Die Welt von George Orwells „1984“: Zwischen fiktivem Schrecken und realer Bedrohung - Miriam Helisch - E-Book

Die Welt von George Orwells „1984“: Zwischen fiktivem Schrecken und realer Bedrohung E-Book

Miriam Helisch

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Beschreibung

Ein totalitärer Staatsapparat, der perfide Methoden zur Unterdrückung und Manipulation seiner Bürger einsetzt – bis heute ist George Orwells berühmter Gesellschaftsentwurf „1984“ der Inbegriff von Terrorherrschaft und Totalüberwachung. Aber wie weit hat sich unsere Realität dieser fiktiven Schreckensvision mittlerweile angenähert? Die Beiträge in diesem Band erläutern die Hintergründe zu George Orwells gewaltiger Anti-Utopie, setzen sich mit ihren Machtmechanismen auseinander und interpretieren aktuelle politische Entwicklungen vor dem Hintergrund des Romans. Aus dem Inhalt: „1984“ als moderne Anti-Utopie; Analyse des sozio-politischen Systems im Roman Orwell als politischer Schriftsteller; Interpretation und historischer Kontext; Die USA nach dem 11. September – auf dem Weg zur Orwellschen Gesellschaft?

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Seitenzahl: 346

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

Copyright © 2013 ScienceFactory

Ein Imprint der GRIN Verlags GmbH

Coverbild: morguefile.com

Die Welt von George Orwells „1984“

Zwischen fiktivem Schrecken und realer Bedrohung

Miriam Helisch (2003): Zu George Orwells '1984'

Einleitung

Intention und Rezension des Werkes

Aufbau und Handlung des Romans

Der Oligarchische Kollektivismus Ozeaniens

Die ozeanische Gesellschaftsordnung

Manipulation des Geistes: „Doppeldenk“ und „Neusprech“

Das Internationale System: „Krieg ist Frieden“

Macht als Selbstzweck

Ausblick: Lösung der drei gesellschaftspolitischen Grundprobleme

Bibliographie:

Carl Sulz (2006): Die perfekte totalitäre Herrschaft. Elemente des Totalitarismus nach Orwells „1984“

Einleitung

Elemente der perfekten totalen Herrschaft

Das Ende der Geschichte

Résumé

Literaturverzeichnis

Oliver Trenk (2004): Orwell's Oceania and the U.S.A. after September 11: Will Fiction Become Fact?

INSPIRATION

INTRODUCTION

Why Orwell?

Preliminary Personal Observations

Rise of Surveillance

The Ramification of Totalitarian Aspects Granted by the Government

Examples of Orwellian Surveillance

Thought Control and Suppression of Free Speech

The Secrecy of the Government and its Control of the News

CONCLUSION

Bibliography

APPENDIX

Einzelpublikationen

Miriam Helisch (2003): Zu George Orwells '1984'

Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der 1949 publizierten Dystopie „1984“ von George Orwell[1], welche nicht nur zu den meistgelesenen, sondern auch zu den am kontroversesten diskutierten Büchern der Weltliteratur zählt.

Im Kapitel „Intention und Rezension des Werkes“ werde ich darlegen, welche Intention der Zeit seines Lebens politisch denkende und schreibende Orwell mit seinem letzten Roman verfolgte.

Um dem Leser einen besseren Überblick hinsichtlich der textimmanenten Analyse zu geben, werde ich im folgenden Kapitel Aufbau und Handlung des Romans in einer Kurzzusammenfassung vorstellen.

Eines der zentralen Anliegen Orwells war es, zu zeigen, wie ausgehend von der politischen und sozialen Weltlage zur Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts eine post-totalitäre Schreckensherrschaft weltweit die Macht ergreift. Die historische Entwicklungsgeschichte des Systems sowie Fundament und Struktur der Herrschaft, werden im Kapitel „Der Oligarchische Kollektivismus Ozeaniens“ dieses Aufsatzes erörtert.

Bei der Untersuchung von „1984“ als moderner Anti-Utopie ist dem Aspekt Rechnung zu tragen, dass Orwell mit seinem Entwurf der autoritär-etatischen Utopie-Tradition eine radikale Absage erteilt. Daher ist meine Vorgehensweise wie folgt: Parallel zu der Analyse des sozio-politischen Systems werde ich in den jeweiligen Kapiteln herausarbeiten, wie der Autor die Menschheit vor den dem utopischen Gedankengut immanenten totalitären Tendenzen, welche erst in der jüngsten Vergangenheit so verheerende Wirkung gezeigt hatten, warnt.

Im Kapitel „Die ozeanische Gesellschaftsordnung“ werde ich den hierarchischen Staatsaufbau und die Funktion der einzelnen Glieder des dystopischen Leviathans rekonstruieren. Das Kapitel „Manipulation des Geistes“ schildert den metaphysischen Überbau des Regimes. Um das Ich-Bewusstsein des Individuums durch das Kollektivbewusstsein zu ersetzen, muss der menschliche Geist manipuliert und durch den verinnerlichten gesellschaftlichen Zwang kontrolliert werden.

In Übereinstimmung mit James Burnham sah Orwell im modernen Totalitarismus, verkörpert in Form des oligarchischen oder bürokratischen Kollektivismus, eine weltweite Gefahr. Das Kapitel „Das Internationale System: ‚Krieg ist Frieden’“, in dem ich das internationale System und den permanenten Kriegszustand untersuche, ist damit von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Romans.

Das Kapitel „Macht als Selbstzweck“ beschäftigt sich mit der Macht als pervertierendem Faktor, durch den der Glaube an die emanzipatorische Vernunft diskreditiert wurde. Das psychologische Profil der Täter, die sich offiziell als Retter der Menschheit sehen, sich aber ebenso darüber im Klaren sind, dass ihr ideales Gemeinwesen ein System des „kontrollierten Wahnsinns“ ist, bildet die Voraussetzung für die abschließende Betrachtung der drei gesellschaftspolitischen Grundprobleme.

Bei der Bearbeitung des Themas war der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich bei „1984“, wie Orwell selbst zu bedenken gab, um eine dystopische Satire handelt.

Intention und Rezension des Werkes

Eingangs möchte ich darauf hinweisen, dass Orwells „1984“ wie kaum eine andere Utopie der Weltliteratur aus verschiedenen Perspektiven beziehungsweise mit unterschiedlicher Akzentuierung zentraler Aspekte interpretiert wurde. Ich denke (und das ist auch der Tenor der neueren Forschung), dass Orwells literarische Berufung und sein politisches Bewusstsein und Engagement eine Einheit bilden. Seine Werke tragen unbestritten autobiografische Züge. Dies gilt insbesondere für „1984“, das letzte und wohl berühmteste Buch des Autors, welchem testamentarischer Charakter zugeschrieben wird.

Orwell ein politischer Schriftsteller

Wie Orwell erklärte, ist für einen Schriftsteller der Gegenstand seiner Kunst bestimmt durch die Epoche, in der er lebt, zumindest wenn es sich um ein so unruhiges, revolutionäres Zeitalter handelt wie das seine.

“In a peaceful age I might have written ornate or merely descriptive books, and might have remained almost unaware of my political loyalties. As it is I have been forced into becoming a sort of pamphleteer.” [2]

In der Tat bezeugen Leben und Werk Orwells seine intensive Auseinandersetzung mit den bestimmenden Kräften des Zwanzigsten Jahrhunderts.

“I write because there is some lie that I want to expose, some fact to which I want to draw attention, and my initial concern is to get a hearing.” [3]

Vor allem drei persönliche Erfahrungen in seiner bewegten Biographie formten Verständnis, Weltsicht und schriftstellerische Ambition Orwells, der neben neun Romanen siebenhundert Essays und Artikel verfasste.[4]

Nach seinem Collegeabschluss in Eton diente Orwell fünf Jahre in der britischen ‚Indian Imperial Police’ in Burma. Er wurde Zeuge der dort herrschenden Missverhältnisse und war bald von den Methoden der Kolonialmacht angewidert. Die der imperialistischen Geisteshaltung nach legitime Ausbeutung und Erniedrigung der einheimischen Bevölkerung widersprach seinem Gerechtigkeitsempfinden. Orwells lebenslanger Hass auf den Imperialismus und seine Einsicht in die Psychologie der Unterdrücker spricht aus vielen seiner Werke.

Als besonders prägend sind auch die Jahre anzusehen, die Orwell als mittel- und erfolgloser Gelegenheitsarbeiter in den Proletariervierteln von London und Paris verbrachte. Er erlebte am eigenen Leib die erniedrigende Unfreiheit, die mit der Armut einhergeht. Das durch diese Erfahrung geschärfte Bewusstsein für Existenz und Bedeutung der Arbeiterklasse fand in seinen literarischen und journalistischen Schriften weitreichenden Niederschlag.

Den entscheidenden, wegweisenden Wendepunkt in Orwells Leben stellen zweifelsohne die seine Weltsicht erschütternden Erfahrungen während des Spanischen Bürgerkrieges dar. Sie bestimmten definitiv Orwells politischen Standort und literarische Berufung und ließen ihn zu dem ‚Mahner’ und ‚Warner’ werden, als der er in die Geschichte einging.

“The Spanish war and other events in 1936-37 turned the scale and thereafter I knew where I stood. Every line of serious work that I have written since 1936 has been written, directly or indirectly, against totalitarianism and for democratic socialism, as I understand it.” [5]

Waren zuvor Imperialismus und Faschismus die Hauptübel, welche es für Orwell zu bekämpfen galt, enthüllten sich ihm in Barcelona der russisch geführte kommunistische Terror und seine Methoden der bewussten Täuschung. 1936 kämpfte Orwell in der heterodox marxistischen POUM-Miliz gegen das faschistische Franco-Regime. Die Moskauhörige spanische KP richtete ihre totalitären Methoden jedoch auch gegen ihre eigentlichen Verbündeten, die Anarchisten und demokratischen Sozialisten. Diese wurden als trotzkistisch-francistische Verräter diffamiert und durch die Strassen Barcelonas gejagt.

Orwell, Zeit seines Lebens Verfechter früh-sozialistischer Ideale, erkannte, dass Faschismus und Kommunismus nur zwei unterschiedliche Erscheinungsformen des Totalitarismus waren, dessen Ausbreitung eine friedliche, humane Zukunft der Menschheit verhindern würde.

Nur knapp der Liquidierung entkommen, musste Orwell entsetzt feststellen, dass die britische Presse die Ereignisse, deren Augenzeuge er war, nicht wahrheitsgemäß kolportierte, sondern zugunsten der kommunistischen Seite verfälschte. Angesichts der weit verbreiteten unkritischen Haltung der westlichen Intelligenzija gegenüber Stalin fürchtete er, diese könnte endgültig den Lockungen totalitären Gedankenguts erliegen.

“1984”: Interpretation und historischer Kontext

Orwell ging es, wie aus dem vorangegangenen Kapitel deutlich geworden ist, de facto nicht um abstrakte politische Philosophie. Der generellen Sichtweise der neueren Utopie-Forschung zufolge ist „1984“ zum einen eine Gegenwartsanalyse, auf der Basis persönlicher Wahrnehmung und Erfahrung, zum Anderen eine Schreckens-Version der Zukunft, die eintreten könnte, falls der Totalitarismus weltweit triumphiert.[6]

Faschismus, Nationalsozialismus und der real existierende Sozialismus hatten der Welt die nicht zu überschätzende Gefahr demonstriert, die von der Realisierung autoritär-etatistischer Utopien ausgeht. Ebenso wie Samjatin und Huxley suchte Orwell in „1984“ die strukturellen Defizite der autoritären Staats- bzw. Ordnungsutopien durch deren Selbstentlarvung deutlich zu machen.[7]

Nicht nur die dem Werk immanente Vielschichtigkeit und die Tatsache, dass das Opus unabhängig von der ursprünglichen Intention des Künstlers diverse Deutungsmöglichkeiten zulässt, sondern auch der historische Kontext zum Zeitpunkt der Veröffentlichung führten zu einer äußerst kontroversen Auslegung von „1984“. Im Zuge des beginnenden Kalten Krieges wurde das Buch allen voran von US-amerikanischer Seite als ideologische Waffe gegen das Sowjet-Regime instrumentalisiert und als fundamental anti-sozialistisch interpretiert. Mit dieser einseitigen Auslegung seines Werkes fühlte sich Orwell grundlegend missverstanden, was ihn dazu veranlasste, selbst zahlreiche eindrückliche Statements bezüglich der „1984“ zugrundeliegenden Intention abzugeben.

„My recent story is not intended as an attack on socialism or on the British Labour Party (of which I am a supporter) but as a show up of the perversions to which a centralized economy is liable and which have already been partly realized in Communism and Fascism. I do not believe that the kind of society I describe necessarily will arrive, but I believe (allowing of course for the fact that the book is satire) that something resembling it could arrive. I believe also that totalitarian ideas have taken root in the minds of intellectuals everywhere, and I have tried to draw these ideas out to their logical consequences. The scene of the book is laid in Britain in order to emphasize that the English-speaking races are not innately better than anyone else and that totalitarianism, if not fought against, could triumph anywhere.” [8]

Von linker Seite wurde dem Roman, da er den Ruf des Sozialismus und Kommunismus zu schädigen drohte, der politische Wahrheitsgehalt abgesprochen. Orwells warnende Botschaft wurde personalisiert und psychologisiert.[9] Man deutete das Werk als Ausfluss der persönlichen Frustration des schwer tuberkulose-kranken Autors und unterstellte ihm, sein eigenes Leid hätte ihn zu einer düsteren Gesellschaftssatire veranlasst. Mag Orwells Agonie die Entstehung von „1984“ auch mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst haben, so lassen sich doch meiner Ansicht nach die diversen impliziten wie expliziten Hinweise auf den Horror des stalinistischen Despotismus nicht ignorieren. Es ist nicht zu leugnen, dass eine tiefe Desillusionierung hinsichtlich der Realisierbarkeit des utopischen Sozialismus Niederschlag in diesem letzten Werk Orwells gefunden hat. Ebenso wie der Nationalsozialismus stellte das sowjetische Regime nach dem Scheitern des bolschewistischen Experiments ein historisches Vorbild für die in „1984“ geschilderte, post-totalitäre Schrecksherrschaft dar. Durch die eindeutigen Parallelen zu diesen abschreckenden Beispielen unmenschlicher Barbarei intendierte Orwell, auf die Bedrohung, die von solchen Systemen ausgeht, aufmerksam zu machen.

Aufbau und Handlung des Romans

Die Geschichte ist aus der Perspektive der ‚Dritten Person’ erzählt und spielt, wie der Titel sagt, im Jahre 1984. Der Schauplatz des Geschehens ist England beziehungsweise London, welches zu dieser Zeit die Bezeichnung „Landefeld Eins“ trägt und zum Kernland der Supermacht „Ozeanien” gehört.[10]

Der Protagonist des Romans, um den herum die gesamte Handlung aufgebaut ist, heißt Winston Smith. Orwell fokussierte sich ganz bewusst auf diesen zum Scheitern verurteilten Helden, in dessen Welt der Leser versetzt wird. Die übrigen Charaktere und soziale Interaktionen erscheinen eher skizzenhaft, wodurch zum Ausdruck gebracht wird, wie gleichförmig das Leben 1984 ist. Der Autor stellte den Kampf des Individuums gegen den allmächtigen totalitären Staatsapparat in den Vordergrund. Persönlichkeit, Charakter und Schicksal der Haupt- beziehungsweise Identifikationsfigur sind daher von elementarer Bedeutung für das Verständnis des Romans.

Das Buch ist in drei Teile untergliedert. Die Handlung beginnt, als Winston kritische Gedanken gegen die Parteidiktatur entwickelt. Im ersten Part erfährt der Leser durch die detaillierte, naturalistische Schilderung der Lebensumstände des Protagonisten Winston Smith, wie die Welt von „1984“ aussieht. Es ist eine totalitäre Welt, in der eine winzig kleine Oligarchen-Riege alles kontrolliert, sogar die Gedanken und Gefühle der Bürger. Der Roman geht von einem internationalen System aus, das in drei große Machtblöcke zerfällt, die sich in einem permanenten Kriegszustand befinden. Winston, der noch vor der Revolution geboren wurde, ist Mitglied der Äußeren Partei und arbeitet im „Ministerium für Wahrheit“, wo er damit befasst ist, Berichte und Zeitungsartikel der Parteidoktrin entsprechend umzuschreiben.

Im zweiten Teil des Buches geht es vor allem um die Entwicklung der Liebes-Affäre zwischen Winston und Julia, einer Parteigenossin, die ebenfalls revolutionärer Gesinnung ist. Für kurze Zeit gelingt es ihnen, sich eine eigene Welt zu schaffen, wo sie ihre Gefühle und menschlichen Triebe ausleben, sprich, sie selbst sein können. Das Paar vertraut sich O’Brien, einem Mitglied des inneren Parteikaders, an, den Winston ebenfalls für einen Dissidenten hält. Dieser nimmt sie scheinbar in die Widerstandsgruppe „Die Bruderschaft“ auf und händigt Winston das von Emanuel Goldstein, dem Begründer und Anführer der Rebellen-Bewegung, verfasste Buch „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ aus. Aus der Lektüre erfahren Winston beziehungsweise der Leser, wie das System en detail funktioniert. An dieser Stelle ist anzumerken, dass es sich hierbei sozusagen um ein Buch im Buch handelt, welches ungefähr zehn Prozent der gesamten Novelle ausmacht. Es ist anzunehmen, dass Orwell diesen Kunstgriff wählte, um sachlich, präzise und direkt über Ideologie, Gesellschaftsstruktur und Herrschaftsmethoden einer totalitär-hierarchischen Welttyrannei aufzuklären.

Bevor Winston Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ findet, wird er verhaftet. Er war O’Brien, in Wahrheit einer der Chef-Inquisitoren der Inneren Partei, der Winston schon seit sieben Jahren als potentiellen Regimegegner überwachte, in die Falle gegangen.

Im Zentrum des dritten Teils steht die Bestrafung Winstons. Unter der von O’Brien geleiteten psychischen und physischen Folter lernt er am eigenen Leib das Wesen der Macht kennen und versteht, dass Macht in der totalitären Diktatur nicht Mittel, sondern Endziel ist. Für das Individuum gibt es letzten Endes kein Entrinnen, in der Schlüsselszene wird Winston dazu gebracht, dies zu akzeptieren. Der dystopische Held wird entmenschlicht und gebrochen, aber als konformes Parteimitglied in den totalitären Alltag entlassen.

Der Oligarchische Kollektivismus Ozeaniens

Goldsteins Buch, welches Orwell – wie bereits erwähnt – als Sprachrohr benutzt, beschreibt retrospektiv die historische Entwicklung, die zur Gesellschafts- bzw. Weltordnung, wie sie 1984 vorherrscht, führte.

Der Ursprung: Scheitern des utopischen Ideals

In dieser Schilderung nennt Orwell explizit Gründe für den dialektischen Umschwung von den klassischen Sozialutopien zu den nach den Zwanziger Jahren dominierenden negativen oder schwarzen Utopien, in deren Tradition er seinen Roman „1984“ sah.

Betrachtet man die Evolution von Mensch und Gesellschaft, so zeigt sich, dass sich Geschichte als Geschichte von Kämpfen um Macht konstituiert.

„Von Anbeginn der geschichtlichen Überlieferungen (…) gab es auf der Welt drei Arten von Menschen: die Oberen, die Mittleren und die Unteren (…) die Grundstruktur hat sich nie gewandelt.“[11]

Stets versuchten die Oberen ihren Machtanspruch und damit die Ungleichheit der Menschen festzuschreiben, während „die Mitte unter dem Banner der Gleichheit“[12] und durch Mobilisierung der Unterschicht Revolutionen führte. Sobald allerdings die alten Machthaber gestürzt waren, schwangen sich die ehemals so egalitär gesonnnen Mittelgruppen selbst zur Herrschaftselite auf und errichteten eine neue Tyrannei, um ihre Position zu sichern.

Auf Grund des technischen Fortschritts war seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen faktisch möglich geworden. Obwohl das utopische Ideal eines „irdischen Paradieses“ greifbar nah schien, wurde es dennoch nicht realisiert, sondern diskreditiert. Dies gilt in der politischen Utopienforschung als eine der entscheidenden Ursachen für den Umschlag zur Dominanz negativer Utopien.

Ein wesentliches Element der klassischen Sozialutopie war deren Hoffnung auf eine emanzipatorische Funktion des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts. [13] In der Entfaltung der industriellen Produktivkräfte sah man den Schlüssel zur Lösung des Verteilungsproblems. Durch die Hebung des allgemeinen Lebensstandards würde die Menschheit endlich aus Elend und Verdummung befreit werden. „Aber es war ebenfalls klar, dass ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte, ja, in gewissem Sinne ihren Untergang bedeutete.“[14] Die Machthabenden taten folglich alles, um die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für eine gerechte Verteilung zu verhindern. Der emanzipatorische Anspruch wurde in sein Gegenteil verkehrt, Wissenschaft und moderne Technik wurden von totalitären Regimes usurpiert, um die Ungleichheit zu manifestieren.

„(…) im vierten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts waren alle Hauptströmungen politischen Denkens autoritär. (…) Jede neue politische Theorie, welchen Namen sie sich auch geben mochte, führte zurück zur Hierarchie und Reglementierung. Und im Zuge der um das Jahr 1930 allgemein einsetzenden politischen Verhärtung wurden lange, in manchen Fällen seit Hunderten von Jahren aufgegebene Praktiken – wie Inhaftierung ohne Prozess, die Verwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, öffentliche Hinrichtungen, Folterung zwecks Geständniserpressung, Geiselnahme und Deportation ganzer Bevölkerungen – nicht bloß allgemein wieder eingeführt, sondern auch von Leuten toleriert und sogar verteidigt, die sich für aufgeklärt und fortschrittlich hielten.“[15]

Das theoretisch-ökonomische Fundament

Die staatstragende Ideologie des Oligarchischen Kollektivismus Ozeaniens trägt die Bezeichnung „Engsoc“, was für „Englischer Sozialismus“ steht.

Nach der revolutionären Dekade Mitte des 20. Jahrhunderts traten weltweit „Engsoc“ und seine Rivalen, der „Neo-Bolschewismus“ Eurasiens sowie der „Todeskult“ in Ostasien, als fertig ausgearbeitete politische Theorien in Erscheinung. Sie entwickelten sich ausgehend von den totalitären Regimes, welche in den Dreißiger und Vierziger Jahren dominant waren.

„Der Sozialismus, eine Theorie, die im frühen Neunzehnten Jahrhundert auftauchte und das letzte Glied in der Gedankenkette bildete, die zu den Sklavenaufständen der Antike zurückreichte, war noch stark infiziert vom Utopismus früherer Epochen. Doch in jeder seiner nach dem Jahr 1900 auftauchenden Varianten ließ der Sozialismus das Ziel, Freiheit und Gleichheit zu schaffen, immer offener fallen. Die neuen Bewegungen, die um die Jahrhundertmitte auftraten – Engsoc in Ozeanien, Neo-Bolschewismus in Eurasien, Todes-Kult in Ostasien -, hatten das erklärte Ziel, Unfreiheit und Ungleichheit fortbestehen zu lassen. Diese neuen Bewegungen erwuchsen natürlich aus den alten und waren bestrebt, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenbekenntnisse zu zollen. Doch sie hatten zum Ziel, den Fortschritt anzuhalten und die Geschichte in einem ganz bestimmten Moment einzufrieren. (…) Diesmal würden die Oberen durch eine gezielte Strategie ihre Position dauerhaft behaupten können.[16]

Aus diesen Zeilen spricht, wie dies im Übrigen für viele zentrale Passagen des Romans zutrifft, Orwells tiefe Desillusionierung hinsichtlich des real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion. Durch die bolschewistische Oktoberrevolution 1917 war letztendlich doch kein wirklicher Wandel der gesellschaftlichen Struktur herbeigeführt worden. James Burnham, dessen 1941 erschienenes Buch „Das Regime der Manager“ Orwell nachhaltig beeinflusste, beschrieb die Verhältnisse wie folgt:

„Von den drei entscheidenden Merkmalen der sozialistischen Gesellschaft – Klassenlosigkeit, Freiheit und Internationalität – ist Russland heute unermesslich viel weiter entfernt als während der ersten Jahre der Revolution.“[17]

In „1984“ übernimmt Orwell Burnhams Hauptthese, dass den kranken Kapitalismus nicht der utopische Sozialismus beerben werde, sondern eine neue, auf Kollektiveigentum basierende Ausbeutergesellschaft von technokratischen Managern. In der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland waren Vorformen dieser neuen Gesellschaftsordnung zu erkennen.

In Orwells dystopischem Entwurf verläuft die Entwicklung folgendermaßen: Die geistigen Väter des „Engsoc“ hatten aus der zyklischen Bewegung der Geschichte und aus den Fehlern früherer Diktaturen gelernt. Sie hatten erkannt, dass es für die Oligarchie, die sie in den Jahren nach der Revolution begründeten, „nur eine sichere Basis gab: den Kollektivismus“[18]. Denn „Wohlstand und Privilegien lassen sich am leichtesten verteidigen, wenn sie Gemeinschaftsbesitz sind“[19].

Die Abschaffung der privaten Eigentumsverhältnisse, mittels derer sich die Parteioligarchie mühelos die Herrschaft aneignen konnte, diente nur der Befestigung der sozialen Ungleichheit. Die Partei sicherte auf diese Weise den Fortbestand der hierarchischen Gesellschaftsordnung im Interesse ihres eigenen absoluten Machtanspruchs.

Das Ziel des oligarchischen Kollektivismus ist daher auch keinesfalls Produktionssteigerung, sondern die Verallgemeinerung des materiellen Mangels. Der Notstand dient vor allem dazu, das Volk weiterhin unmündig zu halten. Durch Armut verdummt und abgestumpft kann es sich nicht heranbilden und lernen selbstständig zu denken. Die breite Masse ist mit der bloßen Existenzsicherung beschäftigt und durch Propaganda und Unterhaltung zu befriedigen. Hier wird evident, warum die Partei „Unwissenheit ist Stärke“ als eine ihrer Parolen ausgibt. Der systematisch herbeigeführte allgemeine Verknappungszustand wird den Bürgern gegenüber durch die staatlich propagierte kollektive Ethik des Verzichts getarnt.

Der Unterdrückungs- und Überwachungsstaat

Nach der Machtübernahme durch die Partei wurden sämtliche Errungenschaften der Aufklärung und damit alle demokratisch-freiheitlichen Grundrechte sofort eliminiert.

Die winzige oligarchische Führungsriege sichert ihre Macht durch einen lückenlosen und grausamen Unterdrückungs- und Überwachungsapparat. Ein Parteimitglied lebt von der ‚Wiege bis zur Bahre’ „unter den Augen der Gedankenpolizei“[20]. Um zu verdeutlichen, dass eben zitierte Aussage durchaus wörtlich zu verstehen ist, möchte ich an dieser Stelle auf die sogenannten „Telescreens“ zu sprechen kommen. Es handelt sich dabei um Fernsehgeräte, die in beide Richtungen senden und empfangen und außer in den Proles-Bezirken omnipräsent sind. In jedem Zimmer der Wohnung eines Parteimitglieds ist ein solches Gerät installiert. Es gibt nur einen einzigen Kanal, der ausschließlich Parteipropaganda ausstrahlt und nicht abgeschaltet werden darf. Da der Monitor zudem wie eine Überwachungskamera funktioniert, kann das Parteimitglied jede Sekunde belauscht und beobachtet werden.

Jeder unorthodoxe Gedanke, jedes non-konforme Gefühl wird als schweres Delikt geahndet, der Delinquent umgehend liquidiert oder in ein Zwangsarbeitslager verbannt.

Das Paradoxe dabei ist, dass es in Ozeanien kein Gesetz gibt:

„Gedanken und Taten, die bei Entdeckung den sicheren Tod zur Folge haben, sind nicht formell verboten, und die endlosen Säuberungswellen, Verhaftungen, Folterungen, Einkerkerungen und Vaporisationen werden nicht als Strafe für wirklich begangene Delikte verhängt, sondern dienen lediglich zur Auslöschung von Personen, die vielleicht irgendwann in der Zukunft einmal ein Delikt begehen könnten.“ [21]

Die Überwachungsspezialisten sind darauf geschult, kleinste Anzeichen innerer Unruhe oder ähnliche potentielle Symptome eines Gedankendelikts in Mimik oder Gestik zu erkennen. Das Parteimitglied ist also gezwungen, seine Gesichtszüge jederzeit absolut zu kontrollieren, da es sonst ein im Neusprech-Jargon „Blickdel“ genanntes Delikt begeht.[22]

„Der Wissenschaftler von heute ist (…) eine Mischung aus Psychologe und Inquisitor, der mit minutiöser Genauigkeit die Bedeutung des Minenspiels, der Gesten und des Tonfalls studiert und die wahrheitsfördernden Wirkungen von Drogen, Elektroschocks, Hypnose und körperlicher Folter testet (…)“.[23]

Helikopter und normale Polizei patrouillieren zusätzlich, selbst in der freien Natur sind Mikrophone installiert, so dass es für das Individuum praktisch keine Möglichkeit gibt, dem Überwachungsnetz zu entfliehen.

Unbestritten lieferten Nazi-Deutschland und der Stalinismus die historische Vorlage für die in Orwells Schreckensvision – teilweise satirisch überspitzt - beschriebene Terrorherrschaft. Dies gilt nicht nur für Methoden und generelle Suppressionspraxis der ozeanischen Parteidiktatur, sondern auch für die Struktur der Gesellschaft, wie im Folgenden deutlich wird.

Die ozeanische Gesellschaftsordnung

Elementares Merkmal der ozeanischen Gesellschaft mit ihrer Staatsform des „Oligarchischen Kollektivismus“ ist der pyramidale Aufbau.

Der Grosse Bruder

An der Spitze des Staates steht eine Führerfigur namens „Großer Bruder“. Dieser ist keine reale Person, sondern „(…) die Gestalt, in der es der Partei beliebt, sich der Welt zu präsentieren. Er erfüllt die Funktion einer Sammellinse für Liebe, Furcht und Verehrung, für Gefühle, die man leichter gegenüber einem Einzelmenschen als gegenüber einer Organisation empfindet.“[24]

Nach den Grundsätzen des „Engsoc“ ist der Führer unfehlbar und allmächtig. Sein Gesicht ist auf Plakaten, den „Telescreens“ und nahezu sämtlichen Alltagsgegenständen omnipräsent, untertitelt mit dem Slogan „Der Grosse Bruder sieht Dich“, aber in persona wurde er noch nie gesehen.

Es ist evident, dass Stalin, dem sogar das optische Erscheinungsbild des fiktiven Führers nachgezeichnet ist, sowie Hitler, Franco und andere totalitäre Despoten, Orwell als abschreckende historische Vorbilder für den „Grossen Bruder“ dienten. Symbolisch steht Big Brother für jeden Diktator überall.

Die Partei

Unterhalb des Grossen Bruders folgt in der Hierarchie die Partei, deren Mitgliedszahl insgesamt circa fünfzehn Prozent der Bevölkerung ausmacht. Sie ist aufgeteilt[25] in die Innere Partei mit einem Gesamtbevölkerungsanteil von ungefähr zwei Prozent, und die Äußere Partei, zu der etwa dreizehn Prozent des ozeanischen Volkes zählen.

Seit der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts besteht die einzig wirkliche Gefahr für das konsolidierte oligarchisch- kollektivistische Regime „in der Abspaltung einer neuen Gruppe fähiger, nicht ausgelasteter, machthungriger Personen und im wachsenden Liberalismus und Skeptizismus in ihren eigenen Reihen. Das Problem ist somit erzieherischer Natur. Es besteht in der dauernden Bewusstseinsformung sowohl der leitenden Gruppe als auch der unmittelbar unter ihr stehenden größeren exekutiven Gruppe. Das Bewusstsein der Massen muss nur in negativer Weise beeinflusst werden.“[26]

Bei Parteimitgliedern wird daher nicht die minimalste Meinungsabweichung toleriert, ihr Leben wird bis ins intimste Detail von der Partei diktiert und entsprechend überwacht. Die Glaubensbasis der ozeanischen Gesellschaft, wonach der Grosse Bruder allmächtig und die Partei unfehlbar ist, muss völlig verinnerlicht sein. Von einem Parteimitglied wird erwartet, dass es die richtigen Ansichten und Instinkte hat. Dabei werden „(…) viele der ihm abgeforderten Überzeugungen und Verhaltensweisen (…) nie direkt formuliert und können auch nicht formuliert werden, ohne die dem Engsoc innewohnenden Widersprüche aufzudecken“.[27] Das von der Partei geforderte Persönlichkeitsprofil ist in folgendem Zitat auf den Punkt gebracht:

„Es (das Parteimitglied) soll in dauerndem Hass auf ausländische Feinde und innere Verräter, in ständigem Siegestaumel und in unablässiger Selbstdemütigung vor der Macht und Weisheit der Partei leben.“[28]

Die Innere Partei

Die Mitglieder der Inneren Partei, die auch „als das Gehirn des Staates bezeichnet“[29] wird, stellen die oligarchische Führungsriege dar, in deren Händen die gesamte Staatsmacht konzentriert ist. Diese etwa sechs Millionen Angehörige umfassende und daher verhältnismäßig winzige neue Kaste der Oberen ging aus der Mittelschicht und der gehobenen Arbeiterklasse hervor. Ihre Mitglieder besetzen die höchsten Posten in der Verwaltung des Ozeanischen Staates, wohnen in komfortabel eingerichteten Häusern und genießen gewisse Privilegien, wie etwa einen Privat-Hubschrauber oder eine kleine Dienerschaft.[30]

Von früheren herrschenden Gruppen unterscheidet sich die post-totalitäre Oligarchie Ozeaniens vor allem darin, dass es ihr weniger um persönliche Bereicherung oder ‚Glanz und Glorie’ der Herrschaft geht, sondern der Machthunger per se das entscheidende Leitmotiv ist.

„Die Partei kennt zwei Ziele: die Eroberung des gesamten Erdballs und die endgültige Tilgung jeder Möglichkeit unabhängigen Denkens.“ [31]

Eine Gefährdung ihrer Machtposition droht der Partei, wie gesagt, nur aus den eigenen Reihen, daher ist „der entscheidende Faktor (…) letztlich die geistige Einstellung der herrschenden Klasse selbst“.[32] Deren Gesinnung, auf die ich später noch einmal ausführlicher zu sprechen komme, ist primär durch grenzenlose Machtbesessenheit und Fanatismus charakterisiert.

Die Herrschaft ist in Ozeanien kein erbliches ‚Klassenprivileg’, denn wichtig ist nicht die Kontinuität des Blutes, sondern die der Weltanschauung und Lebensweise.[33] Es handelt sich daher nicht um eine Klassengesellschaft im traditionellen Sinn, da die Oberen ihre Position nicht für die eigene Nachkommenschaft erhalten wollen. Besonders eifrigen, hochstrebenden Mitgliedern der Äußeren Partei wird beispielsweise der Aufstieg in die Innere Partei erlaubt. Da sie als potentiell unzufriedene Bürger ein Risiko darstellen, sucht man sie durch Einbindung in den inneren Machtkreis zu befriedigen und ihren willfährigen Enthusiasmus weiter zum Wohle der Partei auszunützen. Vice versa zögert man nicht, Genossen aus der Inneren Partei auszuschließen, sobald sie die geringste Schwäche zeigen. Besonders talentierte „Proles“ werden in der Regel umgehend liquidiert, was jedoch keineswegs ein festgeschriebenes Prinzip, sondern reine Willkür ist.[34]

Die Äußere Partei

Die Äußere Partei wird methaporisch auch als „die Hände des Staates“[35] bezeichnet, da sie sich vornehmlich aus Bürokraten und anderen Staatsbediensteten konstituiert. Ihre Mitglieder arbeiten in der Regel für eines der vier Ministerien, die das Staatswesen Ozeaniens verwalten: Das „Ministerium für Wahrheit“ ist hauptsächlich für Geschichts- und Medienfälschung, aber auch für eine parteikonforme Freizeitgestaltung und Erziehung zuständig. Das „Ministerium für Frieden“ dient der Organisation des Krieges, während das „Ministerium für Überfülle“ den allgemeinen Mangel bzw. die Rationalisierungen verwaltet. Im „Ministerium für Liebe“, offiziell befasst mit der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung, werden Folter und Gehirnwäsche an Dissidenten durchgeführt.

Obwohl die Mitglieder der Äußeren Partei in der Gesellschaftshierarchie die Mittelschicht darstellen, ist ihr Lebensstandard auf Grund des kriegsbedingten materiellen Notstands sehr niedrig. Inwiefern die Chefideologen der Inneren Partei diesen inszenieren und instrumentalisieren, werde ich im Kapitel „Das Internationale System: #Krieg ist Frieden’“ ausführlich darlegen. Die Kluft zwischen den beiden Zweigen der Partei ist so enorm, dass man durchaus von zwei unterschiedlichen Welten sprechen kann. Angehörige der Äußeren Partei wohnen in hässlichen, unwirtlichen Wohnungen bzw. Mietskasernen. Arbeit und Entbehrung bestimmen das ärmliche Dasein; in der Regel herrscht chronischer Mangel an den essentiellsten Dingen.

Ausgehend von seiner eigenen Lebenserfahrung beschrieb Orwell die desolaten Verhältnisse so plastisch und lebensnah, dass sich die zeitgenössische Leserschaft geradezu in das Großbritannien während der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges bzw. das Nachkriegs-England versetzt fühlte. Ebenso meisterhaft führt Orwell dem Leser vor Augen, auf welch groteske Art die staatliche Dauer-Propaganda, die ja eines der wesentlichen Elemente totalitärer Diktaturen darstellt, mit dreistesten Lügen der Bevölkerung eine völlig andere Realität vortäuscht.

Die von der Führungsriege betriebene systematische Retardierung des Fortschritts impliziert in der Praxis einen weiteren zentralen Punkt des dystopischen Entwurfs, nämlich die Tilgung der Vergangenheit und damit der Vergleichsmaßstäbe aus den Köpfen und Herzen der Bürger. Nicht umsonst entwickelt sich Winston Smiths Dissens ausgehend von dem Verdacht, dass die vorrevolutionäre Vergangenheit, an die er allerdings nur bruchstückhafte Kindheitserinnerungen besitzt, besser war als die kalte, morbide, freudlose Welt von 1984.[36]

Das einem Parteimitglied abverlangte Arbeitspensum ist immens und selbst die wenige verbleibende Freizeit muss für von der Partei angeordnete Gemeinschafts-Aktivitäten zur Verfügung gestellt werden. Nicht-Teilnahme ist ein schweres Delikt und auf Grund der drastischen Sanktionen für das Individuum lebensgefährlich.[37]

Das staatliche Bestreben, einen neuen, besseren Menschen aus dem Gemeinwesen hervorgehen zu lassen, war seit Platon ein bekanntes Motiv der klassischen Sozialutopie.[38] In der orwellschen Dystopie erweist sich diese Konzeption – wie dies im Übrigen auch bei Samjatin und Huxley der Fall ist[39] – nur als Trugbild. Der von der Regierung als Ideal propagierte Körpertypus „(…) großgewachsene muskulöse Jungs und vollbusige Mädel, blond, vital, sonnenverbrannt, sorglos (…)“[40] ist in der ozeanischen Realität äußerst rar. Der ‚bürokratische Kollektivismus’[41] beförderte nämlich ein ganz anderes äußeres Erscheinungsbild, so dass für die überwiegende Mehrheit der Bewohner von ‚Landefeld Eins’ die in folgendem Zitat beschriebene Physiognomie typisch ist:

„Es war schon eigentümlich, wie sich dieser käferartige Typus in den Ministerien vermehrte: kleine rundliche Männer, die bereits früh zur Korpulenz neigten, mit kurzen Beinen, flinken Trippelschritten und feisten, undurchdringlichen Gesichtern mit winzig kleinen Augen. Dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen.“[42]

Exkurs: Geschlechterbeziehung und Familie

Ein elementares Motiv der archistischen Sozialutopie in der Tradition Platons und Morus’ stellte die sittliche Ordnung der Geschlechterbeziehung durch den Staat dar. Die Autoren der negativen Utopien griffen dieses charakteristische Element auf, in ihren dystopischen Entwürfen wird es zu einem weiteren Instrument der totalitären Unterdrückungsmaschinerie und dient ausschließlich dem Zweck, den Status quo der Machtverteilung aufrechtzuerhalten.[43]

So überwacht in Ozeanien im Jahr 1984 der Staat bzw. der luminös, gottgleich über allem schwebende „Grosse Bruder“ sämtliche Eheschließungen. Demgemäß müssen alle Heiraten „von einer zu diesem Zweck eingesetzten Kommission gebilligt werden, und diese Genehmigung wurde immer dann verweigert – obwohl das nie offen gesagt wurde -, wenn das betreffende Paar sich körperlich zueinander hingezogen zu fühlen schien“[44]. Die Institution Ehe dient ausschließlich dazu, die Partei mit neuem Nachwuchs zu versorgen. Die Liebe, vor allem aber der unkontrollierbare Sexualtrieb, sollen wie alle anderen privaten Gefühle und Leidenschaften eliminiert werden.

„Ihre wahre, unausgesprochene Absicht war es, dem Geschlechtsakt jegliche Freude zu nehmen. Weniger die Liebe als vielmehr die Erotik war der Feind, innerhalb wie außerhalb der Ehe.“[45]

Nach dem extremen sexuellen Puritanismus gilt schon ein Geschlechtsakt, welcher der menschlichen Natur, die nach Befriedigung und Lustgewinn strebt, freien Lauf lässt, als „Sexdel“[46]. Organisationen wie die „Junioren Anti-Sex Liga“ dienen dazu, die Menschen bereits im Jugendalter mit der staatlich verordneten widernatürlichen Sexualmoral zu indoktrinieren und zum „Gutsex“[47] zu erziehen.

Das Endziel der herrschenden Elite ist es, den Orgasmus abzuschaffen. Im Jahre 1984 forschen Neurologen bereits intensiv an der Lösung dieses Problems. Auch an dieser Stelle ist auf das dystopische Motiv hinzuweisen, wonach die moderne Wissenschaft und die fortschrittlichen Techniken der Naturbeherrschung von den Mächtigen missbraucht werden, um immer perfektere Methoden zur Unterdrückung und Manipulation der Menschheit zu erfinden.

In diesem Kontext gewinnt die Persönlichkeit Julias, der Geliebten des Protagonisten, einen besonderen Stellenwert, da sie den Weg einer ‚sexuellen Revolution’ gegen den Unterdrückerstaat verkörpert. Julia, durch deren Initiative die Liebes-Affäre mit dem anfangs äußerst misstrauischen Winston überhaupt zustande kommt, führt ein Doppelleben: Nach außen als perfektes, konformes Parteimitglied getarnt, „drehte sich im Endeffekt alles um ihre eigene Sexualität“[48], als dem Hort freier Entfaltung von Lebensfreude und Vitalität. Im Gegensatz zu Winston ist Julias Denken unpolitisch, sie hinterfragt das verhasste System nicht und hält jede Art von organisierter Revolte für sinnlos. Mittels Schläue, weiblicher Raffinesse und pragmatischer Überlebensstrategien gelang es ihr bisher, den Überwachungsapparat zu überlisten und sich in ihre eigene hedonistische Welt zurückzuziehen. Obwohl weder gebildet noch besonders intelligent hatte Julia intuitiv erkannt, zu welchem Zweck die Partei ihren Mitgliedern den strengen sexuellen Puritanismus und somit eine gänzlich entartete Form der Geschlechterbeziehung aufoktroyierte.

„Es ging nicht nur darum, dass sich der Sexualtrieb eine eigene Welt schuf, die der Kontrolle der Partei entzogen blieb und deshalb, wenn möglich, zerstört werden musste. Entscheidender war, dass der Sexualentzug Hysterie auslöste, ein erstrebenswertes Ziel, denn diese Hysterie konnte in Kriegsfieber und Führerverehrung umgewandelt werden. (…) Es bestand da ein direkter Zusammenhang zwischen Keuschheit und politischer Orthodoxie. Die Partei brauchte die Angst, den Hass und die wahnsinnige Leichtgläubigkeit ihrer Mitglieder, denn wie sonst ließen sich die Gefühle in der richtigen Spannung halten als dadurch, dass man einen mächtigen Trieb unterdrückte und ihn dann als Motor benutzte? Der Sexualtrieb gefährdete die Partei, und die Partei hatte ihn sich dienstbar gemacht.“ [49]

Mit Julia erlebt Winston, der in seiner freudlosen Ehe mit der streng orthodoxen Katharine nur sexuelle Frustration erfahren hatte, den Sexualakt als Befreiungsschlag.

„(…) der animalische Trieb, die simple unterschiedslose Begierde: das war die Kraft, die die Partei in Stücke sprengen würde.“[50]

Auch die Elternliebe, wie der Geschlechtstrieb ein natürlicher menschlicher Instinkt, stellte für die Machthaber ein unkontrollierbares Risiko dar. Das Fernziel der Parteiführung war es zwar, die Familie bzw. sämtliche verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen Bande zwischen den Menschen gänzlich auszurotten, bis dies realisierbar war, beschränkte man sich jedoch darauf, die elterliche Sorge auf perfideste Art auszunutzen.[51] So gilt es im Jahre 1984 als eine der obersten, ehrenvollsten Pflichten eines Parteimitglieds, Nachkommen zu zeugen und die staatlich organisierte Erziehung ihrer Sprösslinge zu willfährigen, künftigen Parteifunktionären aus voller Kraft zu fördern. Auch hier kommt die perfekt funktionierende Propagandamaschinerie der Parteiführung äußerst effizient zum Einsatz. Das orthodoxe Parteimitglied ist ehrgeizig darum bemüht und stolz darauf, sich durch leistungsfähigen, vielversprechenden Nachwuchs um die Partei verdient zu machen.

Die Kinder dagegen werden von frühestem Alter an entsprechend der Parteiideologie indoktriniert und in Organisationen, wie den „Spitzel“ oder der „Jugendliga“ systematisch darauf geschult, jeden und alles zu verraten. Die ozeanische Sozialisation macht aus den formbaren, enthusiastischen Zöglingen entmenschlichte kleine Monster. Ihren Eltern sind sie völlig entfremdet und mit kindlichem Eifer darauf aus, diese auszuspionieren und einen Anlass zu finden, sie bei der Gedankenpolizei zu verraten.[52]

Die Institution der Familie existiert somit nur noch zum Schein und leistet dem Unterdrückungs- und Überwachungsstaat, als „verlängerter Arm der Gedankenpolizei“[53], wertvolle Dienste.

Die Proles

Die Proles, welche in der hierarchischen Gesellschaftsordnung die Unterschicht darstellen, machen circa 85 Prozent der Bevölkerung Ozeaniens aus. Ihnen ist die gesamte körperliche Schwerstarbeit in Industrie und Landwirtschaft aufgebürdet. Die Partei ist ausschließlich an ihrer Arbeitskraft, ohne die das Staatswesen zusammenbrechen würde, interessiert. Ansonsten wird die untere Kaste von der Partei völlig ignoriert, was in offenem Gegensatz zur Bezeichnung der Staatsideologie als „sozialistisch“ steht. Die Partei behauptet zwar, die Proles von der kapitalistischen Unterdrückung und Ausbeutung befreit zu haben, de facto hatte sich durch die Revolution, die nur dazu diente, eine neue Oberschicht an die Macht zu bringen, die soziale Lage der Unteren keineswegs verbessert.[54] Während sich die Partei einerseits dieser frei erfundenen Heldentat rühmt, lehrt sie auf der anderen Seite, „dass Proles von Natur aus Menschen zweiter Klasse waren, die mittels Anwendung von ein paar simplen Regeln wie Tiere in Abhängigkeit gehalten werden mussten“[55].

Dies ist nur einer der zahlreichen eklatanten Widersprüche, die dem ozeanischen Staatssystem immanent sind. Im Kapitel „Manipulation des Geistes: ‚Doppeldenk’ und ‚Neusprech’“ werde ich auf diese Thematik noch einmal ausführlich zu sprechen kommen.

Die Haltung der Oligarchen gegenüber den Unteren ist am prägnantesten in dem Parteislogan „Proles und Tiere sind frei“[56] formuliert. Obwohl sie zahlenmäßig die absolute Übermacht darstellen, sind sie als politischer Faktor unbedeutend, wie folgendes Zitat belegt:

„Was die Massen meinen oder nicht meinen, wird als gleichgültig angesehen. Man kann ihnen intellektuelle Freiheit einräumen, da sie keinen Intellekt besitzen.“[57]

Die Partei hält es für ausgeschlossen, dass von den Proles eine revolutionäre Gefahr ausgeht. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich die Massen nie von selbst erheben, da ihnen die Einsicht in die politischen Zusammenhänge fehlt. Das Volk kommt auch nicht auf die Idee, gegen die desaströsen Lebensbedingungen aufzubegehren. Da weder Wahrheit noch Vergangenheit und damit keinerlei Vergleichsmaßstäbe existieren, merken die Proles nicht einmal, dass sie ausgebeutet und unterdrückt werden. Für die Machthaber sind sie daher leicht zu kontrollieren; es muss lediglich verhindert werden, dass sie sich heranbilden und die intellektuellen Fähigkeiten entwickeln, das Regime zu durchschauen. Da man also davon ausgeht, dass die Unteren zu sehr mit dem Überlebenskampf beschäftigt sind, um ihre Lebensumstände bzw. das System kritisch zu hinterfragen, werden sie kaum überwacht und nicht politisch indoktriniert. Nur vereinzelt interessieren sich Agenten der Gedankenpolizei für die Vorgänge in den Proles-Bezirken. Generell greift die Partei nicht in das Privatleben der Proles ein, Familie und Sexualität dürfen hier also in ihrer natürlichen Form existieren, nicht einmal Verbrechen und sexuelle Promiskuität werden durch die Exekutive geahndet. In dumpfe Privatheit abgedrängt, vegetiert die Masse in den Slums der Städte dahin, durch harte Fron, Unterernährung und andere Zivilisationsrückstände völlig ausgelaugt verbringt sie ihre spärliche Freizeit primär mit seichter Unterhaltung. Die Partei als Feind jeglicher Kultivierung forciert die ‚Volksverdummung’ systematisch.[58] In einer Unterabteilung der „Romanabteilung“ des Ministeriums für Wahrheit, der sogenannten „Pornosek“, arbeiten vermeintlich besonders orthodoxe weibliche Mitglieder der äußeren Partei an der Produktion billiger, für den Verkauf an die Proles bestimmter Pornographie.[59] Für die Unterschicht werden außerdem einfache populäre Schlager produziert, die von eigens zu diesem Zweck entwickelten Maschinen komponiert werden. Neben dem Biertrinken ist die staatliche Lotterie eine der Hauptfreizeitaktivitäten der Proles. Naiv hoffen sie ihr Leben lang darauf, einen der versprochenen riesigen Preise zu gewinnen, doch Winston weiß, wie alle Parteimitglieder, dass die Hauptgewinne frei erfunden sind und höchstens geringe Summen gelegentlich ausgezahlt werden.[60]

In den Worten Orwells, bekanntermaßen selbst ein durch die Realität desillusionierter Anhänger des frühen Sozialismus, ist das zur politischen Passivität verdammte Dasein der Proles wie folgt beschrieben:

„Sich selbst überlassen, wie das auf den Ebenen Argentiniens in Freiheit gesetzte Vieh, waren sie zu einem Lebensstil zurückgekehrt, der ihnen angeboren, eine Art Erbmuster zu sein schien. Sie kamen zur Welt, sie wuchsen in der Gosse auf, sie begannen mit zwölf zu arbeiten, sie durchlebten eine kurze Blütezeit der körperlichen Schönheit und sexuellen Lust, sie heirateten mit zwanzig, begannen mit dreißig zu altern und starben größtenteils mit sechzig. Körperliche Schwerarbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitereien mit den Nachbarn, Kino, Fußball, Bier und vor allem Glücksspiele steckten ihren Denkhorizont ab.“ [61]

Winstons Hoffnung auf einen Sturz der Oligarchen-Riege durch ein vereinigtes und damit unbezwingbares Proletariat wird im Laufe des Romans mehrfach thematisiert. Als Parteimitglied ist Winston gefangen in einem Heer konformer und dadurch entmenschlichter Funktionäre und Bürokraten. Als isoliertes, einsames und hilfloses Individuum führt er einen Kampf gegen die Tyrannei, von dem er selbst weiß, dass er zum Scheitern verurteilt ist und letztendlich seinen Tod bedeutet. Die Proles dagegen sind politisch weit weniger orthodox, an ihnen erkennt der Protagonist menschliche Gefühle, die er selbst erst wieder erlernen muss. Im Proletariat sieht Winston das mächtige Potential für eine bessere Zukunft. Er findet jedoch keine Antwort auf die Frage, wie die Volksmasse einen Ausweg aus dem Teufelskreis der fremdverschuldeten Unmündigkeit finden kann.

„Solange ihr Bewusstsein nicht erwacht, werden sie niemals rebellieren, und solange sie nicht rebelliert haben, wird ihr Bewusstsein nicht erwachen können.“ [62]

Solange die Proles nicht fähig sind, selbständig zu denken, bleiben sie für die Partei-Intellektuellen völlig manipulierbar. Permanent wird die Angst vor inneren und äußeren Feinden geschürt, um das Volk in einer paranoiden Stimmung zu halten und eine Art primitiven Patriotismus zu nähren. Auf diese Weise bringt man die Proles dazu, sich mit weiteren Rationalisierungsmassnahmen oder noch längeren Arbeitszeiten abzufinden. Ist es der Partei von Nutzen, kann sie den Volkszorn schon durch das Streuen einiger Gerüchte via Agenten der Gedankenpolizei entflammen lassen.[63]

Der Staatsfeind: Emmanuel Goldstein

Der von der Partei als das personifizierte Böse geächtete Emmanuel Goldstein ist in seiner Rolle als Hassobjekt ebenfalls symbolträchtiger Bestandteil der ozeanischen Gesellschaft.

Name und Aussehen lassen auf eine jüdische Abstammung schließen, wie folgendes Zitat belegt:

„Es war ein hageres Judengesicht mit einem mächtigen krausen weißen Haarkranz und einem Ziegenbärtchen – ein kluges Gesicht und doch der inneren Natur nach irgendwie verächtlich (…)“.[64]

Da die Partei festlegt, was wahr und falsch ist, gibt es keine objektiven Fakten, sondern nur Spekulationen, Gerüchte und Parteipropaganda[65], was insbesondere auf den Fall Goldstein zutrifft.

Nach der in Ozeanien gängigen Version der Wahrheit war Goldstein einst ein hochrangiges Parteimitglied, beinahe auf einer Ebene mit dem „Grossen Bruder“ selbst. Dann wurde er der Konterrevolution beschuldigt, des Verrats an der Partei angeklagt und zum Tode verurteilt. Er konnte allerdings auf rätselhafte Weise fliehen und sich ins Ausland oder in den Untergrund absetzen.

„Irgendwo lebte er noch und plante weitere Konspirationen, irgendwo jenseits des Meeres vielleicht, unter der Protektion seiner finanzkräftigen ausländischen Hintermänner, vielleicht sogar – wie zuweilen das Gerücht ging – in einem Unterschlupf in Ozeanien selbst.“[66]

Angeblich ist Goldstein Begründer und Anführer der Widerstandsbewegung „Die Bruderschaft“. Allerdings ist nicht sicher, ob diese überhaupt existiert oder ob sie von der Partei erfunden wurde.[67] Zumindest geben sich Spione der Gedankenpolizei als Rebellen aus, um Dissidenten auf der Suche nach Verbündeten in die Falle zu locken.[68]