Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 601 - Viola Larsen - E-Book

Die Welt der Hedwig Courths-Mahler 601 E-Book

Viola Larsen

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Beschreibung

Laura Wilkin ist seit vielen Jahren verheiratet, und in all der Zeit denkt sie nie an sich. Sie lebt nur für ihren Mann und ihre drei Kinder und stellt ihre eigenen Interessen immer zurück. Ja, sie verzichtet sogar auf eine Karriere als Sängerin, um ganz für ihre Familie da zu sein. Es ist reiner Zufall, dass Laura eines Tages den Tenor Tibor Cordelius wiedersieht. Die Vergangenheit wird für sie lebendig, und Laura erkennt voller Bitterkeit, was sie damals geopfert hat. Als Tibor ihr die Möglichkeit bietet, an seiner Seite eine Karriere als Opernstar zu beginnen, ist Laura zwischen der Liebe zu ihrer Familie und dem verlockenden Glanz der Bühne hin- und hergerissen ...


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Inhalt

Cover

Sie hatte schon erwachsene Kinder

Vorschau

Impressum

Sie hatte schon erwachsene Kinder

Darf eine Frau sich ihr eigenes Glück suchen?

Laura Wilkin ist seit vielen Jahren verheiratet, und in all der Zeit denkt sie nie an sich. Sie lebt nur für ihren Mann und ihre drei Kinder und stellt ihre eigenen Interessen immer zurück. Ja, sie verzichtet sogar auf eine Karriere als Sängerin, um ganz für ihre Familie da zu sein. Es ist reiner Zufall, dass Laura eines Tages den Tenor Tibor Cordelius wiedersieht. Die Vergangenheit wird für sie lebendig, und Laura erkennt voller Bitterkeit, was sie damals geopfert hat. Als Tibor ihr dann die Möglichkeit bietet, an seiner Seite eine Karriere als Opernstar zu beginnen, ist Laura zwischen der Liebe zu ihrer Familie und dem verlockenden Glanz der Bühne hin- und hergerissen ...

Laura Wilkin wollte sich gerade ans Klavier setzen, als im Obergeschoss des Hauses eine Tür ging und rasche Schritte die Treppe herunterkamen.

Granny war zwar bald siebzig, aber sie hatte immer noch den Schritt eines jungen Mädchens. Sie war überhaupt erstaunlich vital und aktiv. Deshalb wollte sie auch um keinen Preis, dass man sie mit Oma anredete, und wich daher auf das englische Granny aus, was zwar genau dasselbe bedeutete, aber in ihren Ohren schmeichelhafter klang.

Einen Augenblick lang hoffte Laura, ihre Schwiegermutter gehe am Musikzimmer vorbei, doch diese Hoffnung trog.

Granny trat ein und schloss die Tür hinter sich.

»Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde!«, frohlockte die alte Dame.

Ihrer Schwiegermutter gegenüber kam sich Laura manchmal wie eine uralte Frau vor. Dabei war Laura erst Mitte vierzig.

»Warum bist du so blass?«, fragte Granny. »Nun, es ist wohl dein Teint. Rothaarige sind immer blass. Du solltest ein gutes Make-up benutzen, meine Liebe, sonst wandelst du wie dein eigenes Gespenst durch die Landschaft.«

»Jawohl, Granny«, sagte Laura.

Sie hatte es sich angewöhnt, zu jedem Vorschlag Grannys Ja zu sagen, weil sie dann am schnellsten ihre Ruhe hatte.

Es stimmte, dass Laura einen hellen, fast durchscheinenden Teint hatte, aber er passte zu ihr. Sie war zart und schlank und eine überaus aparte Frau. Man sah es ihr nicht an, dass sie drei erwachsene Kinder hatte. Ihrem hochgewachsenen Mann reichte sie nur bis knapp an die Schulter.

Das glänzende rotblonde Haar lockte sich kapriziös um ihr liebreizendes Gesicht. Ihre großen braunen Augen hatten manchmal einen verträumten und abwesenden Ausdruck, vor allem, wenn Laura sich ans Klavier setzte.

Neben Laura wirkte Granny robust, und das war sie letztlich auch. Sie war eine lebhafte Blondine, und auch wenn die Farbe längst aus dem Mixtöpfchen ihres Friseurs stammte, wirkte sie fabelhaft echt. Auf ihr golden schimmerndes Haar war Granny besonders stolz, und sie trug die verrücktesten Frisuren.

Augenblicklich bevorzugte sie Ponys und scheute sich nicht davor, ihre blond getönte Lockenpracht jungmädchenhaft wie einen Pferdeschweif hochzubinden. Seltsamerweise wirkte es bei ihr nicht im Geringsten peinlich.

Granny hatte flinke blaue Augen, und sie musterte ihre Schwiegertochter mit unverhohlener Neugier.

»Schätze, es wäre eine passable Diva aus dir geworden, wenn du Andreas nicht geheiratet hättest!« Sie ließ sich häuslich in dem Empiresesselchen neben dem Klavier nieder. »Wahrscheinlich könntest du heute noch Karriere machen. Du hast einen glockenklaren Sopran, und du bist attraktiv. Bis auf diese grässliche Blässe, aber der ist ja abzuhelfen. Warum versuchst du es nicht einmal?«

»Was?«, fragte Laura verblüfft. »Was sollte ich versuchen?«

»Karriere zu machen!« Granny war richtig verliebt in ihren Einfall. »Meine Schwiegertochter, die zweite Callas. Das klingt doch fantastisch, wie? Die Kinder sind aus dem Haus, Andreas hat seine Arbeit, und ich komme ganz gut allein zurecht. Und Bertel versorgt unser altes geräumiges Haus vortrefflich. Abends hat Andreas seine Briefmarken und ich meine Handarbeiten. Ehrlich, Laura, warum probierst du es nicht?«

»Ich habe nicht gewusst, dass ich so überflüssig bin, Granny«, murmelte Laura.

»Nun sei doch nicht so empfindlich, Laura.« Granny schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ich will doch nur dein Bestes!«

Das wollte Granny, seit Laura in das alte Wilkin-Haus gekommen war. Leider stimmten aber Lauras und Grannys Ansichten über »das Beste« meistens nicht überein.

In fast fünfundzwanzig Jahren gemeinsamen Zusammenlebens hatte Laura es gelernt, sich zu arrangieren. Böse war Granny ja nicht, nur ein bisschen herrschsüchtig und immer absolut von der Richtigkeit ihrer eigenen Meinung überzeugt.

»Ich übe nur für den Universitätsball«, erklärte Laura seufzend.

»Das ist schön«, freute sich Granny. »Ich kann dir stundenlang zuhören.«

»Tut mir leid, ich kann keine Zuhörer gebrauchen. Ich habe die Lieder noch nicht wieder richtig einstudiert.«

»Das macht doch nichts!«, rief Granny aus. »Was du auch singst, es klingt in meinen Ohren wie Musik.«

»Das ist aber nett von deinen Ohren.« Laura klappte den Klavierdeckel zu. »Ich will sowieso noch einen Kuchen backen. Es ist Freitag, und die Kinder kommen morgen heim.«

»Vergiss den Kuchen, ich bestelle beim Konditor eine Torte«, schlug Granny vor.

»Vergiss die Torte, Granny, die Kinder mögen lieber Kuchen.« Laura stand schon an der Tür. »So einen richtig schönen altmodischen Gugelhupf mit vielen dicken Rosinen.«

»Nun gut, dann werde ich dir beim Kuchenbacken helfen«, entschied Granny großmütig.

Laura ergab sich in ihr Schicksal. Beim Kuchenbacken störte Granny sie jedenfalls weniger, als wenn sie ihr beim Singen zuhörte.

♥♥♥

Gemeinsam gingen sie den langen dunklen Korridor hinunter, der von dem weiträumigen Wohntrakt zu der Küche führte, an die sich Wäsche- und Bügelzimmer, Vorrats-‍, Porzellan- und Silberkammern anschlossen.

Das Wilkin-Haus war wirklich sehr alt, und geliebt wurde es von der ganzen Familie. Es stand sogar unter Denkmalschutz, deshalb durfte an der Außenfassade nichts verändert werden. Die sah noch genauso aus wie vor dreihundert Jahren, als Urahn Nikolaus Wilkin das Haus für seine große Sippe gebaut hatte.

Es war ein zauberhaftes Fachwerkhaus, das die Touristen, die in die kleine Universitätsstadt kamen, magisch anzog, und das während jeder Saison mindestens ebenso oft fotografiert wurde wie der Eiffelturm in Paris oder das Goldene Dachl in Innsbruck.

Alle fünf Jahre wurde die Fassade renoviert, und das war jedes Mal eine ebenso feierliche wie nervtötende und finanziell ruinöse Angelegenheit. Innen wurden sie die Handwerker nie los, denn ständig war irgendetwas kaputt.

Granny eilte schon in die Vorratskammer, um Mehl, Zucker, Eier und Rosinen zu holen. Plötzlich fuhr sie mit einem Schreckensschrei wieder heraus.

»Eine Maus! Laura, in der Vorratskammer ist eine Maus!«

Granny zitterte und war kreidebleich. Sie fürchtete zwar weder Tod noch Teufel, wie sie immer behauptete, doch vor Mäusen hatte sie einen heillosen Respekt.

»Du musst etwas dagegen tun!«

»Gegen die Mäuse?« Laura seufzte. Seit sie in das Wilkin-Haus gekommen war, führte sie einen ebenso tapferen wie erfolglosen Krieg gegen die niedlichen grauen Tierchen mit den flinken Beißerchen. Schlimm war, dass sie Mäuse mochte. Eine Katze wäre natürlich das einfachste und beste Mittel gegen die Mäuseplage gewesen, aber Granny war allergisch gegen Katzenhaare. »Ich sage Bertel Bescheid«, entschied Laura.

Bertel war das Faktotum des Wilkin-Hauses, und boshafte Zungen behaupteten, das sei sie schon zu der Zeit gewesen, als das Haus gebaut worden war. Das war selbstverständlich eine schlimme Übertreibung, so alt war Bertel noch nicht, sie sah nur so aus. Dabei war sie unglaublich zäh, rüstig, flink und arbeitsam und sagenhaft energisch.

Jonas nannte sie respektlos Mumie, und sie nahm ihm das nicht einmal krumm, denn Jonas war ein zauberhafter Bursche und konnte es sich leisten, respektlose Dinge ungestraft zu sagen.

Granny machte sich an die Zubereitung des Kuchenteigs. Sie hatte die unangenehme Eigenschaft, immer das in ihre Hände zu nehmen, was andere Leute gerade haben wollten.

»Wenn du den Teig machst, kann ich ja solange meine Lieder einüben«, sagte Laura freundlich, als die Schwiegermutter die Hände voller Teig hatte.

Ehe Granny etwas erwidern konnte, war sie zur Küche hinaus. In fünfundzwanzig langen Jahren hatte sie ein beachtliches Talent entwickelt, Granny gelegentlich auszutricksen.

Aber auf dem Weg ins Musikzimmer kam ihr Bertel in die Quere, die wie eine Rakete aus der Bügelkammer schoss: klein, dürr, in einer schwarzen Flatterschürze und mit einem grauen Knoten auf dem Kopf.

»Rebecca hat am letzten Samstag wieder ihre ganze Wochenwäsche mitgebracht. Von den Kindersachen will ich nicht reden, aber soll ich jetzt vielleicht auch noch die Hemden für den Theologen bügeln?«

Der Theologe war Rebeccas Mann, beide studierten noch, und in dem jungen Haushalt ging es drunter und drüber, vor allem, seit das Kind da war. Bertel konnte den Theologen nicht ausstehen, weil er ihr Rebeccachen geheiratet hatte, und deshalb wollte sie auch seine Hemden nicht bügeln.

»Sie tun es ja für Rebecca und nicht für Herrn Holsten«, beschwichtigte Laura sie diplomatisch. »Aber wenn es Ihnen gar so zuwider ist, die Hemden meines Schwiegersohns zu bügeln, dann werde ich das eben tun«, bot sie an, obwohl sie auch nicht gerne Herrenhemden bügelte, und schon gar nicht für Stefan.

Laura bemühte sich redlich, ihn gernzuhaben, aber sie schaffte es nicht. Niemand in der Familie mochte ihn recht leiden, sogar Andreas Wilkin, der ein durchaus menschenfreundlicher Mann war, hegte eine heimliche Aversion gegenüber seinem Schwiegersohn.

»Sie müssen doch an Ihr Klavier!«, brummte Bertel.

Das Wort Klavier klang aus Bertels Mund wie ein herber Vorwurf, dabei hatte sie nichts gegen Musik. Sie liebte vor allem Wiener Walzer, und sie fand auch Lauras Gesang wunderschön, nur hatte eben ihrer Ansicht nach eine Frau Wilkin anderes zu tun, als am Klavier zu sitzen und Lieder zu singen.

Die Wilkins waren Bertels Steckenpferd. Sie verehrte diese große alte Familie, zu der sie auf ihre Weise ja auch gehörte. Sie kannte die Familiengeschichte besser als Granny und wusste genau, wann welcher Ahne welches Amt an der Universität innegehabt hatte und mit was für Orden, Titeln und Ehrenzeichen sie alle ausgezeichnet worden waren.

Tatsächlich waren die Wilkins eine große alte Familie, und immer noch waren sie tonangebend in der romantischen kleinen Universitätsstadt. Nicht ohne Grund hatten Lauras Eltern seinerzeit darauf bestanden, dass ihre neunzehnjährige Tochter ihren Jugendliebsten und ihr Musikstudium aufgab, um den Antrag des Dr. jur. Andreas Wilkin anzunehmen, der damals schon Dozent an der Universität gewesen war und versprach, erfolgreich in die professoralen Fußstapfen seiner Vorfahren zu treten.

Laura machte die Tür des Musikzimmers fest hinter sich zu. Wenn sie Glück hatte, blieb sie ungestört, bis Andreas von seinen Vorlesungen an der Universität nach Hause kam.

Das Musikzimmer war ein schöner, quadratischer Raum und hatte eine gute Akustik. Die Fenster blickten in den Hofgarten hinaus, der zu jeder Jahreszeit ein idyllisches Fleckchen war. Es war Juni, und die wilden Rosenhecken blühten.

Außer dem altmodischen Klavier und den Notenregalen deutete nichts drauf hin, dass es ein Musikzimmer war. Seit Jahren träumte Laura insgeheim von einem Flügel, aber die Hausreparaturen waren immer wichtiger.

Doch auch das alte Klavier hatte einen wundervollen, samtenen Klang. Laura dachte es wieder, als sie ein paar Akkorde anschlug. Sie spielte sich erst ein, bevor sie mit ihren Übungen begann.

Jedes Mal, wenn sie am Klavier saß, fühlte sie sich in eine andere, schönere Welt entrückt, und sie war glücklich. Ihr Sopran war zauberhaft und besaß selbst in jubilierender Höhe noch einen hinreißenden Schmelz.

Nicht einmal in den anstrengenden Jahren, als die Kinder noch klein gewesen waren und die Arbeit ihr über den Kopf gewachsen war, hatte Laura ihre Stimme vernachlässigt. Noch am späten Abend hatte sie ein halbes Stündchen herausgeschunden, um zu üben.

Ihr Mann Andreas war zwar ungeheuer unmusikalisch, doch er hatte Lauras Stimmübungen stillschweigend geduldet, weil er stolz auf ihren triumphalen Erfolg beim jährlichen Universitätsball war – ein Erfolg, der auch ihn ungemein schmückte.

Der Universitätsball war jedes Jahr das große gesellschaftliche Ereignis des Städtchens, und die musikalischen Darbietungen waren der glanzvolle Höhepunkt des Festes. Laura bereitete sich auf ihren Auftritt immer lange und gewissenhaft vor, und sie fieberte wochenlang der aufregenden Stunde entgegen, wenn sie auf dem Podium stand und sang. Zuweilen dachte sie, dass sie das ganze Jahr nur für diese eine glückliche Stunde lebte.

In diesem Juli standen Brahms-‍, Schubert- und Schumannlieder auf dem Programm. Laura hatte ein reichhaltiges Repertoire und alle diese Lieder schon oft gesungen, aber vor einem öffentlichen Auftritt mussten sie frisch aufpoliert werden, wie Laura das nannte.

»Über allen Wipfeln ist Ruh ...«, begann sie leise und verträumt zu singen.

Da klingelte das Telefon in der Diele. Laura brach ab und horchte.

Bertel klopfte schon an die Tür.

»Der Anruf ist für Sie, Frau Wilkin«, meldete sie. »Es ist Rebecca.«

Laura hastete zum Apparat.

»Ja, Kind? Was ist? Ihr werdet doch nicht etwa absagen für morgen?«

Jeden Sonnabend kamen Rebecca mit ihrer Familie und die Söhne Jonas und Nathan nach Hause, und Laura freute sich die ganze Woche über darauf, die Kinder wieder bei sich zu haben.

»Kannst du uns am Bahnhof abholen, Mam?«, fragte Rebecca flehend.

»Natürlich, Liebling«, versicherte Laura. Alle ihre Kinder studierten und lebten auswärts. »Mit welchem Zug kommt ihr denn?«

»Wir sind schon da«, antwortete Rebecca. »Das heißt, Nettchen und ich.«

»Aber es ist doch erst Freitag. Und warum ist Stefan nicht mitgekommen?«

»Das erzähle ich dir dann alles«, stieß Rebecca schluchzend hervor. »Jetzt hole uns bitte erst mal weg hier, Mam.«

»Aber das geht nicht«, stammelte Laura. »Papa hat das Auto mitgenommen. Nimm doch ein Taxi, Kind!«

»Ich habe kein Geld mehr, Mam.«

»Ich stehe vor der Haustür und bezahle den Taxifahrer«, versprach Laura. »Bis gleich, Kleines.«

»Danke, Mam.«

Laura hastete in ihr Zimmer und holte ihre Geldbörse hervor. Hoffentlich war Granny noch in der Küche beschäftigt. Bertel streckte schon den Kopf aus der Bügelkammer.

»Hat der Herr Theologe wieder das Auto kaputt gefahren?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Laura erschrocken. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht.

»Wahrscheinlich!«, mutmaßte Bertel unheilträchtig. »Er fährt doch jedes Auto kaputt. Ich verstehe nicht, dass Rebeccachen ihn überhaupt noch ans Steuer lässt. Also, wenn ich die Polizei wäre, ich hätte dem Mann längst den Führerschein entzogen.«

Es war nicht weit vom Bahnhof zum Wilkin-Haus. Ein Taxi brauchte nicht länger als zehn Minuten. Für Lauras ängstliches Mutterherz war es eine Ewigkeit.

Hatte ihr Schwiegersohn vielleicht tatsächlich wieder einen Unfall gebaut?, fragte sie sich.

Nicht einmal Geld für ein Taxi hatte das Kind mehr in der Tasche! Natürlich waren die Holstens nicht auf Rosen gebettet. In einer Studentenehe, die noch ein Kleinkind verkraften musste, ging es knapp zu. Hatte es vielleicht deshalb ein Zerwürfnis gegeben?

Die Gedanken schossen wirr durch Lauras Kopf, während sie vor die Haustür trat. Der Bürgersteig war sehr schmal. Sie blieb auf der Treppe stehen, die, steil und vornehm, zum Portal hinaufführte, gesäumt von zwei prächtigen steinernen Löwen, die das kunstvolle schmiedeeiserne Geländer in ihren Pranken festhielten.

Auf der Fahrbahn quälten sich, wie immer nachmittags, recht viele Autos vorbei. Das war für das Wilkin-Haus ein Ärgernis, weil es seine Nase zu weit vorstreckte und die Kurve dadurch total unübersichtlich war. Aber da das Haus nun einmal unter Denkmalschutz stand, durfte auch an dem Erker nichts geändert werden.

Allerdings waren an dieser gefährlichen Ecke schon einige schlimme Unfälle passiert, und das Haus war jedes Mal ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Einmal war ein Kieslastzug beinahe ins Speisezimmer gebrummt. Durch die Erschütterung war das Ölgemälde des Urahnen Nikolaus Wilkin von der Wand gefallen, und die Restaurierung war sündhaft teuer gewesen.

Fast alle, die vorbeigingen, grüßten Laura sehr respektvoll, sogar von der anderen Straßenseite herüber. Sie war nun einmal Frau Wilkin, die Gattin des allseits verehrten Dr. jur. Andreas Wilkin. Er hatte schon einige viel beachtete wissenschaftliche Bücher über die Juristerei geschrieben. Von allen Studenten wurde er hoch geachtet, und die Studentinnen himmelten ihn an.

♥♥♥

Endlich bog das Taxi um die Ecke, hielt aber nicht vor dem Haus, sondern in der Lieferanteneinfahrt des benachbarten Juweliergeschäftes. Der Taxifahrer lud ein Kinderbettchen, einen Kinderwagen, vollgestopfte Taschen, Koffer und Körbe aus. Laura traute ihren Augen nicht. Sie rief nach Bertel und eilte ihrer Tochter zu Hilfe.

Rebecca hielt Nettchen auf dem Arm, ein süßes schwarzlockiges Pummelchen von sieben Monaten, und sie heulte los, als sie ihre Mutter sah. Es war ein Glück, dass Bertel kam, um das Gepäck ins Haus zu schleppen.

Laura entlohnte den Taxifahrer und bugsierte ihre Tochter samt Enkelkind schleunigst die Treppe hinauf ins Haus. Nur weg von der Straße! In einer Kleinstadt wurde unheimlich viel geredet.