stauden ein – Melissen, Glockenblumen, Margeriten –, die ungeniert überall sprossen. An diesem Abend herrschte wieder völlige Stille, weder das Zwitschern der Rotkehlchen noch das Summen der Bienen und Hummeln begleiteten Jukka auf seinem Weg. In letzter Zeit fiel ihm das wiederholt auf – die Geräusche in seinem Tal schienen zu schwinden. Wenn er Laute vernahm, dann nur schwach, als befänden sich die Verursacher unendlich weit entfernt. Als ob sich die Lebendigkeit von der Umgebung loslöste und verblasste. Das war merkwürdig. Aber es beunruhigte ihn nicht sonderlich. Möglicherweise bedeutete es nur, dass die Welt allmählich ihrem Ende entgegenging, dass sie bald sterben würde. Diese Theorie kam Jukka sogar sehr wahrscheinlich vor. Eventuell war die Insel Naaria der letzte Ort, der noch Leben beherbergte.
Vielleicht war nur Jukka noch übrig.
Ein einsamer Gedanke. Aber er war es gewohnt, schließlich war er nahezu sein ganzes Leben lang allein gewesen. Kein Grund, deswegen betrübt zu sein. Denn falls die Welt wahrhaftig unterging, dann würde der Kojote der Veränderung voraussichtlich bald eintreffen, und Jukka könnte seine Aufgabe endlich abschließen.
Jukka erreichte den Schrein. Er stieg die fünf steinernen Treppenstufen hinauf, setzte sich oben hin, und schaute der Sonne dabei zu, wie sie träge hinter den blauen Bergen verschwand. Mit weichem Blick ließ er seine Gedanken haltlos umherschweifen. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem Innern aus, ein fragiler und doch tiefer Frieden. Das Gefühl, dass alles gut war. Es war das gleiche Gefühl wie jeden Abend. Dies war sein Trost in diesem Leben, in diesem eintönigen, ereignislosen Leben.
Jukka versuchte, sich zu erinnern, wann der letzte menschliche Wächter den Schrein verlassen hatte. Es gelang ihm nicht. Weder Aussehen noch Geruch des Mannes fanden den Weg zurück zu ihm. Er dachte an seine Mutter, doch die Erinnerung an sie war ebenfalls verschwommen. Das Gleiche mit seinen Geschwistern. Jukka erinnerte sich weder, wie viele er hatte, noch wie sie aussahen. Ein kurzer Stich der Traurigkeit traf ihn in die Brust, und er seufzte.
Weder Jukkas Mutter noch der letzte Wächter noch all die früheren Wächter und Kankojs hatten die prophezeite Veränderung erlebt. Warum also sollte sie ausgerechnet bei Jukka eintreten? Warum sollte sein Leben so bedeutungsvoll sein? Der Kojote der Veränderung würde niemals erscheinen. Auch Jukka würde sterben, sein Leben war ebenso nichtig wie das der anderen.
Aber das spielt keine Rolle, beschloss er grimmig. Selbst wenn es so wäre, es stand ihm nicht zu, darüber zu urteilen. Jukka tat seine Pflicht, und das war alles, worüber er sich Gedanken machen sollte. Genau. Seine Zuversicht musste ungebrochen bleiben. Immerhin wusste er, dass das erwartete Ereignis irgendwann eintreffen würde. Wenn nicht zu Jukkas Lebzeiten, dann irgendwann in der Zukunft. Warum sich also mit unnötigen Zweifeln herumschlagen?
Nachdem die Sonne endgültig hinter den Bergen verschwunden und es düster und kühl geworden war, rollte sich Jukka ein und schloss die Augen.
*
Ein dumpfes, metallisches Rauschen ließ seine Ohren zucken. Ihm war, als hätte er sie gerade erst geschlossen, als er die Augen wieder öffnete. Es fühlte sich nicht an, als ob er geschlafen hätte oder als ob überhaupt eine gewisse Zeit vergangen wäre. Und doch befand er sich wieder da, an diesem fremden Ort; dem Ort, den er in letzter Zeit immer besuchte, sobald er einschlief. Wenn es wirklich ein Traum war, so fühlte er sich erstaunlich echt an, so obskur und tot diese Welt auch wirken mochte.
Und wieder geht das müßige Spiel von vorne los.
Er erhob sich müde, gähnte ausgiebig und streckte die Wirbelsäule durch. Unter den Pfoten befand sich nicht länger der steinerne Schrein, sondern strohiges, matt olivfarbenes Gras. Jukka ließ den Blick über die inzwischen fast schon vertraute Umgebung schweifen. Allem Anschein nach landete er jede Nacht am gleichen Ausgangspunkt, aber es war schwierig, das mit Sicherheit zu sagen, denn in dieser Welt sah alles mehr oder minder gleich aus. Eine Wiese aus trockenem Gras, die unendlich weit in die Ferne reichte. Hie und da ragten tote, laubfreie Trauerweiden in den Himmel. Der Himmel … er war dunkelrot und wäre unheilverkündend und beängstigend gewesen, wenn er nicht ebenso tot und starr wäre wie der Rest dieser Gegend. In der endlosen Weite deuteten sich in verschwommenem Dunkelgrau Berge an, und Jukka glaubte, im Himmel Rabenvögel zu erkennen. Doch sowohl Berge als auch Raben schienen mehr Illusion als Wirklichkeit zu sein.
Über die gesamte Wiese zog sich ein Fluss, der zig Abzweigungen besaß und in alle Richtungen floss. Allerdings – und das war das Verrückteste in dieser Welt – führte dieser Fluss kein Wasser, sondern eine zähe weiße Brühe, die sich langsam und stetig vorwärtsbewegte. Sie sah aus wie eine Mischung aus weißem Pech und dichtem Nebel und besaß keinen Geruch. Wie sie sich anfühlte oder wie sie schmeckte, wusste Jukka nicht, und er hatte bisher bei keinem seiner Besuche die Lust verspürt, es herauszufinden. Man musste schon sehr dumm sein, um etwas derart Fremdem so nahe zu kommen. Immerhin hätte dieser sonderbare Fluss giftig sein können, oder vielleicht lebte ein tödliches Ungeheuer darin, das nur darauf wartete, dass sich ein unbedarftes Tier näherte, um dann blitzschnell zuzuschlagen.
Er blieb also stets auf sicherem Abstand zu dem breiten Fluss und seinen unzähligen Abzweigungen, während er sich aufmachte und ziellos durch die skurrile Welt spazierte. Er konnte diesen Ort ohnehin nicht willentlich verlassen, wie er aus Erfahrung wusste. Irgendwann würde er die Augen aufschlagen, als ob er aus einem Traum erwachte, und wäre wieder zurück am Schrein. Alles wäre wie immer. Nichts änderte sich – weder hier noch in der echten Welt.
Weiter und immer weiter. Zwischendurch rastete er unter einer fahlen Trauerweide und betrachtete eine Weile die eintönige Landschaft, ehe er weiterging. Ihm war, als befände er sich bereits seit einer Ewigkeit an diesem Ort. Gewöhnlicherweise erkundete Jukka die Umgebung ein wenig, und plötzlich erwachte er auch schon wieder am Schrein. Doch mit jedem Mal, das er diese surreale Traumwelt besuchte, wurde sein Aufenthalt länger. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Was, wenn er dieses Mal nicht wieder zurückkehren würde, wenn er für immer an diesem elenden Ort verweilen musste? Der Gedanke ängstigte ihn. Diese Umgebung war so bedrückend, so hoffnungslos, so traurig. Auf keinen Fall wollte er hier den Rest seines Daseins verbringen.
Nein. Früher oder später würde er aufwachen, ganz sicher. So wie immer. Bisher war es schließlich auch so gewesen. Jukka sagte sich das immer und immer wieder, um sich selbst zu beruhigen. Das hier war lediglich ein bizarrer Ausflug, der bald schon vorbei sein würde.
Trotzdem konnte er die Schwere in seinem Innern nicht vertreiben. Eine unerklärliche Hoffnungslosigkeit legte sich über ihn, und Jukka unterdrückte mit Mühe ein erbärmliches Winseln, welches in ihm hochstieg.
Er verspürte den Drang, sich dem fremdartigen Fluss zu nähern, der plötzlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn ausübte. Es war, als würde der Fluss zu ihm sprechen, auch wenn Jukka keine Worte hören konnte; der Fluss sprach eher mit Gefühlen. Gefühle, die auch Jukka verspürte. Als würde das, was im Fluss war, ihn verstehen. Ihn auf einer Ebene verstehen, die man nicht in Worte fassen konnte.
Mit dumpfen Schritten trat Jukka einem dünnen Bächlein entgegen, welches sich vom Hauptfluss abgespalten hatte. Er wollte die Brühe nur mal aus der Nähe betrachten, was sollte sie ihm schon tun? Er trat vor das Bächlein und senkte den Kopf, näherte sich mit der Schnauze der Flüssigkeit …
… und nahm aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. In der Ferne regte sich etwas.
Jukkas Faszination für die weiße Brühe zerstreute sich sofort, und er fokussierte sich auf die Bewegung. All seine Muskeln spannten sich an, und die Lefzen zuckten unwillkürlich zurück. Noch nie zuvor war er hier einem anderen Lebewesen begegnet, abgesehen von den schemenhaften Raben am Himmel. Ob es etwas Gefährliches war? Er konnte sich kaum vorstellen, dass es in diesem üblen Traumland ein freundliches Wesen gab.
Langsam und mit gesträubtem Pelz bewegte sich Jukka auf die Gestalt zu. Er konnte nicht sehen, ob das Tier ebenfalls Notiz von ihm genommen hatte.
Schließlich war er nah genug, um es zu identifizieren. Es war ein Kojote. Ein ganz gewöhnlicher, was schier unwirklich war, wenn man bedachte, wo sich Jukka hier befand. Er wäre weniger überrascht gewesen, wenn es sich um einen monströsen, albtraumhaften Kojoten gehandelt hätte, mit einer sonderbaren Färbung oder einem matten, toten Aussehen. Aber nein. Einfach nur ein ordinärer Kojote. Sandbrauner Pelz, weißer Bauch, anthrazitfarbene Schwanzspitze. Ein Stück am rechten Ohr war eingerissen, wahrscheinlich von einer Rauferei. Er trug einen Strick um den Hals, was aber auch schon das Ungewöhnlichste an ihm war.
Gemächlich spazierte der Fremde über die spröde Wiese. Konnte er das sein? Der Kojote der Veränderung? War das möglich? Nach all der Zeit, nach all dem Warten am Schrein, war es endlich so weit? Jukka konnte es kaum glauben. Aber warum sonst sollte er hier einem Kojoten begegnen?
Es galt jetzt, nichts zu überstürzen. Zuerst musste er mehr über den Fremden herausfinden. Es war immerhin möglich, dass diese Welt doch noch ein paar böse Überraschungen für ihn parat hatte. Angriffsbereit ging Jukka noch näher. Er konnte nicht im Geringsten einschätzen, wie der andere reagieren würde.
Inzwischen war er so nah dran, dass der Kojote ihn zweifelsfrei bemerkt haben musste. Doch dieser ignorierte ihn frech und betrachtete stattdessen ein dünnes Rinnsal, das sich vom Fluss abgespalten hatte und sich einen neuen Weg durch das Gras bahnte.
»Hey du! Kojote!«, rief Jukka.
Der Kojote löste den Blick vom Bächlein. Er hob langsam den Kopf und wandte sich Jukka zu. Seine Lefzen zogen sich zu einem unverschämten Grinsen zurück. Im Gegensatz zu Jukka wirkte er nicht überrascht, an diesem verlassenen Ort jemandem zu begegnen.
»Wie gescheit von dir, dass du mich mit ›Kojote‹ ansprichst«, erwiderte der Fremde süffisant, »ansonsten hätte ich nicht gewusst, ob du mich meinst – bei diesem regen Treiben hier.« Er machte eine umfassende Kopfbewegung, um überflüssigerweise zu demonstrieren, dass außer ihnen keine Seele hier war, die Jukka hätte ansprechen können.
Wie unhöflich! Wie konnte dieser Fremde es wagen, sich über ihn lustig zu machen? Jukka entfuhr ein leises Knurren und er machte einen bedrohlichen Schritt vorwärts.
Der Kojote legte den Kopf schief und blickte ihn fragend an.
Sogleich riss sich Jukka wieder zusammen. Er durfte keinesfalls die Beherrschung verlieren und etwas Respektloses tun. Nicht, wenn dies tatsächlich der Kojote der Veränderung war.