Die Wirtin und andere Novellen - Fjodor M Dostojewski - E-Book

Die Wirtin und andere Novellen E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Diese brillante Novellensammlung des russischen Meisters der seelischen Regungen beinhaltet unter anderem den Titel "Die Wirtin". Diese wundervoll-traurige Geschichte handelt von dem einzelgängerischen Träumer Wassili, der sich in Katharina verliebt, die jedoch ein dunkles Geheimnis hütet. Eine andere Geschichte "Ein Roman in neun Briefen" zeigt auf ironisch-theatralische Weise wie Fehden in besseren Kreisen ausgetragen werden. Diese Novellensammlung beinhaltet neben den genannten Titel noch andere von Dostojewskis weniger bekannten, dennoch nicht weniger faszinierenden Werke.-

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Fjodor M Dostojewski

Die Wirtin und andere Novellen

Übersezt von Hermann Röhl

Saga

Die Wirtin und andere Novellen

 

Übersezt von Hermann Röhl

 

Titel der Originalausgabe: Chozjajka

 

Originalsprache: Russisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1847, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726981346

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Erster Teil

I

Ordynow entschloss sich endlich, seine Wohnung zu wechseln. Seine Wirtin, eine sehr arme, bejahrte Beamtenwitwe, bei der er als Untermieter wohnte, war infolge unvorhergesehener Umstände von Petersburg irgendwohin in die Provinz zu Verwandten gezogen, ohne den Ersten, den Ziehtermin, abzuwarten. Der junge Mann, der seine Zeit gern abgewohnt hätte, stand mit Bedauern und Verdruss vor der Notwendigkeit, sein altes Logis zu verlassen; er war arm und eine neue Wohnung voraussichtlich teuer. Gleich am andern Tage nach der Abreise seiner Wirtin nahm er seine Mütze und machte sich auf, um die Strassen Petersburgs zu durchwandern. Er musterte alle Mietszettel, die an den Haustoren angeschlagen waren, wobei er die gewöhnlichen, starkbevölkerten Mietskasernen bevorzugte, weil er da am ehesten hoffen konnte, das gewünschte Logis bei armen Mietsleuten zu finden.

Er hatte schon lange sehr eifrig gesucht; dann aber überkamen ihn neue Empfindungen, die ihm bisher fast unbekannt gewesen waren. Er begann um sich zu schauen, anfangs zerstreut und lässig, dann mit grösserer Aufmerksamkeit und zuletzt mit starkem Interesse. Die Menschenmenge und das Strassenleben, der Lärm, die Bewegung, die Neuheit der Gegenstände, die Neuheit der Situation, dieses ganze kleinliche Leben und dieses misstönige Alltagstreiben, das schon längst dem geschäftigen Petersburger langweilig geworden ist, der eifrig, aber erfolglos sein ganzes Leben lang nach der Möglichkeit sucht, sich still und ruhig in einem behaglichen Heim niederzulassen, dass er sich durch seine Arbeit, durch seinen Schweiss und allerlei andere Mittel erworben hat – diese ganze gemeine Prosa und Langweiligkeit rief ganz im Gegenteil bei ihm eine Art von still-freudiger, heiterer Empfindung hervor. Seine blassen Wangen bedeckten sich mit einer leichten Röte; seine Augen glänzten wie von einer neuen Hoffnung, und er begann gierig mit voller Brust die kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm ausserordentlich wohl zumute.

Er hatte immer ein stilles, völlig einsames Leben geführt. Vor drei Jahren, als er seinen akademischen Grad erlangt hatte und nach Möglichkeit ein freier Mensch geworden war, da war er zu einem alten Herrn gegangen, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatte, und hatte lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener sich bereitfinden liess, ihn zum zweiten Male zu melden. Er trat dann in einen hohen, halbdunklen Saal, der den Eindruck grösster Leere und Langweiligkeit machte, einen Saal von der Art, wie sie noch in altertümlichen, der Zeit trotzenden herrschaftlichen Familienhäusern vorkommen, und erblickte dort einen grauhaarigen, mit Orden behängten alten Herrn, seinen Vormund, einen früheren Freund und Amtsgenossen seines Vaters. Der alte Herr händigte ihm einen kleinen Geldbetrag ein. Es war nur eine sehr geringe Summe: das, was nach der schuldenhalber erfolgten Subhastation des noch vom Urgrossvater herstammenden Gutes übriggeblieben war. Ordynow nahm das Geld gleichmütig in Empfang, verabschiedete sich für immer von seinem Vormunde und trat auf die Strasse hinaus. Es war ein kalter, trüber Herbstabend; der junge Mann war nachdenklich, und eine unbewusste Traurigkeit machte ihm das Herz schwer. Die Augen brannten ihm; er fühlte, dass er Fieber hatte, Hisse und Frostschauer abwechselnd. Er berechnete im Gehen, dass er von seinen Mitteln zwei bis drei Jahre leben könne, und wenn er einen Tag um den andern hungere, sogar vier. Es dunkelte, und es fiel ein feiner Regen. Ordynow mietete sich das erste beste möblierte Zimmer und zog eine Stunde darauf ein. Dort lebte er so abgeschieden wie in einem Kloster und hielt sich völlig von der Welt fern. Im Laufe zweier Jahre wurde er gänzlich menschenscheu.

Er wurde es, ohne es selbst zu merken; es kam ihm einstweilen gar nicht in den Sinn, dass es noch ein anderes Leben gab, ein lärmendes, tosendes, immer wogendes, immer wechselndes, immer lockendes Leben, dem er früher oder später doch nicht entgehen konnte. Er hatte, wie das nicht anders sein konnte, allerdings von diesem Leben gehört; aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf. Seit seiner Kindheit hatte er abgeschlossen gelebt; jetzt nahm diese Abgeschlossenheit eine feste Form an. Eine tiefe, unersättliche Leidenschaft verzehrte ihn, eine Leidenschaft, die das ganze Leben eines Menschen ausfüllt und solche Persönlichkeiten wie Ordynow auf dem Gebiete des praktischen Handelns auch nicht das kleinste Prätzchen einnehmen lässt. Diese Leidenschaft war die Wissenschaft. Sie frass zunächst seine Jugend, raubte ihm mit ihrem langsamen, berauschenden Gifte die Nachtruhe, entzog ihm die gesunde Kost und die frische Luft, die niemals in sein stickiges Zimmerchen eindrang, und Ordynow wollte das im Rausche seiner Leidenschaft nicht bemerken. Er war jung und verlangte einstweilen weiter nichts. Die Leidenschaft machte ihn für das äussere Leben zum Kinde; sie machte ihn dauernd unfähig, andere gute Leute beiseite zu schieben, wenn das nötig wurde, um zwischen ihnen auch für sich wenigstens ein klein bisschen Raum zu erlangen. Für manche geschickten Leute ist die Wissenschaft ein Kapital, mit dem sie wirtschaften; Ordynows Leidenschaft dagegen war eine Waffe, die sich gegen ihn selbst richtete.

Sein Streben, zu lernen und zu wissen, war mehr die Folge eines unbewussten Dranges als verstandesmässiger Überlegung; und so war das auch bei jeder anderen Tätigkeit, die ihn bisher beschäftigt hatte, auch bei der geringfügigsten. Schon in seiner Kindheit hatte er für einen Sonderling gegolten und war seinen Kameraden unähnlich gewesen. Seine Eltern hatte er nicht gekannt; von seinen Kameraden hatte er wegen seines sonderbaren, menschenscheuen Wesens oft lieblose, derbe Behandlung zu erleiden gehabt, infolge deren er erst recht menschenscheu und mürrisch geworden war und sich allmählich ganz der Einsamkeit ergeben hatte. Aber in seinen einsamen Beschäftigungen hatte niemals (und das war auch jetzt nicht der Fall) eine feste Ordnung, ein bestimmtes System gelegen; was ihn jetzt trieb, war nur das erste Entzücken, die erste Glut, das erste Feuer des Künstlers. Er schuf sich selbst ein System; dieses bildete sich bei ihm mit den Jahren, und in seiner Seele erstand allmählich das noch dunkle und unklare, aber wunderbar beglückende Bild einer Idee, die sich dann in neuer, leuchtender Form verkörperte, und diese Form drängte aus seiner Seele heraus und marterte diese Seele; er fühlte, wenn auch noch schüchtern, die Originalität und Richtigkeit und Selbständigkeit dieser Idee: sein Schaffensdrang bekundete sich schon; er entwickelte sich und gewann an Kraft. Aber der Zeitpunkt der wirklichen schöpferischen Tätigkeit war noch fern, vielleicht sehr fern, und vielleicht kam er überhaupt nie!

Jetzt ging er durch die Strassen wie ein Weltfremder, wie ein Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen Wüste in eine lärmende, tosende Stadt versetzt ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Aber er stand der Welt, die um ihn herum brandete und rauschte, so fremd gegenüber, dass er nicht einmal daran dachte, sich über seine sonderbare Empfindung zu wundern. Er schien sich seiner Menschenscheu gar nicht bewusst zu werden; vielmehr wuchs in ihm eine Art von freudigem Gefühl heran, eine Art von Berauschtheit, wie bei einem Hungrigen, dem man nach langem Fasten zu essen und zu trinken gibt. Allerdings war es seltsam, dass eine so geringfügige Neuheit der Situation, wie es ein Umzug ist, einen Einwohner Petersburgs, und mochte es auch ein Ordynow sein, dermassen aufregen und der geistigen Klarheit berauben konnte; aber andrerseits fiel auch der Umstand ins Gewicht, dass es ihm bisher fast niemals begegnet war, in Geschäften auszugehen.

Er fand immer mehr Gefallen daran, in den Strassen umherzuschweifen. Er gaffte alles an wie ein Flaneur.

Aber auch hier las er, sich selbst treu bleibend, in dem Bilde, das sich hell vor seinen Augen auftat, wie in einem Buche zwischen den Zeilen. Alles setzte ihn in Erstaunen; er liess sich keinen einzigen Eindruck entgehen und schaute mit denkendem Blicke auf die Gesichter der Vorübergehenden, betrachtete die Physiognomie der ganzen Umgebung und horchte liebevoll auf die Rede des Volkes, wie wenn er in alledem die Schlüsse, zu denen er in der Stille seiner einsamen Nächte gelangt war, auf ihre Richtigkeit prüfen wollte. Oft überraschte ihn irgendeine Kleinigkeit, erzeugte in seinem Kopfe eine Idee, und er ärgerte sich zum ersten Male darüber, dass er sich so lange in seiner Zelle gleichsam lebendig begraben hatte. Hier nahm alles einen schnelleren Gang; sein Puls ging voll und geschwind; sein Verstand, den sonst Die Einsamkeit niedergedrückt und nur die angestrengte, exaltierte Tätigkeit angeregt und geschärft hatte, arbeitete jetzt lebhaft, ruhig und kühn. Auch erwachte in ihm unbewusst das Verlangen, auf irgendeine Weise sich selbst in dieses ihm fremde Leben hineinzudrängen, das er bisher nur durch den Instinkt des Künstlers gekannt oder, besser gesagt, richtig geahnt hatte. Sein Herz begann unwillkürlich in einem Gefühle der Liebe und Teilnahme lebhafter zu schlagen. Er betrachtete die Menschen, die an ihm vorübergingen, aufmerksamer; aber sie waren ihm fremd, mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt. Und nach und nach nahm unwillkürlich Ordynows Sorglosigkeit ab; die Wirklichkeit lastete schon auf ihm und flösste ihm eine Art von scheuem Respekt ein. Er wurde müde von der Fülle neuer, ihm bisher unbekannter Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig zum ersten Male von seinem Krankenlager aufgestanden ist, dann aber betäubt und schwindlig zusammensinkt, überwältigt von dem Lichte, dem Glanze, dem Wirbel des Lebens und dem Lärm und der Buntscheckigkeit der an ihm vorüberflutenden Menge. Es wurde ihm trüb und traurig zumute. Er fing an für sein ganzes Leben, für seine ganze Tätigkeit und sogar für seine Zukunft zu fürchten. Ein neuer Gedanke raubte ihm seine Ruhe. Es fiel ihm prötzlich ein, dass er sein ganzes Leben lang einsam gewesen war, dass ihn niemand geliebt hatte und es auch ihm selbst nicht gelungen war, jemanden zu lieben. Manche Passanten, mit denen er zu Anfang seiner Wanderung gelegentlich ein Gespräch anzuknüpfen suchte, sahen ihn in sonderbarer, unhöflicher Art an. Er merkte, dass sie ihn für einen Verrückten oder für einen originellen Kauz hielten, womit sie übrigens auch vollkommen recht hatten. Er erinnerte sich, dass alle Leute sich immer in seiner Gegenwart gewissermassen unbehaglich gefühlt hatten, dass er schon in seiner Kindheit von allen wegen seines in sich gekehrten, eigensinnigen Wesens gemieden worden war, dass die in ihm liegende Teilnahme sich immer nur schwer und mühsam und für andere kaum merklich hindurchgearbeitet hatte, dass aber mit dieser Teilnahme niemals ein Gefühl seelischer Gleichheit verbunden gewesen war, und dass es ihn schon als Kind tief geschmerzt hatte, wenn er anderen, mit ihm gleichaltrigen Kindern so gar nicht glich. Jetzt erinnerte er sich an alles das und sagte sich, dass immer schon, zu jeder Zeit, alle sich von ihm abgewandt hätten und ihm aus dem Wege gegangen seien.

Unmerklich war er an ein vom Zentrum der Stadt weit entferntes Ende von Petersburg gelangt. Nachdem er in einem leeren Restaurant notdürftig zu Mittag gegessen hatte, setzte er seine Wanderung fort. Wieder durchschritt er viele Strassen und Plätze. Nun zogen sich lange gelbe uno graue Zäune dahin; statt der prächtigen Häuser kamen ganz alte, dürftige. Häuschen und gleichzeitig kolossale, schwarz gewordene Fabrikgebäude mit hohen Schornsteinen. Überall war es einsam und menschenleer; alles hatte ein mürrisches, feindseliges Aussehen; wenigstens kam es Ordynow so vor. Es war schon Abend. Durch eine lange Gasse trat er auf einen freien. Platz hinaus, wo eine Pfarrkirche stand.

In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war soeben zu Ende; die Kirche war fast ganz leer, und nur zwei alte Frauen knieten noch beim Eingange. Der Kirchendiener, ein grauhaariger alter Mann, löschte die Kerzen aus. Die Strahlen der untergehenden Sonne ergossen sich in einem breiten Strome von oben durch ein schmales Fenster in der Kuppel und erhellten einen der Nebenaltäre mit einem Meere von Glanz; aber sie wurden immer schwächer und schwächer, und je dunkler die Finsternis wurde, die sich unter den Gewölben des Gotteshauses verdichtete, um so heller erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten Heiligenbilder, die von dem zitternden Lichte der Lämpchen und Kerzen rötlich beschienen wurden. In einer Anwandlung von Melancholie, die, bisher unterdrückt, ihn nun in tiefster Seele erregte, lehnte sich Ordynow in der dunkelsten Ecke der Kirche an die Wand und verlor für einen Augenblick das Bewusstsein für seine Umgebung. Er kam wieder zu sich, als der gleichmässige, dumpfe Klang der Schritte zweier eintretender Kirchenbesucher unter den Gewölben des Gotteshauses ertönte. Er blickte auf, und eine unaussprechliche Neugier bemächtigte sich seiner beim Anblicke der beiden Ankömmlinge. Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hochgewachsen, noch aufrecht und rüstig, aber mager und von einer krankhaften Blässe. Seinem Äussern nach konnte man ihn für einen irgendwoher aus weiter Ferne zugereisten Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen, augenscheinlich festtäglichen Pelzrock, der vorn offen stand. Unter dem Pelzrock wurde ein anderer langschössiger Rock von russischer Fasson sichtbar; dieser war von oben bis unten fest zugeknöpft. Um den blossen Hals war ein grellrotes Tuch nachlässig herumgebunden; in der Hand hielt er eine Pelzmütze. Ein langer, schmaler, halb ergrauter Bart fiel ihm über die Brust, und unter den überhängenden, finsteren Brauen funkelten seine stechenden, fieberhaft glühenden, hochmütigen, scharfen Augen hervor. Das Weib war etwa zwanzig Jahre alt und von wunderbarer Schönheit. Sie trug einen kostbaren, himmelblauen, mit Pelz gefütterten kleinen Mantel; ihr Kopf war mit einem weissseidenen Tuche bedeckt, das unter dem Kinn zusammengebunden war. Sie ging mit niedergeschlagenen Augen, und der gedankenvolle Ernst, der in ihrer ganzen Erscheinung lag, verlieh auch den lieblichen Zügen ihres kindlich zarten, sanften Gesichtes deutlich einen Ausdruck von Traurigkeit. Es lag etwas Seltsames in diesem überraschenden Paare.

Der Alte blieb mitten in der Kirche stehen und verbeugte sich nach allen vier Seiten, obgleich die Kirche vollständig leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin. Darauf ergriff er sie bei der Hand und führte sie zu dem grossen Bilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war; dieses strahlte am Altar in dem blendenden Glanze der Lampen, die sich in dem mit Gold und Edelsteinen geschmückten Rahmen spiegelten. Der Kirchendiener, der als letzter in der Kirche geblieben war, verbeugte sich respektvoll vor dem Alten; dieser nickte ihm mit dem Kopfe zu. Das Weib verbeugte sich vor dem Heiligenbilde bis zur Erde. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Postamente des Bildes hing, und verhüllte damit ihren Kopf. Ein dumpfes Schluchzen ertönte in der Kirche.

Ordynow war von der Feierlichkeit dieser ganzen Szene überrascht und wartete mit ungeduldiger Spannung auf das Ende derselben. Nach etwa zwei Minuten hob die Frau den Kopf in die Höhe, und das helle Licht eines Lämpchens beleuchtete wieder ihr reizendes Gesicht. Ordynow fuhr zusammen und tat einen Schritt vorwärts. Sie hatte dem Alten bereits ihre Hand gereicht, und beide gingen still aus der Kirche. Tränen standen in ihren dunkelblauen Augen, die von langen, schwarzen, sich von dem milchweissen Gesichte scharf abhebenden Wimpern umsäumt waren, und rollten über die blassgewordenen Wangen herab. Auf ihren Lippen zeigte sich ein flüchtiges Lächeln; aber auf dem Gesichte waren die Spuren einer Art von kindlicher Furcht und geheimer Angst bemerkbar. Sie schmiegte sich schüchtern an den Alten, und man konnte sehen, dass sie am ganzen Leibe vor Aufregung zitterte.

Betroffen und von einem so süssen, starken Gefühle getrieben, wie er es noch nicht gekannt hatte, ging Ordynow schnell hinter ihnen her und kreuzte in der Vorhalle ihren Weg. Der Alte warf ihm einen feindseligen, finsteren Blick zu; die junge Frau sah ihn ebenfalls an, aber interesselos und zerstreut, wie wenn sie mit einem anderen, weit abliegenden Gedanken beschäftigt wäre. Ordynow folgte ihnen, ohne selbst recht zu wissen warum. Es war schon ganz dunkel geworden; er hielt eine gewisse Entfernung ein. Der Alte und das junge Weib gingen eine grosse, breite, schmutzige Strasse entlang, die voll von niedrigem Erwerbsleben, Mehrhandlungen und Fuhrmannsherbergen war und direkt nach einem Schlagbaume führte; von ihr bogen sie in ein schmales, langes Seitengässchen ein, das auf beiden Seiten von langen Zäunen eingefasst war und geradeswegs auf eine riesige, schwarz gewordene Mietskaserne zulief, deren Höfe aber als Durchgang nach einer andern, ebenfalls grossen, belebten Strasse dienten. Sie näherten sich schon dem Hause; auf einmal drehte der Alte sich um und blickte Ordynow unwillig an. Der junge Mann blieb wie angewurzelt stehen; sein impulsives Benehmen kam ihm selbst seltsam vor. Der Alte sah noch ein zweites Mal zurück, wie wenn er sich überzeugen wollte, ob auch sein Drohblick gewirkt habe, und dann gingen sie beide, er und das junge Weib, durch ein schmales Tor auf den Hof des Hauses. Ordynow ging zurück.

Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich selbst, da er sich sagte, dass er einen Tag unnütz verloren, sich unnütz müde gelaufen und obendrein zum Schluss eine Dummheit gemacht habe, indem er einen Vorgang der allergewöhnlichsten Art zu einem richtigen Abenteuer aufgebauscht habe.

Wenn er sich auch am Vormittag über seine Menschenscheu geärgert hatte, so lag es doch in seinem Instinkte, alles zu meiden, wodurch er in seinem äusseren (im Gegensatze zu seinem innerlichen, künstlerischen) Leben zerstreut, gestört und erschüttert werden konnte. Jetzt gedachte er mit Wehmut und einer Art von Reue seines gesicherten Stübchens; dann befiel ihn die verdriessliche Sorge wegen seiner unentschiedenen Situation und der ihm bevorstehenden lästigen Mühe, und gleichzeitig ärgerte er sich darüber, dass eine solche Kleinigkeit ihn beschäftigen konnte. Es war schon spät, als er sich endlich, ermüdet und unfähig, zwei Gedanken miteinander zu verknüpfen, nach seiner Wohnung hinschleppte und mit Erstaunen gewahr wurde; dass er an dem Hause, in dem er wohnte, beinahe ohne es zu merken vorbeigegangen wäre. Verblüfft schüttelte er den Kopf über seine Zerstreutheit, die er der Ermüdung zuschrieb, stieg die Treppe hinauf und betrat endlich sein Dachstübchen. Dort zündete er ein Licht an – und einen Augenblick darauf stand das Bild der weinenden Frau mit überraschender Deutlichkeit vor seinem geistigen Blicke. Sein Gefühl war so glühend und so stark und sein Herz reproduzierte mit solcher Liebe die sanften, stillen Züge dieses Gesichtes, das von einer geheimnisvollen Rührung und Angst zeugte und von Tränen frommer Begeisterung oder kindlicher Reue überströmt war, dass seine Augen trüb wurden und eine feurige Glut durch alle seine Glieder zu laufen schien. Aber die Vision dauerte nicht lange. Nach der Ekstase folgte Das Nachdenken, dann der Ärger und dann eine Art von ohnmächtiger Wut; ohne sich auszuziehen, wickelte er sich in seine Bettdecke und warf sich auf sein hartes Lager . . .