Die Wölfin - Miriam Braunstätter - E-Book

Die Wölfin E-Book

Miriam Braunstätter

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Beschreibung

Welche Überlebenschancen hat wohl ein 15 jähriges Mädchen in einem Wald voller Wölfe? Der Tag an dem ich beschloss zu fliehen veränderte alles. Ich wusste nur eines, so wollte ich nicht mehr weiterleben. Also ging ich. Von da an war ich auf der Flucht. Getrieben und voller Angst. Einsam und alleine. Doch weit entfernt von allem was ich kannte, fand ich einen Ort der zu meinem Zuhause wurde. An dem ich wahre Freundschaft erlebte. Wo ich endlich meine Familie fand. Im Wald der Wölfe. Eine Geschichte über Mut, Freiheit und eine wunderbare Freundschaft.

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Seitenzahl: 243

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Prolog

Der kalte Wind blies scheppernd eine Dose über den Asphalt.

Zischend und fauchend fuhr ein Zug in den kleinen Bahnhof ein. Menschen hasteten an mir vorbei, laute Stimmen und Gelächter erfüllten den Bahnsteig. Der alte Mann neben mir stand ächzend auf, und hinkte, sich auf einen Stock stützend davon. Sein kleiner schwarzer Hund folgte ihm wie ein Schatten. Es dauerte ein Weilchen bis die beiden den Zug erreicht hatten. Langsam und bedächtig stieg der Mann die Treppen hinauf. Oben angekommen, holte er keuchend Luft und sah sich nach seinem Hund um. Er lächelte, als der Hund leichtfüßig zu ihm hinaufsprang. Ich hielt den Atem an, als der Blick des Alten plötzlich in meine Richtung schweifte. Er sah mir direkt in die Augen und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Als er kurz zum Gruß die Hand hob, konnte ich nicht anders als sein Lächeln zu erwidern. Ich sah dem Zug noch lange hinterher.

Wo er wohl hinfuhr?

Nachhause zu seiner Frau? Oder besuchte er seine Kinder oder Enkelkinder?

Ganz bestimmt hatte er eine liebevolle Familie, die auf ihn wartete.

Im Gegensatz zu mir.

Die Einsamkeit und Traurigkeit kamen mit voller Wucht zurück. Schien mir die Luft zum Atmen zu nehmen. Wie ein kalter Ring schien sich die Trauer um mein Herz zu legen. Beinahe teilnahmslos spürte ich ein paar heiße Tränen, die jetzt über meine kalten Wangen liefen.

Ich hatte niemanden.

Ganz alleine saß ich hier auf dieser alten, kalten Bank, die Hände tief in den Taschen meiner ausgebleichten Jacke vergraben und starrte düster vor mich hin. Vor ein paar Stunden war ich noch im Waisenheim. Gestern hatte ich noch keine Ahnung, dass ich heute hier, auf diesem einsamen Bahnhof sitzen würde. Doch ich hatte es getan, ich war tatsächlich abgehauen.

Geflohen aus der Hölle.

Mich fröstelte bei dem Gedanken, was wohl passiert wäre, wenn sie mich erwischt hätten. Mit klopfendem Herzen hatte ich letzte Nacht die Kasse in der Küche geknackt um mir das Zugticket kaufen zu können.

Ich schüttelte den Kopf und seufzte leise.

Ja, ich hatte gestohlen und nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabeigehabt. Der Wunsch zu fliehen war stärker. Nur fort von dort, von den brutalen und gemeinen Erzieherinnen, den Schlägen und den bösen Worten. Fort von den kranken und traurigen Mitschülern, fort von Hunger und Schmerz. Meine Eltern starben, als ich ganz klein war. Niemals durfte ich das Gefühl erleben, wie es ist einen Vater oder eine Mutter zu haben. Ja, ich wusste nicht einmal was Liebe und Zuwendung waren. Aber ich liebte die Geschichten, die davon erzählten. Von Geborgenheit, Freundschaft und einer Familie. Rasch stand ich auf, wischte mir die Tränen von den Wangen und versuchte die düsteren Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.

Fröstelnd starrte ich auf das quietschende Schild über meinem Kopf. Knarrend und im Wind schaukelnd schwang es hin und her.

Swan Lake hieß der kleine Ort, in dem ich gelandet war. Wirklich winzig und kaum auf einer Landkarte eingezeichnet. Das alles spielte aber keine Rolle für mich. Hauptsache weit genug weg vom Heim, damit sie mich nicht finden konnten.

Niemals!

Aber ich war mir sicher, sie würden nach mir suchen. Wütend biss ich mir auf die Lippe solange, bis der Schmerz mir abermals die Tränen in die Augen trieb. Sie dürfen mich nicht finden! Hektisch sah ich mich um, ich hatte schon viel zu lange gezögert! Viel zu lange schon saß ich hier herum. Vielleicht sind sie längst hinter mir her. Vielleicht lauern sie schon hinter einer Ecke, bereit zuzuschnappen...

„He, du!“,

hörte ich plötzlich eine laute Stimme hinter mir.

Erschrocken zuckte ich zusammen und fuhr herum. Ein Wachmann kam mit langsamen Schritten auf mich zu. Ich sah die Pistole an seinem Gürtel und den ernsten Ausdruck auf seinem Gesicht. Blitzschnell griff ich nach meiner kleinen Reisetasche und hob den Rucksack auf meinen Rücken. Gehetzt lief ich die vielen Stufen hinunter und stürmte aus dem kleinen Bahnhofsgebäude hinaus auf die Straße. Hinter mir wurden die Rufe des Polizisten leiser.

Doch ich wagte nicht aufzuatmen, ich war noch lange nicht sicher. In meinem Kopf kreiste nur ein Gedanke:

Sie dürfen mich nicht kriegen!

Niemals!

1

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich das unheimliche Heulen eines Wolfes hörte. Langsam brach die Dunkelheit über den Wald herein. Ich stand auf einer Lichtung und hatte meinen Rucksack und meine kleine Tasche an einen Baum gelehnt. Unter diesem Baum, auf weichem Moos, würde ich wohl oder übel heute übernachten müssen. Viel Gepäck hatte ich ja nicht. Mein Besitz hielt sich in Grenzen.

Die ersten Nächte nach meiner Flucht hatte ich in einem abgelegenen Stall im Heu verbracht. Tagsüber war ich mehrfach ins Dorf gegangen um Essen und Trinken zu besorgen. Wachsam durchsuchte ich weggeworfene Zeitungen nach einer Vermisstenmeldung über mich. Doch zu meiner großen Erleichterung fand ich nichts. Anscheinend war ich doch nicht wichtig genug. Wahrscheinlich waren sie insgeheim sogar froh darüber mich los zu sein. Ein Problem, das sich erledigt hatte. Mehr war ich doch nie für die gewesen. Ein Problem. Ich schluckte den Kloß hinunter, der sich in meiner Kehle gebildet hatte und atmete tief durch. Heute Mittag hatte man mich dann leider in „meinem“ Stall entdeckt und verjagt. Erschöpft setzte ich mich jetzt unter den Baum und lehnte mich an den rauen, feuchten Stamm. Mein Kopf schmerzte und ich fühlte mich sehr einsam und alleine.

Welche Überlebungschancen hat wohl ein 15-jähriges Mädchen in einem Wald voller Wölfe? Ich hatte sie sehr wohl gesehen, die Schilder an den Bäumen, die vor Wölfen und Bären warnten. Tafeln mit Ratschlägen und der eindringlichen Warnung, die Hauptwege nicht zu verlassen.

Aber der Gedanke an den Tod erschreckte mich schon lange nicht mehr. Viele Male in meinem Leben hatte ich schon darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre tot zu sein. Aber mich umzubringen, dafür hatte meine Verzweiflung dann doch nicht gereicht. Da war immer noch ein Funken Hoffnung in mir. Es musste doch auch für mich möglich sein, ein halbwegs normales, behütetes Leben zu leben. Zufrieden zu sein. Ja vielleicht sogar glücklich zu werden. Ich könnte mir irgendwo einen Job suchen. Geld verdienen und neu anfangen.

Ganz plötzlich schoss ein wohliges Glücksgefühl durch meinen Körper.

Ich war frei!

Leise lachend sprang ich auf, hob ich die Arme zum Himmel und drehte mich im Kreis. Tief atmete ich die würzige Waldluft ein und schloss die Augen.

Von weit her klang wieder ein melodiöses Heulen zu mir herüber und ich blieb abrupt stehen. Die Stille des Waldes war trügerisch. Mir wurde wieder bewusst, wo ich hier war. Das Glücksgefühl verschwand und ich schlang die Arme um meinen Körper. Es wurde kalt. Und im dunklen Wald lauerten ganz andere Gefahren als Polizisten und brutale Erzieherinnen.

Aber was nützte es jetzt, düsteren Gedanken nachzuhängen?

Besser als im Heim war es hier auf jeden Fall.

Langsam holte ich meinen Schlafsack und die dicke Decke aus meiner kleinen Reisetasche. Meinen Rucksack mit Essen und Trinken, verstaute ich hinter dem Baum unter Ästen und Blättern. Da es erst April war, wurde es rasch dunkel und die Nächte waren noch kalt. Ich bekam dann doch ein bisschen Angst, als ich abermals das Wolfsgeheul hörte. Zitternd kroch ich in meinen Schlafsack. Ängstlich sah ich mich um, aber es war schon so dunkel, dass ich nur noch unscharf den Wald erkennen konnte. Ich hatte schon von diesem Wald gehört. Die Leute im Dorf nannten ihn wohl den „Wald der Wölfe“. Doch sie ließen die Tiere in Frieden leben und in ganz strengen Wintern, legten sie ihnen sogar Futter aus. Doch niemand wagte sich tief in den Wald hinein. Denn die Wölfe, die hier lebten waren wild und nicht an Menschen gewöhnt. Nur ab und zu verirrte sich ein Wanderer hierher. Und es kam sehr selten vor, dass jemand lebend wieder aus diesem Wald zurück kam hieß es. Aber das waren sicherlich nur irgendwelche Schauergeschichten, die den Menschen Angst einjagen sollten!

Meine Hände waren plötzlich eiskalt und ich spürte wie ich am ganzen Körper zu zittern begann.

Lily, es war leichtsinnig von dir hier her zukommen schimpfte ich leise mit mir selbst.

Ich hätte wohl doch lieber im Dorf bleiben, und in irgendeinem anderen Stall Zuflucht suchen sollen.

Doch jetzt war es zu spät.

In der Dunkelheit würde ich den Weg aus dem Wald heraus wohl nicht finden.

Hinter dem Baum fand ich eine kleine, geschützte Kuhle, wo ich mich mit Schlafsack und Decke niederließ. Es wurde kühl und ich wickelte mich fest ein. Mit dem Rücken lehnte ich an dem Baumstamm und atmete tief durch.

„Nicht einschlafen“,

dachte ich und bleib wach. In meinem Kopf kreisten die Gedanken, all meine Sinne waren aufmerksam und wach. Nur langsam beruhigte sich mein Atem und das Rauschen in meinen Ohren wurde leiser. Nach meiner Flucht und dem weiten Weg hierher war ich müde. Es wäre schön einfach loszulassen und ein bisschen zu schlafen. Ins Reich der Träume zu sinken. Dort, wo alles möglich war und wo ich Freunde und eine liebevolle Familie hatte. Meine Augen wurden schwer…

Nur kurz ein bisschen dösen…

Ein leises Knacken ließ mich hochschrecken und mein Herzschlag beschleunigte sich sofort. Hatte ich geschlafen? Wachsam und mit weit aufgerissenen Augen blickte ich mich um. Es war nicht ganz dunkel. Viele Sterne funkelten am nachtschwarzen Himmel und der Mond zeigte sich als dünne Sichel. Es schien alles ruhig zu sein. Vielleicht hatte ich mir das Geräusch nur eingebildet. Ich fühlte mich besser, mein Kopfweh war fast verschwunden. Gerade wollte ich mich wieder in meinen Schlafsack kuscheln, da hörte ich abermals ein Geräusch. Natürlich, es gab viele Tiere hier im Wald. Igel, Marder, Wiesel und so.

Klar, dass es in der freien Natur nicht ganz ruhig war.

Auch nicht in der Nacht.

Hatte sich da vorne nicht etwas bewegt?

Am anderen Ende der Lichtung?

Mein Herz klopfte plötzlich so stark als würde es jeden Moment aus meiner Brust springen wollen.

Sicher nur ein Reh, versuchte ich mir einzureden, während ich mit großen Augen und bewegungslos nach vorne starrte.

Meine Augen hatten sich mittlerweile etwas an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte eindeutig erkennen, dass dort vorne ein Tier stand.

Wesentlich größer als ein Marder oder ein Wiesel.

Es war auch kein Reh. Etwas kleiner und nicht so schlank.

Pelziger.

Ich hielt den Atem an.

Es war ein Wolf.

Genauer gesagt eine Wölfin, aber das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Zwar ein eher kleiner Wolf, aber definitiv ein Wolf.

Frei, wild und womöglich sehr hungrig. Ob er auf der Suche nach Beute war?

Ich musste mir fest auf die Lippen beißen, um einen Schrei zu unterdrücken.

„Alles wird gut, Lily“, sagte eine Stimme in meinem Kopf,

„du bist gut versteckt, er wird dich nicht finden.“

Doch da meldete sich eine zweite Stimme zu Wort.

„Jaaa genau“,

sagte diese, Wölfe sind ja bekannt dafür, dass sie kaum riechen können. Das klang eindeutig sarkastisch fand ich. Diese zweite Stimme hatte wohl recht. Die Wölfin würde mich wohl jeden Moment bemerken. Meinen Angstgeruch riechen.

Angreifen und töten.

Das war ein kurzes Leben in Freiheit.

Die Wölfin am Waldrand bewegte ihren Kopf hin und her und schnupperte aufmerksam. Die kurzen Ohren stellten sich auf, um ja kein Geräusch zu verpassen.

Sie war unglaublich schön. So frei und wild.

Während ich fieberhaft überlegte was ich jetzt tun sollte, reckte sie den Kopf zum Himmel, und ließ ein langes Heulen ertönen, das mir beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. Entsetzt rückte ich ein Stück nach hinten. Dabei brach ich einen kleinen Ast ab, und es knackte laut. Sofort schnellte der Kopf der Wölfin in meine Richtung. Sie starrte mich an. Wie eine Statue stand sie da und ich hatte das Gefühl, die Zeit würde stillstehen. Sie knurrte leise und ihre Nackenhaare stellten sich drohend auf. Das war es jetzt, dachte ich. Gleich bin ich tot. Obwohl ich mich bemühte kein Geräusch zu machen, entfuhr mir ein leises Wimmern. Und das Verhalten der Wölfin änderte sich schlagartig. Sie legte den Kopf schief und winselte leise. Dann kam sie langsam auf mich zu. Mir war eiskalt, und ich war starr vor Angst. Schade, dass mein Leben jetzt schon vorbei war. Ich hätte doch zu gerne noch erfahren wie sich eine Umarmung anfühlte. Wie es war zärtlich geküsst zu werden. Und wie es sich anfühlte verliebt zu sein. Während die Wölfin sich langsam näherte, registrierte ich, dass sie gar nicht so klein war. Ihr helles Fell schien im Mondlicht zu leuchten. Ein wahrhaft wunderschönes Geschöpf. Als sie stehen blieb, hielt ich erneut den Atem an. Sie schnupperte in meine Richtung. Doch dann zuckte sie zurück. Der Menschengeruch schien ihr Angst zu machen. Eigentlich wirkte sie gar nicht mehr so bedrohlich. Eher neugierig. Durfte man Wölfen in die Augen schauen? Sicher nicht, weil Hunde mochten das doch auch nicht. Beinahe musste ich lachen. Was machte ich mir solche unnützen Gedanken!? In ein paar Minuten würde ich tot sein! Ich blinzelte ein paar Mal und die Wölfin leckte sich übers Maul. Abermals ertönte ein Heulen, diesmal von weiter weg. Die Wölfin wandte den Kopf. Fast schien es als würde sie nachdenken. Zurück zum Rudel oder doch erst ein bisschen an mir knabbern?

„Atmen, Lily, atmen!“

Es dauerte nur einen Herzschlag lang. Die Wölfin wandte sich um und verschwand mit ein paar leichtfüßigen Sprüngen im Wald. Ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.

Und ich war wieder alleine.

Am Leben aber einsam wie eh und je.

2

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich wieder einmal Kopfschmerzen. Das war nichts Neues, diese Schmerzen begleiteten mich schon mein Leben lang. Ich hatte gelernt sie einfach zu akzeptieren. Und die Tage zu genießen, an denen die Schmerzen weniger stark waren oder sogar ganz ausblieben. Als Kind war ich von einem Arzt zum anderen geschickt worden, aber niemand hatte herausfinden können, was die Ursache der ständigen Kopfschmerzen war. Es war wohl eine Form von hartnäckiger Migräne. Langsam schlüpfte ich jetzt aus dem Schlafsack, und rieb mir die Augen. Neugierig schaute ich mich um, aber die Wölfin war nirgends zu sehen. Hatte ich die Begegnung etwa nur geträumt? Wieso hatte sie nicht angegriffen? Ich schälte mich aus meinem Schlafsack und streckte und reckte mich. Meine Kehle war ganz trocken, ich hatte großen Durst. Meine Wasserflasche war rasch leer getrunken, aber am Vortag war ich doch an einem Bach vorbeigegangen. Mit raschen Schritten machte ich mich auf den Weg und fand den kleinen Fluss auch bald wieder. Ich ließ mich am Ufer nieder und tauchte meine Hände in das kalte, klare Wasser. Rasch wusch ich mir Hände und Gesicht und füllte meine Flasche wieder auf. Das Wasser schlug leichte Wellen und ich hörte die Vögel singen. Die Sonne blinzelte durch die Bäume und ich spürte die wärmenden Strahlen auf meiner Haut. Kurz schloss ich die Augen und seufzte tief. Das Plätschern des Baches und der Gesang der Vögel wirkten beruhigend auf mich. Ich fühlte mich geborgen und frei. Seufzend senkte ich den Kopf und betrachtete mein Spiegelbild im Wasser. Ich hatte mich nie hübsch gefunden. Viel zu dünn und zu groß, ein blasses, ängstliches Gesicht mit einer kleinen Stupsnase und einem schmalen Mund. Meine dünnen, braunen Haare hingen mir strähnig bis zu den Schultern. Nur meine grünen Augen, die mochte ich sehr. Nachdenklich wischte ich mir mit meinem Ärmel über die Lippen und streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus.

Dann würde ich mich wohl wieder zurück in die Zivilisation begeben. Hier war es einfach zu gefährlich.

„Auf geht’s“,

sagte ich aufmunternd zu mir selbst, klatschte in die Hände und stand auf.

Als ich mich schwungvoll umdrehte und losgehen wollte, stand da plötzlich ein Wolf vor mir.

Er sah hungrig aus. Seine Zähne waren gebleckt und er knurrte leise.

War das der Wolf von gestern Nacht?

Sein Ohr war zerbissen und von seinen Lefzen tropfte Speichel. Seine Augen blitzten gefährlich. Der Wolf war sehr dünn und sah ausgehungert aus. Aber er war viel größer als der Wolf von letzter Nacht. Nicht sehr beruhigend. Langsam ging ich einen Schritt zurück. Der Wolf ging einen Schritt nach vorne. Ich wusste, dass ich verloren war. Hatte ich letzte Nacht überlebt nur um jetzt als Wolfsfrühstück zu enden? Der Wolf knurrte lauter und leckte sich das Maul. Er duckte sich und sein Schwanzende zuckte.

Doch gerade als der Wolf zum Sprung ansetzen wollte, hörte ich neben mir ein Knacken und etwas Graues sprang hervor. Die beiden Wölfe standen sich nun lauernd gegenüber. Ich erkannte sofort die Wölfin von gestern Nacht. Sie bleckte drohend die Zähne, aber ihr Blick galt dem anderen Wolf und nicht mir! Dieser schien sichtlich irritiert zu sein. Gebannt verfolgte ich die nonverbale Kommunikation der beiden. Der große Wolf schleckte sich ein paar Mal mit der Zunge übers Maul. Dann drehte er sich um und lief leichtfüßig davon. Ich verstand die Welt nicht mehr. Die Wölfin drehte sich nun zu mir um und sah mich aufmerksam und mit gespitzten Ohren an. Es schien mir fast als würde sie mich verschmitzt anlächeln.

Und bevor ich irgendwie reagieren konnte, war sie wieder weg.

Sie hatte mir das Leben gerettet.

Wie in Trance ging ich zurück zu meinem Schlafplatz. Zitternd und erschöpft lehnte ich mich an den Baumstamm und schloss die Augen. Das war knapp gewesen. Es wurde wirklich Zeit von hier zu verschwinden. Hastig packte ich meine wenigen Habseligkeiten ein und machte mich auf den Weg zurück zum Dorf. Während ich durch den Wald stapfte musste ich die ganze Zeit an die junge Wölfin denken. Wieso hatte sie mich gerettet?

Endlich trat ich aus dem Wald hinaus, die Sonne schien mir jetzt voll ins Gesicht. Ich atmete erleichtert aus. Ich hatte es geschafft. In der Ferne konnte ich die kleine Landstraße erkennen die ins Dorf führte. Aber anstatt loszugehen und diesen gefährlichen Ort zu verlassen, blieb ich zögernd stehen. Wo sollte ich denn jetzt hin? Sicher konnte ich wieder einen Stall finden. Aber es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man mich wieder vertreiben würde. Es wäre vernünftiger, mit dem Zug weiterzureisen. In eine größere Stadt. Dort wäre es sicher möglich einen Job zu finden. Und endlich ein neues Leben zu beginnen. Doch dieser Gedanke behagte mir nicht. In einer lauten schmutzigen Stadt zu leben mit so vielen anderen Menschen, die es immer eilig hatten und immer unzufrieden waren.

„Es ist ja nicht für immer Lily“,

sagte ich mir in Gedanken.

„Du suchst dir einen Job, verdienst etwas Geld und kannst dann wieder raus aufs Land.“

Mein Magen knurrte. Langsam ließ ich mein Gepäck fallen und suchte nach etwas Essbarem in meinem Rucksack. Da waren noch ein paar Brote, Obst und Gemüse, getrocknete Wurst. Für ein paar Tage würde es noch reichen. Nachdenklich kaute ich an einem Stück Brot. Das Bild der hübschen Wölfin tauchte wieder in meinem Kopf auf. Es berührte mich sehr, dass sie mich gegenüber dem anderen Wolf verteidigt hatte. Mein Blick schweifte über den Waldrand. Und mein Herz machte einen Satz, als meine Augen an einer Gestalt hängen blieben. Regungslos stand sie zwischen den Bäumen, mitten auf dem Weg, auf dem ich noch vor ein paar Minuten gestanden hatte. Sie sah mich an. Mit sanften dunklen Augen. Weise und klug.

Meine Angst vor ihr war etwas weniger geworden, und ich versuchte normal weiter zu atmen. Das Schlucken fiel mir zwar schwer, aber ich nahm den Blick der Wölfin wahr, der sich auf mein Brot richtete. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sie langsam näher kam. Beinahe lautlos. Ich blieb ruhig sitzen und atmete ein und aus. Bloß nicht die Luft anhalten. Sie war jetzt so nah, dass ich sie riechen konnte. Ein aufregender Geruch nach Wildheit, Freiheit und Wald. Ich hörte wie sie schnupperte und riskierte einen Seitenblick. Ihre Augen waren auf mein Brötchen gerichtet. Langsam streckte ich meinen Arm aus und ließ es fallen. Schnell wie der Blitz schnappte sie danach und verschwand mit ein paar Sprüngen im Wald. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Ich mochte sie. Und ich konnte nicht einfach so gehen. Ich wollte sie besser kennen lernen. Bei ihr bleiben. Auch wenn es leichtsinnig und dumm war, ich beschloss noch etwas länger im Wald zu bleiben. Die kleine Wölfin hatte mir Glück gebracht und so gab ich ihr den Namen Lucky.

Eines war klar: Wenn ich wirklich im Wald der Wölfe bleiben wollte, brauchte ich einen neuen Schlafplatz. Weiterhin auf der Lichtung zu bleiben war reiner Selbstmord. Es gab schließlich auch noch ganz andere Tiere hier im Wald. Den Rest des Tages verbrachte ich also mit der Suche nach einem Schlafplatz, der etwas sicherer war als der bloße Waldboden. Es dämmerte bereits, als ich endlich fündig wurde. Ein alter Hochstand, etwas abseits vom Trampelpfad und gar nicht weit entfernt vom Fluss. Die Leiter war etwas morsch, die würde ich erneuern müssen. Mit meinem Gepäck auf dem Rücken kletterte ich vorsichtig hinauf. Die Tür hing schief in den Angeln aber auch das konnte ich reparieren. Der Raum schien groß genug um darin liegen zu können. Vorsichtig tastete ich den Boden ab, bevor ich drauf stieg. Ich wollte nicht unbedingt durchbrechen und dann verletzt auf dem Waldboden liegen bleiben. Aber es schien alles noch halbwegs belastbar und stabil zu sein. Glücklich über meinen Fund breitete ich meinen Schlafsack und die Decke aus und rollte mich seufzend zusammen. Die kluge, sanfte Wölfin hatte mich zutiefst beeindruckt und begleitete mich bis in meine Träume.

Dank meines neuen Schlafplatzes fühlte ich mich wesentlich sicherer und schlief zum ersten Mal seit Tagen richtig fest und gut. Ich fühlte mich wie neugeboren und kletterte am nächsten Tag gut gelaunt von meinem Hochstand herunter. Auf der Suche nach der Wölfin durchstreifte ich den Wald. Es sollte aber einige Tage dauern bis ich sie wiedersah.

Bei meinem nächsten Besuch im Dorf erstand ich Hammer, Axt und Nägel und brachte meinen Hochstand auf Vordermann. Den Boden verstärkte ich mit Brettern und bei der Leiter erneuerte ich ein paar einzelne Sprossen. Die Tür bekam ein neues Scharnier und ließ sich wieder tadellos schließen. Die Wölfe würden da wohl nicht hinaufklettern, allerdings gab es hier sicherlich auch Bären. Den Gedanken daran verdrängte ich aber immer wieder erfolgreich. Der Tag, an dem ich Lucky wiedersah, war kühl und bewölkt. In der Nacht hatte es geregnet und vereinzelt hatten sich am Boden Pfützen gebildet. Die Luft roch besonders frisch und würzig und ich atmete tief durch. Einzig und allein die Tatsache, dass ich kaum mehr Geld hatte machte mir Sorgen. Wovon sollte ich mir zukünftig essen kaufen? Ich wollte nicht stehlen. Die Lichtung auf der ich die erste Nacht verbracht hatte kam in Sichtweite und mein Herz machte einen freudigen Sprung, als ich die Wölfe entdeckte die auf der Wiese herumtollten.

Es waren Lucky und ein riesiger, wunderschöner Wolf. Ihr Gefährte hatte ein dichtes grau-weißes Fell und über dem rechten Auge eine dicke wulstige Narbe. Die Wölfin duckte sich auf den Boden, winselte und klapperte mit den Zähnen. Aufmerksam beobachtete ich sie. Lucky stand jetzt auf und lief geduckt auf den Wolf zu. Vor seinen Pfoten rollte sie sich auf den Rücken und winselte, doch dann sprang sie gleich wieder auf die Beine, schüttelte sich und hüpfte an dem Wolf hoch. Er senkte den Kopf und leckte ihr über die Schnauze. Sie wich zurück und biss ihm sanft ins Bein. Der große Wolf ging ein paar Schritte nach vorne. Fasziniert und belustigt beobachtete ich das spielerische Verhalten der Wölfe. Wölfe waren meine Lieblingstiere und ich hatte deshalb schon viele Bücher über sie gelesen. Diese beiden Wölfe schienen sich sehr zu mögen und ihr Spiel schien sehr vertraut. Fasziniert trat ich einen Schritt näher. Dummerweise stieg ich dabei auf einen Ast und der knackte verräterisch. Die Köpfe der beiden Wölfe fuhren herum.

„Mensch, Lily, du Schussel“,

schimpfte ich mit mir selbst und biss mir auf die Lippe. Die beiden sahen mich aufmerksam an. Der große Wolf begann leise zu knurren. Langsam kam er auf mich zu. Wegrennen war wohl keine gute Idee, oder? Lucky trottete neben ihm her, ihr Blick huschte zwischen ihrem Kumpel und mir hin und her.

Oje. Was sollte ich denn jetzt machen? Lucky tollte um ihren Freund herum, für sie war das immer noch ein Spiel. Doch der andere schlich geduckt näher, was eher schon nach Angriff aussah. Ich schluckte und meine schweißnasse Hand glitt haltsuchend über einen Baumstamm neben mir. Der Wolf machte sich zum Sprung bereit.

„Hau ab“,

schrie ich laut, und der Wolf schien kurz irritiert zu sein. Lucky sah mich wachsam an. Als der Wolf in meine Richtung sprang, war sie plötzlich vor mir. Der Große hielt irritiert inne. Wie eine Statue stand sie jetzt vor mir. So nah, ich hätte sie berühren können. Langsam wich ich hinter den Baumstamm zurück. Der Wolf versuchte abermals anzugreifen aber Lucky wehrte ihn ab. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und sie knurrte. Sie standen sich zähnefletschend gegenüber als würden sie sich jeden Moment zerfleischen. Doch plötzlich wandte sich der große Wolf ab und verschwand mit ein paar Sprüngen im Wald. Luckys Schwanz zuckte und sie sah ihm aufmerksam hinterher. Ich hielt die Luft an. Sie hatte mir schon wieder das Leben gerettet! Was würde sie jetzt tun? Sie drehte den Kopf in meine Richtung und sah mich aus großen dunklen Augen an. Und ich hatte das Gefühl, dass sie tief in meine Seele blickte. Es gab eine Verbindung zwischen uns beiden. Das spürte ich mit einem Male ganz deutlich.

Es war ein magischer Augenblick.

„Danke“,

flüsterte ich leise und sie legte den Kopf schief. Dann trottete sie davon. Langsam und ohne sich nach mir umzusehen. Ich sah ihr noch lange hinterher. Eine Träne lief über meine Wange.

3

Meine Befürchtungen hungern zu müssen bewahrheiteten sich zum Glück nicht. Seit meiner Kindheit hatte ich immer wieder Bücher über essbare Pflanzen, Beeren und Kräuter gelesen. Es hatte mich einfach interessiert, und dieses Wissen kam mir jetzt zugute. Der Wald war ein wahres Schlaraffenland und ich wurde fast immer satt. Ich lernte zu angeln und so gab es hin und wieder einen Fisch den ich auf einem Spieß über dem Feuer grillte. Dies geschah allerdings nicht allzu oft, weil meine Geduld für das ewig lange warten am Fluss meistens nicht ausreichte. Wenn ich dann doch einmal genug von Beeren, Fischen und Kräutern hatte, nahm ich all meinen Mut zusammen und schlug den Weg ins Dorf ein. Meine anfängliche Angst, man könnte mich erkennen, war bald verschwunden. Der Ort war so klein und abgelegen, niemand würde mich hier suchen. Da war ich mir mittlerweile vollkommen sicher. Zwar schauten mich die Leute oft neugierig an, ich war schließlich ein fremdes Gesicht in ihrem geliebten Dörfchen. Aber sie waren freundlich, grüßten mich und ich hatte das Gefühl, dass Sie sich irgendwann an mich gewöhnt hatten. Am liebsten ging ich in den Ort, wenn Markttag war. Einerseits war lauter Trubel und ich fiel in der Menschenmenge kaum auf. Andererseits war es sehr viel leichter für mich an Lebensmittel zu kommen. Am Ende des Tages bekam ich sogar oft das eine oder andere Brot, Obst oder Gemüse geschenkt. Rasch hatte ich erkannt, dass gerade die älteren Frauen sich über zwei zusätzliche Hände freuten, wenn viel los war. So half ich immer wieder irgendwo aus und wurde mit Lebensmitteln und Dankbarkeit geradezu überschwemmt. Es kam mir auch zugute, dass ich wesentlich älter aussah als ich war. Kaum jemand sah noch ein Kind in mir und die Leute schienen sich nicht zu wundern, wo meine Eltern waren. Eine der Frauen hatte mich anscheinend besonders ins Herz geschlossen. Dora, die rundliche Bäckersfrau. Sobald ich auf dem Markt auftauchte, winkte und rief sie schon nach mir. Aber ein bisschen Misstrauen und Vorsicht war doch noch in mir. So hatte ich niemandem meinen echten Namen verraten. Die wenigen Menschen, mit denen ich wirklich sprach, kannten mich unter dem Namen Sam.

Als ich eines Tages erwachte und die Tür öffnete, stand die Wölfin plötzlich am Fuße der Leiter und sah mir entgegen.

„Ähm.. Guten Morgen, Lucky“,