Die Wenigen und die Vielen - Hans Sahl - E-Book

Die Wenigen und die Vielen E-Book

Hans Sahl

4,8
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hans Sahls wahrhaft großer Roman: Eines der wichtigsten Werke der deutschen Exilliteratur

In seinem einzigen Roman erzählt Hans Sahl die Geschichte eines Schriftstellers, der zur Flucht aus Nazi-Deutschland gezwungen wird, kreuz und quer durch Europa gehetzt wird und bei seiner glücklichen Ankunft in New York das eigenartige Gefühl nicht abschütteln kann: Das Exil werde ich nie mehr hinter mir lassen …

»Ich bin kein Held. Ich habe Angst vor Ratten und vor Schlangen. Ich gehe ungern durch einen dunklen Wald. Ich liebe es nicht, misshandelt zu werden. Schlachtenlärm und Weltuntergänge sowie alle historischen Ereignisse, die sich geräuschvoll abspielen, sind mir unsympathisch. Ich liebe Bücher und Bilder, gute Musik und gute Weine …« So beginnt Georg Kobbe in Hans Sahls 1959 erstmals publiziertem Roman »Die Wenigen und die Vielen« von sich zu erzählen. Es ist die abenteuerliche Geschichte eines Berliners Dichters, der, weil er die falschen Bücher las und schrieb, vor allem aber, weil er ein Jude war, durch halb Europa gejagt wurde, bis er sich schließlich in Amerika in Sicherheit bringen konnte.
Hans Sahls Roman, der vom Untergang einer ganzen Welt erzählt, gehört zu den wichtigsten Zeugnissen der Geschichte des deutschen Exils.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 478

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
DIE LETZTEN
ERSTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4 – Die Mergenthins
Kapitel 5 – Katharina
Kapitel 6 – Geschichte eines guten Menschen
Kapitel 7
Kapitel 8
ZWEITES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Das Schafott der Trinker I
Das Schafott der Trinker II
Kapitel 9
Kapitel 10
Das Schafott der Trinker III
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Das Schafott der Trinker IV
Kapitel 16
Kapitel 17
DRITTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7 – Aus Kobbes Tagebüchern
Der Mittagstisch
VIERTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
FÜNFTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2 – Kobbe an Borinski
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6 – Aus Kobbes Tagebüchern
Das Schafott der Trinker V
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10 – Borinskis Abschiedsbrief
Kapitel 11
Copyright
DIE LETZTEN
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde wie einen Bauchladen vor uns her. Forschungsinstitute bewerben sich um Wäscherechnungen Verschollener, Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsre Zeit vertrödelten, aus begreiflichen Gründen, sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden. Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz. Unser bester Kunde ist das schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch,
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
1973
Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein …
GERTRUD KOLMAR
ERSTES BUCH
1
Die einzigen wahren Gedanken sind die Gedan- ken der Schiffbrüchigen.
ORTEGA Y GASSET
Ich bin kein Held. Ich habe Angst vor Ratten und vor Schlangen. Ich gehe ungern durch einen dunklen Wald. Ich liebe es nicht, mißhandelt zu werden. Schlachtenlärm und Weltuntergänge sowie alle historischen Ereignisse, die sich geräuschvoll abspielen, sind mir unsympathisch. Ich liebe Bücher und Bilder, gute Musik und gute Weine. Ich esse gern gut. Ich lebe gern bequem. Unter normalen Umständen wäre ich gewiß ein nützliches Mitglied der Gesellschaft geworden. Ich hätte es bestimmt zu etwas gebracht, wäre geachtet und geehrt worden, hätte einen auskömmlichen Posten in der Verwaltung und ein Häuschen vor der Stadt, in dem es sich leben ließe. Ich wäre viel gereist, nicht zuletzt, um meine Sprachkenntnisse zu vervollkommnen und meine Sehnsucht nach exotischen Gegenden zu befriedigen. Meine Gedichte wären jeden Sonntag in der Frauenbeilage des geschätzten Lokalblattes erschienen, rechts unten, in der Ecke, zwischen Kochrezepten und ähnlichen praktischen Winken für die Hausfrau, sorgfältig gesetzt und nicht ohne eine gewisse Aufmachung, wie es sich für einen angesehenen Mitarbeiter gehört, der sich in zwanzig Jahren die Aufmerksamkeit der Abonnenten erobert hat. Ich wäre ein Freund des Fortschritts gewesen, allen Neuerungen auf technischem, wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiet zugänglich, ein Vorkämpfer der Moderne, beseelt von dem tiefen Glauben an Wahrheit und Menschlichkeit und an die steigende Auflagenziffer meiner Zeitung. Ich hätte die sozialen Auseinandersetzungen meiner Epoche mit der Objektivität des unparteiischen Beobachters verfolgt, der weiß, daß ›nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird‹, daß die Wahrheit immer in der Mitte liegt, das heißt dort, wo sie keinen Schaden anrichten kann, und daß die oft erwähnte ›Gerechtigkeit auf Erden‹ ein schöner Traum ist, wert, von den Edelsten aller Zeiten geträumt zu werden, aber doch eben nur ein Traum, eine Utopie, und als solche undurchführbar, ja, gefährlich. Überzeugt von der Fragwürdigkeit aller menschlicher Bemühungen, die Welt zu verändern, wäre es mir gelungen, an den kleinen Freuden des Lebens Gefallen zu finden und dem Schöpfer für jeden Tag zu danken, den er mir schenkte. Ich hätte meiner Wehmut über die Unzulänglichkeit irdischer Institutionen in einer Form Ausdruck gegeben, deren schöne Gemessenheit viele Nachahmer auf den Plan gerufen und die Akademie bewogen hätte, mich zu ihrem Ehrenmitglied zu ernennen. Bei alledem hätte ich mich eines gewissen, sozusagen ›metaphysischen‹ Mitgefühls für die von der Gesellschaft Enterbten nicht enthalten können. Ich wäre für die Armen und Unterdrückten eingetreten, soweit es meine Zeitung und die hinter ihr stehende – übrigens sehr mächtige – Gruppe erlaubt haben würde, und ich hätte mich nicht gescheut, in dichterischer, das heißt symbolischer Form, auf gewisse Übelstände hinzuweisen, Justizirrtümer aufzudekken und das Unrecht, wenn auch mit Maß und Vorsicht – man kann nichts Unmögliches verlangen! – anzuprangern. Darüber wäre ein Menschenalter verstrichen, reich an Mühe und Sorgen, aber auch reich an Anerkennung, und ich wäre als ein weiser und rechtschaffener Mann zu Grabe getragen worden, den Kindern ein leuchtendes Vorbild, der Nachwelt ein Beispiel humaner Pflichterfüllung und tätiger Anteilnahme an den Geschäften der Welt.
Ecce homo! Was für ein Mensch wäre mit mir dahingegangen! Ja, was für ein Mensch, dumm, eitel, selbstgefällig; einer von denen, die geboren wurden, um glücklich zu sein und ihre Tage in einem Häuschen vor der Stadt zu beschließen. Aber das Jahrhundert, in dem ich geboren wurde, hat meiner Karriere ein ebenso frühes wie unrühmliches Ende bereitet. Ich bin aufgewachsen in einem Land, das von Hunger und Bürgerkrieg heimgesucht war und in dem finstere Gedanken die Gehirne verwüsteten. Anstatt dem Schöpfer für jeden Tag zu danken, den er mir schenkte, habe ich mir oft gewünscht, den nächsten nicht mehr zu erleben. Meine Arbeiten sind über die halbe Welt verstreut; meine Gedichte erschienen in Zeitungen, die von mutigen Männern ohne Geld gedruckt wurden, links unten, in der Ecke, zwischen Greuelnachrichten und den Meldungen von den Martern meiner ermordeten Freunde. Ich habe mein Bett oft gewechselt. Meine Sehnsucht nach exotischen Gegenden ist auf eine Weise befriedigt worden, die alle Erwartungen übertraf. Ich habe viele Länder bereist und in vielen Sprachen gelernt, meine Gedanken zu verbergen. Ich ging mit den Hungrigen schlafen, und wenn ich am Morgen aufwachte, hörte ich die Schritte meiner Verfolger vor dem Fenster und versteckte mich. Ich bin nicht Mitglied der Akademie geworden. Ich habe kein Talent entwickelt, das sich verkaufen läßt. Meine Wehmut über die Unzulänglichkeit irdischer Institutionen hat mich nicht daran gehindert, an den Kämpfen um ihre Verbesserung teilzunehmen und mich mit den hinter ihnen stehenden – übrigens sehr mächtigen – Gruppen zu überwerfen. Ich habe Schlachten beigewohnt und Weltuntergängen, die sich überaus geräuschvoll abspielten, und trotzdem bin ich kein Held geworden, nein, ich lehne es ab, ein Held zu sein. Ich bin ein Mensch dieses Jahrhunderts – das ist alles. Jetzt gehe ich durch die Straßen von New York und wundere mich, daß ich noch lebe. Ich wohne in einem möblierten Zimmer, das auf den Hudson geht, zahle jede Woche vier Dollar für Miete, Licht, Bedienung und dafür, daß der Landlord gut über mich spricht, wenn die Behörden nach mir fragen. Das Zimmer ist zwei Meter breit und vier Meter lang. Es hat einen Tisch, zwei Stühle, ein Bett und eine Kommode mit einem elektrischen Kocher, auf dem ich mein Essen zubereite. Über dem Tisch hängt die ›Bill of Rights‹. Ich habe zwei geschenkte Anzüge, eine alte Schreibmaschine sowie die Hoffnung, die nächsten vierzehn Tage mit Anstand zu überleben, kaufe mir jeden Tag ein Paket Zigaretten und eine Zeitung, fahre Subway, telefoniere und benehme mich in jeder Hinsicht wie ein Mensch, der sich der Vorteile, die ihm diese Zivilisation bietet, knapp, sachlich und gelassen zu bedienen weiß. Nein, man sieht mir den Strick nicht mehr an, von dem ich abgeschnitten wurde. Bald werde ich mein Sandwich – mit Gravy – und mein Glas Bier ebenso akzentfrei bestellen wie jener nachlässig an der Bar lehnende Matrose, der seit einiger Zeit versucht, mit mir ein Gespräch anzufangen. Ich würde ihm gern Gesellschaft leisten, aber die Schwierigkeit, ihm begreiflich zu machen, wer ich bin, woher ich komme und daß ich trotzdem ein Freund dieses Landes bin, hindert mich, auf seine Versuche einzugehen. ›Nice day‹, sagt er endlich und sieht mir gerade ins Gesicht. ›Yes, indeed‹, sage ich und merke, wie ich rot werde. Ich werfe ihm einen freundlichen Blick zu, zahle schnell und gehe hinaus.
2
Der Weg ist immer besser als die Herberge.
CERVANTES
Der Mann, der Georg Kobbe hieß, ging langsam durch die Zweiundvierzigste Straße zum Broadway.
Er ging ohne Hut, den Kopf gesenkt, die Schultern leicht eingezogen, wie jemand, der gewohnt ist, im Gehen nachzudenken, und wenn er gelegentlich aufsah, zeigte sein Gesicht jenes unsichere, ein wenig übertriebene Lächeln, das oft Fremden oder Schwerhörigen eigen ist, die Mühe haben, der Unterhaltung zu folgen, es aber aus Scham oder Höflichkeit nicht zugeben wollen. Wie er so dahinschritt, eine Hand in der Tasche, mit der andern die Leute abwehrend, die sich an ihm vorbeidrängten, glich er einem Menschen, der soeben an eine unbekannte Küste gespült worden ist und sich verwundert umsieht: Wo bin ich?
Die Stadt war voll von Soldaten und Matrosen auf Urlaub, die Lichter waren abgedunkelt, über dem Times Square stand der Mond.
Er versuchte, gegen die Menge anzugehen, die in der ganzen Breite des Bürgersteigs ihm entgegenkam, ungeordnet und doch in kompakten Haufen, zusammengehalten durch den gemeinsamen Willen vorwärtszukommen, niemanden durchzulassen, der nicht dazu gehörte, der sie aufhielt, der nicht mit ihnen in der gleichen Richtung ging. Dies war ihre Straße, dies war ihre Stadt, sie besaßen New York und New York besaß sie, es fraß sie auf und ließ sie gewähren, es war Freiheit und Gefangenschaft, es jagte sie durch unterirdische Tunnels, wenn sie am Morgen zur Arbeit fuhren und wieder zurückkamen, durch Subwayschächte, die sich wie Hamstergänge unter der Stadt verteilten, und es spie sie aus, in Wolkennähe, wo schon Höhenluft wehte, in Schreibstuben aus Glas und auf schwebende, sommerliche Terrassen, es speiste sie, es gab ihnen zu trinken, zu hassen, zu lieben und zu weinen, es machte sie wach und müde und neugierig zugleich, und es öffnete ihnen sein unermeßliches Warenlager, in dem sie alles finden würden, was sie brauchten, alle Genüsse dieser Erde, in Flaschen, Büchsen, Schachteln, offen oder verpackt, kalt oder warm, trocken oder feucht, und es war stolz darauf, ihnen dies alles bieten zu können, auch jetzt noch, in diesem Augenblick, in diesem dritten Kriegsjahr, da die Stadt mit abgeblendeten Lichtern und verhängten Fenstern durch die Nacht fuhr, durch den Krieg, durch die Ungewißheit. »New York«, sagte Kobbe, während er sich mit Schultern und Armen einen Weg bahnte, er sagte es laut vor sich hin, es war nicht nur der Name einer Stadt, es war ein Begriff, eine Vorstellung von etwas Großem, Überwirklichem, beinahe Unüberwindlichem, das aber doch schwache Stellen zeigte, Ansatzpunkte, die überraschend nachgaben und plötzlich Vertrautes sehen ließen inmitten all der Fremdheit. Es war eine Stadt, in der jeder ein Stück Heimat wiederzuerkennen glaubte, wie das im Bernstein verborgene Insekt, ein Stück Krakau, Neapel, Lyon oder Madrid, eine Stadt, so schien es ihm, in der alle andern Städte enthalten waren, eine menschliche Landschaft in Bewegung, mit Höhenzügen, Tälern und Schluchten, durch die Menschenströme aus allen Nationen rauschten, eingehüllt in eine Wolke von Lärm, Getöse, Gerüchen, die über ihnen, mit ihnen durch die Schluchten zogen, sie begleitend, vorbei an Buden und Bazaren, die mit Blinkzeichen, rotierenden Scheiben und Spiralen, mit Plakaten und Aufschriften von beängstigend unverhüllter Eindringlichkeit den Vorbeigehenden verzweifelt anzuflehen schienen, sie zu erhören, einzutreten, wenn auch nur zu zwangloser Besichtigung, vorbei an Schaufenstern, vollgepackt mit Musikinstrumenten, Rasierklingen, Sporthemden, Fotoapparaten, Gipsbüsten von Präsidenten und Generälen, falschen Juwelen, künstlichen Beinen und Zähnen, vorbei an all dem, was die Stadt dem Einsamen zu bieten hatte, von Taubenschießen und Handlesen bis zu dem Röcheln Sterbender auf der Leinwand und den gepuderten Brüsten der Mädchen in den Burlesktheatern, die sich unter Paukenschlagen und dem Geheul der Männer entkleideten …
Es war nun kaum noch möglich, auf dem Bürgersteig zu bleiben, und während er, an den Rand getrieben, sich mit abwehrender Hand nun auch vor den heranstürmenden Bussen und Autos zu schützen hatte, spürte er, inzwischen müde und hungrig geworden, die Gerüche der Stadt auf sich eindringen, den süßen Karamelgeruch von gezukkertem Pop Corn, den heißen Fettgeruch der Frankfurter und Hamburger, den beizenden Fischgeruch gebackener Jumbo-Krabben und Austern; da roch es nach schal gewordenem Bier, nach Obstkarren, duftend wie fahrende Gärten, nach Bonbonküchen und Spaghettistuben und Sandwichrestaurants, in denen Männer mit weißen Schürzen, auf hohen Podesten wie Kapellmeister, dampfende Fleischstücke tranchierten und die Bratendämpfe sich mit dem Whiskygeruch an der Bar und den chemischen Ausdünstungen der Waschräume vermischten …
»Sorry«, sagte ein blaß über die Straße hastendes Mädchen, das ihn im Vorbeigehen angestoßen hatte. »That’s all right«, murmelte Kobbe, nicht ohne eine gewisse Genugtuung über seine mühsam erworbenen Sprachkenntnisse zu empfinden. Vielleicht sollte ich jetzt jemanden anrufen, dachte er und blätterte in seinem Notizbuch, das mit Namen und Adressen vollgeschrieben war, manche mehrfach durchgestrichen, geändert, neue Namen und alte, die noch von drüben stammten, aus vielen Städten und Ländern, von einem Notizbuch ins andere übertragen und nun in diese Stadt der Namen, Adressen und Telefonnummern herübergerettet, in dieses vorläufig letzte Notizbuch, das er sich am Tage der Ankunft eingerichtet hatte, mit der winzigen Landkarte der USA, ihren Posttarifen, Bevölkerungsziffern, Bank- und gesetzlichen Feiertagen, und dem alphabetischen Index, in dem diejenigen enthalten waren, die überlebt hatten oder frisch hinzugekommen waren: Asch, Nathalie – verzogen, Hackenschmidt, Ernst – wahrscheinlich nicht zu Hause, Wolfgang Roth, Walter Sanders, Paul Falkenberg – nein, nichts für heute abend, ein andermal. Sein Blick fiel auf einen mit Tinte durchgestrichenen Namen: Morton, Ignazio, Hotel Colonial – richtig, so hieß das Hotel, in dem es passiert war, dort hatte er in jener Nacht das Schild ›Do not disturb!‹ vor die Tür seines Zimmers gehängt und sich hingelegt, um nie mehr ›gestört‹ zu werden. Er sah sein Gesicht wieder vor sich, dieses spöttische, zugleich fromme und lasterhafte Gesicht, und er dachte an die Nächte auf dem kleinen portugiesischen Dampfer, der sie nach Amerika gebracht hatte, als sie allein auf dem leeren Deck standen, mondübergossen, rauchend, fluchend und diskutierend, während das Wasser ihnen ins Gesicht spritzte und Ignazio Morton (wie war eigentlich sein richtiger Name?) sich mit beiden Händen an der Reling festhielt, um nicht über Bord zu gehen. Er sah aus wie ein Harlekin, mit dem kanariengelben Schal, der roten Krawatte, dem grünen Rock und den karierten Hosen. »Alle Ethiker sind Verbrecher!« schrie Ignazio Morton über den Lärm der Brandung hinweg und trocknete sich mit seinem kanariengelben Schal das Gesicht ab. »Ebenso alle Weltverbesserer, Humanisten, Radiokommentatoren, Pazifisten et cetera et cetera … Was haben sie der Menschheit eingebracht? Nichts als Kriege, Bürgerkriege, Hungersnöte und Inquisitionen! Und dann der Mythus vom ›common man‹ und von dem erwachenden Bewußtsein der Völker! Seht sie euch doch an, die neuen Männer, in deren Namen heute Geschichte gemacht wird, diese Cäsaren des Mittelstandes, die sich mit Blut und Terror für die ungelüfteten Hinterzimmer ihrer Kindheit rächen … diese … diese … ›ethischen‹ Unruhestifter mit ihrem ewigen ›du mußt‹ und ›du sollst‹ und ›du darfst nicht‹, die sich hinstellen und der Menge einreden, sie wäre göttlich, in der einen Hand das Paradies und in der andern die Zwangsjacke. Ach, hören Sie mir doch auf! Leben und leben lassen! Das hat kein Ethiker erfunden, aber es ist Gott näher als alle Fünf-, Zehnoder Tausendjahrespläne!« Er stand da, fluchend, triefend und spuckend, sein kanariengelber Schal flatterte wie eine Arabeske des Widerspruchs durch die Nacht. Kobbe wußte nicht, was er sagen sollte. Er haßte Ignazio Morton am Morgen und liebte ihn am Abend, wenn er ihm mit heiserer Stimme erzählte, wie er in jungen Jahren als Kurier Lenins mit falschen Pässen durch die Hauptstädte Europas gereist war. Seitdem hatte sich, seiner Meinung nach, nichts Nennenswertes mehr in seinem Leben zugetragen. Er hatte sich der Revolution zur Verfügung gestellt, als es noch gefährlich war, Flugblätter in Fabriken zu verteilen, und er verzweifelte an ihr, als selbst Hausfrauenvereine sich der Notwendigkeit einer sozialen Änderung nicht länger verschließen konnten. Was kümmerte es ihn, daß man ihn einen Zyniker nannte? Er liebte die Wahrheit – er liebte sie so sehr, daß er sie mißhandelte. Er hatte einen Heißhunger nach Leben, nach neuen Gesichtern und neuen Ideen. Er stürzte sich auf die Geschichte und machte aus ihr einen Karneval der Aperçus. Er war ein Feind der Dummen und ein Freund der Weisen in allen Ländern. Er ging umher, rauchte seine Pfeife und schrieb Bücher. Zwischendurch floh er oder saß im Gefängnis. Er war ein großer Europäer, einer aus dem ruhelosen Geschlecht der Villon und Rimbaud, ein ewiger Protestant und ein verschämter Moralist, der lieber mit den Wölfen heulen als den Schafen eingestehen wollte, daß er genauso verzweifelt war wie sie …
Wir alle sind Figuren in einem Roman, der noch nicht geschrieben ist, dachte Kobbe, während er in seinem Notizbuch blätterte. Wahrscheinlich wird dieser Roman nie geschrieben werden. Die Zeit schreibt viel schneller als wir, sie ist romanhafter als alles, was ein Mensch sich ausdenken kann. Ja, hat es überhaupt noch einen Sinn, Nacht für Nacht über raschelnden Papieren zu sitzen, Wörter aneinanderzureihen, erfundenen Personen Dinge in den Mund zu legen, die morgen bereits überholt sind? Ist es nicht schon genug, daß man überlebt hat? Muß man auch noch die chemischen Bestandteile aufzählen, aus denen sich der bittere Stoff unserer Erfahrung zusammensetzt? Luise hat ganz recht, wenn sie sagt, daß sie davon nichts mehr hören will, daß man Schluß machen, ein neues Leben anfangen soll, Englisch schreiben, Englisch denken, verstehst du, Kobbe, unbedingt, dies ist ein tolles Land, erbarmungslos, sage ich dir, aber toll … Er wußte noch genau, wann sie es ›ihm gesagt‹ hatte. Es war an jenem Morgen, als sie ihn am Kai erwartete. Er hatte sie schon von weitem durch die Menge eilen sehen, atemlos, mit ziehenden Strümpfen und verrutschtem Hut, den sie sich mit beiden Händen auf den Kopf drückte. Natürlich war sie wieder im letzten Augenblick gekommen. Sie kam immer im letzten Augenblick, selbst dann, wenn es galt, einen Totgeglaubten nach Jahren der Trennung in die Arme zu schließen. Da stand sie nun, ein wenig verlegen und ungenau; ja, ungenau ist der richtige Ausdruck, sie ist der Geist der Ungenauigkeit in Person; noch der Kuß, mit dem sie ihn empfing, war von hastiger Ungenauigkeit. Er traf ihn irgendwo zwischen Ohr und Hinterkopf, an einer Stelle, die keine präziseren Gefühle zuließ … Wenn er drüben an Luise gedacht hatte, in Frankreich, und später auf dem Schiff, hatte er an Bahnhöfe im Regen gedacht, an Wartesäle, flüchtig eingenommene Mahlzeiten zwischen zwei Expreßzügen, an leere, ungeheizte Theater, in denen sie probierte, nachts, nach der Vorstellung, oder am Morgen, sehr früh schon, mit den einsamen, unaufgeräumten Stuhlreihen, den noch vom Abend stehengebliebenen Kulissen und der Stimme des Beleuchters, die irgendwo aus dem Dunkel kam; er sah sie vor dem Schminktisch sitzen, zwischen halb ausgepackten Koffern, herumliegenden Masken, falschen Nasen und Perücken, immer gehetzt, immer unterwegs, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land reisend. Und da stand sie nun am Kai. Mein Gott, und wie sie wieder aussah – mit dem wippenden Hut und dem bunten, viel zu bunten Kostüm. Wo sein Gepäck wäre, wollte sie wissen. »Drüben«, sagte er und wies mit dem Finger über den Ozean. Sie lachte. »Hast du Geld?« fragte sie. »Fünfzig Cents.« – Sie gingen in ein Restaurant am Washington Square, und Luise bezahlte für ihn. An der Art, wie sie mit spitzen Fingern in ihre Handtasche griff, merkte er, wie es um sie stand. Er erschrak. »Luise«, sagte er, »ich muß mit dir sprechen. Ich dachte, du wärst -« – »Nein«, sagte sie heftig, »nicht jetzt. Später.« Sie suchte noch immer in ihrer Handtasche. »Es kam so überraschend. Ich dachte, ich würde dich nicht mehr wiedersehen. Wir hatten dich hier schon aufgegeben.« – »Ja«, sagte Kobbe. »Ich hatte mich selbst schon aufgegeben. Aber was bedeutet das – heutzutage. Man verliert so sehr das Gefühl für die eigene Wichtigkeit. Man ist irgendwo in irgend etwas hineingeraten und weiß nicht mehr genau, wie man wieder herausgekommen ist.« Sie erhob sich. »Es war schlimm – auch für mich«, sagte sie. »Aber jetzt bist du da. Vielleicht kannst du mir helfen, wieder herauszukommen …« Später, in der Nacht, als er auf der Couch in ihrem Studio lag – es war, wie er inzwischen erfahren hatte, seit Monaten nicht mehr bezahlt worden -, dachte er über seinen ersten Tag in New York nach – Fremde, neue Geräusche, ein neuer, fremder Erdteil. Das Stück Himmel, das er im Fenster sah, schien anders auszusehen als ein Stück Himmel drüben, auch das Haus, in dem er lag, sah anders aus, es war ein amerikanisches Haus. Seltsam, wie oft hatte er davon geträumt, wenn er so, wie jetzt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in Frankreich lag, in der ungeheizten Maschinenhalle, in der dreihundert Gefangene auf Strohsäcken schliefen. Ihr Schnarchen brauste wie ein mächtiger Orkan durch das Gebäude. Eins-zwei, eins-zwei. Dreihundert Männer röchelten im Schlaf. Es klang wie der rasselnde Atem seines Vaters, als er starb. Kobbe lag auf dem Stroh, sah zur Decke und dachte an den Himmel über New York. Jetzt sah er ihn vor sich im Fensterrahmen. Nebenan schlief Luise. Er wußte jetzt mehr über sie. Er wußte jetzt auch, was in den Briefen stand, die sie nicht an ihn abgeschickt hatte und die noch immer dort – in der Schublade – lagen. Es war mehr, als ein Mensch sagen durfte, der einen andern schonen wollte. Luise war verwirrt. Es war das Land, das jeden, der herüberkommt, umformen, ihn auseinandernehmen und wieder zusammensetzen will. Luise wehrte sich dagegen. Alles an ihr war europäisch, so schien es ihm, ihr Humor, die verwegene Komik ihrer Einfälle, die Freude am Verkleiden und Vermummen, an Fratzen und Figuren, jene bald zarte, bald aggressive Kunst der Karikatur, des Parodistischen, die sie drüben berühmt gemacht hatte und von der sie sich um keinen Preis zu trennen gedachte. Dafür hungerte sie, saß in Vorzimmern und sprach mit Agenten, die nicht begreifen wollten, daß es eine Kunst des Häßlichen gab, die schön sein konnte und die nicht in ihren Fachblättern abgebildet war. »Warum hast du mir nie geschrieben?« fragte er sie an jenem Abend nach seiner Ankunft. »Wozu?« sagte sie. »Du hattest genug mit dir selbst zu tun. Und dann war da noch etwas anderes.« Sie saß vor dem Schminktisch und probierte eine neue Maske auf. »Aha«, sagte er. »Jetzt kommt die große Beichte. Mädchen, allein in der großen Stadt, fern der Heimat, verlassen, lernt Mann kennen, und so weiter und so weiter.« – »Nein«, sagte Luise ruhig. »Ich wollte dir Geld schicken und hatte keines. Deshalb schrieb ich dir nicht. Und außerdem – vier Jahre sind eine lange Zeit. Ich wußte nicht mehr, woran ich war.« – »Und jetzt?« fragte er. »Weißt du jetzt, woran du bist?« – »Jetzt? Was meinst du?« Sie saß mit dem Rücken zu ihm. Er sah, wie sich ihr Gesicht im Spiegel zu etwas unsagbar Fremdem und Komischem verwandelte. »Ich meine«, sagte er, »daß es an der Zeit wäre, über gewisse Dinge zu sprechen, vielleicht, zum Beispiel, ob es nicht besser wäre, zu zweit zu hungern, statt allein?« Sie stand auf. Vorsichtig tastete sie die aufgeklebte Nase ab, die künstlichen Wimpern, den geschminkten Mund. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich bin nicht mehr zwanzig. Drüben war das anders. Hier wird man über Nacht alt. Manchmal glaube ich fast, daß meine Zeit vorbei ist …« Sie drehte sich zu ihm, er sah ihr Gesicht, ein weißes, wie in Mehl getauchtes Clownsgesicht, das ihn aus traurigen Augen anblickte. Wußte sie, wie komisch sie aussah? Sie sah nur, daß er lachte, immer mehr lachte, bis er nicht mehr konnte. »Du nimmst mich nicht ernst«, sagte sie. »Du hast mich nie ganz ernst genommen – schade.« – »Luise!« rief er. »Sieh doch in den Spiegel …« Aber sie war schon gegangen. – Er blieb noch drei Tage bei ihr, bis er das Geld vom Komitee bekam und sich ein Zimmer mieten konnte – dasselbe, in dem er jetzt wohnte und das auf den Hudson ging. Einige Zeit später mußte sie unter Hinterlassung ihrer Koffer und fast aller Habseligkeiten ihr Studio aufgeben. Zuerst wohnte sie bei Freunden, jede Woche ihr Quartier wechselnd, aber immer noch an ihren Tänzen arbeitend, und auch jetzt, da sie mit ihm im selben Haus wohnte – das Zimmer war so klein, daß man mit der Tür gegen das Bett stieß -, tanzte sie in Gedanken weiter, auf dem Papier die Bewegungen und Kostüme skizzierend. Sollte es mir je gelingen, das Buch zu schreiben, auf das alle warten und das niemand schreiben wird, dachte er, so würde Luise darin eine eigenartige Rolle spielen. Ich würde aus ihr eine Figur machen, deren Reiz darin besteht, daß ihre Beziehung zu dem Helden immer ein wenig verschleiert bleibt. Trotzdem wird man spüren, daß sie, neben ihm, die Hauptfigur ist. Sie wird nie ganz in Erscheinung treten; sie wird immer irgendwie abseits stehen, ein wenig verlegen und ungenau, in irgendeiner närrischen Verkleidung, halb scherzhaft, halb schmerzlich der Wirklichkeit spottend – ein tanzender Clown, der dem Elend eine lange Nase macht.
Das Notizbuch war schon fast zu Ende, und er wußte noch immer nicht, wo er den Abend verbringen sollte. Die Seiten mit S, T, V, W, reich an Lockungen und Verheißungen, hatten sich diesmal als unergiebig erwiesen. Die Aussicht auf die noch verbleibenden Buchstaben des Alphabets, X, Y, Z, stimmte ihn nicht hoffnungsvoller. Er steckte das Notizbuch wieder ein und war gerade im Begriff, den Abend für verloren zu erklären und sich von der Menge treiben zu lassen, irgendwohin, wo viele Menschen waren, Musik, Glücksräder, Spielautomaten, kandierte Früchte – als plötzlich jemand hinter ihm seinen Namen rief. Er drehte sich um. Ein Mann tauchte aus dem Halbdunkel auf. Sein Gesicht kam näher. »Einsiedel!« rief Kobbe. Sie drückten sich die Hände. »Wann sind Sie angekommen?« fragte Kobbe. »Vor sechs Monaten.«Kobbe fragte nicht weiter. Man hatte längst aufgehört, sich nach Einzelheiten zu erkundigen. Der eine war über Martinique, der andere über Lissabon gekommen; sonst war alles so ziemlich dasselbe. Lager, Flucht, falsche Pässe, der schmale Gebirgspfad über die Grenze, der Kampf um den Schiffsplatz – man konnte die einzelnen Etappen schon wie einen Rosenkranz herunterbeten. Individuelle Abweichungen verloren bei dieser Massenflucht an Interesse. Selbst die Todesangst wurde zum abgenutzten Gesprächsthema, das keinen Zuhörer mehr fesselte. Man lebte, man war da – das genügte. Wer nicht da war, hatte Pech gehabt. Im übrigen fingen die Schwierigkeiten erst an, wenn man überlebt hatte. »Können Sie etwas schneller gehen?« sagte Einsiedel. »Ich muß noch zu einem Abend der ›Neuen Warte‹.« Er suchte in seinen Taschen. »Thema: ›Die deutsche Revolution‹, oder so ähnlich. Haben Sie etwas vor? Es ist nicht weit von hier. Wenn wir uns beeilen, kommen wir noch zurecht.« Sie gingen schweigend nebeneinander. »Ich wundere mich, warum Sie dort noch hingehen«, sagte Kobbe nach einiger Zeit. »Gewiß, es gibt gute Leute unter ihnen, Osner, zum Beispiel, der jetzt Schreibmaschinen repariert, in der Amsterdam Avenue, er und seine Frau, das ist das Beste, das Anständigste, was die deutsche Arbeiterbewegung hervorgebracht hat; er ging ihretwegen fort, sie ist Jüdin, aber er redet nicht, er hört nur zu, was die andern sagen, und das hat den Modergeruch der Vereinsamung. Es ist ein in die Politik verirrtes Heimweh, nichts weiter. Jeder spricht nur, um sich sprechen zu hören. Die Ansichten, die sie vortragen, waren schon vor 1933 veraltet. Aber sie leben davon, sie zu wiederholen, wie ein Schauspieler, der immer in derselben Rolle auftritt. Nein, es ist eine gestorbene Welt. Sie wird nicht mehr auferstehen -« – »Falsch«, sagte Einsiedel. Er liebte manchmal diesen etwas schulmeisterlich zurechtweisenden Ton. »Erstens wissen wir nicht, was morgen sein wird. Die Geschichte geht oft seltsame Wege. Im Augenblick ist sie dabei, ihre Antiquitäten auszustellen. Es kann also sein, daß Modergeruch wieder modern wird. Zweitens verstehe ich nicht, worüber Sie sich aufregen. Es ist eine enge Welt, gewiß. Der Ratlosigkeit draußen entspricht die Ratlosigkeit drinnen. Eine Ideologie ist im Begriff, sich in ihre Bestandteile aufzulösen. Ich werde heute abend einiges darüber sagen. Nicht viel, nur ein paar Andeutungen. Mehr ist im Augenblick nicht angebracht.« – Er zog ihn hinüber, auf die andere Straßenseite. Sie redeten weiter, schon etwas eilig und nervös, bis sie vor dem Haus angelangt waren, in dem die Versammlung stattfand, und mit anderen Zuspätkommenden durch die Gänge hasteten.
3
Se méfier, c’est l’essence de la liberté.
MONTAIGNE
Als sie eintraten, hatte soeben Mathilde Schwanninger, die einst als Walküre die Ränge der Wiener Oper hatte erzittern lassen, durch den Vortrag der Sternenbannerhymne sowie einiger Lieder von Schubert und Brahms ihren zahlreichen Verehrern einen ebenso unerwarteten wie willkommenen Kunstgenuß bereitet. Es trat eine kleine Pause ein. Der Saal, in dem die ›Neue Warte‹ tagte, befand sich im Erdgeschoß eines moscheeartigen Gebäudes im Geschmack der Jahrhundertwende. Frauenvereine, Rohkostler, Bienen- und Hundezüchter, politische und religiöse Splittergruppen, an denen dieser Stadtteil reich war, pflegten hier ihre Versammlungen abzuhalten. Ein mit geheimnisvollen Zeichen versehener Schrein, der jetzt mit einem weißen Tuch verhängt war, erinnerte noch an den Gottesdienst irgendeiner unbekannten Sekte, der am Abend vorher stattgefunden haben mußte. Es war sehr heiß, und der kleine Raum mit den vielen Menschen und der niedrigen Decke, verqualmt, ungelüftet, bot das übliche Bild politischer Veranstaltungen im Exil: An der Tür ein Tisch mit Büchern und Broschüren von Autoren, die in ihrer Heimat verboten waren. Drinnen saßen Menschen, die durch Blicke oder Fragen zu erfahren suchten, wovon der andere lebte, ob es ihm besser oder schlechter ging als einem selbst, und was er zu den letzten, gewiß nicht erfreulichen Nachrichten sagte. Der Ton formloser Vertraulichkeit, mit dem man einander schulterklopfend begrüßte, das halb mißtrauische, halb familiär herablassende »Was, du bist auch da?« entsprach ebenso einem Gefühl der Nähe, der Zugehörigkeit und Verbundenheit, wie dem nicht weniger verständlichen Unbehagen darüber, sich nun auch hier wieder treffen zu müssen. Man kannte einander zu gut. Man hatte zuviel miteinander erlebt. Das hatte Freundschaften entstehen lassen und sie doch auch wieder gefährdet.
Da kein Stuhl mehr frei war, stellte Kobbe sich im Seitengang auf und betrachtete die ihm schmerzlich vertrauten Gesichter. Mit dem einen hatte er, irgendwo in Frankreich, von Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr bewacht, auf einem Bauplatz gearbeitet; es war ein kalter Wintertag gewesen, und sie sanken, als sie die schweren Balken trugen, bis über die Knie in den Schnee; den andern hatte er zuletzt im Gefängnis in Marseille getroffen, auf dem vergitterten Gang, der zu dem Zimmer mit den Fingerabdrükken führte; den dritten in einem jener Pariser Hotelzimmer, die von Zigarettenrauch und politischen Diskussionen erfüllt waren und in denen Flugblätter verfaßt und Resolutionen aufgesetzt wurden, die gegen etwas protestierten, das längst – anderswo – entschieden worden war. Da war Hakkenschmidt, der Arbeiter aus dem Ruhrgebiet, der auf einem Schiff im Ärmelkanal einen Geheimsender geleitet hatte; da war Schwarzenbach, dessen kubistische Landschaften aus den deutschen Museen verbannt waren; da war Minna Hartman vom ›Bund entschiedener Schulreformer‹, neben ihr ein magenkrank aussehender Mann mit eingefallenen Backen und glühenden Augen, eine schwarze Haarsträhne im Gesicht, Rudolf Kleinpogge, Herausgeber einer von ihm selbst geschriebenen, hektographierten und unter die Leute gebrachten Zeitschrift, im Hauptberuf damit beschäftigt, Stoffhündchen für eine New Yorker Spielzeugfirma auszustopfen; da war Dr. Thora, der Frauenarzt aus Berlin, der an einem wissenschaftlichen Werk über den Terror arbeitete, einen Hornzwicker auf der Nase, aus gütigen, verängstigten Augen um sich blickend, während er den Stummel seines kleinen Fingers, den man ihm in Dachau abgeschlagen hatte, in seiner Rocktasche zu verbergen suchte; da waren Gobisch und all die andern, die kleinen und die großen, die falschen und die echten Märtyrer, aus denen sich die Welt des Exils zusammensetzte.
»Ich erteile jetzt dem Redner des Abends das Wort«, sagte Gobisch, der den Vorsitz führte, »unserm verehrten Freund und Genossen, dem ehemaligen Mitglied des Deutschen Reichstags und Herausgeber der ›Neuen Warte‹, Dr. Paul Grützbach.« Applaus, Stühlerücken, Gemurmel. Grützbach, ein freundlicher Sechziger, der auf eine lange parlamentarische Laufbahn zurückblicken durfte und am Tage Damentaschen in einer Lederfabrik zuschnitt – auch er ein Held, aber durch die Ereignisse dazu geworden -, betrat, in abgewetztem dunkelblauem Anzug, dennoch beschwingten Schrittes, das Podium, entnahm seiner Aktentasche ein umfangreiches Manuskript, in dem er einige Augenblicke weltverloren blätterte, benetzte dann seine Lippen mit einem Schluck aus dem Wasserglas, hüstelte zweimal leicht in die vorgehaltene Hand, räusperte sich und setzte an. »Zur Geschäftsordnung!« rief Dr. Thora, und sah aus gütigen, verängstigten Augen um sich, während er den Stummel seines kleinen Fingers in der Rocktasche zu verbergen suchte. »Kann nicht irgendwo ein Fenster geöffnet werden?« Grützbach, der bereits den Mund zum Anfangsbuchstaben des ersten Wortes gerundet hatte, setzte ab und sah mit leidendem Gesicht den Vorsitzenden an. »Ich werde abstimmen lassen«, sagte Gobisch. »Wer ist dafür? Der Antrag ist einstimmig angenommen … Genosse Kleinpogge, wollen Sie bitte so freundlich sein?« Der Angeredete löste sich erschrocken von der entschiedenen Schulreformerin, deren Hand er sehr entschieden gehalten hatte, und während der Saal dem Kampf des Genossen Kleinpogge mit den Hebeln, Stricken und Sicherheitsvorrichtungen einer amerikanischen Fensteranlage schweigend zusah, blätterte Grützbach weltverloren in seinen Akten. Es dauerte eine Weile, bis Kleinpogge sich wieder gesetzt hatte und der Vortrag beginnen konnte. »Liebe Genossen und Genossinnen! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen Thema des Abends komme, möchte ich mich einer traurigen Pflicht entledigen. Wieder einmal hat uns der Tod …« Die Tür neben Kobbe öffnete sich geräuschvoll und ließ ein Gesicht herein, das sofort als das von Nathalie Asch identifiziert wurde. »Einen Augenblick«, sagte Gobisch und sah auf die Uhr. »Es ist jetzt neun Uhr fünfzehn Minuten. Die Versammlung ist für acht Uhr einberufen worden. Ich werde dafür sorgen, daß in Zukunft die Saaltüren während der Vorträge geschlossen bleiben.« Grützbach setzte von neuem an. »Liebe Genossen und Genossinnen! Meine Damen und Herren! Wieder hat uns der Tod einen Freund entrissen …« Kobbe hörte Nathalie Asch leise etwas sagen. Er hatte, als sie eingetreten war, ihre Hand in der seinen gefühlt. Es war eine merkwürdig kleine, zarte Kinderhand, viel zu klein und viel zu zart für eine Frau, deren Reden einst die Menge im ›Sportpalast‹ zu begeisterten Ovationen hingerissen hatten. Er wußte, daß sie irgendwo in New York unter falschem Namen lebte, bewacht von einigen ihr treu ergebenen Anhängern, die ihr Essen und Zeitungen brachten und dafür sorgten, daß sich kein verdächtiges Wesen in ihrer Nähe zeigte. Daß sie heute abend hier erschienen war, ließ vermuten, daß sogar sie, in dieser einsamsten aller Städte, nicht ganz ohne Menschen auskommen konnte. Sie gehörte zu den wenigen, die Ignazio Morton schon gekannt hatten, als er, kurz nach dem ersten Weltkrieg, zur Zeit der Berliner Barrikadenkämpfe, mit einer Droschke und zwei Mann das Gebäude der großen demokratischen Zeitung gestürmt und die rote Fahne auf dem Dach gehißt hatte. Bald danach hatten beide fast gleichzeitig den Bruch mit der Partei vollzogen. Aber während Ignazio in einer vielbeachteten öffentlichen Erklärung seinen Idealen von einst abgeschworen und sich in ein politisches Niemandsland geflüchtet hatte, setzte Nathalie Asch ihren Kampf um die ›Seele des deutschen Arbeiters‹ fort, einen Kampf, der sich mehr und mehr zu einem Privatkampf gegen den Mann zuspitzte, den sie zugleich haßte und bewunderte, den Mann im Kreml, der an allem schuld war und sie bis in ihre Träume verfolgte. Ihr Haß hatte etwas Monumentales, und die Unerbittlichkeit, mit der sie zu ihren Grundsätzen stand, nötigte selbst denen Bewunderung ab, die sich, wie Kobbe, oftmals fragten, was wohl aus Nathalie Asch werden würde, sollte sie eines Tages nicht mehr gezwungen sein, sich ihrer falschen Namen und Deckadressen zu bedienen. Sie war die Konspiration selbst, sie konnte gar nicht mehr anders leben, es gehörte zu ihrer Natur, und wenn es einmal, was freilich nicht zu erwarten war, keine Verfolgung und Unterdrückung mehr in der Welt gäbe, würde sie sich wahrscheinlich vor Langeweile umbringen
Unterdessen war der Redner dazu übergegangen, den Ereignissen in Deutschland historisch gerecht zu werden. Er ging sehr weit zurück. Erinnerungen an die große Vergangenheit der Arbeiterbewegung tauchten auf, an jene glorreichen Tagungen und Kongresse, die viele der Anwesenden noch miterlebt hatten. Man nickte einander zu und verständigte sich durch Anspielungen, die dem Wörterbuch einer Geheimsprache entnommen zu sein schienen. Man wußte, was gemeint war, wenn Worte wie ›Zimmerwald‹ oder ›Erfurter Programm‹ fielen. Die Kenntnis der einschlägigen Literatur wurde vorausgesetzt, ebenso der Glaube an die soziale Revolution, der auch durch die Niederlage nicht erschüttert werden konnte. Und dieses Festhalten an etwas, wofür einst ihre Väter oder Großväter auf die Barrikaden gegangen waren, dieser Traum von der deutschen Freiheit, die da kommen würde und kommen müßte, gab selbst diesem machtlosen Haufen einen Schein von Größe. Ja, da saßen sie, eng beieinander in dem kleinen rauchigen Saal, mit der amerikanischen Flagge auf dem Podium und den Schriften der in ihrer Heimat verbotenen Autoren am Eingang – die Narren und Propheten, die Deuter und Schriftgelehrten, alt und grau geworden im Parteidienst der Humanität, verfolgt, mißhandelt, um die halbe Erde gejagt, aber immer noch eifernd, deutend, protestierend, jeder von ihnen ein geschlagener Feldherr, der nachzuweisen versuchte, daß seine Strategie die richtige gewesen sei. Glaubten sie noch an das, was in den kleinen Pamphleten und Dünndruckschriften stand, die sie einander, ›um auf dem laufenden zu bleiben‹, bedeutungsvoll zusteckten? Sie wußten es selbst nicht mehr genau. Sie waren hierhergekommen, um wieder deutsche Worte zu hören und sich mit ›Herr Doktor‹ und ›Frau Geheimrat‹ oder schlichter, mit ›lieber Genosse‹ anreden zu lassen. Sie wollten wissen, wie es denn nun, zum Donnerwetter, um die deutsche Revolution stände, während sie in New York Stoffhündchen ausstopften und Bücher über den Terror schrieben. Sie hatten zehn Jahre darauf gewartet. Sie würden auch noch länger darauf warten, wenn es sein müßte. Nein, man war nicht kleinlich, ein paar Jahre mehr oder weniger … Übrigens soll in Magdeburg wieder auf streikende Hausfrauen geschossen worden sein. Und dann war da noch der tiefe, unauslöschliche Haß der Reichswehr gegen die SA … Symptome, Freund, Symptome … Unterdessen aber wurde man älter, und es gab schon viele Bücher über den Terror und ›What do with Germany after the War?‹, daß es schwer sein würde, noch einen Verlag für eine flott geschriebene Flucht aus Vichy-Frankreich oder für ein 210.000 Worte langes Tagebuch aus den Schreckenskammern von Madainek zu interessieren … Ja, und was sollte nun wirklich mit Deutschland geschehen nach dem Kriege? …
»Und somit kehre ich wieder zu dem Ausgangspunkt meiner Rede zurück«, sagte Grützbach und fing an, seine Sachen zu packen. »Wir haben Fehler gemacht. Aber noch ist nicht bewiesen, daß die Geschichte gegen uns entschieden hat. Wir haben den Menschen für besser gehalten, als er ist. Und trotzdem: unser Glaube an die Massen und an ihre historische Mission, den Sozialismus zu verwirklichen, ist unerschütterlich.« – »Lächerlich«, zischte Nathalie Asch, die seit längerem bereits unruhig geworden war. »Grützbach wird immer seniler. Übrigens soll er ein heimlicher Stalinist sein.« Kobbe hörte kaum zu. Neben ihm saß ein Mädchen, das seltsam verzerrt zu lächeln schien. Woher kannte er sie? Wo hatte er dies Gesicht schon einmal gesehen? Jetzt fiel ihm ihr Name ein. Sie hieß Hilde Braun. Ihr Vater war auf der Flucht über irgendeine Grenze von irgendeinem Mann in Uniform erschossen worden. Seit dem Tag, an dem sie es erfahren hatte, blieb ihr Gesicht in zwei Hälften zerrissen: in eine tote und eine lebendige.
»Wenn ich Sozialismus sage«, fuhr Grützbach fort, »so meine ich damit natürlich nicht das, was wir, das heißt meine Partei, im technischen Sinne darunter verstehen. Das wäre auch wohl zu verfrüht. Ich meine etwas viel Größeres, Allgemeineres, Umfassenderes«, er breitete seine Arme aus, wobei er aus Versehen das Wasserglas umstieß, »etwas, das uns aus den rauschenden Akkorden von Beethovens ›Neunter‹ oder den unsterblichen Worten des Dichters entgegenruft: ›Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern!‹« – »Bravo«, rief es aus den hinteren Reihen. Viele klatschten, vor allem die Gruppe der Kommunisten um Krana, die in diesen Worten einen Anknüpfungspunkt für die soeben aus Moskau eingetroffene Einheitsfrontparole sahen. Grützbach, nun ganz Herr der Lage, schloß mit einem Gedenkwort an die unbekannten Kämpfer in den Konzentrationslagern und trat ab. Man sah es ihm an, daß er mit dem Erfolg seiner Rede zufrieden war. Er hatte seit Jahren nicht mehr öffentlich gesprochen. Dieser Abend würde ihn noch lange darüber hinwegtrösten, daß er am Tage Damentaschen in einer Lederfabrik zuschnitt.
Nachdem er geendet hatte, fragte Dr. Thora mit gütigen, verängstigten Augen, ob nicht noch ein zweites Fenster geöffnet werden könnte. Der Antrag wurde mit einer Stimmenthaltung angenommen. »Wir treten jetzt in die Diskussion ein«, sagte Gobisch. »Wer meldet sich zum Wort?«
Einsiedel hob die Hand. Sein graues Büßergesicht zeugte von Nachtarbeit und schweigsamen Gedanken. »Die Lehre vom Menschen ist nicht tot, sie ist ewig!« rief er in den Saal, mit der Hand in eine ferne, sehr ferne Gegend weisend. »Tot sind nur diejenigen, die sie repräsentierten.« Grützbach, der sich getroffen fühlte, sprang auf: »Zur Geschäftsordnung!« – »Ruhe!« rief Gobisch. Einsiedel fuhr fort. »Tot sind jene Männer und Institutionen, die aus einem Menschheitstraum eine Lohnbewegung gemacht haben.« Er hielt inne und sah dabei Hilde Braun an, deren verzerrtes Lächeln er für Zustimmung nahm. Er war froh, ein Gesicht gefunden zu haben, einen freundlichen Blick, der ihn aufmunterte, während er seine Gedanken entwickelte. Und er hatte so viel zu sagen; Großes, Gewaltiges hatte er zu sagen – seine Abrechnung mit dem, was er, noch immer Hilde Braun ansehend, den ›geistigen Bankrott der Linken‹ nannte. »Ich bin es müde«, rief er aus, während er merkte, wie seine Stimme, ungewohnt des Redens, bereits heiser zu werden begann. »Ich bin es müde, mich mit Leuten an einen Tisch zu setzen, die mir erklären, die Geschichte wäre nichts anderes als eine ›Geschichte der Klassenkämpfe‹, eine Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit oder zwischen der Standard Oil oder der Royal Dutch … Mit Leuten, die der Meinung sind, daß Links a priori gut und Rechts a priori schlecht sein muß und die noch nicht begriffen haben, daß eine zufällige Sitzordnung im Parlament noch nicht die letzte Weisheit über den Menschen darstellt -« – »Ich protestiere!« rief Grützbach dazwischen, nachdem er sich flüsternd mit seinem Nebenmann verständigt hatte. »Im Namen meiner Partei erkläre ich hiermit, daß die bedauerlichen Äußerungen des Herrn Redners«, er betonte das Wort mit einer bei ihm sonst ungewohnten klassenkämpferischen Erbitterung, »eine gröbliche Verletzung der Vereinbarungen darstellt, die wir hier …« – Einsiedel sah Hilde Braun an, als wollte er ihrem Gesicht die letzte Weisheit über den Menschen entlocken. »Meine Damen und Herren!« schrie er, nun vollends heiser. »Die Schlagworte von gestern, mit denen ihr ›die Massen‹ von neuem zu erobern gedenkt, sind bedeutungslos geworden in einer Zeit, in der die Proletarier weit mehr zu verlieren haben als nur ihre Ketten. Der Kapitalismus, den ihr schon so oft totgesagt habt, nun, er lebt noch, er ist lebendiger denn je.« – Ein lautes »Pfui!« unterbrach ihn. – »Ich sage, er ist lebendiger denn je, aus dem einfachen Grunde, weil er klug genug war, das, was gut am Sozialismus war, zu übernehmen.« – »Unerhört!« rief Minna Hartman vom ›Bund entschiedener Schulreformer‹ und eilte nach vorn, um dem Vorsitzenden einen hastig geschriebenen Zettel zu überreichen. »Völker sind von der Landkarte verschwunden, Städte dem Erdboden gleichgemacht«, krächzte Einsiedel mit verendender Stimme. »Ihr aber tut, als ob nichts geschehen wäre. Ihr seid wie Wachtposten, die man abzulösen vergaß. Eure Armee ist längst geschlagen worden, geschlagen von zwei anderen, viel stärkeren und furchtbareren Armeen, von denen die eine braune und die andere«, er wandte sich an Krana, »rote Uniformen trägt. Ihr aber steht noch immer da und wartet und wißt im Grunde nicht mehr, worauf ihr eigentlich wartet!«
»Er redet wie ein Buch!« rief höhnisch eine Stimme im Hintergrund. Er hat recht, dachte Einsiedel, während die Versammlung in Gelächter ausbrach, es ist mein Buch, ich kenne es beinahe auswendig, mit jedem Satz gebe ich etwas preis, wofür ich einmal bereit gewesen wäre, mein ›Leben zu lassen‹. Er hätte jetzt gern einige versöhnliche Worte eingeflochten, immerhin war Krieg, und man mußte auf gewisse Stimmungen in gewissen Ländern Rücksicht nehmen. Aber seine Lust am Rhetorischen, sein ewiger Drang, sich exponieren zu müssen, auch dort, wo es nicht nötig war, dieser fast flagellantische Trieb zur Wahrheit, zum ›Bekennen‹ um des Bekennens willen, ließ ihn jede Vorsicht vergessen. Es geht alles seinen Gang, dachte er. Die einen werden mich nicht mehr grüßen, wenn ich ihnen in der Subway begegne. Nun gut, man muß sich damit abfinden, obwohl das ›Exil im Exil‹ eine schlimme Sache ist. Und die andern – er schloß die Augen und kostete für einen Moment die süße, selbstquälerische Wollust aus, ein Märtyrer zu sein – die andern werden mir, wenn es soweit ist, die Hände auf dem Rücken zusammenbinden, mich in einen Teppich einrollen und auf ein Schiff im Hafen bringen. Aber was bedeutet das alles, gemessen an dem tiefen, geistigen Genuß des Neinsagens? Er spürte die Unruhe im Saal, er sah Grützbach und Gobisch flüsternd miteinander verhandeln und die finsteren Blicke der Gruppe um Krana, die ihre Einheitsfrontparole bedenklich gefährdet sah.
Krana selbst, einen Arm über der Stuhllehne, den Kopf seitlich geneigt, schien mit der Miene des unbeteiligten Beobachters den Vorgängen zu folgen. Er saß da, ein Bein über das andere geschlagen, in der Haltung eines Mannes, der durch seine seidenen Krawatten und die Sorgfalt, mit der er sich kleidete, zu verstehen geben wollte, daß die Unterdrückten Leute wie ihn brauchten, die sich in den Vorzimmern der Herrschenden zu benehmen wußten. Krana gehörte zu denjenigen, die von der Partei vorgeschickt wurden, wenn es galt, die Verbindung mit andern Gruppen aufzunehmen und sie zu gemeinsamen Erklärungen und Aktionen zu bewegen. Er war ein Sohn aus bürgerlichem Hause, der, überzeugt von dem Untergang seiner Klasse, sich schon früh einer Bewegung angeschlossen hatte, die, so schien es ihm, nicht mit Wahlzetteln und Mehrheitsbeschlüssen, sondern mit Tanks und Kanonen gegen das soziale Unrecht anging. Er hatte einmal, auf dem Roten Platz in Moskau, die endlosen Kolonnen an sich vorbeirollen sehen, er hatte die Lieder gehört, die sie sangen, und er wußte seitdem, daß er nicht mehr allein war. Kranas Treue zur Partei war Angst vor dem Alleinsein in einer Welt, in der dem einzelnen nur noch die Wahl blieb, sich zwischen den Mächten zermalmen zu lassen oder sich einer von ihnen anzuschließen. Sein Haß gegen die Demokratie war Haß gegen die Vereinsamung, Haß auch gegen jene, die sie zu verewigen suchten. Man konnte den Menschen nicht mit Güte ändern. Es gab zuviel Elend auf dieser Erde, und wenn man es genau betrachtete, waren es immer die Leute mit den ›humanen‹ Konzeptionen, freundliche ältere Herren mit Bärten, Brillen und Aktentaschen, oder anarchische Sonderlinge wie Einsiedel, die durch ihre Einwände und Vorbehalte der Revolution in den Arm fielen. Einsiedel hatte einmal ›dazugehört‹. Aber das war schon lange her, und man würde bei Gelegenheit darauf zurückkommen. Im Augenblick ging es nur darum, sich seiner ohne viel Aufhebens zu entledigen.
»Ich beantrage Schluß der Debatte!« rief Krana, ohne den Arm von der Stuhllehne zu nehmen.
»Und ich beantrage, daß man den Redner zu Ende anhört!« schrie Nathalie Asch, wobei sie in Ermangelung der Kindertrompete, die sie einst auf den Bänken der Opposition berühmt gemacht hatte, die Hände wie einen Schalltrichter um den Mund legte.
Einsiedel fuhr sich mit dem Finger unter den Kragen seines Sporthemdes, der wie ein nasser, brühwarmer Umschlag seinen Hals umschloß. Die zehn Minuten Redezeit waren längst vorüber, und er hatte noch so viel zu sagen, all das, was er in Jahren gedacht und niedergeschrieben hatte. »Und was sehen wir jetzt?« krächzte er mit selbstquälerischer Gründlichkeit. »Wir sehen, wie die Männer der Linken, in gutem Glauben an die gerechte Sache, nicht erkennen wollen, daß sie die Völker in eine neue Unfreiheit führen. Wir sehen, wie eine fremde, wenn auch im Augenblick noch mit uns befreundete Macht mit unserer Hilfe den Krieg gewinnen will, um die eine Schreckensherrschaft durch eine andere zu ersetzen. Aber die Freiheit ist unteilbar, und nur, wer gegen jede Gewalt, jede Unterdrückung ist, auch wenn sie sich als ›Fortschritt‹ gebärdet, nur der hat ein Recht, eines Tages mit reinen Händen vor sein Volk hinzutreten und zu sagen …«
»Ich bitte ums Wort«, sagte Krana und nahm den Arm von der Stuhllehne. »Die fremde, wenn auch im Augenblick noch mit uns befreundete Macht, wie der Redner sich auszudrücken beliebte, ist das einzige Land in der Welt, das dem Ansturm des fremden Eroberers standgehalten hat, das Land, in dem es keine Klassen und keine Ausbeutung mehr gibt und auf das die Völker ihre Blicke mit Glauben, Hoffnung und Zuversicht richten, und dieses Land heißt …«
Noch ehe er das Wort, auf das alle warteten und das er so geschickt vorbereitet hatte wie ein Schauspieler seine Pointe, aussprechen konnte, setzte ein Beifallssturm ein, der nur durch die ebenso gellenden wie unverständlichen Rufe Nathalie Aschs überdröhnt wurde, die einen neben sich stehenden Regenschirm ergriffen hatte und wie einen ungeheuer verlängerten Arm gegen Krana richtete.
Kobbe sah zu Einsiedel hinüber, der sich mit zitternder Hand, lächelnd, eine Zigarette in den Mund schob, und es war ihm, als hätte er dies nun zur Genüge erlebt, hier und drüben und überall, diese rauchigen Versammlungen, diesen Tumult der Meinungen und Begriffe, dieses ›Du sollst‹ und ›Du mußt ‹ und ›Du darfst nicht‹, dieses Für-und-wider-Etwas, das mit den Menschenrechten begann und mit der Guillotine aufhörte. Er dachte an Ignazio Morton und an die Nächte auf dem Schiff. Er sah ihn an der Reling stehen, schimpfend und spuckend, und er begriff, warum er eines Nachts das Schild ›Bitte nicht stören‹ vor die Tür seines Hotelzimmers gehängt hatte. Aber so einfach durfte man es sich nicht machen. Vielleicht war es sogar besser, mit einem Irrtum zu leben, als gar nicht. Vor allem, wo es so schwer geworden war, ihn zu widerlegen, und im Augenblick nichts anderes zu tun war als dabeizusitzen und abzuwarten, bis man den alten Irrtum durch einen neuen ersetzen würde, und so fort, bis ans Ende aller Tage …
Unterdessen war es Gobisch gelungen, die Ruhe wiederherzustellen und Einsiedel zu veranlassen, seine Bemerkungen mit ›dem Ausdruck des Bedauerns› zurückzunehmen.
Kobbe wandte sich zur Tür, hinter der Mathilde Schwanninger, ein Notenalbum mit weiteren Brahmsliedern unterm Arm und schon probeweise trällernd, mit dem bangen Gesicht der auftrittsbereiten Sängerin auf ihr Stichwort wartete.
Draußen stand Dr. Thora und schaute aus gütigen, verängstigten Augen in die Nacht. Kobbe spürte den Stummel seines kleinen Fingers durch seine Hand gleiten. Er fühlte sich merkwürdig glatt und schwammig an – wie ein Champignon. »Was für eine Welt«, sagte Dr. Thora, während er seinen schwarzen Hornzwicker von der Nase hob und wie eine Blume zwischen zwei noch unversehrten Fingern hielt. »Was für eine Welt! Ich dachte, wir wären alle durch dasselbe hindurchgegangen. Aber nein – da streiten sie und reden …« Er seufzte. »Ich möchte einmal wieder im Bois spazierengehen und die Schwäne füttern.«
4
Die Mergenthins
Katharina wohnte im vierten Stock eines Hauses am East River. Es war ihr nicht leicht gefallen, sich daran zu gewöhnen, an den Geruch, an die Mülleimer vor der Tür, an die vier Treppen, die sie langsam hinaufgehen mußte, nicht schnell, wie sie es früher getan hätte, als sie noch jünger war, sondern eine Stufe nach der andern und nach jedem Absatz ein wenig ausruhend. Es lag ihr nicht, sie war zu lebhaft, zu unruhig, zu ungeduldig, auch mit sich selbst. Es war diese innere Unruhe, die sie einst aus dem Elternhaus in die Kunst-Akademie und von dort in die Arme Friedrich Mergenthins getrieben hatte, der eines Tages, in der Uniform eines Leutnants des ersten Weltkrieges, mit einer klaffenden Schädelnarbe und einem Strauß Flieder bei ihr erschienen war und, die Hacken zusammenschlagend, um ihre Hand angehalten hatte. Mergenthin war stark, männlich und glaubte an das Primat der Wirtschaft, ein Umstand, der ihn in den Augen Katharinas um so anziehender machte, als sie selbst einen festen Rahmen brauchte, der ihr ungewisses Temperament zusammenhielt. Er war ein konservativer Geist, erzogen in der preußischen Tradition seiner pommerschen Heimat und bereits in jungen Jahren bemüht, die Problematik der seit Generationen in Deutschland ansässigen Juden in einer kleinen Schrift darzulegen, in der er sich, vielleicht etwas zu voreilig, als ein besserer Patriot erwies als jene, die Menschen seiner Abstammung, und ihn selbst, später hinauswerfen sollten. Er war ein guter Bürger, der seinem Kaiser treu gedient hatte, und ein überzeugter Unternehmer, der Adam Smith’s ›Reichtum der Nationen‹ studiert hatte und für das Prinzip der freien Konkurrenz eintrat. Katharina wußte nicht, wer Adam Smith war, aber die knappe, sachliche Art, mit der Mergenthin seine Anweisungen traf und beim Sprechen die Asche seiner Zigarre mit dem Zeigefinger abklopfte, verschaffte ihr ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das sie dazu bewog, ihren künstlerischen Neigungen bis auf weiteres zu entsagen und ihm zwei Kinder zu gebären, Karl und Elisabeth, von denen Mergenthin nicht ohne Stolz behauptete, daß sie den Formtrieb der Mutter mit dem Unternehmergeist des Vaters aufs trefflichste vereinigten. Katharina wohnte mit ihm in einer glanzvollen Villa vor der Stadt, mit Autos, Pferden und zwei steinernen Löwen zu beiden Seiten der großen Auffahrt, die zu Mergenthins Besitztum führte – Symbole einer weltlichen Macht, die Katharina mit einer fast schmerzlichen Lust auskostete. Es war, als hätte ihr verlorengegangenes Talent einen ewigen Herd der Unruhe hinterlassen, einen nie gestillten Drang nach Perfektion, der sich nun, da der Drang nach künstlerischer Betätigung erloschen war, am Material des Lebens selbst verausgabte und dieses zum Kunstwerk machen wollte. Das Kleid, von dem sie träumte, war noch nicht erfunden, das Haus, das sie nach ihrem Geschmack einrichten wollte, noch nicht gebaut worden. Nie zufrieden mit dem, was war, immer auf der Suche nach einer letzten Verfeinerung, wurde sie das Opfer ihres eigenen Schönheitssinnes, hin und her gerissen zwischen dem Zweifel an sich selbst und dem Ehrgeiz, auf den Golfplätzen und Pressebällen der Republik die Erste zu sein, bewundert zu werden und einen Stil der Eleganz zu entfalten, schöner und eigenartiger als alles bisher Dagewesene.
Kobbe sah dem Gebaren seiner Schwester mit steigender Besorgnis zu. Mitunter, wenn er bei ihr saß und Mergenthin nicht zu Hause war, glaubte er den gequälten Ausdruck in ihrem Gesicht zu erkennen, mit dem sie ein soeben eingetroffenes Modell, das nicht ganz ihren Vorstellungen von modischem Schnitt und atemraubender Kühnheit entsprach, im Spiegel betrachtete, und eine Trauer, die er sich selbst nicht erklären konnte, erfüllte ihn. Das Land war im Bürgerkrieg. In den Straßen wurde geschossen. Und hier stand Katharina und verzehrte sich in dem Verlangen, mit den Möglichkeiten eines nie bewältigten Reichtums Schritt zu halten. »Du bist schön«, sagte er. »Wirklich?« fragte Katharina, als ob sie es zum erstenmal hörte. »Ja, leider«, sagte Kobbe. »Es ist schwer, der Bruder einer schönen Frau zu sein, wenn man für die Häßlichen und Enterbten eintritt.« Katharina lachte laut auf und knüpfte sich das Strumpfband über dem Knie fest. »Du bist schamlos«, sagte er und wandte sich ab. »Wirklich?« fragte sie. »Verwirre ich dich?«Er trat ans Fenster und sah auf den Park hinaus, der so unheimlich verlassen dalag. »Du verwirrst mich so sehr, daß mir bald keine andere mehr gefallen wird«, sagte er. »Und du empörst mich zugleich … Hast du die Zeitungen gelesen?« Katharina sah wieder gequält in den Spiegel. »Ich kümmere mich nicht um Politik. Ich habe genug damit zu tun, schön auszusehen.« Kobbe rang die Hände. »Katharina«, rief er, »ich fürchte, es wird noch ein schlimmes Ende mit dir nehmen. Sie werden mit Steinen nach dir werfen, sie werden dich aus dem Bett zerren und …« – »Vielleicht«, sagte Katharina. »Aber bis dahin …«
Mergenthin war der erste, den sie verhafteten. Er, der gute Patriot, der überzeugte Unternehmer, der jüdische Leutnant des ersten Weltkrieges mit der klaffenden Schädelwunde und dem Eisernen Kreuz erster Klasse, sollte nun das Schicksal derjenigen teilen, die über Nacht zu Staatsfeinden erklärt und aus ihren Ämtern verjagt wurden. Tränen standen in seinen Augen, als er dem nunmehr zum Leiter des Unternehmens beförderten Bürovorstand die Schlüssel seines Schreibtisches übergab und den beiden Uniformierten folgte, die gekommen waren, ihn abzuholen. Als er nach Monaten das Gefängnis verließ, war sein Haus beschlagnahmt, sein Vermögen gesperrt und er selbst ein gebrochener Mann, der die Welt nicht mehr verstand und entschlossen war, seine Ehre um jeden Preis wiederherzustellen. Katharina fühlte sich zu ihm auf eine seltsame Weise hingezogen. Nun, da das Flüchtige ihres schnell erworbenen Reichtums wie ein zu süßer Bonbon im Munde geschmolzen war, empfand sie die Nüchternheit ihres jetzigen Daseins fast wie eine Erleichterung. Die Anstrengung, apart zu sein, der ewige Zwang zum Vergleich, das Hektische eines gesellschaftlichen Treibens mit seinen Modeschauen und Autorennen und Konzerten – dies alles gehörte ebenso der Vergangenheit an wie das Haus mit den alten Stichen und den beiden steinernen Löwen am Eingang. Sie wohnten jetzt zu viert in einem Zimmer, in dem sie einander nicht mehr ausweichen konnten, und während Katharina die Kinder zur Schule brachte und Christbäume und Osterhasen für eine Ansichtskartenfirma malte, verbrachte Mergenthin die Nächte über Schriftstücken, in denen er seine Unschuld zu beweisen versuchte und auf Wiederaufnahme des gegen ihn eingeleiteten und auf höhere Weisung niedergeschlagenen Verfahrens drängte. Zwischendurch legte er Patience oder las Bismarcks ›Gedanken