Die Wiege aller Welten (Chroniken von Bluehaven - Band 1) - Jeremy Lachlan - E-Book

Die Wiege aller Welten (Chroniken von Bluehaven - Band 1) E-Book

Jeremy Lachlan

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Beschreibung

Wir betreten das Schloss freiwillig. Wir betreten das Schloss unbewaffnet. Wir betreten das Schloss allein.   Diese drei Gesetze hängen in jedem Haus in Bluehaven und jeder Bewohner kennt sie. Denn das Schloss ist der Eingang zu den Anderwelten. Und wer mutig genug ist, geht hinein, um dort Abenteuer zu erleben. Viele Jahrhunderte lang war das so. Doch vor vierzehn Jahren, in der Nacht des großen Bebens, hat das Schloss plötzlich John White und seine kleine Tochter Jane ausgespuckt. Seitdem ist das Tor verschlossen. Erst an dem Tag als die wütenden Inselbewohner Jane vor Gericht stellen wollen, erbebt die Erde erneut ...   Ein Schloss voller Fallgruben, Labyrinthe und wundersamer Türen und eine rotzfreche Heldin, die auch den unheimlichsten Gegner bezwingt. Jeremy Lachlans Debüt ist ein Feuerwerk moderner Fantasy mit Science-Fiction-Elementen, einer großen Portion Magie und einem gehörigen Schuss Humor.

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INHALT

DIES IST NICHT DER ANFANG

Das verborgene Symbol

TEIL EINS

Zwölf Jahre später

Platz des Anbeginns

Der Fang des Tages

Stimmen in der Dunkelheit

Der Käfig und die Kuratorin

Das Schlimmste vom Schlimmen

Das Manuvische Messer

Die Schlossklage

Dämmerung

Ruinen und Ruin

Die Abreise

Das Museum für Anderwelt-Antiquitäten

Die Nacht Allen Unglücks

Verborgenes und Strippenzieher

Die Katakomben

ERSTES ZWISCHENSPIEL

Das Werk von Winifred Robin

TEIL ZWEI

Das Wunder hinter der Mauer

Der Generalschlüssel

Der Albtraum

Der Mann mit dem schwarzen Sack

Blechköter-Probleme

Wie die Dinge liegen

Hickorys Heim

Ein anderes Fenster

Gejagt

Ergriffen

Der Blutsauger-Wald

Die Blume in der Talsenke

Die Kopfgeldjäger

Die Halle der tausend Fratzen

Das Gefangenenlager

Ins Maul des Riesen

Die Wächter

Die Wahrheit über John und Elsa

Die Torwächterin, der Erbauer und der Schreiber

Der Mann mit dem Porzellangesicht

Flucht

Planänderung

Die Spiralstraße

ZWEITES ZWISCHENSPIEL

Nicht das Mädchen, an das sie sich erinnert

TEIL DREI

»Es gibt keine Karten,

die durch diese heilige Stätte führen könnten.

Dies ist ein Ort zwischen den Orten,

und ein tödlicher noch dazu.

Nehmt euch in Acht, Abenteurer:

Nur, wer sich als würdig erweist,

darf zwischen den Welten wandeln.«

DAS VERBORGENE SYMBOL

Ihre Laterne scheucht in der Dunkelheit Schatten auf. Spinnweben haften an ihren Fingern und die Spinnen huschen davon. Sie fährt mit der Hand über die steinerne Wand des Tunnels und atmet tief ein, kostet die Feuchtigkeit, die Erde, das Unbekannte. Wie hat sie es vermisst! Die Leute nennen sie altmodisch, aber was wissen die schon. Winifred Robin gehört zu den Großen Abenteurern. Alt mag sie sein, dennoch ist ihre Geschichte noch lange nicht abgeschlossen. Heute Abend hat sich etwas verändert. Und sie ist entschlossen herauszufinden, was – und warum.

Winifred war gerade in den Katakomben und führte dort Nachforschungen durch, als das Erdbeben losbrach. Der Boden zitterte, die Schriftrollen wurden durcheinandergerüttelt. Kerzen stürzten von den Wänden und erloschen. Ein tiefes Grollen drang zu ihr – das Echo berstenden Gesteins –, doch nicht das, was sie hörte, sondern das, was sie kurz darauf fühlte, beunruhigte sie. Ein fauler Atem. Ein Luftzug.

Auch jetzt weht er ihr entgegen und lässt die Spinnweben tanzen. Es ist nicht mehr weit.

Hinter der nächsten Ecke stößt sie auf einen klaffenden Abgrund – ein breites schwarzes Loch, erfüllt von tausend Jahren Finsternis, so undurchdringlich, dass selbst das Laternenlicht sich davor scheut. Doch Winifred denkt nicht ans Umkehren, keine Sekunde. Diese Frau hat ganzen Armeen getrotzt, dem Tod selbst ein Schnippchen geschlagen, Götter bekämpft. Auf der ganzen Welt gibt es lediglich zwei Dinge, die sie fürchtet. Höhe gehört nicht dazu.

Die Laterne an den Gürtel geschnallt, klettert sie am Rand entlang. Ein Stein stürzt in die Tiefe. Wird von der Schwärze verschluckt. Das Geräusch des Aufpralls bleibt aus. Hin und wieder, während sie sich einen Weg den Krater entlang bahnt, wischt sie eine Spinne beiseite. Haarige Biester, groß wie eine Hand. Der Hauch weht aus der Tiefe zu ihr hinauf, doch sie schafft es sicheren Fußes auf die andere Seite. Richtet ihren tiefroten Umhang. Gönnt sich ein Lächeln.

Vorsichtig bewegt sie sich weiter. Die Insel Bluehaven ist übersät mit verlassenen Minen und von unterirdischen Gängen, doch dieser hier war Tausende von Jahren verborgen, abgeschottet von der Welt. Jetzt, zum zweiten Jahrestag Allen Unglücks – zwei Jahre, nachdem die Erde zum ersten Mal bebte –, hat er sich geöffnet.

Winifred glaubt nicht an Zufälle. Sie weiß, dass manches aus gutem Grund ein gut behütetes Geheimnis ist.

Am Ende des Tunnels tut sich im Stein eine Kammer auf. Als Winifred eintritt, tunkt ihre Laterne die Wände in goldenes Licht. Sie runzelt die Stirn. Der Raum ist ganz ohne Risse, ohne jede Spinne. Genau genommen gibt es hier überhaupt nichts. Die Kammer ist leer.

Suchend dreht Winifred sich um die eigene Achse, in der Hoffnung auf einen Geheimgang, einen weiteren Weg. Könnte ihr jemand zuvorgekommen sein? War der Schacht von einem anderen Korridor aus zugänglich?

Der Boden ist blank. Keine Fußspuren. Keine todbringenden Fallen, die im Fels versteckt sein könnten. Sie läuft die Kammer ab, fährt mit den Fingern über die Rückwand – da findet sie es. Ein kleines verblichenes Symbol: rostrot wie getrocknetes Blut. Eine uralte Hieroglyphe. Ein Dreieck, dessen eine Seite sich nach innen wölbt wie das Segel eines Schiffs oder eine Welle, umschlossen von einem Kreis.

Unglaublich. Winifred kennt dieses Zeichen. Seit zwei Jahren schon stellt sie die Große Bibliothek auf den Kopf, um seine Bedeutung zu enträtseln, und nun ist es hier. Die ganze Zeit über war es direkt unter ihren Füßen. Aber wie? Warum?

Das Symbol ruft nach ihr. Wispert in einer fremden, archaischen Sprache.

Winifred berührt es. Das Zeichen leuchtet auf, weiß und gleißend hell. Ein gespenstischer Windhauch heult durch die Kammer, reißt ihren Umhang in die Höhe, wirbelt Staub auf. Winifred will die Hand von der Wand nehmen, doch sie steckt fest, klebt an dem Symbol wie an einer glühend heißen Platte.

Der Schmerz ist grauenvoll. Allerdings nicht in ihrer Hand.

In ihrem Kopf.

Winifred sieht. Wie Blitze tauchen vor ihren Augen Bilder auf und in ihrem Geist entfaltet sich eine Geschichte, als würde sie in Windeseile ein Buch lesen. Allerdings ist es nicht nur eine Geschichte. Sie ist real – oder sie wird es sein.

Es ist eine Vision der Zukunft.

Sie sieht eine Jagd. Einen Käfig. Ein Opfer. Eine lange Reise, einen Schwindler und eine Verbündete. Sieht Schrecken aus ihrer eigenen Vergangenheit, geboren im Sand einer fernen Welt, die Winifred mit einer vertrauten, wenn auch seit Jahren nicht gefühlten, kalten Furcht erfüllen. Sie sieht Trümmer und Ruinen. Tod und Verwüstung. Als Winifred glaubt, nicht noch mehr ertragen zu können, ebbt der gespenstische Wind ab, der Stein vor ihr splittert, zahlreiche Risse bilden sich und sie wird von der Wand geschleudert. Finsternis verschluckt sie.

Wie lange sie ohne Bewusstsein war, kann Winifred schlecht schätzen. Doch als sie zu sich kommt, ist ihre Laterne beinahe ausgebrannt. Der Staub hat sich gelegt. Das Symbol ist verschwunden. Sie fühlt sich merkwürdig. Aller Energie beraubt, dafür erfüllt von etwas anderem. Einer grimmigen Entschlossenheit, einem Ziel. Die Vision war ein Geschenk, eine Warnung, ein Auftrag von den Schöpfern persönlich. Winifred hat gesehen, doch noch mehr als das: Sie hat verstanden. Es gibt Dinge, die sie erledigen muss.

Schreckliche Dinge.

Dieses göttliche Geschenk hat seinen Preis.

Winifred rappelt sich auf. Hält eine vernarbte, knochige Hand gegen die geborstene Wand. Jetzt weiß sie, was sich hinter diesem Fels verbirgt: Wunder über Wunder. Ihre Hand zittert. Sie weiß nicht mehr, wann sie zuletzt geweint hat, doch jetzt gönnt sie sich einen Moment. Sie vergießt Tränen wegen Dingen, die sie getan hat, Dingen, die sie tun wird, und dem langen Weg, der ihr auferlegt wurde. Als sie fertig ist, räuspert sie sich und richtet noch einmal ihren blutroten Umhang.

Genug. Sie muss diesen Ort verlassen – verlassen und nie wiederkehren, denn das Wunder hinter dem Stein ist für jemand anderen bestimmt. Diese Geschichte ist nicht Winifreds Geschichte.

Es ist die von Jane White. Dem Kind mit den Bernsteinaugen.

ZWÖLF JAHRE SPÄTER

Ich stecke schon wieder in Schwierigkeiten. Berufsrisiko, wenn man als verflucht verschrien ist, als unerwünscht, Beschwörerin allen Unheils, böser Geist. Mieses Wetter, schlechte Ernten, verschwundene Haustiere – alles schieben sie mir in die Schuhe. Keine Ahnung, was ich diesmal verbrochen habe. Ich weiß nur, dass MrsHollow oben an der Kellertreppe mal wieder ein Reinigungsritual veranstaltet, auf die Stufe spuckt und mit einem Thymianzweig herumwedelt. Dabei murmelt sie leise vor sich hin und brabbelt Sachen wie »infernale Abscheulichkeit« und »katastrophaler Schandfleck von unergründlichem Ausmaß«.

Offensichtlich hat sie mal wieder komplizierte Wörter im Lexikon nachgeschlagen. Nie ein gutes Zeichen.

Normalerweise würde ich es mir gemütlich machen und die Sache aussitzen. Im Schatten hocken, an meinen Nägeln kauen und ein Liedchen summen. Aber nicht heute.

Heute habe ich tatsächlich etwas vor. Heute habe ich ein Geheimnis.

Also trete ich in den schmalen Lichtkegel, der durch die offene Tür fällt. »Ähm, MrsHollow?«

»Psst!« Die Frau ist groß und schlaksig. Mit nervösen Augen, die durch ihre Brille zehn Nummern zu groß wirken. Quasi eine einen Meter achtzig große Gottesanbeterin am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie holt eine halbe Zitrone aus ihrer Schürzentasche und schmiert damit den Türrahmen ein. »Muss mich konzentrieren.«

»Klar doch. Aufs gute alte Spuck-Wedeln. ’tschuldigung.«

MrsHollow wirft Zitrone und Thymian weg, spuckt in die Hände, pfft-pfft, dreht sich im Kreis und ruft: »Hinfort!« Dann bleibt sie wie erstarrt stehen, die Hände in die Höhe gereckt, die Finger gespreizt.

Nichts passiert, natürlich nicht.

»Klasse Auftritt«, sage ich. »Es ist nur so, ich muss echt dringend aufs Klo …«

»Oh! Verflucht!« MrsHollow löst sich ruckartig aus ihrer Trance und wischt sich die Hände an der Schürze ab, bevor sie den Kopf schüttelt. »Sie ist weg. Die Schwingung. Du hast alles kaputt gemacht. Jetzt muss ich von vorn anfangen.«

»Wenn Sie mir vielleicht einfach verraten, was ich Ihrer Meinung nach ausgefressen habe …?«

»Nicht du. Na ja, nicht nur du. Vor allem er.« Anklagend zeigt sie mit dem Finger auf meinen Dad, der in seiner kleinen Nische liegt, wach, aber endlich ruhig. Wir wohnen nämlich im Keller. Mit Ratten und allem Drum und Dran. »Uns die ganze Nacht mit seinem Geschrei wach zu halten! Wie eine Todesfee brüllt er! Wir haben die Nase voll! Bring ihn unter Kontrolle oder er fliegt raus!«

Mein Gesicht wird glühend heiß. »Es war nicht seine Schuld. Das Beben hat ihn erschreckt, das war alles.«

»Das Beben, das du ausgelöst hast, du kleine Missgeburt von einer –«

»Beatrice!«, kreischt eine Stimme von oben. Es ist ihr Mann, Bertram, ein kleines Wiesel, das so gut wie immer am Küchentisch hockt. Er verlässt die Küche praktisch nie, weil es a) dort Essen gibt und er b) Angst hat, und zwar vor allem: Bazillen, Tieren, Pollen, Büchern, zwischenmenschlichen Kontakten, mir. Ich schwöre es hoch und heilig, einmal hat der Typ sogar einen Kleiderbügel angebrüllt. »Halte ihr den Vortrag!«

Oh, oh. Alles, nur nicht den Vortrag. Nicht jetzt.

»Ausgezeichnete Idee, Honigkuchen!« MrsHollow schaut mich durchdringend an, wird auf Kommando todernst und wirkt tief verletzt. »Das also ist euer Dank? Wir nehmen euch auf, aus reiner Nächstenliebe. Wir füttern euch durch. Geben euch Arbeit. Himmel, als du noch ein Baby warst, habe ich dich sogar gebadet! Und alles, was ihr fertigbringt, um uns eure Anerkennung zu zeigen, ist, uns die ganze Nacht wach zu halten? Ich will dir mal was sagen …« Die Frau blubbert weiter, aber ich habe schon vor Jahren gelernt, sie auszublenden.

Klar, teilweise hat sie recht. Die Hollows haben mich und Dad bei sich aufgenommen, aber nur, weil ihnen quasi keine andere Wahl blieb. Als wir auf Bluehaven auftauchten, wollte uns keiner, also warf der Stadtrat die Namen von jedem Pärchen der Insel in ein Fass und zog die glücklichen Gewinner. Eine halbe Stunde später wurden wir auf der Schwelle der Hollows abgeladen, gemeinsam mit zwei Hühnern und einer Kuh, die ihnen ihr Schicksal erleichtern sollten. So was wie »Nächstenliebe« kennen sie nicht. Sie haben keine Freunde. Sie tun so, als würde Violet – ihre eigene Tochter! – nicht existieren. Und mich behandeln sie wie eine Sklavin, solange ich denken kann. Ich putze das Klo, wasche ihre Wäsche, sammle die Eier ein, melke die Kuh, miste aus und wische die Böden, während ich mich außerdem rund um die Uhr um Dad kümmere.

Jane White, Mädchen für alles.

»Hörst du überhaupt zu? Ich sagte, deshalb verdienst du einen grausamen, einsamen Tod.«

»Oh.« Ich bin dran. »Ich entschuldige mich vielmals, MrsHollow. Sie haben völlig recht. Ich bin ein fauler Apfel. Durch und durch verdorben. Ich verspreche, mich in Zukunft zu bessern. Madam.«

Zum Glück hatte die Frau noch nie Antennen für Sarkasmus.

»Gut. In ein paar Stunden brechen wir zum Fest auf. Du weißt, was zu tun ist.«

Ich nicke. »Hierbleiben. Die Wand anstarren. Um Vergebung beten. So wie immer.«

»Ganz recht. Die Schlossklage ist für uns alle ein wichtiges Ereignis.« Sie zeigt wuchtig mit dem Finger auf mich. »Ruiniere es nicht! Mit etwas Glück werden die Schöpfer uns dieses Jahr Gnade erweisen«, fügt sie hinzu und meint damit, dass ich mit etwas Glück von einem Blitz erschlagen, einem tollwütigen Hund gebissen oder von Bienen zu Tode gestochen werde.

»Man kann nur hoffen«, sage ich. Doch allmählich überspanne ich den Bogen.

MrsHollow sieht mich finster an, bevor sie Richtung Dad nickt und betont sagt: »Sorg. Dafür. Dass. Er. Ruhig. Ist.« Damit zieht sie ab und knallt die Tür hinter sich zu.

»Endlich«, murmele ich.

Ich flitze an meiner zerlumpten Matratze am Boden vorbei und zwänge mich in Dads Nische neben sein Bett. Vergangene Nacht hat er wegen des Bebens fast kein Auge zugetan. Schreiend hat er sich immer wieder hin und her geworfen und seine Laken komplett nass geschwitzt. Genau wie die Erschütterungen sind auch seine Anfälle in letzter Zeit schlimmer geworden. Intensiver. Fast brutal. Nun sind seine großen braunen Augen wieder glasig, fixiert in diesem endlos weiten Blick. Die meisten würden in ihm nur die leere Hülle eines Menschen erkennen, doch ich weiß es besser. Das leichte Stirnrunzeln, das Zittern seiner Hände – ich weiß, dass er noch irgendwo dadrin ist, und er hat Angst. Er will, dass ich bei ihm bleibe.

»Dachte schon, die zieht nie ab«, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. »Geht’s dir gut?«

Natürlich antwortet er nicht. Genau genommen habe ich ihn noch nie reden hören, kein einziges Mal.

Mich um Dad zu kümmern, ist die einzige Aufgabe, die ich tatsächlich gerne tue. Es ist harte Arbeit. Außerdem mehr als traurig. Ich habe keine Ahnung, in welchem Albtraum er gefangen ist, und ich habe es schon lange aufgegeben, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Klar, er kann aufstehen und laufen, wenn ich ihm helfe. Langsam schlurfen, immer zwei Schrittchen. Er kann trinken und kauen und schlucken und die Toilette in der Ecke benutzen, aber das ist so ziemlich alles. Reden kann er nicht. Auch nicht lachen. Mich nicht umarmen. Ich kann keine Spiele mit ihm spielen oder mit ihm vor die Tür gehen. Und was am schlimmsten ist: Ich kann ihn nicht gesund machen. Alles, was ich tun kann, ist Kissen aufschütteln, Decken feststecken, Löffel voller Suppe reichen, Brot brechen, Zähne putzen, Haare waschen, Fingernägel kürzen und mir immer wieder dieselben Fragen stellen, die seit Jahren durch meinen Kopf geistern: Wie war er, bevor er krank wurde? Wie lautet sein richtiger Name? Wann wurde sein Haar so vorschnell rauchgrau? Was waren seine Lieblingsspeisen, -farben, -jahreszeiten und -lieder? Und dann die großen Fragen: Woher stammen wir? Wie ist meine Mutter so? Wie heißt sie? Sind ihre Augen wie meine? Ist sie irgendwo da draußen und wartet auf uns auf der anderen Seite? Warum ist sie nicht bei uns? Kurz gesagt: Was ist wirklich passiert in jener Nacht, als wir nach Bluehaven kamen?

Ich weiß, Dad kennt sämtliche Antworten, aber sie sind in ihm gefangen wie Krabbelkäfer in einem Glas. Ich kann nur meiner Fantasie freien Lauf lassen. An manchen Tagen treibt es mich in den Wahnsinn, aber ich liebe ihn und Punkt. Und das bedeutet, dass die Dinge in Ordnung sind, wie sie sind. Sicher, ich wünschte, er käme zu sich und würde mich von hier wegholen, aber Wünsche sind gefährlich, verwirrend. Das hier ist unser Leben. So war es schon immer und so wird es vermutlich immer sein. Zumindest dachte ich das bisher.

Jetzt habe ich Zweifel.

Im Morgengrauen wurde ich von einem schnellen Rat-ta-tatt geweckt. Nachdem ich mir die Spucke vom Kinn und den Schlaf aus den Augen gewischt hatte, sah ich gerade noch, wie jemand eine Nachricht durch den Spalt in dem winzigen Kellerfenster schob. Und zwar nicht irgendeine Nachricht. Ein altes Foto. Ein Bild von Dad, auf dem er in einem Sessel in einem prächtigen, sepiafarbenen Büro schläft: auch damals schon krank, denke ich, aber etwas jünger, mit weniger Falten im Gesicht. Ich hatte das Gefühl, einen Amboss verschluckt zu haben. Noch nie hatte ich ein Foto von ihm gesehen. Hektisch zerrte ich eine Kiste unter das Fenster und stellte mich auf die Zehenspitzen, weil ich unbedingt sehen wollte, wer es mir zugesteckt hatte, aber der geheimnisvolle Bote war verschwunden. Ich hielt das Foto ins milchige Licht. Da erst fiel mir die Botschaft auf der Rückseite auf.

Bei mir. Bucht der Weißen Felsen. 10Uhr.

Komm allein, wenn du Antworten willst – E. Atlas.

Eric Atlas. Das ergab keinen Sinn. Tut es noch immer nicht. Bluehavens glorreicher neuer Bürgermeister – ausgerechnet der schleicht bei Tagesanbruch über die Insel und schiebt Nachrichten durch Fenster? Erst vor wenigen Wochen war der Typ hier im Haus. Natürlich habe ich ihn nicht zu Gesicht bekommen, aber ich konnte ihn durch die Kellertür hören. Die schweren Stiefel. Die barsche Stimme. Angeblich wollte er mal sehen, wie es bei den Hollows so läuft. Eine Stunde hockte er in der Küche und hörte sich die lange Liste ihrer Leiden an. Also wozu auf einmal die Heimlichtuerei? Warum gerade heute? Unruhig lief ich auf und ab und kratzte mich grübelnd am Kopf.

Später dann, als Violet in den Keller schlich, um Hallo zu sagen, bevor ihre Eltern aufwachten, ging ich alles mit ihr durch. Gemeinsam schmiedeten wir Pläne.

»Du musst dahin«, entschied sie. »Könnte natürlich ein fieser Streich sein, aber gehen musst du trotzdem.«

Sie hat recht. Wahrscheinlich ist es nur ein dummer Streich. Ein Trick, um mich ins Freie zu locken. Ein bisschen Schabernack anlässlich der großen Feier oder so was in der Art, keine Ahnung. Trotzdem muss ich hin. Ich muss es riskieren, muss es herausfinden. Dieses Gefühl kommt schließlich nicht alle Tage daher. Das Gefühl, dass sich alles ändern könnte.

Ich hole das zerknitterte Foto unter Dads Kissen, dem besten Versteck im ganzen Keller, hervor. Auf dem Bild liegt eine Decke über Dads Beinen und neben ihm steht ein Schreibtisch. Auch ein offener Kamin ist zu sehen, dahinter ein Schrank voller Bücher, Waffen und Vasen. Hundertprozentig hat man das nicht bei den Hollows aufgenommen, also wo dann? Und wann?

Dad atmet schneller. Ich halte seine Hand und drücke sie.

»Keine Bange, Johnny-Boy. Ich bin im Handumdrehen zurück.«

Ich muss mich beeilen. Die alte Uhr an der Wand zeigt beinahe schon neun Uhr dreißig an, was bedeutet, dass Violets Signal jeden Augenblick kommen sollte. Nur eine kleine Ablenkung, habe ich ihr eingeschärft. Nichts Verrücktes. Jag nichts in die Luft. Sie hat es versprochen, Hand aufs Herz und alles, aber ich habe das Funkeln in ihren Augen gesehen.

Ich binde mir die Haare zurück – lang, dunkel und so verfilzt, dass mit Sicherheit jeder Kamm abbrechen würde –, schiebe das Foto in meine Tasche und drücke Dad einen Kuss auf die Wange. »Ich mach dir später was zu essen, okay?«

Dann drehe ich mich schnell weg. Ihn allein zu lassen, ist auch so schon schwer genug.

Es gab mal eine Zeit, da konnte ich mich durch das Kellerfenster quetschen, aber das ist lange her, also schnappe ich mir meinen Umhang und schleiche die Kellertreppe nach oben. Die Hollows schließen die Tür erst ab, wenn sie gehen, daher ist das Rauskommen an sich kein Problem. Trotzdem sitze ich einen Moment reglos da, halte den Atem an.

Bis es passiert.

Ein lautes Knack ertönt. Irgendwo draußen, ganz hinten, glaube ich. MrsHollow brüllt: »Nicht schon wieder! Der Eimer, Bertram, wo ist der Eimer? Violet! Komm sofort hierher!«

Ich lächle. Das Mädchen ist unverbesserlich. Erst acht Jahre alt und schon ein Feuerteufel.

Quietschend öffnet sich die Hintertür, was heißt, dass es Zeit ist, sich in Bewegung zu setzen. Ich betrete den Flur, schließe behutsam die Kellertür und husche, so schnell ich kann, zum Ausgang. Wie immer gebe ich mir Mühe, Die Drei Gesetze zu ignorieren, die in einem Stickrahmen darüberhängen, reich verziert und mit einer feinen Staubschicht überzogen. Sie gehören zum Inventar in jedem Haus auf Bluehaven.

Wir betreten das Schloss freiwillig.

Wir betreten das Schloss unbewaffnet.

Wir betreten das Schloss allein.

PLATZ DES ANBEGINNS

Bluehaven ist ein Loch. Ein kaputtes Durcheinander aus Sackgassen und windschiefen Häusern, die sich überall an der felsigen Küste der Insel aneinanderquetschen. Holzbalken stützen krumme Mauern und absackende Dachvorsprünge. Schlaglöcher zerfressen die engen Straßen. Die Beben haben ihren Tribut gefordert. Wahrscheinlich gibt es in der ganzen Stadt mittlerweile keine einzige Fläche ohne Sprung – einer der Hauptgründe, weshalb die Stadtbewohner mich hier in etwa so willkommen heißen wie einen Furz in der Badewanne. Und sie lassen es mich spüren, wenn ich alle heiligen Zeiten einmal einen Fuß vor die Tür setze. Obwohl die Sonne scheint, es höllisch heiß ist und ich seit drei Tagen keine frische Luft mehr geschnuppert habe, ziehe ich mir deshalb die Kapuze meines Umhangs tief ins Gesicht, sobald ich auf der Straße bin. Ich darf kein Risiko eingehen. Den Kopf einziehen, schnell sein, nach den üblichen Verdächtigen Ausschau halten. Die alte MrsJones, die jedes Mal lautstark zu flennen anfängt, wenn sie mich sieht. MrAnnan, der sämtliche Fensterläden zudonnert und im Dunkeln schluchzt. Die alte Frau in Rot, die verfluchte Winifred Robin, die mir so gut wie überallhin folgt, immer im Schatten – läuft, wenn ich laufe, anhält, wenn ich anhalte. Ein paarmal bin ich tatsächlich umgekehrt, weil ich ihr die Meinung sagen wollte, aber dann war sie einfach verschwunden. Unheimlich, klar, aber ich habe mich daran gewöhnt. An alles. Wenn mich die Kinder sehen, rennen sie weg, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Türen schlagen zu, Riegel werden vorgeschoben. Die Alten flüstern Gebete.

Doch heute Morgen ist es hier wie in einer Geisterstadt. Niemand lässt sich blicken.

»He, warte!« In ihren kleinen roten Stiefeln flitzt Violet hinter mir um die Ecke und strahlt übers ganze Gesicht. »Bevor du meckerst: Ich habe nichts in die Luft gejagt. Nur die Mülltonne angezündet.« Sie hat mich eingeholt und läuft im Gleichschritt neben mir. »Irgendwas im Müll ist explodiert, aber das war nicht meine Schuld.«

»Dir ist schon klar, dass du deine Mutter einfach nach oben hättest rufen können, oder?«

Violet rümpft die Nase. »Wo bleibt denn da der Spaß? Außerdem kann ich dir ja schlecht helfen, wenn ich zu Hause festsitze.« Sie klatscht in die Hände. »Also, wie lautet der Plan?«

»Ich gehe zu den Weißen Felsen. Du gehst nach Hause.«

»Ähem? Wenn sie dich dabei erwischen, wie du gegen die Ausgangssperre verstößt, sperren sie dich einen ganzen Monat im Keller ein. Oder schlimmer. Sie könnten dich verbannen. Dich erstechen. Oh! Oh! Sie könnten dich erstechen und dann verbannen!«

»Wow. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen um mich, Violet.«

»Natürlich will ich nicht, dass irgendwas davon passiert. Aber pass mal auf: Du hängst jeden Tag mit John im Keller fest, deshalb bin ich deine einzige Freundin. Du darfst nicht zur Schule, deshalb bist du nicht die Hellste. Und jetzt treibst du dich draußen rum, ausgerechnet an dem Tag, an dem sich alle anderen treffen, um Puppen von euch auf dem Platz des Anbeginns zu verbrennen.«

Dass es für die Kinder auf Bluehaven normal ist, Puppen auf Scheiterhaufen zu verbrennen, kann nicht normal sein, oder? Dieser verfluchte Ort, im Ernst! »Soll das heißen, ich brauche alle Hilfe, die ich kriegen kann?«

»Soll heißen, du brauchst mich.«

»Von mir aus.« Ich seufze. »Du kannst mich bis zur Bucht begleiten, aber dann musst du gehen. In der Nachricht stand komm allein. Wenn wir Atlas erschrecken, war vielleicht alles umsonst. Und falls vorher irgendwas passiert, rennst du auf der Stelle nach Hause! Du bleibst nicht stehen! Du schaust dich nicht um! Abgemacht?«

Es scheint ihr zwar nichts auszumachen, aber Violet wird schon genug gehänselt, weil sie mit mir unter einem Dach wohnt. Ich will gar nicht dran denken, was passieren könnte, wenn die Leute herausfinden, dass wir Freundinnen sind.

»Abgemacht«, sagt sie.

An der Ecke, an der die Sunviewstreet auf die Hauptstraße trifft, bleibe ich stehen. Violet geht geduckt voraus, um zu sehen, ob die Luft rein ist. Sie versucht zu pfeifen, hat den Dreh aber noch nicht ganz raus, also hustet sie und räuspert sich, bis ich kapiere, was sie will, und zu ihr aufschließe. Eben ist eine Gruppe Kinder vorbeigelaufen. Ein paar Türen weiter fegt eine Frau den Hauseingang. Ich schleiche über die Straße, klammheimlich wie ein verdammter Bandit, und lotse Violet flink und schnell in eine Gasse.

Bluehaven ist wie ein riesiges Labyrinth, aber ich kenne jede Straße, jede Abkürzung. Klar, heutzutage komme ich nur raus, um für die Hollows hin und wieder eine Besorgung zu machen – Holz holen, Reis kaufen –, aber früher habe ich mich ständig draußen rumgetrieben, vor allem nachts. Im Mondlicht bin ich durch die Straßen gewandert und habe die Mülltonnen der Nachbarn nach ausrangierter Kleidung und allem möglichen Krimskrams durchstöbert, manchmal sogar nach einem Mitternachtssnack für Dad und mich. Hin und wieder habe ich sogar die Mango- und Kokosnussbuchten weiter draußen geplündert und ein ganzes Festessen nach Hause gebracht. Hat nicht lange gedauert, bis ich jeden einzelnen Weg tausendmal abgelaufen war.

»Ich habe nachgedacht«, sagt Violet. Sie taucht ab und rollt sich unter einem Fenster vorbei, damit sie auch ja keiner sieht – völliger Quatsch, weil das Fenster verbarrikadiert ist, aber immerhin amüsiert sie sich prächtig. »Sollte das echt ein Hinterhalt sein«, sie springt auf und klopft sich den Staub von den Klamotten, »solltest du einfach mitspielen. Gönn dir den Spaß. Spiel die Böse. Brüll dir die Seele aus dem Leib, renn wie bekloppt durch die Gegend und sag ihnen, dass du die ganze Insel untergehen lässt, wenn sie dir keine Kiste voll Kiesel geben oder so was in der Art.«

»Was will ich denn mit einer Kiste Kiesel?«

»Warum solltest du sie nicht wollen?«

Auf der Kreuzung ist viel los. Rechts abbiegen in die Kepos Road. Keine andere Möglichkeit, als in der Menge abtauchen, sich treiben lassen. Sich in aller Öffentlichkeit verstecken und hoffen, dass die vorbeiziehenden Stadtbewohner nicht checken, wer wir sind. Ich ziehe mir die Kapuze ins Gesicht. Konzentriere mich auf meine Füße, lasse Violet vorgehen. Rechne damit, dass mich jeden Moment eine Hand packt und herumreißt, damit die Menge sich auf mich stürzen kann.

Violet bleibt stehen. Ich pralle gegen ihren Rücken und jemand prallt gegen meinen. Ich mache mich bereit wegzurennen, doch der Typ sagt tatsächlich: »Verzeihung«, und läuft einfach weiter. Fast hätte ich gelacht.

Wenn der wüsste.

»Was ist los?«, flüstere ich.

»Zwei Karren vor uns«, wispert Violet zurück. »Sie stecken fest und versperren die Straße. Verfluchte Idioten. Wir könnten vielleicht unter ihnen durchkrabbeln, aber –«

»Nein«, unterbreche ich sie. »Komm mit. Es ist zwar ein Risiko, aber wir müssen über den Anbeginn.«

Wir huschen in eine Seitengasse und ziehen im Laufschritt weiter. Ich spüre richtig, wie uns die Sekunden durch die Finger rinnen. Wir weichen Mülltonnen aus, springen über Schlaglöcher, ducken uns unter einer Wäscheleine hindurch und klettern über einen Stapel Kisten und Fässer, während das dumpfe Lärmen vom Platz des Anbeginns lauter wird.

Prüfend greife ich in meine Tasche. Das geheimnisvolle Foto ist noch da, sicher verwahrt. Ich halte es fest und unterdrücke den Drang umzukehren, in den Keller zu rennen und nach Dad zu sehen. Manchmal könnte ich schwören, dass uns ein unsichtbares Band verbindet, das sich abrollt, dehnt und mir schließlich an Herz und Eingeweiden zerrt, immer, wenn ich zu weit wegstreune. Immer, wenn ich zu lange fort bin.

Heute zieht es so stark wie noch nie.

Violet bemerkt den Ausdruck in meinem Gesicht. Sie kennt ihn viel zu gut. »Er kommt klar, Jane«, sagt sie, während sie neben mir herhechelt und -keucht. »Wo er ist, ist es viel sicherer als da, wo du hinwillst. Aber keine Sorge, bestimmt ist der Platz gerammelt voll. Und alle sind viel zu beschäftigt mit Vorbereitungen fürs Fest. Wirst sehen.«

Es stimmt. Auf dem Platz des Anbeginns ist die Hölle los. Alle sind mit vollem Einsatz dabei, Buden und Bühnen aufzubauen. Karren voller Obst und gebratenen Ferkeln am Spieß rollen vorbei. Wehende Fahnen an den Laternenpfählen. Lang gespannte Banner zwischen den umliegenden Gebäuden. Die Dawes-Gedenkschule. Das Museum der Anderwelt-Antiquitäten. Das prächtige Rathaus. Die Fahnen und Banner sind weiß, Symbole von Frieden und rein gemachten Tischen. Die Schlossklage gedenkt der Nacht Allen Unglücks. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem die Stadtbewohner zusammenkommen, um sich an die Abenteuer der Vergangenheit zu erinnern und zu feiern. Um ihre Götter zu preisen: Po, Aris und Nabu-kai, auch bekannt als die drei Schöpfer. Um zu singen, zu beten, zu tanzen und – ihr habt’s erraten – Puppen von mir und Dad zu verbrennen. Da sind die Dinger ja auch schon. Riesige Teile aus Stroh auf Rädern.

Kann sein, dass dieses Fest mal eine feierliche und würdevolle Angelegenheit war, aber inzwischen ist es nur noch eine große Party. Bei der ich ganz sicher nicht auf der Gästeliste stehe.

Hier sollte ich so gar nicht sein.

»Ich liebe die Festzeit«, seufzt Violet, als ein Schubkarren voller Feuerwerkskörper vorbeirollt.

»Nur die Ruhe, du kleine Pyromanin.« Ich ziehe sie in die Menschenmenge. »Ich finde es ja gut, wenn sie ausnahmsweise mal nicht vor mir wegrennen, aber soll echt noch mal so was wie letztes Jahr passieren?«

»Hey, wenn sie bei den Drachenrädern keine Kinder wollen, hätten sie so was wie ein Schild aufstellen sollen. Außerdem hab ich nur die Hälfte angezündet.«

»Ja, aber als sie noch im Lager waren. Ich konnte die Explosion sogar vom Keller aus hören.«

Violet seufzt zum zweiten Mal. »Ach, du hättest es sehen sollen!« Sie setzt ihren Welpenblick auf. »Ich wünschte so sehr, du könntest heute Abend kommen, Jane. Du warst noch nie dabei. Warum probierst du es nicht wenigstens?«

»Muss ich dir das wirklich erklären?«

»Wir könnten dich verkleiden. Als Baum oder so. Mit ein paar Zweigen, hier und da Blätter …«

»Ich komme nicht zum Fest, Violet. Nie. Können wir das Thema wechseln?«

»Von mir aus. Ich wechsle das Thema. Thema gewechselt. Glaubst du, dieses Jahr passiert es?«

»Ob ich glaube, dass du irgendwas in die Luft jagst? Vermutlich.«

»Nein, du dumme Nuss. Das, worauf alle warten. Meinst du, es wacht endlich auf?«

Ich schaue mir die Leute an. Immer wieder blicken sie vom Schieben, Bauen, Kehren und Putzen auf zur Heiligen Stiege am anderen Ende des Platzes. Steil, fast gerade verläuft die gigantische Treppe mit den bröckelnden Rändern bis zum Gipfel im Zentrum der Insel. Auf riesigen Pfeilern erhebt sie sich über die terrassenförmig angelegten Bauernhöfe. Hoch, hoch und höher führen die Stufen die zerklüftete, felsige Bergflanke hinauf, bis sie von einer enormen Steintür verschluckt werden: dem Zugang zu Bluehavens großem, beklagtem Schatz.

Dem Schloss.

Mit seinen hohen Säulen und dem schäbigen Mauerwerk sieht das Schloss eher aus wie eine uralte Ruine. Ein gigantischer Gargoyle, der wie eine Krone auf der Insel hockt, geboren aus der Steilküste und so alt wie Himmel und Meer. Die fensterlosen Wände werden von brüchigen Statuen gesäumt. Welke Ranken klammern sich an die Seiten. Jahrtausendelang haben die Bewohner von Bluehaven es verehrt, gepriesen, bereist, um die Anderwelten zu besuchen. Doch nun steht es schon seit gut zehn Jahren so da – schlafend, leblos, für alle gesperrt. Seit vierzehn Jahren, um genau zu sein.

Seitdem ich und Dad in der Stadt sind.

Angeblich hat es ein Unwetter gegeben. Angeblich fiel Dad durch das Tor und brach oben auf der Treppe zusammen. Ein Mann ohne Vergangenheit. Ohne Namen. John White nennen sie ihn. John White und sein Baby Jane. Angeblich lag ich weinend in seinen Armen.

Man erzählt sich, dass im selben Moment das erste Beben einsetzte.

»Jane? He!« Violet zupft an meinem Umhang. »Ich hab dich was gefragt! Denkst du, es wacht auf?«

»Keine Ahnung. Ist mir auch egal.«

»Schon gut, schon gut, Fräulein Griesgram. Ich glaube übrigens nicht, dass es deine Schuld ist.«

»Weiß ich.«

»Ich meine: Du sollst die Nacht Allen Unglücks verursacht haben?!« Violet sammelt ihre Spucke und trifft präzise einen Kiesel zwischen ihren Schuhen, eine knifflige Fertigkeit, die ich ihr vergangenes Jahr beigebracht habe. »Du hast Angst im Dunkeln, du sabberst im Schlaf und du kannst nicht mal schwimmen – mal ganz abgesehen davon, eine ganze Insel zu verfluchen. Und ja, klar, du bist irgendwie unheimlich, aber keine inf…, keine infini…«

»Infernale Abscheulichkeit.«

»Ja, genau. Jedenfalls: Keiner weiß, woher du und dein Vater kommt. Oder was in der Nacht damals wirklich passiert ist, im Schloss. Miss Bolin vermutet, dass du eure Heimatwelt verflucht hast. Alles in Schutt und Asche gelegt hast. Gestern hat sie unserer Klasse erzählt, dass John dich wahrscheinlich in einer anderen Welt aussetzen wollte, weil er sich so geschämt hat und so, also hast du ihn auch verflucht – quasi als böses Supergenie-Baby – und deshalb ist er jetzt so krank.« Sie schüttelt den Kopf. »Totaler Quatsch.«

»Ist aber eine beliebte Theorie. Trotzdem danke für den Vertrauensbeweis.«

Violet blinzelt zum Schloss hoch. »Wenigstens kannst du behaupten, dass du mal drin warst. Da hast du echt Glück, wenn man so drüber nachdenkt.«

»Du da! Hey!«

Verflucht. Der alte Barnaby Twigg hat mich mitten in der Menge erspäht.

»Alaaarm! Der Teufel wandelt unter uns! Hinweg mit dir, Verwüsterin!«

»In Deckung.« Ich ziehe Violet schnell hinter eine Kiste mit Bananen.

Barnaby ist vom Schloss so besessen wie sonst keiner. Für den Verrückten mit dem Hängebauch ist es so wichtig, das Wiedererwachen mit eigenen Augen zu sehen, dass er auf dem Platz schläft, isst, ja manchmal sogar im Brunnen badet, nur damit er jeden Morgen der Erste und jeden Abend der Letzte auf der Treppe ist. Heute trägt er seinen besten Safarianzug. Zum Glück sind alle an sein beklopptes Gebrabbel gewöhnt, sodass sie ihn einfach ignorieren.

»Hinfort mit dir, sonst vernichte ich dich!«, brüllt er und klettert ganz nach oben auf den Brunnen. »Wie die Dämonenkrieger des Yan! Habe sie allesamt niedergestreckt, ich allein. Mit einem Hieb, ruck, zuck, hurra! Ist die reine Wahrheit!«

»Jepp«, murmele ich. »Ich bin ein echter Glückspilz.«

Violet packt meinen Arm. »Jane«, flüstert sie und zeigt auf eine Taschenuhr, die von der Hand eines Fremden in der Nähe baumelt. Als ich mich vorbeuge, kann ich das Ziffernblatt gerade so erkennen.

Mir wird schlecht. Es ist bereits eine Minute nach zehn.

»Verdammter Mist …«

Wir lassen Barnaby weiterzetern, zischen zurück in die Menge und laufen in die Straße, die zur Bucht der Weißen Felsen führt. Violet will mich überreden, sie mitzunehmen.

»Auf keinen Fall«, wehre ich ab. »Du gehst andersrum und wartest auf der Westseite der Bucht auf mich. Wenn ich in … keine Ahnung … sagen wir, fünfzehn Minuten nicht da bin, gehst du nach Hause, siehst für mich nach Dad und hältst die Füße still. Du kommst mich nicht suchen! Kapiert?«

»Aber ich könnte doch einfach hinter dir –«

»Keine Zeit zum Diskutieren, Violet. Du gehst. Ich komme allein klar.«

»Okay«, sagt sie. »Okay, okay, okay.« Sie zappelt auf der Stelle, als müsste sie mal aufs Klo, schaut mich dabei aber superdurchdringend und ernst an. »Viel Glück, Jane. Ich sehe dich auf der anderen Seite.« Dann saust sie davon und taucht in der Menge ab.

DER FANG DES TAGES

Die Straßen Bluehavens gehen für mich hin und wieder in Ordnung, aber öffentliche Gebäude darf ich unter Strafe nicht betreten. War mir eigentlich immer egal. Das Museum? Das Rathaus? Hochgradig langweilig. Aber was die Schule angeht, war die Neugier vor ein paar Jahren stärker als ich. Dem bunten Ort zu widerstehen, an dem sich die Kinder jeden Tag treffen, um zu lernen, zu lesen, zu lachen und zu spielen, war, wie sich das Pinkeln verkneifen zu wollen. Je länger ich es unterdrückte, desto dringender wurde es.

Ich habe mich mehrmals die Woche hingeschlichen. Unter einem offenen Fenster habe ich mein Einmaleins gelernt. Versteckt in einer Gasse neben dem Naturkunderaum die Namen der verschiedenen Wolken. Mit neun schlich ich mich sogar in ein richtiges Klassenzimmer und habe fast den ganzen Tag in einem Schrank verbracht. Durch ein Loch in der Tür habe ich die Klasse beobachtet, erfahren, wie ihre Vorfahren übers Meer kamen, nachdem sie aus den Sterbenden Landen geflohen waren. Ich lernte, was der Unterschied zwischen einem Labyrinth und einem Irrgarten ist. Ich habe sogar gelernt, dass Sprengsätze nichts mit Grammatik zu tun haben. Leider hatte ich mich ausgerechnet im Schrank mit den Utensilien für den Kunstunterricht versteckt. Als die Schüler ihre Lieblingsanderwelt malen sollten, hat der Lehrer mich entdeckt und aus dem Fenster geworfen. Man verschärfte die Sicherheitsmaßnahmen und schrubbte die Schule gründlich sauber, reinigte sie mit Weihrauch und dem ganzen Zinnober.

Seitdem muss ich mir von Violet Bücher ausleihen.

Ein Genie bin ich also nicht gerade. Mathe, Chemie, Geschichte? Vergiss es. Dafür bin ich die Königin der Straße und Überlebenskünstlerin. Das habe ich dem Ort zu verdanken, an dem ich nicht erwünscht bin. Ich weiß, wann man besser wegläuft, sich versteckt, lügt. Ich weiß, ich muss mich an die Schatten halten, sobald ich die Bucht der Weißen Felsen betrete, weil die Fischer, genau wie Bürgermeister Atlas, ihre Angst vor mir schon lange abgelegt haben. Zum Teufel, im Lauf der Jahre hat man mich mit Fischinnereien beworfen, mit Fanghaken bedroht und mit Messern durch die Straßen gejagt! Ich bin relativ sicher, dass alles nur Show ist. Vermutlich würden sie mir nicht wirklich was tun – einmal hat mich tatsächlich einer fast erwischt, aber dann hat er urplötzlich kehrtgemacht. Er wirkte unsicher und verlegen, als hätte er Angst, jemand oder etwas hinter mir könnte sich auf ihn stürzen und ihm den Kopf abreißen. Allerdings lasse ich es lieber nicht drauf ankommen.

Ich schleiche hinter die Hummerfallen und Auslagen mit getrocknetem Seegras und peile die Lage. Heute ist das Glück auf meiner Seite. Gerade ist ein frischer Fang eingetrudelt, extra fürs Fest. Die Fischer sind damit beschäftigt, ihre Segelboote zu entladen, Eimer über den Steg zu schleifen, ihre Beute auf den großen Steintischen auszunehmen und die Eingeweide den Horden von Katzen zuzuwerfen, die um ihre Knöchel streifen. Was der Bucht ihren Namen verleiht, liegt etwas weiter draußen im Wasser, jenseits der Boote: ein blasser Fels, der aus den Wellen ragt.

Atlas wohnt weit hinten, am Ende der Bucht. Aber hier liegt so viel Kram herum, dass ich bequem dorthin krabbeln, flitzen und schleichen kann – unter einem Segeltuch, hinter Kisten und Bergen von Netzen. In null Komma nichts klopfe ich an Atlas’ Tür. Mit nur minimaler Verspätung.

Ich ziehe die Kapuze vom Kopf. Das Heim des Bürgermeisters ist riesig. Vier Stockwerke, geschwungene Balkone, Blumenkästen vor den Fenstern, aus denen Jasmin quillt. Der alte Bürgermeister Obi ist vor ein, zwei Monaten gestorben. War vermutlich ein ganz netter Typ, zumindest war seine Taktik, mit mir und Dad umzugehen, so zu tun, als gäbe es uns nicht. Hat uns nie großartig Ärger gemacht, der Mann. Doch kaum war seine Asche abgekühlt, gab es eine Blitzwahl. Atlas hat mit einem Megavorsprung gewonnen und keine Zeit vergeudet. Praktisch sofort ist er in seine neue Bude eingezogen.

Ich klopfe zum zweiten Mal, noch immer antwortet niemand.

»Was zum Teufel hast du hier verloren, White?«

Freude über Freude! Nicht Atlas, sondern sein Volltrottel von einem Sohn ist hinter mir aufgetaucht. Der Typ ist ein paar Jahre jünger als ich, dafür fast genauso groß. Aus dem wird bestimmt mal ein richtiger Schrank.

»Eric junior«, sage ich. »Ja. Ähm. Ich wollte nur … zu deinem Dad.«

Er löst weder Alarm aus noch schreit er um Hilfe. Dafür mustert er mich von Kopf bis Fuß, als müsse er erst überlegen, ob ich wirklich hier bin oder nur ein Hirngespinst.

»Warum sollte er dich sehen wollen?«

»Ach, du weißt schon.« Ich vergrabe eine Hand in der Tasche und umklammere das Foto. »Um über alte Zeiten zu plaudern. Backgammon zu spielen. Außerdem wollten wir darüber beratschlagen, ob wir auf dem Platz des Anbeginns eine Statue von mir und Dad aufstellen sollten.«

Eric junior sieht mich stirnrunzelnd an. Ich räuspere mich, stelle klar, dass ich einen Scherz gemacht habe, und ernte wundersamerweise ein Lächeln. Eins dieser viel geübten, gewinnenden Lächeln. Die Art von Lächeln, bei der ich taumeln, sabbern und weiche Knie bekommen sollte. Und wer weiß? Würde ich auf Kerle stehen, hätte er damit vielleicht Erfolg, aber ich habe meine Zweifel. Daran, dass ich auf Kerle stehe, meine ich.

»Ziemlich witzig, White«, sagt Eric junior. »Aber er ist nicht da, tut mir leid.« Er schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Aber lass mich seine Kumpel fragen. Bestimmt weiß einer von denen, wo er steckt.«

»Ach, lass gut sein –«

»Hey, alle zusammen!«, brüllt Eric junior. »Jane White sucht nach meinem Vater. Weiß jemand, wo er ist? Kann ihr jemand helfen?«

Die Fischer erstarren. Selbst die Katzen lassen ihre Fischköpfe liegen und glotzen mich an.

»Tja, schätze nicht«, sagt Eric junior. »Ach warte mal, echt blöd von mir. Gerade fällt mir ein, dass er im Rathaus ist und an seiner Rede feilt. Diesmal wird die echt gut.« Der kleine Arsch klopft mir auf die Schulter. Es ist offensichtlich, dass er seinen großen Auftritt genießt. »Schade, dass du nicht eingeladen bist.«

Eine Möwe schreit. Eine Katze miaut. In der Ferne klingelt ein einsames Bojenglöckchen.

»Ja, na dann …«, sage ich grob in die Richtung der Fischer. »Ich bin spät dran, also lasse ich euch besser –«

»PACKT SIE!«

Sie stürmen los. Und plötzlich renne ich um mein verfluchtes Leben. Ducke mich, weiche aus. Springe über ein Fass, rutsche unter einem der Ausweidetische durch und springe wieder auf. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich tatsächlich, dass ich es schaffe – im Mob tut sich eine Lücke auf, dahinter liegt eine Gasse … Doch dann wirft irgendein Idiot einen Anker nach mir – einen echten, beschissenen Anker! – und ich muss die Richtung wechseln. Sofort bin ich umzingelt. Alles verschwimmt. Jeder brüllt und schreit, rückt mir auf die Pelle, also entscheide ich mich für den einzig möglichen Ausweg. Bevor ich begreife, was ich da mache, renne ich über einen klapprigen alten Steg aufs Meer hinaus. Die Fischer haben mich nicht einfach nur umzingelt, sie haben mich zu einem bestimmten Punkt getrieben.

Ich sitze in der Falle. Über dem Wasser. Vielleicht ist es mit meinen Überlebenskünsten doch nicht so weit her.

Die Fischer jubeln. Sogar Eric junior macht mit, johlt und grölt.

Mir wird schlecht. Tief unter mir höre ich Wasser schwappen. Sehe meinen Schatten zwischen den faulenden Holzplanken ertrinken. In der Nähe sind einige Segelboote vertäut, doch für ein Mädchen, das nicht schwimmen kann, könnten sie genauso gut am Horizont schweben. Langsam drehe ich mich um. Die Fischer staksen über den Steg auf mich zu, angeführt von Eric junior und einem Riesen mit Zahnlücken und Holzbein. »Stumpf« nennen sie ihn. Jepp, hier lässt man sich echt klasse Spitznamen einfallen.

»Wir haben dir doch gesagt, dass du dich bei uns nicht mehr blicken lassen sollst, kleine White!«, knurrt er.

Unter unserem vereinten Gewicht ächzt der Steg bedenklich. Gerät ins Wanken.

»Wir müssen echt runter von dem Ding«, sage ich. »Bitte, ich … ich gehe nach Hause. Sofort.«

»Du hast kein Zuhause«, schnauzt Eric junior. »Du bist ein Parasit, White. Ein Blutegel, der unsere Insel aussaugt. Du und dein geisteskranker Dad.«

Ich kann kaum noch denken Niemand nennt meinen Dad geisteskrank, du übergroßer Hornochse!, als er sich schon von den anderen löst und auf mich zusprintet. Der Steg knarrt und schaukelt heftig.

»Stopp!«, rufe ich. »Alle stehen bleiben!« Aber zu spät.

Der Steg kippt. Wie Dominosteine purzeln die Fischer um. Eric junior prallt gegen mich und gemeinsam stürzen wir, klatschen brutal ins Wasser und gehen unter.

Mein Umhang ist zu schwer, zerrt mich in die Tiefe, als wären die Taschen mit Steinen gefüllt. Ich klammere mich an Eric junior. Er tritt wild um sich, will mich loswerden, aber ich kann unmöglich loslassen. Ich flehe ihn an, schleudere ihm Blubberblasen-Hilferufe entgegen, bis meine Lunge stöhnt und brennt. Es ist, als wäre ich in einem meiner Albträume gefangen.

Dann ist er fort.

Eric junior verschwindet, dafür macht sich unheimliche Stille breit. Ich höre meinen eigenen Herzschlag, jedes Krampfen meiner Kehle. Doch denken kann ich nur an Dad, der im Keller liegt, der Gnade der Gottesanbeterin und des Wiesels ausgeliefert. Allein. Hungrig. Wartend. Voller Sorge.

Das unsichtbare Band zwischen uns zerrt und zieht an mir.

Dann verändert sich das Gefühl. Tentakel wickeln sich um mich, drücken zu und tragen mich davon. Nein, nicht davon. Nach oben. Ich steige auf, immer schneller, gefangen in einem Fischernetz. Ich platze aus dem Wasser und tauche in gleißend helles Sonnenlicht, während herrliche Luft in meine Lunge strömt. Und die atme ich nicht nur ein, sondern fliege auch hindurch. Das Netz schwingt herum, befördert mich aufs Deck eines Segelbootes, wo ich wie ein verwirrtes, keuchendes Häufchen Elend liegen bleibe. Sogar ein Lächeln bringe ich zustande, bis ich begreife, dass man mich beobachtet. Eine alte Frau in rotem Umhang steht an der Seilwinde.

Die verfluchte Winifred Robin höchstpersönlich. Ihre Haut ist runzlig und voller Narben. Ein Gesicht wie ein Hackbrett! Hände wie Klauen. Während sie übers Deck auf mich zuschreitet, holt sie unter dem Umhang ein Gewehr hervor. Offensichtlich hat sich meine Lage nicht unbedingt verbessert.

»Tut mir leid, Jane«, sagt sie. »Du wirst beim Aufwachen böse Kopfschmerzen haben.«

Mit dem Kolben schlägt sie mich bewusstlos.

STIMMEN IN DER DUNKELHEIT

Normalerweise ist mein Schlaf voller Albträume. Bildfetzen von weinenden Babys, Fremde, die vor Monstern fliehen, endlose Korridore und ein blendend weißes Licht. Meistens bin ich allein und ertrinke in einem weit entfernten Meer. Kein Wunder, dass Violet glaubt, ich hätte Angst im Dunkeln. Ständig wache ich brüllend auf, eingewickelt in nass geschwitzte Laken. Doch das hier – so richtig bewusstlos geschlagen – ist gar nicht mal so übel, eher so, als wäre man in eine dicke warme Decke gehüllt. In einen schwebenden Kokon, in den kein Albtraum reinkann. Ein sicherer Ort, tiefer als jeder normale Schlaf.

Leider muss man irgendwann aufwachen.

»Ihre Nachricht hat mich überrascht.« Eine tiefe Stimme dringt an mein Ohr. »Sie nach all diesen Jahren einzufangen. Sie in dieses Ding zu werfen. So kenne ich Sie gar nicht, Robin.«

»Möglich.« Eine alte, kratzige Stimme. Ihre Stimme. »Aber ich habe gute Gründe.«

»Das sagen Sie immer wieder. Allerdings haben Sie mir noch nicht verraten, was das für Gründe sind. Sie machen es einem nie leicht. Seit Jahren haben Sie keinen Fuß mehr auf ein Boot gesetzt. Woher wussten Sie, dass sie im Wasser landen würde? Und erzählen Sie mir nicht, es sei bloß Zufall gewesen.«

»Natürlich war es kein Zufall. So etwas wie Zufall gibt es nicht.«

»Und woher –?«

»Sie haben vierzehn Jahre auf diesen Moment gewartet, Eric. Es überrascht mich, dass Sie überhaupt Fragen stellen. Ich habe Ihnen das Mädchen gebracht. Sie steht nicht länger unter meinem Schutz.«

Ein Moment der Stille.

»Ihnen ist klar, was das bedeutet, Robin. Wozu Sie mir die Erlaubnis geben. Mit meinem Vorgänger mögen Sie eine Abmachung gehabt haben, aber ich werde nicht dafür einstehen. Die Ausgangssperre missachten, durch die Straßen streunen, dreist wie sonst was an meine Tür klopfen. Eine Gruppe Unschuldiger angreifen – darunter meinen eigenen Sohn! Und schon wieder ein Beben, ausgerechnet heute, Stunden vor der Klage? Es wird immer schlimmer. Wir alle wissen das. So können wir nicht weiterleben. Und das werden wir nicht.«

»Wie ich schon sagte, ich kann sie nicht länger beschützen.«

»Und der andere?«

»Seine Zeit wird früh genug kommen. Lassen Sie ihn in Frieden. Wenn Sie mich nun entschuldigen, Miss White wird gleich erwachen. Ich würde gerne kurz unter vier Augen mit ihr sprechen.«

»Glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten mir –?!«

»Ich weiß, dass ich es kann, Eric. Verschwinden Sie! Und denken Sie nicht mal im Traum daran, an der Tür zu lauschen. Wenn ich mit Jane fertig bin, können Sie tun, was Sie wollen. Aber bis dahin will ich absolut ungestört sein.«

Das gefällt mir ganz und gar nicht, aber mit einem hat sie recht: Mein Kokon löst sich auf. Langsam drehe ich mich in der Dunkelheit. Eine Tür knallt zu.

Ich öffne vorsichtig blinzelnd meine Augen. Umrisse verschwimmen, Sinne werden schärfer. Es ist Zeit, der Welt wieder Hallo zu sagen, ob es mir gefällt oder nicht.

DER KÄFIG UND DIE KURATORIN

Das Schlimmste daran, als verflucht verschrien zu sein, ist, wenn man irgendwie aus heiterem Himmel gejagt, ertränkt, in einem Fischernetz gefangen und mit einem Gewehr bewusstlos geschlagen wird, obwohl man sich eigentlich nur um seinen eigenen Kram kümmern und den Anweisungen einer geheimen Botschaft folgen wollte. Mein Kopf tut weh, in meinem Mund schmeckt es nach vergammelter Socke voller Algen und ich bin ziemlich sicher, dass in meinem Höschen ein toter Fisch festsitzt. Der Kleine tut mir leid, aber wenigstens hat er es hinter sich.

Meine Probleme hingegen haben vermutlich gerade erst angefangen.

»Willkommen zurück in der Welt der Lebenden, Jane.«

Ich liege am Boden eines Käfigs. Ein Käfig, der, auf einen Karren geschnallt, in einem winzigen alten Bootsschuppen parkt. Mein Umhang hat sich verabschiedet, meine Tunika ist feucht, meine Handgelenke und Füße sind gefesselt und in meinem Mund klemmt ein zusammengeknüllter Lumpen. An der Wand rechts von mir lehnt ein kleines Ruderboot, umgeben von einem Wirrwarr aus Kisten und Ankern. Links von mir …