Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil - Hans Sahl - E-Book

Memoiren eines Moralisten - Das Exil im Exil E-Book

Hans Sahl

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Hans Sahls berühmte Erinnerungsbücher in einer Neu-Edition. Hier erzählt Sahl, einer der großen Schriftsteller der deutschen Emigration, von seiner behüteten Kindheit in Dresden und den 20er Jahren in Berlin, von seinem Aufstieg zu einem berühmten Filmkritiker, der mit Bert Brecht, Ivan Goll und Ernst Toller befreundet war, von der Flucht vor den Nazis 1933 und wie er die langen Jahre im Exil verbrachte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 643

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Memoiren eines Moralisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Tc – 110 A
Kapitel 3
Der schwarze Schimmel oder die herrische Frau und ihre Knechte
Tc – 110 A
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8 – Exkurs über das Theater der zwanziger Jahre
Kapitel 9
Kapitel 10 – Die Reise nach Kassel
Kapitel 11
Kapitel 12 – Das Geheimnis der Casa Aurora
Kapitel 13
Tc – 110 A
Kapitel 14
Kapitel 15 – Aus einem nicht verbrannten Tagebuch (1930 bis 1932)
Kapitel 16 – Die Versammlung
 
Das Exil im Exil
I
1
2
3
4
5
II
1
2
3
4
5
6
7
III
1
2
3
4
5
IV
1
2
3
4
V – Chronik einer Verdunklung
 
Namenregister
Copyright
Hans Sahl 1926
Memoiren eines Moralisten
DIE unbeholfenen
Wir, die wir so unbeholfen sind, daß selbst die Kröten, die schwerfälligen, vor uns erzittern, Diebe alles stehen und liegen lassen, Verkehrsstörungen entstehen, Betriebsunfälle, Aufstände, Brände.
 
Wir, die wir so unbeholfen sind, daß wir über unsere eigenen Beine stolpern, aber den fremden behutsam aus dem Wege gehen, Blinde über die Straße führen und nicht merken, daß sie es sind, die uns führen, Wein aus falschen Gläsern trinken, falsch lieben, das richtige Wort am falschen Platze sagen.
 
Wir, die Unbeholfenen, die wir aus unserer Unbeholfenheit kein Hehl machen, wie haben wir doch die Meere bezwungen, den Krieg und die große Pestilenz, wo wir doch nicht einen Fuß vor den anderen setzen konnten, und Mühe hatten, das eigene Wort zu verstehen.
Oh, wie ich das kenne, diese Aufmunterungen, dieser Appell an das Gewissen, etwas zu schreiben, das man nicht mehr schreiben wollte, diese schmeichelnd zwischen Vorund Hauptgericht hingeworfene Bemerkung, die dich überreden will und in der du dich streckst und räkelst wie in einem Schaumweinbade: wenn nicht du, wer sonst? Ja, wenn nicht du, wer sonst wäre noch am Leben, der berichten könnte, wie Brecht gespuckt und Thomas Mann sich geräuspert hat? Wenn nicht du, wer sonst könnte sich rühmen, dabeigewesen zu sein, bevor Ninive versank und Berlin noch kein Mythos war, sondern eine Stadt? Wenn nicht du, wer sonst wäre geeigneter, einer Jugend zu erzählen, wer ihre Väter waren – nicht viel anders als sie selber, nur ein wenig älter und noch nicht ganz so gewandt im Umgang mit der Freiheit wie ihre Söhne, die sie heute genießen, es sich gewünscht hätten. Man schätzt die Freiheit erst, wenn man sie verloren hat, und dann ist es meistens zu spät. Zugegeben. Und doch – wer wäre nicht müde, sich anhören zu müssen, daß jene Vergangenheit, um die es hier geht, keine Zukunft mehr habe, was übrigens auf jede Vergangenheit zutrifft, und daß man also aufhören solle, sich mit ihr zu beschäftigen. Wenn nicht ich, wer sonst?
Nein, ich will keine Memoiren schreiben. Ich bin kein General im Ruhestand, der seinen verlorenen Schlachten eine eiserne Träne nachweint, keine alternde Schauspielerin, die aus Mangel an Beschäftigung sich einer Zeit erinnert, in der die dramatischen Auftritte vorwiegend im Schlafzimmer stattfanden. Zudem habe ich einmal den »Roman einer Zeit« geschrieben, in dem ich die Fakten meines Lebens und die Ereignisse, die sie bestimmten, in einem Buch verschlüsselte, das von mir handelte und doch auch wieder nicht nur von mir, einem Ich-Roman, der zugleich ein Du- und ein Er-Roman war, und in dem ich das autobiographische Material nur als Rohstoff benutzte. Ich wollte, um mit Arthur Koestler zu sprechen, die Lawine zeigen und zugleich die einzelnen Kristalle, aus denen sie sich zusammensetzte. Was mir vorschwebte, war, ein Inventar jener Zeit vorzunehmen, die noch frisch in unseren Kleidern hing. Es ging mir nicht darum, die Menschen beim Namen zu nennen und sie identifizierbar zu machen; ihr Beispiel stand für viele: erst im Zusammenhang mit der Lawine erfüllt der Kristall sein Schicksal.
 
Nun, da viele der Menschen, denen ich begegnete, nicht mehr am Leben, ihre Namen vergessen oder zu Fußnoten in einem kaum noch zu bewältigenden Nachschlagewerk der Toten und Vermißten geworden sind, treibt mich das entgegengesetzte Verlangen: sie aus ihrer Vergangenheit zu befreien, ihnen ihre Identität zurückzugeben, das Verschmolzene auf seine Bestandteile zurückzuführen. Damals, als viele von ihnen noch lebten, glaubte ich, im Hinblick auf die Eigenwilligkeit des schöpferischen Prozesses, mir von diesem den Kopf, von jenem eine Handbewegung oder eine bestimmte Redensart ausborgen zu dürfen. Manche Figuren waren frei erfunden, manche dem Leben nachgezeichnet, wieder andere aus Teilen zusammengefügt. Die Frau, die den Mann Kobbe durchs Exil begleitet, bestand aus mehreren Frauen, die dem Erzähler in seinem Leben begegnet waren, der Kommunist Krana war eine Zusammenziehung verschiedener Funktionärstypen. Gewiß blieb es dem Leser überlassen, diese oder jene Figur wiederzuerkennen, wie ja auch in der Karikatur das Original durch alle Verschnörkelungen hindurchschimmert. Wichtig erschien es mir, die Verhaltensweise bestimmter Menschen in bestimmten Situationen darzustellen, ihr Ausgeliefertsein an eine Geschichte, die ihre Gesichtszüge auslöschte und ihre Namen in alle Winde verstreute.
Heute, so scheint es mir, hat jeder von ihnen ein Anrecht darauf, aufgerufen und in seiner Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit erkannt zu werden. Ich werde also Namen nennen, so viele als möglich. Sie werden mich durch dieses Buch begleiten. Die großen und die kleinen. Die Kriegselefanten der Literatur und der Kunst ebenso wie das schreibende Fußvolk, das mit ihnen den Marsch ins Exil antrat. Viele blieben am Wege zurück. Andere überlebten. Ich gehöre zu ihnen.
1
Ein Stadtplan von Dresden, auf dem eine Fliege sitzt. Sie sitzt genau dort, wo ich geboren wurde. Waisenhausstraße. Der ganze Stadtplan steht ihr zur Verfügung, aber sie sitzt auf der Waisenhausstraße und wartet darauf, von mir verscheucht zu werden. Ich schließe die Augen. Ein Sack, durch den grüne Halme wachsen. Jemand hatte über Nacht einen Sack mit Hafer im Garten liegengelassen, es hatte geregnet, und der Hafer war durch den Sack hindurchgewachsen. Im Garten war eine Schaukel, wo grüne Schmetterlinge flatterten um die Schaukel. Der Arzt meint, ich müßte operiert werden. Grüne Schmetterlinge vor den Augen bedeuten nichts Gutes. »Seit wann sehen Sie grüne Schmetterlinge«, fragt er und spitzt seinen Bleistift. Ich erkläre ihm, daß Grün meine Lieblingsfarbe ist, vielleicht deshalb, weil ich durch Zufall in Dresden geboren wurde. Grün sind meine Augen. Grün war der Hafer, der durch den Sack wuchs, grün die Patina der Gewölbe und Kuppeln der Stadt, grün die Gesichter der Massenmörder im Wachsfigurenkabinett auf der Vogelwiese, grün das Samtkleid der Schneiderin, die zweimal in der Woche zu uns kam und für meine Mutter nähte.
Die Schneiderin kam zweimal in der Woche zu uns in die Waisenhausstraße, auf der jetzt eine Fliege sitzt, und nähte ein Kleid für meine Mutter. Es war viel von Schnittmustern, Säumen, Rüschen und Schweißblättern die Rede. Meine Mutter und die Schneiderin hatten den Mund voller Stecknadeln, wenn sie sprachen, und von der Schneiderin ging ein eigentümlicher Geruch aus, der mich erregte. Sie saß, mit zusammengepreßten Lippen, den Mund voller Stecknadeln, in einem Kleid aus grünem, schon etwas abgetragenem Velours und trat die Nähmaschine. Ich hockte im Nebenzimmer auf dem Fußboden und sah durch die offene Tür die Schneiderin die Nähmaschine treten, zuerst langsam, dann schneller, und ich sah, wie die gußeiserne Platte, die sie trat, sich auf und ab bewegte, und mit ihr bewegten sich die langen Beine der Schneiderin bis hinauf zu den Hüften unter dem Kleid aus grünem Velours. Sie hatte den Rock bis über die Knie geschoben wie eine Radfahrerin und radelte, radelte, radelte die Nähmaschine auf der Stelle. Endlich stand sie auf, kam zu mir herüber und gab mir einen Kuß auf den Mund, sie atmete schwer, und ich sah einen dunklen, feuchten Fleck auf dem grünen Velours unter der Achselhöhle.
 
Ich bin schon einmal operiert worden. Der Arzt in North Carolina war ein Deutscher. Er beugte sich zu mir herunter und sagte: »Die Operation ist gut verlaufen, aber wir sind beide nicht glücklich.« Dann wurde ich entlassen, und die Schmetterlinge fingen wieder zu flattern an.
An heißen Sommerabenden saßen wir oft auf der Brühlschen Terrasse, Kellner zerstückelten mit serviler Geschicklichkeit eine Gans und verteilten sie wie Weihgeschenke über die verschiedenen Teller. Wein aus hohen zierlichen Gläsern; schneeweiß gestärkte Tischtücher, die nach Chlor rochen; eine Violine spielte zum Maronenpüree.
Wir gehörten zur besitzenden Klasse. Aber mehr noch als eine Üppigkeit, von der ich bereits früh ahnte, daß sie nicht von Dauer sein würde und daß sie mir nicht zustand, mehr noch als die schweren versilberten Restaurantbestecke und die übertriebene Eile und Dienstfertigkeit der Kellner interessierten mich die Mücken, die über mir um die Laternen kreisten und in ihnen verbrannten. Die Milchglaskugeln der Bogenlampen waren fast bis zur Hälfte mit toten Mücken angefüllt, Generationen von toten Mücken.
Irgendwie hatte das auch mit der Nähmaschine radelnden Schneiderin zu tun.
Das Geheimnis des Todes und das Geheimnis des Geschlechts.
Ich war fünf Jahre alt, als wir nach Berlin übersiedelten. Ich sehe eine stille Straße vor mir, in der es keine Fuhrwerke gab. Es war eine Sackgasse. Sie hieß Friedrich-Wilhelm-Privatstraße. Man konnte Ball spielen und radfahren, ohne Gefahr zu laufen, von einer Droschke oder einem Pferdeomnibus überfahren zu werden. Damals tauchten die ersten Automobile in den Straßen Berlins auf, und ich entsinne mich, daß die Bewohner der Sackgasse aus ihren Häusern kamen, als eines Tages vor unserer Tür ein Automobil stand, das mein Vater mitsamt Chauffeur für einen Ausflug in den Grunewald gemietet hatte.
Bei der Fahrt am Sonntag trug mein Vater eine karierte Reisemütze und eine blaue Schutzbrille, und meine Mutter, tiefverschleiert, und bis zur Unkenntlichkeit vermummt in dem offenen Wagen, rief uns des öfteren zu: »Haltet euch fest, Kinder! Jetzt kommt eine Kurve!«
Die Erinnerung an meine Eltern steht im Zeichen einer Korpulenz, unter der beide litten und die sie vergebens zu bekämpfen versuchten. Man beobachtete einander mißtrauisch beim Essen, nahm jede Gewichtszunahme mit Stirnrunzeln und jeden Gewichtsverlust mit Jubel zur Kenntnis, man stopfte sich den Mund voll, wenn der andere nicht hinsah, und versagte sich demonstrativ die geliebten Kartoffeln. Die psychologischen Hintergründe wurden mir erst viel später, nach dem Tod meines Vaters, bewußt, als meine Mutter mir gestand, ihr Mann habe sie seit meiner Geburt nicht mehr berührt. Der Konsum an Nahrung mußte für den mangelnden Konsum an Liebe entschädigen.
Mit meiner Mutter verbindet sich die Vorstellung, daß ich sie als Kind erklettern mußte, wie eine alpine Landschaft, einen Berg, reich an Felsvorsprüngen, an die man sich klammern konnte, an Hügeln und Erhebungen, die dem Wimmernden Obdach boten, wenn man Fieber hatte und die Nachttischlampe wie ein feuerroter Kopf mit einem glühenden Draht auf einen herabschien. Das Gebirge hielt und umschloß mich und legte mir Eisbeutel auf das entzündete Mittelohr, es strich mir über das nasse Haar und benutzte mich als Pfand in dem Spiel mit dem Mann, der mein Vater war und meine Schwester liebte, ihr Kleider kaufte und Süßigkeiten, Schmuckstücke, sie anlachte und die Stirne in Falten legte, wenn er mich ansah, ja, eben dieser Übergang von äußerster Vertraulichkeit mit ihr und Unbeteiligtsein, ja Gleichgültigkeit mir gegenüber, beim Wenden des Kopfes, von parteiischer Liebe zu parteiloser Indifferenz, ließ mich oft nächtelang nicht schlafen. Was nützt es, wenn das Gebirge von Mutter mich gegen das Unwetter schützte, mich zwangsweise in seinen Mulden versteckte, wo es säuerlich und warm zugleich roch. Ich wollte ihre Liebe nicht, sie war ja nur Ersatz für jene andere, die mein Vater ihrer Tochter schenkte und ihr vorenthielt. Ich wollte meinen Vater, ich wollte seine Liebe, ich kämpfte um sie, ich wollte mich ihm an den Hals werfen, während das Gebirge mit mächtigen Mutterarmen mich zurückhielt, ich wollte ihn überzeugen, ich wollte ihn besitzen ganz allein für mich, und ich glaube manchmal, daß meine Beziehung zu Frauen durch dies frühe Erlebnis mitbestimmt wurde. Es war oft so, daß ich jene, die mich liebte, übersah, ja daß sie mich sogar langweilte, während ich um die Liebe jener anderen, die mich nicht liebte, kämpfte. Liebe wurde für mich ein Bekehrungsakt, ein Kampf gegen die Gleichgültigkeit, gegen die Kälte, gegen das Nichtgeliebtwerden. Die Liebe, die man mir anbot, hatte etwas Selbstverständliches, ich brauchte ja nicht um sie zu kämpfen, man schenkte sie mir, wie man mir damals den Eisbeutel auf die Stirn legte, wenn ich Fieber hatte. Es erinnert mich an eine Zeit, da meine Mutter bei Tisch zu meinem Vater sagte: »Warum sprichst du nicht mit deinem Sohn, was hast du gegen ihn? Komm her, mein Junge, gib’ mir einen Kuß.« Wie sie mich mit diesem Kuß noch mehr meinem Vater entfremdete, wie sie das Unerreichbare damit noch unerreichbarer machte. Ich wollte nicht aus Mitleid geliebt werden, ich wollte nicht geküßt werden, weil der andere, den ich liebte, sich nicht um mich kümmerte, nicht mit mir sprach, mich beiseite schob und meine Schwester anlächelte und nicht mich.
 
Freunde behaupten, ich hätte immer die falschen Frauen geliebt, sie glauben, etwas Selbstquälerisches in mir entdeckt zu haben, aber das ist nicht richtig. Etwas in mir sträubt sich dagegen, die Liebe zu domestizieren. Liebe ist die Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln. Beklommenheit überfällt mich beim Anblick jener Ehebetten aus schwerer Eiche, die so beherrschend ins Zimmer gestellt sind, als hätte es nie eine Neurosenlehre gegeben, und die aus einer Stätte geheimer Lüste und Laster ein Möbelstück machen wie irgendein anderes auch. Was mag sich wohl unter jener geblümten Bettdecke abspielen, unendliche Liebe oder unendlicher Haß? Wie kann man, habe ich mich oft gefragt, aus dem Versuch, einen Knabentraum zu verwirklichen, eine Institution machen, Lebens- und Altersversicherung abschließen, Versicherung gegen Brand und Diebstahl, wo doch alles so fraglich ist, so fragil, so unverblümt unter einer geblümten Decke. Ein falsches Wort, und das Bett aus Eiche geht in Flammen auf.
 
Hätte ich nicht ein Genie als Schutzengel, einen fliegenden Hausaltar, zu dem ich sogar in 10 000 Meter Höhe über dem Atlantik bete, jene Meisterin der Groteske, die meine Schritte parodiert und mein Leiden an der Menschheit und am Weibe weghustet oder weglacht, ich würde an der himmlischen Liebe verzweifeln. Aber nachdem die Feierlichkeit der irdischen Liebe durch ein plötzliches Gelächter, das ich beim Anblick ihrer unwiderstehlichen Komik auch in dieser Lage nicht unterdrücken konnte, für immer erschüttert wurde, lebe ich mit L. G. in einer glücklichen telefonischen Verbindung über Meere, Kriege und Bürgerkriege hinweg.
Mein Vater hatte eine Vorliebe für Antiquitäten, die er von seinen Geschäftsreisen heimbrachte, Barockschränke, Barocktruhen, Barockengel, Barockstühle. Schwere Männer schleppten sie heran und schoben sie hin und her, bis die richtige Ecke gefunden war. Aufschreie der Mutter über die »unnötige Ausgabe«. Begütigender Vortrag des Vaters über die Nützlichkeit gewisser Kapitalanlagen. Versöhnung hinter verschlossenen Türen, in dem nur selten benutzten Biedermeier-Zimmer, komplett eingerichtet, mit einem Spinett, in dem zwei Saiten fehlten, so daß man die beiden Tasten vergebens anschlug, was uns Kindern besonders viel Freude machte, und mit einer Unmenge von unnütz über Tische und Stühle verteilten Spitzendeckchen, perlenbestickten Dosen, Beuteln und einem ebensolchen Klingelzug an der Wand. Der Salon mit dem Bechstein-Flügel, an dem meine Mutter sich selbst begleitete, wenn sie den »Wanderer« von Schubert oder Tristan und Isoldes »Liebestod« sang, war im Empire-Stil gehalten. Reproduktionen alter Meister, die nur der Kenner vom Original unterscheiden konnte, luden zur Nachprüfung ein, wie es sich für einen Geschäftsmann gehört, der weiß, was er seinen Besuchern schuldig ist. Auf einer alten Truhe in einem Zustand authentischer Verwirrung, der sich sehen lassen konnte, war eine Ritterrüstung, nur einen halben Meter hoch, auf einem Sockel montiert. »Nürnberg. Ausgehendes Mittelalter«, pflegte mein Vater dem Besucher zu erklären.
»Das Geschenk eines Ritters an seinen kleinen Sohn. Jedes Detail getreu dem Original nachgebildet. Das Visier ist zum Aufklappen. Überzeugen Sie sich selbst.«
Man klappte es auf.
Der Weg zur Schule ging am Tiergarten entlang, vorbei am Denkmal der marmornen, gelbgeäderten, fast immer mit Blättern bedeckten Königin Luise, vorbei an den Herrenreitern und weniger sattelfesten Bankdirektoren zu Pferde auf ihrem Morgenritt vor der Aufsichtsratssitzung, vorbei an den Villen und Herrschaftshäusern mit makellos geputzen Glastüren und Fensterscheiben, in denen sich die Morgensonne einwandfrei widerspiegelte, bis zum Königlichen Wilhelms-Gymnasium, das mein Vater für mich ausersehen hatte. Für einen Mann seines Schlages, der sich stolz zu seiner Mitgliedschaft im »Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« bekannte, war es eine Selbstverständlichkeit, seinen Kindern die beste Erziehung, sofern er es sich gestatten konnte, angedeihen zu lassen. Baron von Bleichröder war zum Vorbild eines schon fast völlig assimilierten, deutsch denkenden und deutsch betenden jüdischen Patriziertums geworden, das mit zahlungskräftiger Kaisertreue in der deutschen Gesellschaft aufzugehen trachtete, Krankenhäuser und Säuglingsheime stiftete, Museen, Bibliotheken, öffentliche Badeanstalten. Der Wohltätigkeit waren keine Grenzen gesetzt, zumal man sich an höchster Stelle erkenntlich zeigte, zum Beispiel durch Verleihung des Kommerzienrat-Titels oder des Kronenordens vierter Klasse, der meinem Vater eines Tages im Königlichen Schloß zu Berlin an die Brust geheftet wurde.
Zu meinen Mitschülern gehörte der Sohn von August Scherl, dem mächtigen Zeitungsverleger, der den »Lokal-Anzeiger« und »Die Woche« herausgab und von dem mein Vater behauptete, er ließe sich jeden Morgen von seinem Barbier beim Einseifen über die zu befolgende Verlagspolitik beraten. Der »Lokal-Anzeiger« war die Stimme des Volkes; er lag in allen Friseurläden aus und bediente deren Kunden mit patriotischer Gesinnung und vermischten Nachrichten über Verkehrsunfälle, Einbrüche, Feuersbrünste und die letzten Klatschgeschichten vom Hofe. Mein Vater beschwor mich, den jungen Scherl zum Essen einzuladen; ich glaube, er wollte in eine Geschäftsverbindung mit dem Vater eintreten, aber der junge Scherl schien wenig Neigung zu verspüren, sich mit mir anzufreunden; wahrscheinlich hielt der Vater eine Annäherung zwischen dem rechtsgerichteten »Lokal-Anzeiger« und dem liberalen »Berliner Tageblatt« nicht für opportun. Angeblich soll auch Kurt Tucholsky bei uns zur Schule gegangen sein. Ich nehme an, daß er sich im »Lackstiefel-Gymnasium«, wie es damals genannt wurde, ebenso fehl am Platze fühlte wie ich. Jedenfalls war ich froh, als mein Vater mich nach drei Jahren wieder aus der Schule nahm. Wir waren umgezogen. Die Wanderung vom alten nach dem neuen Westen hatte begonnen, vom Tiergartenviertel und Lützow-Ufer zum Kurfürstendamm, der nunmehr zum Grand Boulevard eines gehobenen Mittelstandes zweier Konfessionen wurde, deren Wahrzeichen, wie im Mittelalter, Kirche und Synagoge waren.
Die Kaiser-Friedrich-Schule, in der ich die nächsten Jahre verbringen sollte, befand sich am Savigny-Platz. Ein Menschenalter später sollte in einem anderen Haus am Savigny-Platz, gegenüber der Kaiser-Friedrich-Schule, einer der größten Künstler unserer Zeit, George Grosz, eines Morgens tot im Hausflur aufgefunden werden. Vier Wochen vorher hatten wir ihn in New York zum Schiff gebracht. Er stand, ein Sektglas in der Hand, an der Reling und hielt sich taumelnd an der Takelage fest. Wir verabredeten ein Wiedersehen in Berlin. Er wird bald sterben, dachte ich unwillkürlich, als ich über die Schiffsplanke wieder an Land ging. Ich muß es wohl laut gesagt haben, denn die Frau vor mir drehte sich erschrocken um. Wie kam ich dazu? Ich habe kein zweites Gesicht. Ich könnte der Polizei nicht sagen, wo der Mörder die Leiche vergraben hat. Aber ich habe manchmal Ahnungen. Vier Wochen nachdem ich mich von George Grosz auf der »Hanseatic« verabschiedet hatte, las ich in der »New York Times«, daß er gestorben war.
Als 1956 im Theater am Kurfürstendamm Thornton Wilders »Heiratsvermittlerin« zur deutschen Uraufführung kam, waren wir beide in Berlin. Ich ging mit Thornton Wilder zum Savigny-Platz. »Hier bin ich einmal zur Schule gegangen«, sagte ich, »ich muß neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.« Er blieb stehen. »You don’t say«, sagte er erstaunt. Die Schule war in ein Verwaltungsgebäude umgewandelt worden. Es war gerade Büroschluß, Angestellte mit Aktentaschen und dem hastigen Gebaren von Leuten, die schnell nach Hause wollen, kamen aus dem Toreingang.
»Hier haben Sie also angefangen, Englisch zu lernen«, sagte Thornton Wilder. »Und jetzt übersetzen Sie meine Stücke und schreiben Bücher und zeigen mir Ihre Schule. Dazwischen gab es zwei Weltkriege, mehrere Revolutionen, Millionen Tote. Nicht zu vergessen Ihre Flucht aus Berlin und aus dem besetzten Frankreich nach Amerika. How do you feel about it?«
»Wir sind noch einmal davongekommen«, sagte ich. »Dort, in dem Haus am Savigny-Platz, Ecke Carmerstraße, starb George Grosz. Man fand ihn eines Morgens um sieben Uhr früh im Treppenhaus liegen. Er muß auf dem Transport nach oben gestorben sein. Ich habe vor einigen Tagen die Stelle photographiert, wo er gelegen haben muß. Es ist ein aus kleinen Mosaiksteinchen zusammengesetztes Ornament, ein strahlenförmiger Stern, der durch chemische Reinigungsmittel mit der Zeit ausgewaschen und farblos geworden ist, ein Fleck, über den Füße hinweggegangen sind, ein Fleck im Flur eines Hauses, irgendwo in Berlin …«
Ich hatte Grosz erst in New York kennengelernt, ich gehörte nicht zu den Freunden aus seiner dadaistischen Kampfzeit, ich war ja viel jünger als er. Aber wir hatten etwas Gemeinsames: das Exil. Er war ein wunderbarer Freund, wir verstanden einander so gut, wir hatten Spaß miteinander, wir gingen aufeinander ein. Er hatte ein Haus in Huntington und unterrichtete jeden Dienstag in der »Art Students League«, in der 57. Straße, hinterher traf er sich mit seinen Freunden in der »Carnegie Tavern« und bewirtete sie. Manchmal gingen wir in ein Kino in Yorkville, wo man die deutschen Filme gab, »Die vom Niederrhein«, oder des »Oberförsters Tochter« und »Annegret, komm’ auf mein Schloß«, und heulten wie Schloßhunde. Wir wischten uns die Tränen aus den Augen und torkelten Arm in Arm durch die Straßen von Manhattan und »tranken immer noch eins«. Grosz war ein Trinker und trank sein Pensum in einer Art rauschhafter, nüchterner Verzweiflung. Er starb am Alkohol, und er wußte es, wie auch Joseph Roth wußte, daß er am Alkohol sterben würde. Nur so konnte man Hitler ertragen.
Bei einer Jahresfeier der »American Academy of Arts and Letters« überreichte man George Grosz die Goldene Medaille. Er sollte eine Dankrede halten und betrat schwankend das Podium. Er war total betrunken, er begrüßte die erlauchten Akademiemitglieder mit erhobenen Händen, wie ein Boxer, der soeben seinen Gegner k. o. geschlagen hatte. Er mußte sich am Pult festhalten und stammelte unverständliche Worte. Man hielt es für eine surrealistische Demonstration und applaudierte ihm ironisch. Hinterher gab es einen Empfang unter einem Zelt, eine aus Gin, Whisky und Pfirsichen zubereitete Bowle wurde verabreicht, die wie glühendes Feuerwasser schmeckte. Es war sehr heiß. Grosz zog sich die Jacke aus und ließ sich von der ebenfalls anwesenden Marilyn Monroe ihr Autogramm mit Lippenstift auf den entblößten Unterarm schreiben. Ich wurde bei dieser Prozedur von der sie umdrängenden und um Autogramme bittenden Menge von Nobelpreisträgern, Ehrendoktoren, Inhabern von Goldenen und Silbernen Medaillen gegen das hilflos an der Wand lehnende Sexsymbol gepreßt, ich spürte ihren von der Welt bewunderten und begehrten Körper unter ihrem dünnen Satin-Kleid, während sie sich gegen mich aufbäumte, um nicht zerquetscht zu werden. Und ich dachte mir: Millionen von Männern und Frauen auf der Erde würden mich um diesen Augenblick beneiden, aber ich wollte raus, ich wollte nicht zerquetscht werden, nicht einmal mit Marilyn Monroe, obwohl es ein schöner, wüster Tod gewesen wäre.
Vor seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb ich George Grosz ein paar Zeilen in ein Buch, das ich ihm zum Abschied schenkte:
Boss geht fort, läßt uns allein in der Fiftyseventh Street, packt den ganzen Laden ein, weil es nach Berlin ihn zieht.
 
Wer wird jetzt die Drinks uns zahlen in der Fiftyseventh Street. Boss sagt, ich kann hier nicht malen, weil es nach Berlin mich zieht.
 
George, wir werden Dich sehr missen in der Fiftyseventh Street, schreib uns gleich, laß es uns wissen, wenn es nach – New York Dich zieht.
Die Kaiser-Friedrich-Schule war ein roter Ziegelbau, und der Schulhof grenzte an die Stadtbahnmauer. Wenn es Frühling wurde, öffneten wir die Fenster und hörten die Stadtbahnzüge an uns vorbeirattern und das zischende Geräusch der Räder. Dann schloß der Lehrer die Fenster, weil man sonst nicht hören konnte, was er sagte. Außerdem liebte er den Frühling nicht.
Wir liebten den Frühling, weil man wieder Wadenstrümpfe tragen konnte, und wer zuerst Wadenstrümpfe trug, wurde von den anderen beneidet. »Frühlingsanfang« hieß ein Schulaufsatz, den wir damals schreiben mußten. Ich will versuchen, ihn aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren:
»Die zarten Bäume auf dem Schulhof sind in größerem Abstand voneinander gepflanzt. Sie geben kaum Schatten, was um diese Zeit wohl auch nicht nötig ist, denn es ist der erste Frühlingstag im Jahre. Lissner ist der erste, der Wadenstrümpfe trägt, und wir gehen um ihn herum und beneiden ihn und lassen ihn beim Schlagball gewinnen. Lissners Eltern sind eben anders als andere Eltern. Sie erlauben ihm, Wadenstrümpfe zu tragen, obwohl es aussieht, als ob es am Nachmittag regnen würde. Sie drohen nicht mit Entzug der Eisenbahn oder des Fahrrades, falls er es wagen sollte, Wadenstrümpfe zu tragen, obwohl sie es ihm verboten haben. Sie wußten, daß es ihm Spaß machen würde, Wadenstrümpfe zu tragen, und deshalb verboten sie es ihm auch nicht. Lissners Eltern verhätscheln ihn nicht, sie rufen nicht gleich den Hausarzt, wenn er Schnupfen hat oder hustet, sie messen nicht alle zwei Stunden seine Temperatur, sondern stecken ihn ins Bett und geben ihm ein oder zwei Aspirin. Das ist alles. Lissners Mutter leidet wohl auch an Migräne oder Schlaflosigkeit und bleibt deshalb lieber zu Hause, anstatt mit Lissners Vater zu Gesellschaften zu gehen. Lissners Vater bringt nie seinen Sohn bis zum Schuleingang, weil er weiß, daß Lissner es nicht gern hat, wenn andere sehen, daß er zur Schule gebracht wird. Übrigens ist Lissner gar nicht gut in der Schule, aber Lissners Eltern tun so, als ob sie es nicht merken, und wenn Lissner ein schlechtes Zeugnis nach Hause bringt, so muß er nicht etwa allein auf seinem Zimmer essen, sondern der Vater legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt: ›Nimm es nicht so tragisch, mein Sohn. Auf Regen folgt Sonnenschein. ‹ Oder: ›Es ist noch nicht aller Tage Abend.‹ Oder so ähnlich. Lissners Eltern kümmern sich nicht darum, was andere Eltern tun oder sagen. Sie überlassen es ihrem Sohn, zu entscheiden, wann er Wadenstrümpfe tragen kann und wann nicht, auch wenn es nach Regen aussieht an diesem ersten Frühlingstag im Jahre.«
 
Ich wollte auf der Kaiser-Friedrich-Schule bleiben, ich hatte sie gern, wenn man überhaupt eine Schule gern haben kann, aber mein Vater hatte andere Pläne. Er war ein praktischer Mensch, und praktische Menschen glaubten damals, Latein und Griechisch wären überholt, man solle Physik und Chemie lernen, denn die Zukunft gehöre der Technik. Ich wurde also auf eine Schule geschickt, die den Vorstellungen meines Vaters mehr entsprach, nämlich auf die Leibniz-Oberrealschule, die mir insofern erwähnenswert erscheint, weil es dort einen Lehrer gab, Herrn Bleich, der Heines Lyrik als »Nachttopf-Poesie« bezeichnete.
Einer meiner Mitschüler war Hermann Budzislawski, der später im Exil die »Neue Weltbühne« herausgeben sollte und in Amerika als Sekretär der Journalistin Dorothy Thompson arbeitete. Nach dem Krieg ging er nach Ost-Berlin zurück. Budzislawski trug eine randlose Gelehrtenbrille, über die er zuweilen hinwegsah, als ob er sie nicht mehr brauchte, da er ohnedies schon alles wußte. Er war das, was wir damals einen »Streber« nannten, er war immer der erste, der sich zu Worte meldete, und las Bücher, die wir nicht kannten, zum Beispiel Marx und Engels, deren Namen uns nichts bedeuteten. Aber die Art, wie er sie mit erhobenem Zeigefinger aussprach, ließ uns aufhorchen. Ich mochte Budzislawski; er wirkte schon damals wie ein alter Mann, der aus Versehen jung geblieben war und sich, vor allem den Lehrern gegenüber, durch eine altkluge Überlegenheit auszeichnete, die mir imponierte. Ich selbst war kein guter Schüler und drängte mich auch nicht vor. Merkwürdigerweise bekam ich im Deutschen immer eine Vier, wahrscheinlich weil ich Dinge sagte, die man von einem Jungen meines Alters nicht erwartete und die Herr Bleich deshalb am Rande mit »warum«, »wieso« oder sogar »unverständlich« vermerkte. Ich entsinne mich zum Beispiel, daß ich einmal in einem Schulaufsatz den Satz schrieb: »… und so wie der arme Heinrich von einer reinen Jungfrau erlöst wurde...« Woraufhin Herr Bleich hinter das Wort Jungfrau ein Fragezeichen setzte. Was Herr Bleich mir damit zu verstehen geben wollte, ist mir bis heute unklar geblieben.
Ich war zwölf Jahre alt, als der Krieg ausbrach, und die Erinnerung an den Krieg spiegelt sich vor allem in zwei Erlebnissen wider, die in mir so etwas wie ein soziales Bewußtsein wachriefen, ein Gefühl, das sich bereits auf der Brühlschen Terrasse angesichts der eilfertig hantierenden Kellner und der toten Mücken als Ahnung angekündigt hatte und das ich nun zu rationalisieren versuchte.
Mein Vater war im Aufsichtsrat einer Firma, die im Kriege Granaten herstellte; einmal nahm er mich mit, als er eine Fabrik besuchte. Wir wurden in eine große Halle geführt, in der Arbeiter mit nacktem Oberkörper schweißbedeckt, die Gesichter mit Ruß und Kohle verschmiert wie in einem Fastnachtszuge vor lodernden Feuern standen und mit langen Eisenstangen in den Hochöfen herumstocherten. Einer der Vorarbeiter näherte sich meinem Vater, zog die Mütze und erklärte ihm, worum es ging. Mein Vater, im Gehpelz und Zylinder, zog sein goldenes Zigaretten-Etui hervor und bot ihm eine Zigarette an. »Bitte, nehmen Sie eine oder zwei«, sagte er, »greifen Sie nur ruhig zu, genieren Sie sich nicht!« Ich sah, wie zwei schwarze Finger ungeschickt in das goldene Zigaretten-Etui griffen und sich eine Zigarette herausnahmen. »Danke, Herr Direktor, sehr liebenswürdig, Herr Direktor; vielen Dank!« Ich schämte mich für meinen Vater, und ich schämte mich für den Arbeiter, und ich dachte mir, da stimmt etwas nicht, und ich sah, wie mein Vater das goldene Zigaretten-Etui befriedigt zuklappte und dem Arbeiter zum Abschied auf die Schulter klopfte. Gewiß, da war noch beileibe keine Auflehnung oder gar eine bewußte Gesellschaftskritik im Spiel, sondern einfach nur Unbehagen und Scham und die Angst, daß die anderen – aber wer waren die anderen?, Gott oder Herr Bleich, der Heine einen Nachttopf-Poeten genannt hatte? -, daß die anderen es einmal entdecken und sich an meinem Vater und mir rächen würden. Es war dieselbe Angst vor einem Jüngsten Gericht, das die kleinsten Vergehen, zum Beispiel, wenn man in der Schule gelogen hatte, am Tage der Abrechnung im wahrsten Sinne des Wortes ausposaunen würde, ein kaum zu erklärendes Schuldgefühl, das an dem Tag begann, da man geboren und in Dinge verstrickt wurde, für die man nichts konnte, das Gefühl, haftbar gemacht zu werden für die Schuld anderer, zum Beispiel für meinen Vater oder für den Krieg, der so viele Menschen tötete – es wurde zur quälenden Gewißheit, als man von mir verlangte, als »Ordonnanz« in einer Abteilung des Kriegsministeriums zu arbeiten, die sich mit der Herausgabe der Verlustlisten beschäftigte. Meine Aufgabe bestand darin, den betreffenden Soldaten, dessen Name und Regiment auf einem Zettel verzeichnet waren, ausfindig zu machen und dann den Zettel mit dem Vermerk »gefallen«, »vermißt« oder »verwundet« den bereits ängstlich hinter dem Schalter wartenden Angehörigen zu übergeben. Ich werde nie das Bild der Frau vergessen, die nach einem Blick auf den Zettel mich mit offenem Mund ansah, als ich ihr die Todesnachricht durch den Schalter überreichte. Sie ergriff meine Hand und hätte mich beinahe hinübergezogen, so schwer war sie, als sie hinfiel.
 
Ich fühlte eine Schuld – die seltsame Schuld, am Leben zu sein.
Im Lager von Nevers, während schon deutsche Flugzeuge über Paris kreisten, hielt Walter Benjamin mir hinter Stacheldraht einen Vortrag über den Begriff der Schuld, die er ablehnte.
Wir hatten, um dem Kommandanten zu zeigen, wer wir waren, eine literarische Matinee veranstaltet, in der unter anderem auch zwei Gedichte von mir, »Elegie auf das Jahr 39« und »Die hölzernen Kreuze«, vorgetragen wurden. Am Schluß der »Hölzernen Kreuze« spreche ich angesichts eines Soldatenfriedhofs aus dem Ersten Weltkrieg von der Schuld derer, die die Frist, für die jene starben, nicht ausnutzten, um einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Benjamin, den Kopf hin- und herwiegend, wie er es zu tun pflegte, wenn er beim Gehen dozierte, bemerkte, daß man seit Freud nicht mehr von Schuld sprechen dürfe. Ich wandte ein, daß er damit eine ganze Literatur, von der Bibel bis zu Kafka, außer Kraft setze. Außerdem hatte ich es ja auch metaphorisch gemeint. Fühlt man sich nicht unwillkürlich schuldig, wenn jemand, der einem nahesteht, gestorben ist? Warum er und nicht ich? Hätte ich seinen Tod nicht verhindern können? Ich erzählte ihm ein Erlebnis aus meiner Jugend. War ich schuld daran, daß mein Freund Otto C. gestorben war? Nein, natürlich nicht; aber als er plötzlich nicht mehr da war, fragte ich mich, womit ich es verdient habe, ihn zu überleben? »Sehen Sie«, sagte Walter Benjamin, »das meine ich«, und wiegte heftig mit dem Kopf. »Wir müssen den theologischen Ballast der Unschuld abwerfen, um wieder frei zu werden. Sie mischen sich in Dinge ein, die Sie nichts angehen.«
Otto C. war an Lungenentzündung gestorben. Sein Vater, Inhaber eines Blusengeschäfts für die elegante Frau, hatte ihm ein Motorrad geschenkt, und wir fuhren, während ich ihn umschlungen hielt, durch die schon herbstliche Landschaft nach Potsdam und den märkischen Seen und fühlten uns schuldlos frei, bis der Sommer zu Ende ging und die Tage kälter wurden. Sein Vater hatte ihm geraten, sich warm anzuziehen, aber Otto C. setzte sich eine Baskenmütze auf und fuhr mit dem Motorrad ohne Windschutzscheibe durch den Winter. Während ich ihn umschlungen hielt und an meinen Händen fühlte, wie kalt es da draußen vor ihm sein mußte; Otto C. fing zu husten an, dann brachte man ihn in ein Krankenhaus, und er hustete sich langsam zu Tode. Natürlich war es nicht meine Schuld, daß er gestorben war, aber ich saß doch hinter ihm, und er hatte mich geschützt. Warum habe ich ihm den Leichtsinn, der uns beiden Vergnügen machte, erlaubt? Warum habe ich ihm erlaubt, daß er mich mit seinem Körper schützte und nicht sich selbst?
In demselben Jahr, in dem er starb, hatten wir uns beide zum landwirtschaftlichen Hilfsdienst gemeldet, und der Sommer, den wir gemeinsam auf dem Gut des Herrn Bächler bei Schneidemühl verbrachten, war der letzte vor seinem Tod. Otto C. und ich arbeiteten auf dem Felde und lernten, »Heu zu machen«, wobei uns Herr Bächler und seine Knechte nicht ohne heimlichen Spott und eine offenkundige Geringschätzung zu beobachten pflegten, Anspielungen auf unsere großstädtische, um nicht zu sagen israelitische Herkunft, wie Herr Bächler sich schmunzelnd auszudrücken pflegte, wurden auf die übliche, zwar scherzhaft gemeinte, aber im Grunde feindselige Wispermanier jener Zeit gemacht.
Herr Bächler war ein mächtiger Mann mit Vollbart, Lodenjacke, Jagdhut und einem Schrotgewehr, das Urbild eines deutschen Riesen, weshalb ihn denn auch seine Gattin Lieselotte als einen solchen bezeichnete und das »Ja«, das er von ihr uneingeschränkt erwartete, stets mit einem »Ja, mein Riese« ergänzte.
Manchmal schlichen Otto C. und ich uns in den Pferdestall und ließen uns von Jankel, dem polnischen Kriegsgefangenen, der als Stallknecht auf dem Gut von Herrn Bächler arbeitete, über das Liebesleben der Pferde aufklären. Wir waren in dem Alter, in dem man im Begriff ist, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und die Natur ist voll von nackten Geheimnissen, nackt und erregend wie die Brüste der polnischen Magd, mit der wir uns im Heu herumwälzten wie junge Hunde, die noch nicht recht wissen, was sie anfangen sollen.
 
Ich liebe Pferde. Sie veredeln den, der sie reitet, sie machen ihn besser, als er ist, und ich gestehe, daß ich noch heute vor jedem Reiterstandbild in Gedanken den Hut abnehme, auch wenn es einen Gneisenau oder einen Buffalo Bill oder irgendeinen General des amerikanischen Bürgerkriegs darstellt.
Mein Vater pflegte jeden Morgen, bevor er ins Büro ging, im Tiergarten zu reiten. Er hatte als Einjährig-Freiwilliger zuerst bei den Husaren, dann bei den Dragonern gedient, wovon die schmucke Photographie auf dem Nachttisch meiner Mutter zeugte. Aber das Pferd veredelte ihn nicht, es paßte nicht zu ihm. Generäle durften reiten, Indianer, Polizisten, Jockeys, aber ein Geschäftsmann gehört nicht aufs Pferd. Er gehört in die Droschke, noch dazu ein Mann seiner Statur, etwas zu klein, etwas zu kurze Beine, etwas zu korpulent, man konnte es dem Tier nicht zumuten, einen Mann zu befördern, der über Börsenkurse nachdachte und die Briefe, die er im Büro seiner Sekretärin diktieren würde, während er ein Geheimnis ritt, eine der edelsten Schöpfungen, einen Mythos, der noch in die Zeit zurückreichte, da Mensch und Tier miteinander verwachsen waren wie im Zentaur. Ein Pferd ohne Reiter ist wie ein leerer Stuhl. Pegasus war ein geflügeltes Pferd und vollzog für alle Zeiten die Vermählung von Geist und Körper im Zeichen der Poesie. Ich liebe die Skulpturen des Italieners Marino Marini, seine nackten berittenen Jünglingsgestalten, da sie eine verlorengegangene Einheit wiederherstellen. Gewiß, man kann Elefanten reiten, Esel, Dromedare und sie damit zu Transportmitteln erniedrigen. Ein Mensch auf einem Kamel, einem Esel oder einem Elefanten hat für mich etwas Widernatürliches, verletzt mein Gefühl für Proportionen, das Tier ist entweder zu klein oder zu groß für den Menschen. Seit der Schöpfung scheint eine geheime Abmachung zwischen Mensch und Pferd zu bestehen. Zähme mich, sagt das Pferd zum Menschen, ich bin dein. Ich will dir dienen. Ich will dich erhöhen über alle anderen Tiere, du wirst größer sein, als du bist, du wirst auf sie herabsehen und mit deinem Gesicht die Zweige der Bäume streifen, die du nicht erreichen konntest. Du wirst schneller sein als sie und mächtiger und auf meinem Rücken über Gräben und Mauern springen. Du wirst in Städte einziehen, die ich für dich erobern werde.
 
Mein Großvater war Direktor einer Brauerei im Norden Berlins gewesen, einer Gegend, die wir nur selten betraten, es sei denn, um unsere Großeltern zu besuchen. In dem Zimmer, in dem meine Schwester und ich schliefen, hing ein Plakat, das uns erschreckte, wenn es im Schein eines vorbeifahrenden Wagens aufflackerte, ein Ziegenbock, der uns grinsend mit einem Glas Bockbier zuprostete.
Die Brauerei roch nach Bier und Malz und Pferdeurin. Wir kletterten auf den Leiterwagen herum, die im Hof der Brauerei standen, und sahen die dicken, zottigen Brauereipferde mit wilden Mähnen unter Peitschengeknall die steile Anfahrt hinaufstürmen, Funken schlagend, und mit schäumenden entblößten Gebissen, die Leiterwagen mit den nun leeren Fässern hüpften über das Kopfsteinpflaster. Ich konnte es gar nicht abwarten, bis die raufenden, mächtigen Tiere abgeschirrt, abgetrocknet und in die Ställe geführt wurden. Dann ließ ich mich auf einen der Gäule heben und stellte mir vor, während der Kutscher den Hafer in die Krippe schüttete, ich wäre der letzte Mohikaner, der schweigend über die Prärie reitet oder Lederstrumpf oder Don Quichotte auf seiner Rosinante.
Die Pferde in Herrn Bächlers Ställen ähnelten denen meines Großvaters. Sie zogen Pflüge und schwere Ackergeräte hinter sich her und standen am Abend müde in ihren Ställen. Einige schliefen im Stehen und machten uns neugierig, vor allem die Stuten. Wir tasteten sie ab und erschraken und sprachen im Heu noch lange darüber, bis wir unruhig einschliefen. Von Zeit zu Zeit fuhr Herr Bächler mit Jägerhut und Schrotgewehr nach Schneidemühl, um Samenkörner oder einen Gartenschlauch oder irgend etwas, das er brauchte, einzukaufen. Er blieb meist zwei oder drei Tage fort, und Frau Lieselotte saß sinnend am Fenster und seufzte »Ach, mein Riese«, während sie zum Strickzeug griff oder die Hosen des Abwesenden zwecks Ausbesserung liebevoll auf ihren Schoß nahm und streichelte. Etwas schien sie zu bedrücken, und Otto C. und ich glaubten zu wissen, was es war. Lieselotte, die sinnliche, hochbusige Brunhilde aus Oberschlesien, war ihrem Mann, der sie betrog, verfallen. Sie war ihm hörig, dem Riesen, der sie zermalmte unter seiner Wucht und sie bestieg, wie der Hengst im Stall, den wir beobachtet hatten, die Stute bestieg. Rauh war das Leben auf dem Lande, rauh waren die Bauern in der Schenke, rauh der Zugriff des Riesen, dem sie sich nur allzu bereitwillig unterwarf. Und wie eine Bestätigung unserer Theorie schien es uns, wenn sie uns an sich zog und mit heißem Atem in unser Ohr flüsterte: »Ach, ihr habt ja noch so viel vor euch! Nehmt es wahr; die Welt ist voller Erwartungen. Bald werdet auch ihr Männer sein; Männer!« Dann sah sie wieder zum Fenster hinaus und wartete auf den Riesen.
Es gab Hirsche und Rehe in den umliegenden Wäldern, und Herr Bächler bestand darauf, daß wir ihn auf der Jagd begleiten sollten. »Schießen dürft ihr nicht«, sagte er, »das besorgen wir, aber zusehen dürft ihr.« Als es soweit war, wurden die Vorbereitungen von Frau Lieselotte mit emsiger Hausfrauenbetulichkeit getroffen. Proviant wurde in Rucksäcke verstaut, Gewehre wurden gereinigt, Jagdmesser geschliffen. Um zehn Uhr abends brachen wir auf. Vor der Tür standen drei Männer in schwerer Jagdausrüstung, Bauern aus der Umgebung.
Wir gingen in langer Reihe über die Felder auf den Wald zu, der Riese rauchte einen Stumpen und roch nach Tatendrang und Blutdurst. Als wir den Wald erreicht hatten, verteilten sich die Männer in verschiedenen Richtungen. Der Riese forderte uns auf, ihm zu folgen. Wir stiegen über Felsbrocken und Baumwurzeln, sprangen über einen Bach, wobei der Riese beinahe ins Wasser gefallen wäre, und kamen schließlich zu einer Lichtung. »Ihr wartet hier, bis alles vorbei ist«, sagte der Riese, »rührt euch nicht von der Stelle!« Dann verschwand er. Wir legten uns auf den Waldboden und warteten. Als wir etwa eine Stunde gewartet hatten, sagte Otto C.: »Ich habe mir eine Jagd nicht so langweilig vorgestellt; ich bin müde, ich lege mich jetzt schlafen. Wecke mich auf, wenn irgend etwas passiert.« Es passierte nichts. Weit und breit kein Hirsch, der majestätisch aus dem Walde heraustrat, kein Reh, nicht einmal ein Kaninchen. Ich wagte nicht, aufzustehen, weil ich fürchtete, für ein Wildschwein oder Kaninchen gehalten zu werden. Allmählich wurde es heller. »Ich habe Hunger«, sagte Otto C., der inzwischen aufgewacht war. »Iß etwas«, sagte ich, »wir haben ja genug!« – »Ich glaube, Fischen ist noch langweiliger«, sagte Otto C. Plötzlich hörten wir einen Schuß, viele Schüsse, begleitet von den Zurufen der Männer, die nun brüllend, schießend, fluchend aus den Gebüschen hervorbrachen, aber wir sahen nichts. Es war, als ob wir einen schlechten Platz im Theater erwischt hätten, hinter einem Pfeiler, wo man nichts sehen, sondern nur noch hören konnte. Geschrei, das Knacken von zertretenen Zweigen, der dumpfe Fall von schweren Körpern. Als alles vorbei war, lagen drei verblutende Tiere am Boden, zwei Hirsche und ein Wildschwein.
Der Riese steckte sich einen Stumpen in den Mund und schmauchte, die Bauern zogen ihre Jagdmesser, schnitten an den Tieren herum, holten sich lange dünne Baumstämme aus dem Wald und banden die Tiere daran fest. Dann traten wir den Rückweg an. Otto C. und ich trugen eine Stange, an der das Wildschwein hing, ich ging hinter Otto C. her und sah, wie das Blut aus der Schnauze des Tieres auf den Boden tropfte. Mich ekelte, ich wollte Vegetarier werden, nie mehr Fleisch essen, es sei denn, daß es mir in einer Form verabreicht wird, die mich nicht mehr an das lebendige Tier erinnert. Nichts bringt mich dem Erbrechen näher als der Anblick eines gebratenen Schweinskopfes, in dessen Maul eine Zitrone steckt.
Kurz danach geschah etwas, das mich erneut an mein Anderssein erinnern sollte. Ein jüdischer Feiertag stand bevor, und Jankel, der polnische Kriegsgefangene, der im Stall von Herrn Bächler arbeitete, hatte darum gebeten, nach Krojanke fahren zu dürfen, wo sich eine Synagoge befand und ein Rabbiner, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Für Herrn Bächler war dies eine willkommene Gelegenheit, sich großzügig gegenüber den Fremdstämmigen zu erweisen. Wir bekamen den Auftrag, Jankel nach Krojanke zu begleiten und uns mit unserer Person dafür zu verbürgen, daß er auch wieder zurückkommen und nicht etwa unterwegs einen Fluchtversuch unternehmen werde. Jeder von uns bekam ein Gewehr, das aber nicht geladen war, sowie eine weiße Armbinde und einen behördlich beglaubigten Ausweis.
Wir fuhren also mit Jankel nach Krojanke. Es war eine lustige Reise, wir lachten und sangen die ganze Zeit, und Otto C. und ich beschworen ihn, uns ja keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. »Nein«, sagte Jankel und schlug uns auf die Knie. »Ich nicht fliehen, ich nicht fliehen.« In Krojanke lieferten wir ihn sofort bei der Synagoge ab, wo der Gottesdienst bereits begonnen hatte. Ich trat ein in eine Welt, auf die ich nicht vorbereitet war. Zu viele Menschen in einem viel zu engen Raum, zuviel Geheimnis um einen Gott, der dieses Geheimnis nicht nötig hatte. Ich hatte das Gefühl zu stören, aber das war natürlich Einbildung. Was mich am meisten befremdete, war der Umstand, daß die Leute während des Gottesdienstes ein- und ausgingen oder kleine Gruppen bildeten und sich laut unterhielten, während andere, vor allem die in den vorderen Reihen, in inbrünstigem Gebet ihre Köpfe wiegten nach altem jüdischen Ritual. Wir sagten Jankel, daß wir in einer Stunde wieder zurückkommen würden, und gingen hinaus ins Freie. Wir gingen durch die Gassen der kleinen Stadt, wobei wir versuchten, unsere Gewehre zu verstecken, setzten uns an einen Wegrand und aßen von dem Proviant, den Frau Lieselotte uns mitgegeben hatte. Als wir nach einer Stunde zurückkamen, war das Gotteshaus leer. Ein Gemeindediener, der im Begriff war, die Stühle zusammenzustellen, gab uns die Adresse des Rabbiners, wo wir wahrscheinlich Jankel finden würden. Tatsächlich saß er dort, fröhlich schmausend in festlicher Tafelrunde, ein Gläubiger unter Gläubigen. »Kommen Sie in einer Stunde wieder«, sagte der Rabbiner, nachdem wir uns ausgewiesen hatten, »das Mahl ist noch nicht zu Ende.« – »Ich nicht fliehen! Ich nicht fliehen!« rief Jankel lachend und hob das Weinglas zum Gruße. Er war glücklich, er war von den Seinen aufgenommen, er war gespeist und gestärkt worden, während man uns die Türe wies. Uns, den Abtrünnigen, die wir ein Gewehr über der Schulter trugen und den Sabbat nicht heiligten und kein Wort Hebräisch verstanden.
Als wir mit Jankel wieder im Zug saßen, war es bereits dunkel über der Landschaft, ich sah hinaus, ich hörte die Gläser klingen im Haus des Rabbiners und die heiteren Gespräche, wenn sie miteinander das Brot brachen, das Klatschen der Hände beim Tanz um die gedeckte Tafel. Wohin gehöre ich? Weder zu den Wildschweinjägern noch zu den ehrwürdigen Patriarchen, die dann im Gebet die Köpfe wiegten. Ich glaubte an Gott, aber in welcher Sprache sollte ich zu ihm beten?
2
Der Krieg war zu Ende, der Kaiser hatte abgedankt, Ebert und Scheidemann, zwei Sozialdemokraten, hatten die Republik ausgerufen. Arbeiter mit roten Fahnen marschierten durch die Straßen Berlins, standen auf Lastwagen, sangen die Internationale und »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«. Auf den Lastwagen waren Maschinengewehre montiert, die drohend auf ein unbekanntes Ziel gerichtet waren, auf die Bourgeoisie, die bürgerliche Gesellschaft. Am Gendarmen-Markt wurde geschossen. Wenn man früh aufwachte, hörte man fernen Kanonendonner. Es war die Zeit der Arbeiter- und Soldatenräte. Wir gründeten einen Schülerrat, bei dem sich vor allem Hermann Budzislawski als ein Kenner der Sache hervortat. Die Aufgabe des Schülerrates bestand im wesentlichen darin, den Lehrern mitzuteilen, was wir von ihnen hielten, und dem Direktor zu verbieten, das Klassenzimmer zu betreten, solange wir tagten.
Vier Jahre vorher stand ich mit meinem Vater vor dem Königlichen Schloß und hörte den Kaiser sprechen. Jetzt stand ich vor dem alten Museum, vor dessen Stufen Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky eine begeisterte Menge zur Revolution aufrief, die Revolution brach über uns herein, ergriff uns und wühlte uns auf mit den Demonstrationen, Aufrufen, Pamphleten, Theaterstücken und »Oh, Mensch«-Dichtungen; wir verschlangen »Die Menschheitsdämmerung« von Kurt Pinthus, Franz Pfemferts »Aktion« und Herwarth Waldens »Der Sturm« und natürlich die »Weltbühne«. Hasenclevers »Sohn« rief zur Rebellion gegen die Väter auf, in der Tribüne gab es Sonntags-Matineen, in denen Karlheinz Martin, Franz Wenzler und Fränze Roloff die Dichtungen von Franz Werfel, Theodor Däubler, Else Lasker-Schüler, Benn und Becher lasen. Ich höre noch heute wie aus einem anderen Zeitalter jene Stimmen, die einen neuen »Expressionismus der Seele« verkündeten, zu mir dringen; Franz Werfels Aufschrei: »Oh, Herr, zerreiße mich, ich bin ja noch ein Kind!« Und Else Lasker-Schülers: »Meine Seele, die die Deine liebet, ist mit Dir verwebt im Teppichtibit.« Oder den Chor der Soldaten, die in Ernst Tollers »Wandlung« im Zug zum Schlachtfeld gefahren werden mit dem Refrain »Ewig fahren wir, ewig fahren wir«, ein Stück, dessen Uraufführung ich ebenfalls in der Tribüne mit Fritz Kortner in der Hauptrolle erlebte. Ich kam am Sonntag immer zu spät zum Mittagessen, ich rebellierte gegen den Gänsebraten mit Rotkohl und wollte wie Thornton Wilder in seinem letzten Buch »Theophilus North« ein Heiliger werden, ein Welterlöser, eine neue Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit gründen, eine Brüderschaft im Geiste. Wir waren in einem Zustand religiöser Dauerekstase, eines ewigen Hingerissenseins, in einer Nähe zum Menschen, wie vielleicht noch keine andere Generation zuvor. Ich schrieb damals meine erste Novelle »Die Schwester«, die Geschichte meines Freundes Otto C., der im Krankenhaus an Lungenentzündung gestorben war, und einer alternden Krankenschwester, die sich neben den sterbenden jungen Menschen legt, um mit ihm zu sterben. Ich gab sie dem »Feuerreiter«, einer Zeitschrift, die von Hans Roger Madol, Fritz Gottfurcht und Heinrich Eduard Jacob gegründet worden war. Die Erzählung ist jedoch nie erschienen, weil die Zeitschrift kurz danach ihr Erscheinen einstellte.
Ich verdanke dem »Feuerreiter« die Freundschaft mit Hans Roger Madol, der eigentlich Gerhard Salomon hieß und aus seinem Namen ein Anagramm gemacht hatte, ebenso seltsam wie der Mann, der sich so nannte; übrigens ein Bruder des politischen Publizisten Berthold Jacob, dem die Gestapo dadurch zu einem tragischen Weltruhm verhalf, daß sie ihn aus Basel nach Deutschland entführte.
Hans Roger Madol hauste in einer Mansarde in Halensee, in der sich nur ein Tisch, ein Stuhl und ein eisernes Bett befanden, und las mir bei Kerzenlicht seine Gedichte, seine dithyrambischen Aufschreie vor. Von ihnen ist mir nur die abgenagte Fischgräte in Erinnerung geblieben, die neben ihm auf einem Teller lag, Symbol einer freiwillig gewählten mönchischen Einzelhaft, einer Askese, die er sich auferlegte, um nur noch Geist, ganz Geist zu sein und auf alle irdischen Güter zu verzichten. Ich erinnere mich an eine Gedichtzeile von mir, entstanden nach einem jener nächtlichen Besuche in Roger Madols Dachstube, eine Stilübung, bei der ich, nach gutem expressionistischem Brauch, die Sprache mißhandelte, um ihr die ekstatische Frage zu entlocken: »Klebten nicht steile Treppengeländer an mir?« Zu meiner Entschuldigung möchte ich hinzufügen, daß man eben damals so dichtete; gestuft, gesteilt, geballt, wie es der Kritiker Alfred Kerr formulierte. So ließ sich auch mein Freund Rudolf Leonhard in einem Gedicht »Narzissus« die Alliteration einfallen: »Weiß gleist mein Steiß«, was man ihm jedoch nicht weiter übelnahm.
Hans Roger Madol hat übrigens nicht als Asket geendet. Der schmächtige Jüngling von einst verwandelte sich durch einen Akt beispielloser Transmutation in einen schweren Mann von beträchtlicher Körperfülle, der nicht mehr an Fischgräten nagte, sondern es vorzog, mit den Mächtigen der Welt bei Tische zu sitzen und Biographien über Monarchen und andere hochgestellte Persönlichkeiten zu verfassen.
Im Berlin der berühmten zwanziger Jahre aufgewachsen zu sein, wird heute von vielen als ein beneidenswerter Glücksumstand betrachtet. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß im Deutschland der Weimarer Republik, und Berlin war seine künstlerische Metropole, nicht nur der Geist des Jahrhunderts mitgeprägt wurde, sondern auch sein Untergang, daß neben dem Expressionismus, dem Bauhaus und der atonalen Musik, neben Schönberg, Brecht, Kandinsky, Thomas Mann, Döblin auch noch ein anderes Deutschland die große Abrechnung vorbereitete. Natürlich konnte man das damals noch nicht ahnen, aber daß etwas nicht stimmte, dieser Zweifel an der bestehenden Ordnung war mir bereits gekommen, als mein Vater sein goldenes Zigarettenetui dem Arbeiter in der Granatenfabrik angeboten hatte. Dies verstärkte sich noch, als die alte Ordnung zusammenbrach und mein Vater am Fenster stand und sagte: »Was soll nun werden?« Ich empfand die Zeit, in der ich lebte, als etwas Provisorisches, Irreales; Deutschland hatte einen Krieg verloren und war beinahe nachtwandlerisch in eine Republik hineingetaumelt, auf die es nicht vorbereitet war und die es nicht verarbeiten konnte. Die Not war groß, Kriegskrüppel ohne Beine fuhren auf rollenden Brettern durch die Straßen, in denen ein Volk, das anscheinend nur aus Bettlern, Huren, Invaliden und specknackigen Spekulanten zu bestehen schien, wie es George Grosz gezeichnet hatte, aus einer ungewissen Gegenwart in eine noch ungewissere Zukunft marschierte. »Nieder mit dem Versailler Vertrag!« riefen die einen, »Nie wieder Krieg!« die anderen, während sie sich bereits auf den nächsten vorbereiteten. Aus dem Osten kam eine mächtige Lehre, die sich in Filmen und Theaterstücken, in Manifesten und blutrot gehefteten Broschüren kundtat. »Panzerkreuzer Potemkin«, »Zehn Tage, die die Welt erschütterten«, Lenin, der Mann mit der Arbeitermütze und dem Kalmücken-Gesicht, mit erhobener Hand auf die Massen einredend, im zuckenden Licht der Wochenschauen. »Nieder mit der bürgerlichen Gesellschaft!« Aber die bürgerliche Gesellschaft, das war mein Vater, ein rechtschaffener Mann, der sich geweigert hatte, am Krieg zu verdienen, und der doch, wie Budzislawski mit funkelnden Brillengläsern erklärte, zum Mitschuldigen an der Gesellschaft geworden war, die rechtschaffene Männer wie ihn, ob sie es wollten oder nicht, zu Ausbeutern machte und dem Arbeiter den Mehrwert, den er produzierte, fortnahm. Gut, und das müsse anders werden. Während ich meinem Vater beim Frühstückstisch davon erzählte, war er genauso ratlos wie ich, trank hastig seinen Kaffee aus, gab mir einen Kuß auf die Stirn und sagte: »Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird; merke dir das, mein Sohn.«

Tc – 110 A

Ich sehe nicht mehr genau, was ich esse. Ich tappe also mit der Gabel im Dunkeln, vor allem, wenn ich vergessen habe, was ich bestellte. Ich hasse Kerzen, weil sie eine Weihestimmung erzeugen, die sich eher für ein Flötenkonzert von Boccherini als für die Zerstückelung eines Truthahns eignet. Ich kann also bei gedämpftem Licht keine Kalbsbrust von einer Rindsroulade unterscheiden, dafür aber ist mein Blick für das Essentielle geschärft worden. Ich sehe Einzelheiten, die mich entzücken, ein bezauberndes Lächeln auf einem Gesicht, das bereits an den Rändern vom Hintergrund verschluckt wird. Der Arzt hat mir geschworen, ich würde nicht blind werden, nicht ganz. In meiner optischen Welt geht also alles seinen Gang. Eine Auslese des Wichtigsten findet statt, während das Unwichtige unter den Tisch fällt, wie zum Beispiel im Augenblick dieser Hühnerknochen. Aber in meiner akustischen Welt der Tonbänder herrscht Unordnung. Ich weiß, daß sich irgendwo in meinen gesprochenen Tagebüchern und Manuskripten eine Stelle befinden muß, eine Eintragung über ein noch zu schreibendes Buch oder eine Gedichtzeile, die mir einfiel, und wenn ich sie nicht gefunden habe, dann beginnt jenes quälende Meditieren nachts im Bett, jener verzweifelte Versuch, das einmal Formulierte zu rekonstruieren, jedenfalls annäherungsweise, um dann mit Schrecken festzustellen, daß man sich eine elektronische Ersatzwelt aufgebaut hat, die man nicht suchend durchblättern, liebend verbessern kann, sondern die von mir eine neue, angestrengte Arbeitsmethode fordert, eine ständige Gedächtnisübung. Ich habe versucht, Ordnung in meine Tonbänder zu bringen, ich habe sie in Schachteln und Schächtelchen verstaut und entsprechend beschriftet, sie stellen eine Erweiterung meines Bewußtseins dar, aber ich darf nicht zuviel Zeit damit verschwenden, sie zu finden, es darf nicht zu lange dauern. Einige Tonbänder sind bereits mehrfach besprochen worden, sie enthalten Bewußtseinsschichten, die einander überlagern, sich gegenseitig auslöschten. Es gibt wichtige Arbeiten, die verlorengingen, weil sie aus Versehen durch andere verdrängt wurden. Eines enthält eine Erzählung, die ich beim besten Willen nicht mehr rekonstruieren kann. Ein anderes beschäftigte sich mit den Beziehungen zwischen Geschichte und Wahnsinn und hatte etwa folgenden Inhalt: Wenn wir unter Wahnsinn die Herrschaft des Irrationalen über die Vernunft verstehen, so ist Geschichte bisher genau das gewesen: eine Chronik der Pathologie des menschlichen Geistes, Geschichte als eine von Menschen manipulierte Folge von Geschehnissen, die im Augenblick ihrer Verwirklichung sich selbständig machen und sich der Kontrolle der Menschen zu entziehen versuchen. Der Glaube an die Vorausbestimmbarkeit der Geschichte ist ein Irrglaube. Sie ist kein Strom, der durch eine für sie bereits vorbereitete Landschaft fließt, sie wählt sich ihre Ufer selber, ihre Überschwemmungen, ihre Sintfluten, ihre Buchten und Mündungen. Ihre Aktionen sind unberechenbar, am Schluß bleibt nur die Zwangsjacke.
In meiner Tonbandsammlung befindet sich eine Schachtel, auf der mit Rotstift »Richard Wagner« geschrieben steht, Materialien für ein neues Buch oder eine dramatische Darstellung eines ungeheuerlichen Themas, das sich damit verbindet, nämlich die Selbstauslöschung eines deutschen Judentums, das in Richard Wagner seinen Erlöser zu sehen glaubte, seine wollüstig selbstquälerische Hingabe an die Musik eines Mannes, der zu seiner Vernichtung aufrief. Aus seinem Aufsatz »Das Judentum in der Musik« und aus den Tischgesprächen der Villa Wahnfried, die Cosima mit der Geflissenheit eines weiblichen Eckermann aufzeichnete, und aus zahlreichen anderen dokumentarisch belegbaren Beispielen geht hervor, daß Richard Wagner in seiner Phantasie, in seinen Worten und Werken, vorwegnahm, was sein Schüler und Exekutor Adolf Hitler später in den Vernichtungslagern verwirklichen sollte. Die künftigen Opfer der »Endlösung« jubelten ihrem Erlöser in der schimmernden Rüstung Lohengrins zu, sangen, dirigierten, musizierten Wagner und verbreiteten seinen Ruhm über die ganze Erde. »Hojotoho!« sang meine Mutter am Klavier und schlug in die Tasten, während mein Vater nach dem Essen sich mit Weinglas und Zigarre in den grünen Stuhl am Fenster setzte und das »Berliner Tageblatt« las. Mit Walters Preislied auf den Lippen rasierte er sich am Morgen, und mit Tristan und Isolde sangen sie sich gegenseitig in den Schlaf. Kaum vorzustellen, daß der Parsifal, das deutscheste aller Weihespiele, in dem Richard Wagner, 50 Jahre vor Adolf Hitler, einen germanischen Christus als Welterlöser auf die Bühne stellte, von dem Sohn eines Rabbiners, Hermann Levi, dirigiert und in Zusammenarbeit mit einem jungen russischen Juden aus Charkov, Josef Rubinstein, der auch den Klavierauszug herstellte, erschaffen wurde. Anderthalb Jahre nach dem Tod des von ihm verehrten Meisters nahm sich Rubinstein in Luzern das Leben.
Eine Zeitlang trug ich mich mit der Absicht, das Schicksal dieses Josef Rubinstein zu einem Drama oder einer Geschichte zu verarbeiten. Er hatte sich bei Wagner mit einem Brief eingeführt, der mit den Worten begann: »Ich bin ein Jude. Hiermit ist für Sie alles gesagt.« Er wäre, wie Wagner, der Ansicht, daß die Juden vernichtet werden müssen. Er habe schon dreimal einen Selbstmordversuch unternommen, jetzt wolle er seinem Leben noch einen Sinn geben. Er wäre Musiker und ein Bewunderer Wagners, und wünschte sich nichts sehnlicher, als gemeinsam mit dem Komponisten an der Vollendung seines Werks mitzuwirken.
Wagner akzeptierte. Aus den Tagebüchern Cosimas geht hervor, daß Rubinstein zehn Jahre lang fast jeden Abend bei ihnen zu Gast war, nach dem Essen mit Wagner musizierte oder ihnen allein am Klavier vorspielte. Er muß ein hervorragender Pianist und Wagner bei der Arbeit am Parsifal unentbehrlich gewesen sein – was letzteren jedoch nicht hinderte, auf seiner antijüdischen Rhetorik zu beharren. Rubinstein wartete ab, bis der Meister tot war, um die Konsequenz zu ziehen, indem er sich das Leben nahm. Auf Cosimas Wunsch wurde die Leiche von Luzern nach Bayreuth überführt und dort auf dem israelitischen Friedhof beigesetzt.
Die Schwierigkeit einer Dramatisierung des Stoffes lag darin, daß Rubinstein schon vor seinem Zusammentreffen mit Wagner pathologisch vorbelastet war, daß also sein Selbstmord nicht allein auf seine Begegnung mit ihm zurückgeführt werden kann. Dennoch scheint mir sein Schicksal von erschreckend symptomatischer Bedeutung zu sein. Wagner nutzte die Juden aus und sagte ihnen zugleich, wie nutzlos sie seien, ein Ungeziefer, das ausgerottet werden müsse. Schädlinge des Volkes, keiner großen Gedanken fähig. Rubinstein nahm es in sich auf und sah in Wagner den Erlöser von einem Judentum, dem er bereits abtrünnig geworden war. Das ist die furchtbare Wahrheit, die ich in der Geschichte sah, der Ermordete lieferte sich selbst seinem Mörder aus.
Ich kann das Band über Rubinstein nicht finden. Ich muß es mit meinen Betrachtungen über den Zusammenhang von Geschichte und Wahnsinn ausgelöscht haben. Der Arzt hat mir versichert, ich würde nicht blind werden, nicht ganz. Ich muß mich beeilen, es ist noch so viel zu tun. So viel ist ausgelöscht worden, ich muß es rekonstruieren, bevor es zu spät ist.