Die Z Akten - P.G. Connor - E-Book

Die Z Akten E-Book

P.G. Connor

4,7

Beschreibung

Würden Sie ein Jahr nach einer Zombie Apokalypse ein nahezu sicheres Versteck in einer von Untoten verseuchten Welt verlassen, wenn Sie ein Flugzeug hoch oben am Himmel sehen, das genauso schnell verschwindet, wie es auftaucht? Ohne zu wissen, wo es hinfliegt? Ohne zu wissen, was Sie auf der mörderischen Reise erwarten würde? Mit der unsäglichen Angst im Nacken, jederzeit so zu enden, wie diese armen Teufel dort draußen? Getrieben von ihrer nicht endenden Gier nach allem Lebenden. Sie würden! Mein Name ist Mike Defranco, und ich habe dafür einen hohen Preis bezahlt.

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DANKSAGUNG

Bedanken möchte ich mich ganz herzlich bei:

Meiner Frau Selma und meinem Sohn Patrick. Ohne eure Geduld, Hilfe und Nachsicht wäre dieses Projekt zum Scheitern verurteilt gewesen.

Meinem Lektor Benjamin Ressel, der mich auseinandergenommen und korrekt wieder zusammengesetzt hat. Der beste Korrekturensohn weit und breit.

Sarah Richter (The Art of Sarah Richter) für das ultraschöne Cover und die unkomplizierte Zusammenarbeit.

A. Mara für die hübschen Illustrationen und Stefan Stern für den Buchsatz.

Meinem Bruder Claude.

Tanja, Moni, Sandra und Nicki. Ihr wisst, warum.

Mom und Pops, wo auch immer eure Engelsflügel euch hingetragen haben.

Schlussendlich den Lesern dieses Romans, die mir mit konstruktiver Kritik begegnen. Ihr seid die beste Inspirationsquelle.

DANKE.

P.G. Connor

Autor

Inhaltsverzeichnis

Hoffnung

Aufbruch

Die Strafe Gottes

Nirgendwo

Sternenhimmel

Hoch hinaus

Hammer der Götter

Schatten der Macht

Fataler Irrtum

Eiserne Jungfrau

Des Teufels Schergen

Erkenntnis

Sturm

Mahnmal

Charonspfennig

Totgeglaubte leben länger

Epilog

– Hoffnung –

Hochkonzentriert und geräuschlos bewegte er sich über den mit feuchtem Laub bedeckten Waldboden und fasste nach dem Griff seines Bowie-Jagdmessers. Wind fegte durch die Baumkronen. Noch ein paar Meter, und er war dran. Die scharfe Klinge glitt sanft aus der Lederscheide.

Plopp.

Dieses Geräusch. Dieses zischende Surren in der Luft. Unverkennbar. Mike konnte es nicht fassen. Schon wieder hatte sein Kumpel Jo ihn vor vollendete Tatsachen gestellt. Mike schob das Jagdmesser unverrichteter Dinge wieder zurück an seinen Platz und fuhr sich verzweifelt durch sein verschwitztes dunkelbraunes Haar.

»Herr Wick?«, sagte er, atmete tief aus und sah fassungslos zum Himmel.

»Huh?«

»Warum mache ich mir die Mühe, dir zu erklären, wie wir vorgehen, wenn du dich nicht daran hältst?«

»Wieso? Lief doch alles nach Plan!«

»Nein, das hat es nicht! Was hab ich dir vor ein paar Minuten gesagt?«

»Ach, wegen dem Ast, auf den ich getreten bin? Hey, du warst mal ein Jäger, ich nur ein Hausmeister. Meine Fehlertoleranz ist größer als deine, ich darf das. Und außerdem hat das Ding nicht auf den knackenden Ast reagiert. Es hat nicht einmal gezuckt«, stellte Jo zufrieden fest, verzog den Mund zu einem Lausbubenlachen und steckte die schallgedämpfte Pistole in sein Seitenholster.

»Nein, ich meinte nicht, dass du hier rumläufst wie ein Elefant im Porzellanladen, sondern dass du den Streuner abgeknallt hast. Ich hatte dir vorhin gesagt, dass ich ihn mit dem Messer erledige, weil uns die Munition ausgeht.«

»Ja ja, ist ja gut. Ich hab’s verstanden.«

Beide näherten sich dem toten Streuner, der träge am Waldrand gestanden und mit milchigen toten Augen vor sich hingestarrt hatte.

»Na wenigstes hab ich auf Anhieb getroffen. Von Verschwendung kann also keine Rede sein.«

Mike schüttelte genervt den Kopf. »Pfff. Du willst es einfach nicht verstehen, was? Durchsuch ihn.«

»Ich? Mann, der stinkt! Muss das sein?«

»Jetzt mach schon. Du hast ihm das Gehirn weggeblasen, der tut dir nichts mehr. Mir knurrt der Magen, wir haben noch einen langen Weg vor uns und die Sonne geht gleich unter.«

»Ja ja, die werden uns die Suppe schon warm halten.«

Jo knurrte und stellte sich ungefähr einen Meter neben den Streuner, bückte sich leicht nach vorne und sah ihn an, wie er so da im Gestrüpp hängen geblieben war.

»Boah, ist der eklig. Nee, ich fass den nicht an. Sonst krieg ich die Krise.«

Mike schloss die Augen und ließ den Kopf hängen. Es war sinnlos, mit Jo zu argumentieren. Er war eben ein Dickschädel und das würde er auch bleiben, da war sich Mike sicher. Er sah sich den Untoten selbst genauer an. Die Kugel hatte sich ihren Weg durch den Hinterkopf gesucht und beim Austritt aus der Stirn eine grässliche Wunde gerissen. Die halbe Gesichtshälfte war weg und lag fein verteilt im umliegenden Laub. Mike zeigte auf ihn.

»Die Uniform. Er muss einmal Förster gewesen sein. Wenn er hier aus der Region war, hab ich ihn vielleicht sogar gekannt.«

Mike sah sich ein Loch auf dem Rücken des Streuners genauer an. »Man hat wohl auf ihn geschossen.«

»Oder er hat es selbst getan. Er hat ein Holster am Riemen, aber die Pistole fehlt«, bemerkte Jo.

»Vielleicht. Dann wusste er zu seinen Lebzeiten wohl nicht, dass ihn das zurückbringt.«

Jo nickte. »Na dann hab ich ja heute wenigstens etwas Gutes getan.«

Er bückte sich und hob etwas auf, das vor den Füßen des Untoten im feuchten Laub lag.

»Seine Schrotflinte ist übrigens in einem schlechten Zustand. Der Lauf ist verdreckt und das Metall oxidiert. Vielleicht kann Paul sie wieder funktionstüchtig machen?«

»Ja. So verblasst, wie die Uniform aussieht, stand der schon eine ganze Weile hier herum. Vielleicht schon seit dem Untergang. Nimm du die Waffe, ich schau mir noch seine Umhängetasche an.«

Mike öffnete sie und wühlte darin, fand vier Patronen, ein Schweizer Taschenmesser sowie Verbandszeug und nahm alles an sich. Dann bemerkte er die Seitentasche des Anoraks, die ungewöhnlich dick war. Er fasste hinein, zog einen dicken, feuchten Briefumschlag heraus und öffnete ihn. Darin befanden sich ein kleiner hellbrauner Teddybär und ein handgeschriebener Zettel. Er öffnete langsam das feuchte Papier, bemerkte das Logo einer Entzugs- und Rehaklinik und las in Gedanken den halb verschwommenen Text vor.

Mein Schatz

Ich bin so traurig darüber, dass ich an deinem fünften Geburtstag nicht bei dir sein konnte. Wie dir deine Mama sicher erzählt hat, ist Papa schwer krank. Deshalb ging sie mit dir weg und wir können uns nicht sehen, da ihr so weit weg wohnt. Ich trage diesen Brief schon lange mit mir herum und hoffe, dass ich eines Tages den Mut habe, ihn dir zu schicken. Ich hoffe, dass du deinen Papa noch lieb hast. Ich denke sehr oft an dich. Deshalb schick ich dir diesen kleinen Teddybär. Er wird dich beschützen, bis ich dich wieder lieb drücken kann. Ich hab dich lieb und vermisse dich, mein Schatz.

Dein Papa

Mike stand gedankenverloren da und sah den Brief und den Teddy an, als Jos Stimme ihn in seinem tiefen Inneren abholte.

»Was hast du da?«

»Was?«, fragte Mike, sah Jo leicht verwirrt an und steckte den Brief mit dem Teddybären wieder in die Anoraktasche des Untoten.

»Ach, nichts. Komm jetzt. Der hat nichts mehr, was wir gebrauchen können.«

Jo ging voran und Mike blickte noch einmal auf den Toten zurück.

»Tut mir leid, Kumpel«, flüsterte er dem Toten zu und dann liefen sie weiter nach Osten, dem zunehmenden Vollmond entgegen, der groß und hell am Horizont aufgegangen war.

Eine sanfte, kühle Brise strömte durch den Wald und erleichterte den beiden das Vorankommen. Mike genoss diese Momente immer und atmete tief ein. Er liebte den typischen Geruch des Waldes im Frühsommer und kannte die umliegenden weiten Wälder sehr gut. Was ihm jedoch den letzten Nerv raubte, war die Tatsache, dass sie immer weniger Essbares auf ihren Besorgungstouren fanden. Diese Tour hatte sie weit weggeführt und was sie gefunden hatten, würde nicht einmal für zwei Tage reichen.

Mittlerweile war es schon recht dunkel geworden, als sie die urigen, mit Kletterpflanzen bewachsenen Mauern eines Klosters erreichten, die mannshoch waren. An der Haupteingangstür stand in einem Informationskasten noch das Datum der nächsten öffentlichen Messe – von vor über einem Jahr.

»Halt, wer da?«, schallte es schroff von der Mauer.

»Schrei nicht so rum, Micki. Die ganzen scheiß Untoten im Umkreis von zehn Kilometern können dich hören«, rief Jo ihr leise zu. Mike sah auf Jo herab, schaffte es aber nicht, sein schelmisches Grinsen zu unterdrücken.

»Was?«, fragte Jo.

»Nein, nichts«, antwortete Mike und lächelte.

»Hast du Angst, Häschen?«, witzelte Micki. »Mama ist ja da und passt auf dich auf.«

»Sei jetzt ruhig und öffne die Tür, verdammt«, rief Jo ihr zu. Micki war Jos Frau, sie hatten kurz vor der Apokalypse geheiratet und waren eigentlich unterwegs in die lange vorher geplanten Flitterwochen gewesen, als vor einem Jahr das ganze Übel plötzlich über die Welt hereingebrochen war. In der Stadt unterhalb des Klosters waren sie im Chaos stecken geblieben.

Micki öffnete die Tür zum Klosterhof, der auch schon mal schönere und gepflegtere Tage erlebt hatte. Die Hecken wuchsen wild in den Himmel und das Gras war kniehoch. Neu waren jedoch die Gemüsebeete neben der Kapelle. Die beiden traten ein und Micki gab ihrem Mann einen zärtlichen Kuss auf die Stirn.

»Micki, hör auf damit. Du weißt, dass ich das nicht mag.«

Micki lächelte. »Du bist halt mein kleiner Held.«

Mike schüttelte den Kopf, lachte und ging zum Klostergebäude. Bevor er eintrat, drehte er sich noch einmal zu ihnen um.

»Wenn ihr fertig seid mit eurem liebevollen Austausch von Körperflüssigkeiten, kommt rein und gebt Paul die Flinte, damit er sich die ansehen kann.«

Jo nickte und streckte Mike den Mittelfinger entgegen. Der war jedoch schon im Gebäude verschwunden. Micki berührte mit ihren Fingern Jos Wangen und küsste ihn leidenschaftlich, während er ihr mit seinen Händen sanft die Hüften entlang immer weiter nach oben strich.

»Jo!«, kicherte Micki und klopfte ihm auf die Finger, als er ihre wohlgeformten Brüste fast berührt hatte. »Nicht jetzt und hier!«

»Ach was, die Streuner stört es nicht. Ich hab dich vermisst, Schatz.«

Mike betrat den Schlafsaal des Klosters, wo alle anderen beisammen waren und die vorzügliche Gemüsesuppe aßen, die das Ehepaar Mann zubereitet hatte.

»Hey Mike, wieder da?«, rief Paul Brunner, ein mittelgroßer Typ, durchtrainiert und kahl geschoren.

»Ja. Jo hat einen Schießprügel für dich, sieh ihn dir mal an, vielleicht kriegst du das Ding noch hin.«

»Okay, werd ich machen. Gleich morgen früh«, entgegnete er und nähte weiter an seinem T-Shirt, einem verwaschenen grünen Fetzen mit der kaum noch erkennbaren Aufschrift ARMY auf Brusthöhe. Als ehemaliger Berufssoldat kannte er sich mit Waffen aus. Er war einer von zehn Soldaten gewesen, die zur Bewachung des Klosters zurückgelassen worden waren, und der einzige, der dageblieben war. Er hatte sonst niemanden mehr, zu dem er hätte gehen können. Seine Familie war die Armee gewesen, und die gab es nicht mehr.

Mike stellte seinen Rucksack auf den Boden und setzte sich zu Leon Webber. Der sah auf den vollen Rucksack. »Na, hast du doch noch was Wertvolles gefunden?«

»Nicht allzu viel, Dok. Verbandszeug, ein paar Flaschen Wasser, einige Konservendosen. Eigentlich wird es immer weniger«, sagte Mike sorgenvoll. »Wir finden nur noch hier und da was. Und es wird mir zu gefährlich. Ich kann nicht mehr nur mit Jo alleine raus. Wir müssen weiter hinaus und vielleicht irgendwo übernachten. Zu viert oder fünft, das wäre okay. Alleine schaffen Jo und ich das ganze Zeugs sonst nicht schnell genug hierhin.«

Leon schüttelte skeptisch den Kopf. Er war Arzt und Wissenschaftler der staatlichen Seuchenkontrollbehörde SKB gewesen und mit der Armee in die Stadt gekommen.

»Außer Paul und noch zwei oder drei anderen wird wohl niemand das Kloster verlassen. Die meisten von uns sind immer noch traumatisiert. Die Manns sind zu alt, und Pepe lässt seine Tochter sicher nicht alleine hier zurück. Und vergiss nicht, dass zu jeder Zeit jemand am Tor Wache halten muss«, meinte Leon und Mike wusste nur allzu gut, dass es so war.

»Wer soll das übernehmen, wenn die Besten von uns draußen sind? Außerdem könnte die Armee ja noch zurückkommen. Dann muss vielleicht jemand schnell runter in die Stadt.«

Leon klammerte sich noch an diese Hoffnung, die einzige, die ihnen noch blieb. Mike hatte es schon längst aufgegeben. Er war sich sicher, dass niemand mehr kommen würde, um sie abzuholen.

»Wir treffen außerhalb der Stadt auf immer mehr Streuner. Wir müssen die Augen überall haben und das bedeutet Stress. Dies führt zu Fehlern und die sind tödlich«, sagte Mike.

»Wo kommen die ganzen Streuner denn her? Die Umgegend war doch evakuiert worden und die meisten Überlebenden hatte die Armee zum Luftwaffenstützpunkt gebracht.«

»Entweder treibt es sie aus der Stadt raus, oder sie kommen von außerhalb. Vielleicht sogar vom Stützpunkt. Ich weiß es nicht.«

Paul hatte sein T-Shirt wieder übergezogen und gesellte sich dazu. Er hatte das Gespräch mitbekommen.

»Ich bin wie Mike der Meinung, dass wir hier wegmüssen. Ob es uns gefällt oder nicht.«

»Wisst ihr«, sagte Leon. »Als die WHO und die UNO weltweiten Katastrophenalarm ausriefen, Satellitenverbindungen und die Stromversorgung immer öfter zusammenbrachen, waren wir froh, hier gelandet zu sein. Wir hatten echt Glück. Hier ist es sicher.«

»Hör zu, Leon. Hier ist es vielleicht sicher, aber wir haben nur noch Vorräte für vier bis sechs Wochen«, meinte Mike und seine Tonlage verriet Leon, dass er so langsam genervt war, ihn von seiner Meinung überzeugen zu müssen.

»Wenn wir das Gemüse und die Äpfel im Klostergarten ernten, haben wir noch einen zusätzlichen Vorrat für ein paar Wochen. Ab dann hungern wir! Jo und ich waren den ganzen Tag im Wald unterwegs, uns ist nicht ein Wildtier über den Weg gelaufen. Wir haben nur ein paar angefressene Kadaver gefunden. Es gibt einfach nicht mehr genug Essbares in der Umgebung. Es tut mir leid, aber wir müssen weg hier. Und zwar jetzt. Ich habe keine Lust, mich im Winter gezwungenermaßen auf den Weg machen zu müssen, ohne irgendwelche Verpflegung im Gepäck.«

Ich weiß, Mike, aber es macht mir Angst, hallte es durch Leons Gedankenwelt.

»Wie viel Benzin haben wir noch?«, wollte er wissen.

»Der Lkw und der Pick-up sind vollgetankt, zusätzlich haben wir noch vierzig Liter Benzin in Kanistern. Das weißt du ganz genau.«

Leon runzelte die Stirn und fuhr sich durch seinen Drei-Tage-Bart. »Damit kommen wir nicht allzu weit, das ist dir ja wohl klar?«

Mike sah ihn augenrollend an. »Als der Armee das Benzin ausging, hab ich alles, was ich noch auftreiben konnte, hierher gebracht. Mehr gibt es nicht mehr.«

Einige der Anwesenden hatten der Unterhaltung zugehört und machten sich ebenfalls Gedanken um ihre Zukunft. Sie sahen nervös zum Fenster hinaus und tuschelten miteinander. Mike konnte ihre Angst vor dem, was außerhalb der Klostermauer auf sie wartete, förmlich spüren und riechen. Von den einst hundertfünfzig Personen im Kloster waren nur noch dreiundzwanzig geblieben. Bis auf zwei Brüder waren die anderen auf eigene Faust weggegangen und man hatte nie mehr etwas von ihnen gehört.

»Wie auch immer«, beschwichtigte Leon. »Heute Abend werden wir nirgends hingehen. Schlaft jetzt alle und morgen reden wir weiter.«

Die halbe Nacht dachte Leon über das vergangene Jahr nach.

Meine Güte. All die Technologie, der medizinische Fortschritt und das Wissen, das die Menschheit angesammelt hatte. Und wir konnten nichts bewirken gegen diese Seuche. Und jetzt? Jetzt müssen wir raus hier und uns dieser grausamen Welt stellen.

Der Arzt hatte nicht gut geschlafen, als er früh am Morgen wach wurde. Er machte Feuer im Kamin des Schlafsaals, um Wasser zu erhitzen. Auch Mike war schon wach. An Durchschlafen war seit langem nicht zu denken gewesen. Ihn plagte die Versorgungsknappheit, und Erinnerungen von vor einem Jahr holten ihn in seinen Träumen immer wieder ein. Als passionierter Jäger hatte der ledige Mittdreißiger das regional gut bekannte Outdoor-Geschäft Defranco’s Adventures in der Stadt betrieben. Ein Familienunternehmen, dessen Laden noch in den ersten Tagen des Untergangs vom wütenden Mob geplündert und in Brand gesetzt worden war. Dabei war er fast ums Leben gekommen.

Er setzte sich zu Leon an den Kamin und rieb sich mit den Händen durch sein verschlafenes und müdes Gesicht.

»Gehst du heute noch mal raus?«, fragte Leon, und Mike nickte.

»Ich muss. Es gibt noch einen Bauernhof oben an der Landstraße, da waren wir noch nicht. Dort könnten wir noch was finden, was wir gebrauchen können.«

»Dann musst du ja an diesem grausigen Ort vorbei, von dem du mir erzählt hast! Ist es nicht zu gefährlich dort? Ich frag nur wegen Mark und Jonas.«

Mike erinnerte sich ärgerlich an die beiden Brüder.

»Nein, ist es nicht. Die beiden mussten ja unbedingt die Helden spielen«, ärgerte er sich kopfschüttelnd. Als Jo und er die beiden gefunden hatten, waren sie an Gesicht und Armen bis auf die Knochen abgenagt und nur noch durch ihre Kleidung zu identifizieren gewesen. Jonas war bereits tot, doch Mark hatte sich verwandelt und Jo musste ihn erschießen.

»Hatte ich sie nicht gewarnt?«, fragte er Leon.

»In der Tat, das hattest du. Wen nimmst du mit auf die Tour?«

»Jo und Paul, wenn’s dir recht ist.«

»Lass mir Paul hier, damit wenigstens jemand die Klostertür im Auge hat«, entgegnete Leon. »Nimm Micki mit.«

»Nein, sie hat die ganze Nacht am Tor Wache gehalten und sich erst vor einer Stunde hingelegt. Dann nehme ich Pieter mit«, schlug Mike vor. »Der fliegende Holländer kann schnell laufen, wenn’s sein muss, und ordentlich zupacken, falls wir was finden.«

»Okay, ich werde es ihm sagen.«

Leon wollte gerade gehen, als Taina hastig in den Schlafsaal gelaufen kam. »Kommt schnell, das müsst ihr euch ansehen, schnell, schnell.«

Einige waren überrascht oder erschrocken, andere sahen sich verdutzt an. Taina hatte von Micki die Wache am Klostertor übernommen. Die schwarzhaarige Achtundzwanzigjährige war mit Leon und ihrem Vater aus der Stadt geflüchtet, als dort alles den Berg runterging. Doch ihr Vater hatte es nicht geschafft.

»Was hat Taina denn jetzt?«, fragte Jo gähnend. Er war mittlerweile auch wach geworden, was nicht seinen Gepflogenheiten als Langschläfer entsprach, und weckte Micki auf. Sie hörten Taina wieder rufen und alle beeilten sich nach draußen, um zu sehen, was los war.

»Dort«, sagte Taina und fasste sich mit beiden Händen in ihr langes Haar. »Seht ihr, ich hatte recht, ich hatte verdammt noch mal recht. Vor einem Monat, erinnert ihr euch? Unfassbar!«

Hoch oben am Himmel flog ein Flugzeug. Ehe die anderen es damals hatten sehen können, war es wieder hinter Wolken verschwunden. Nur leichte Kondensstreifen waren zu sehen gewesen, die die anderen als Zirruswolken abgetan hatten. Jetzt konnten sie es alle sehen und waren sprachlos. Es glitzerte geradezu im Sonnenschein. Plötzlich drehte das Flugzeug in einer engen Kurve nach Norden ab, in die Richtung, aus der es gekommen war, und verschwand wieder. Immer noch starrten alle sprachlos in den blauen, fast wolkenlosen Himmel.

»Das war kein Passagierflugzeug. Ich glaube, das war eine Militärmaschine«, sagte Paul.

»Wie willst du das wissen? Die fliegt zu hoch, um etwas zu erkennen«, meinte Jo.

»Zivile Flugzeuge fliegen nicht so enge Kurven, die da aber schon«, meinte Paul.

»Von wo kommt die her? Von der Airbase?«, fragte Leon.

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Paul skeptisch. »Dann würden wir sie öfter sehen und sie würde tiefer fliegen. Wir liegen hier genau in der Flugschneise des Flughafens und der liegt ja nur hundertfünfzig Kilometer entfernt von hier. Die da fliegt gut und gerne in zehn Kilometern Höhe. Die kommt von weiter weg.«

Ein wenig Hoffnung keimte auf, zu lange hatten sie auf irgendein Zeichen von draußen gewartet. Auf die ersehnte Rettung, die bis jetzt nie gekommen war, obwohl die Armee es versprochen hatte. Einige hatten feuchte Augen bekommen vor Freude und alle gingen wieder ins Hauptgebäude. Nur Taina blieb stehen und sah weiter in den Himmel. Micki sah zurück und ging zu ihr. Sie wischte eine Träne von Tainas Wange.

»Was ist denn los, mein Schatz?«

»Ach, nichts«, sagte sie, doch sie merkte, dass Micki ihr das nicht abkaufte. »Ich musste an meinen Vater denken. Ich wäre so glücklich, wenn er noch hier wäre und diesen Augenblick erleben könnte. Er hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Das hier, das wäre der Schubs gewesen, den er gebraucht hätte.«

Micki nahm sie in ihre Arme und tröstete sie. Obwohl Taina wie eine Wildkatze gegen die Streunerhorde angekämpft hatte, wurde ihr Vater vor ihren Augen mehrmals gebissen. Er schrie so laut er konnte, um die Streuner von ihr abzulenken und opferte sich für seine Tochter. Taina konnte schlussendlich nur noch zusehen, wie die Streuner ihn zerrissen.

Nach einer Weile folgten die beiden Frauen den anderen in das Hauptgebäude.

»Das ist der Beweis, dass es noch Überlebende gibt da draußen«, sagte Mike. »Irgendwo haben die einen Flugplatz und die können Flugzeuge starten lassen. Irgendwo da draußen gibt es eine sichere Zone.«

»Und wie sollen wir rausfinden, wo das ist?«, fragte Jo ratlos. »Wenn wir das Autoradio abhören, ist da gar nichts.«

»Wenn wir zum Flughafen gelangen könnten, dann …«, meinte Paul, doch Mike unterbrach ihn sofort.

»Du weißt, dass die Straße dorthin von Autos blockiert ist, wir können nur über Umwege dorthin gelangen. Und die Armee hat alleine aus unserer Gegend über zweitausend Menschen dorthin gebracht. Seitdem haben wir nichts mehr gehört. Wer weiß, wie es dort aussieht. Und dass sie nicht zurückgekommen sind, um uns abzuholen, spricht für sich.«

Nach einer Weile der Stille fuhr Mike fort. »Wie auch immer, wir werden uns darum Gedanken machen müssen, aber jetzt will ich zu dem Bauernhof, bevor andere das tun.«

»Welche anderen?«, entgegnete Jo erstaunt. »Wir haben mit Ausnahme der Streuner keine lebende Seele mehr draußen gesehen.«

Mike gab Jo einen freundlichen Klaps auf den Hinterkopf. »Wenn wir das Flugzeug gesehen haben, haben es vielleicht auch andere Überlebende gesehen. Und die machen sich vielleicht auch auf den Weg und suchen hier und da nach Nahrung. Der Erste in der Reihe darf sich zuerst bedienen.«

Das leuchtete Jo ein. Mike rief einen großen blonden Kerl zu sich, der in der anderen Ecke des Schlafsaals auf einer Couch lag. »Wir gehen raus, Pieter. Mach dich fertig, wenn du willst. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«

Pieter nickte freudig und holte seine Sachen. Sicher wäre der zwei Meter große Holländer aus Rotterdam lieber mit einem Lkw rausgefahren, aber wann immer jemand draußen benötigt wurde, war der Fernfahrer als Erster zur Stelle.

Als sie an einer Waldlichtung ankamen, lag die von Autos gesäumte Landstraße vor ihnen. Einige Fahrzeuge waren ineinander verkeilt, andere standen hier und da am Straßenrand oder lagen im Straßengraben. Gepäck und sonstige Hinterlassenschaften lagen auf der Straße verstreut herum. In ein paar Autos verwesten Tote still vor sich hin. Die Luft roch erbärmlich und Pieter zog sich seinen Pullover über die Nase.

»Hemel, Arsch en Zwirn«, fluchte er in seinem üblichen, liebenswerten deutsch-niederländischen Sprachmix. »Dat is ja kaum zu aushalten hier.«

Mike und Jo machte der Gestank fast nichts mehr aus, sie hatten sich daran gewöhnt. In anderen Fahrzeugen saßen Untote, die versuchten, ihren Wagen zu verlassen, als sie die Lebenden bemerkten. Doch sie schafften es nicht. Mike und Jo hatten diesen Ort schon untersucht gehabt und alles Brauchbare mitgenommen. Außer dem Bauernhof, zu dem sie wollten, und einer Tankstelle, ein paar Kilometer in entgegengesetzter Richtung, gab es hier nichts außer Viehweiden. Und die Tankstelle, das wusste Mike von der Armee, war schon in den Anfangstagen des Untergangs geplündert worden.

Mike blickte gedankenverloren auf einen großen dunkelbraunen Fleck auf der Straße. Er bückte sich und berührte mit zwei Finger seiner Hand die getrocknete Blutlache.

»Die armen Jungs«, sagte Jo traurig.

»Ich hatte sie davor gewarnt, alleine rauszugehen. Jonas wollte nicht hören und Mark musste ja unbedingt bei Nacht nach seinem Bruder suchen. Was für ein Irrsinn.«

»Ja, ich weiß. Hätten sie auf dich gehört, würden sie heute noch leben«, sagte Jo und sah zu Pieter rüber, der etwas abseits stehen geblieben war und sich die toten Insassen in einem Auto ansah, darunter ein Kind.

Diese armen Leute, dachte sich Pieter, der zum ersten Mal hier war. Sie wollten wohl zur Schutzzone in der Stadt. Und endeten hier. Ein kalter Schauer überfuhr ihn.

Mike hatte es an seinem Gesichtsausdruck bemerkt, ging zu ihm und legte seine Hand auf Pieters Schulter.

»Komm, lass uns gehen. Bis zum Bauernhof ist es noch ein ganzes Stück.«

Sie verließen den verhängnisvollen Ort zügig der Straße nach in Richtung des Bauernhofs.

Als sie sich dem Gehöft auf hundert Meter genähert hatten, versteckten sie sich bei einer kleinen Baumgruppe. Abgenagte, bleiche Gerippe von gehörnten Tieren lagen vor ihnen auf der Wiese. Mike nahm sein Fernglas und beobachtete den Ort. Unmittelbar neben dem weißen, zweistöckigen Haupthaus gab es noch eine größere sowie eine kleine Scheune. Ein alter, verrosteter Anhängerwagen und ein Traktor parkten neben den Scheunen. Zwei Streuner liefen dort ziellos herum und es sah ansonsten absolut ruhig aus. Wildblumen und Unkraut wuchsen auf dem geschotterten Feldweg, der zum Haupthaus führte, und Kletterpflanzen hatten die Seitenwände der kleinen Scheune schon halb bedeckt.

»Okay«, sagte Mike. »Sieht verlassen aus. Wir erledigen die zwei Streuner und sehen uns dann zunächst das Haupthaus an. Danach die beiden Scheunen, einverstanden?«

Die beiden anderen nickten und alle gingen rasch vorwärts. Mike warnte Jo, keinen Schuss zu vergeuden, um Munition zu sparen. Sie schlichen sich ganz langsam an die beiden Streuner ran. Mike pfiff leise. Die beiden drehten sich zu ihnen um und kamen auf sie zu. Als sie nah genug dran waren, sprangen Mike und Pieter hinter der Hecke hervor. Einer der beiden Streuner griff nach Mike, dieser wendete sich seitlich ab und hieb ihm wuchtig die Klinge in die Schläfe. Der Streuner klappte zusammen, fiel auf den Boden und wirbelte dabei Staub auf. Pieter packte den zweiten Streuner am Hals und bohrte ihm die Klinge seines Messers tief ins Ohr. Er ließ den Streuner los und dieser fiel mit dem Messer im Kopf zu Boden. Pieter musste seinen Fuß auf den Kopf des Streuners stellen, um sein Messer wieder herausziehen zu können. Obwohl der Streuner schon arg verfault aussah, waren seine Knochen das wohl noch nicht ganz gewesen. Das Messer löste sich nur schwer, doch dann zerbrach der Schädel unter Pieters Gewicht und er stampfte mit seinem Fuß das Gehirn des Streuners zu Brei. Es trat aus dem Schädel aus und der eklige gelbe Saft überspülte seinen Schuh. Mike und Jo, die das ganze Spektakel mit angesehen hatten, konnten die holländische Fluchkanonade nicht verstehen, die Pieter von sich ließ. Doch allein das Timbre war den beiden Aussage genug.

Die drei bemerkten, dass noch weitere Untote verstreut herumlagen und alle wiesen Kopfverletzungen auf.

»Die da liegen schon länger hier herum, so vertrocknet, wie sie aussehen. Ich nehme mal an, dass schon jemand hier gewesen ist«, meinte Jo.

»Sieht so aus. Lass uns das Haus durchsuchen«, schlug Mike vor und alle drei bewegten sich vorsichtig Richtung Haupthaus.

Mike klopfte zuerst an die geschlossene Tür und als sich im Haus nichts regte, schlug er das Türfenster ein, entfernte ein paar Glassplitter und öffnete die Tür von innen. Dann ging er als Erster hinein, gefolgt von Jo und Pieter.

»Hier sieht es aber verdammt ordentlich aus. Wie wenn jemand hier gewesen wäre die letzte Zeit. Seid vorsichtig«, flüsterte Mike den anderen zu. Sie gingen zuerst ins Wohnzimmer. Außer einer Stoffcouch und zwei Stoffsesseln in einer bunt gemixten Farbauswahl, die auf die Achtzigerjahre hinwies, sowie einem größeren Wohnzimmerschrank und einem Eckschrank aus guter alter Eiche war das Zimmer für seine Größe recht spärlich mit Gegenständen dekoriert. Nicht einmal ein Teppich lag auf dem Laminatboden. Auffällig war nur das übergroße Familienfoto in Schwarzweiß, das in der Mitte der Wohnzimmerwand hing. Mike wunderte sich, dass der Boden und die Möbel nicht staubig waren, was in vielen verlassenen Häusern, die er betreten hatte, nicht dem Normalzustand entsprach.

Sie untersuchten die Schränke, fanden aber außer Andenken und einer Postkartensammlung nichts Wertvolles. Mike zeigte auf die Küchentür. Sie betraten den Raum und fingen an, dort alle Schränke und Schubladen zu untersuchen. Ein Küchenschrank war prallgefüllt mit Konservendosen, und die Hausapotheke war mit dem Nötigsten ausgestattet. Jo entlockte dies einen anerkennenden Pfiff. In den Schubladen fanden sie ein paar scharfe Messer und in einem Wandschrank standen mehrere Flaschen Cognac, Whisky und drei Paletten Dosenbier. »Bingo!«, freute sich Jo. »Doch wie bringen wir das jetzt alles zum Kloster?«

»Vielleicht finden wir einen Handwagen oder so was in der Art in der Scheune«, hoffte Mike. Pieter bot sich an, die kleine Scheune schon mal zu erkunden.

»Nein, Pieter, nicht alleine, du kennst meine Prinzipien«, sagte Mike. »Bringen wir zuerst alles zur Tür und dann gehen wir gemeinsam zu den Scheunen.«

Jeder nahm eine Palette Dosenbier und stellte sie in den Flur vor die Haustür. Als Mike und Jo in der Küche die Konserven aus dem Schrank auf den Tisch stellten, fiel Mike auf, dass Pieter nicht da war. Er ging zur Haustür und sah den Holländer zur Scheune gehen.

»Pieter, komm zurück« rief er ihm zu.

»Ik kuck nur nach, ob die Düren der Scheune versloten sind. Falls ja, brauchen wir was, um sie aufzubreike. Macht ihr mal weider in der Keuke.«

Mike wollte ihn zurückhalten, doch Jo zog ihn an der Jacke. »Lass ihn doch, hilf mir, das ganze Zeugs rauszuschaffen, dann können wir schneller hier weg.«

Den Inhalt der Hausapotheke sowie die Messer hatten sie in ihre Rucksäcke gepackt. Den Schrank mit den Konservendosen hatten sie geleert und alles auf den Tisch gestellt, damit sie ihre Rucksäcke füllen konnten. Mike und Jo brachten die ganzen Flaschen zur Tür. Sie wollten zurück zur Küche, als es hörbar klickte. Beide drehten sich verwundert um und sahen in den Lauf einer Pistole. In der Tür stand eine mittelgroße, schlanke Person. Das Gesicht war zum Teil durch lange dunkle Haare verdeckt. Doch Mike erkannte sie sofort. Die Person war auf dem Familienfoto im Wohnzimmer abgebildet.

»Legt eure Waffen auf den Boden, ihr Arschlöcher! Los, wird’s bald!«, sagte die Frau in einem harschen Ton und bewegte sich einen Schritt auf die beiden zu. Die engen Jeans betonten ihre langen Beine und die Reitstiefel ließen sie größer erscheinen, als sie eigentlich war. Beide legten vorsichtig ihre Waffen auf den Boden und hoben ihre Hände hoch.

»Was habt ihr in meinem Haus zu suchen?«

»Ich … äh … Wir wollten …«, stammelte Jo vor sich hin und wurde jäh unterbrochen von einem lauten, furchterregenden Schrei. Die Frau schreckte auf und sah verwirrt in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Mike reagierte sofort, sprang auf die Frau zu, schlug ihr die Waffe aus der Hand und verpasste ihr mit seinem Ellbogen einen Schlag aufs Kinn. Sie fiel hin und hielt sich ihr Kinn vor Schmerzen.

»Jo, behalt sie im Auge.«

An der Scheune angekommen, sah Mike Pieter auf dem Boden liegen. Blut spritzte aus seinem Hals. Ein Streuner lag auf dem Boden und hatte ein Messer im Kopf. Drei weitere Streuner hatten sich über den ehemaligen Fernfahrer gebeugt und ihn angefressen. Pieter hustete Blut aus dem Mund, versuchte aber immer noch, die Streuner von sich fern zu halten.

»Verdammt«, fluchte Mike, hob die Waffe, die er der Unbekannten abgenommen hatte, zielte auf den Kopf eines Streuners und drückte ab. Es klickte nur. Überrascht sah er die Pistole an und zog das Magazin raus. Sie war nicht geladen. Er schmiss die Knarre weg und zückte sein Messer, als einer der grässlich entstellten Untoten auf ihn zukam. Er erledigte ihn mit einem festen Stich in die Schädeldecke. Das Messer drang tief ein und der Streuner sackte auf der Stelle zusammen. Die beiden anderen Streuner, die sich zunächst noch für Pieter interessiert hatten, ließen nun von ihm ab und kamen auf Mike zu, weil er laut schrie, um sie anzulocken. Der erste fauchte Mike an. Mike fiel auf, dass der Streuner nicht so stark verwest aussah wie die beiden anderen. Er musste sich erst vor kurzem verwandelt haben. Er nahm sein Messer, griff den Untoten am Schopf, zog dessen Kopf nach hinten und stach unter dem Kinn ins weiche Fleisch. Die Klinge trieb durch den Mund in den Schädel. Der Streuner gurgelte noch einmal und fiel um, als Mike sein langes Messer aus der Wunde zog. Als der letzte auf ihn zukam, wich Mike ihm aus, setzte ihm den Fuß vor die Beine und zog an seinem Hemd, sodass er hinfiel. Dann kniete er sich auf ihn und bohrte ihm das Messer in den Hinterkopf.

Als Mike sich umsah, bemerkte er, dass Pieter das Scheunentor geöffnet hatte. Er war von den Streunern überrascht worden, die wohl im Inneren der Scheune gefangen gewesen waren und hatte sich gegen alle vier auf einmal nicht wehren können. Es waren wohl einer oder zwei zu viel gewesen. Mike beugte sich über Pieter und erkannte, dass die Verletzungen am Hals zu schwer waren und er seinem Freund nicht mehr helfen konnte. Auch an Pieters Armen konnte er Bisswunden feststellen. Pieter gurgelte und röchelte noch ein paar Mal, ohne ein Wort sagen zu können. Mike versuchte, ihn zu beruhigen. Dann spürte er, wie der Druck von Pieters Hand an seinem Arm nachließ und diese auf den Boden fiel. Das Licht des Lebens in seinen Augen erlosch. Er setzte sich zu ihm und nahm Pieters Hand.

Jo hatte die Frau gepackt und zur Scheune gebracht. Als er Pieter und die toten Streuner sah, brach eine Welt für ihn zusammen. »Oh Gott. Ist er …?«

Mikes Gesichtsausdruck war für Jo wie ein Schlag ins Gesicht. Er wusste, dass es alleine hier draußen gefährlich war. Nicht umsonst bestand Mike immer wieder auf seine Prinzipien, die Jo nicht immer ernst nahm. Pieter war einer der wenigen gewesen, die sich aus dem Kloster raus trauten, und er hatte auch keine Angst davor gehabt, Streuner abzustechen. Das würde einen herben Verlust für die Gruppe bedeuten. Mike zückte nach einer Weile sein Messer und stach Pieter ins Ohr. So hatte er wenigstens seinen Seelenfrieden und musste nicht als Streuner ein ewiges und jämmerliches Dasein fristen.

»Tut … Tut mir leid für euren Freund, mein Bruder hatte die Streuner …«, sagte sie mitfühlend, doch Mike fauchte die Frau an.

»Halt den Rand.« Die Frau schreckte zurück.

»Wir können ihn hier nicht einfach so liegen lassen«, meinte Jo.

»Nein, das werden wir auch nicht. Das ist das dritte Mal, dass wir jemanden verlieren, weil er alleine unterwegs ist. Jetzt verstehst du hoffentlich, warum ich meine Prinzipien habe.«

Jo nickte nur und brachte kein Wort mehr hervor. Mike ging vorsichtig in die Scheune, das Messer in der Hand. Die Scheune war leer, doch roch es übel nach Verwesung. Auf einem Geländer hingen Pferdedecken und Lederriemen. Er nahm sich einen Lederriemen, fesselte die Frau an den Handgelenken und brachte sie in die Scheune. Dann holten er und Jo die weißen Pferdecken, wickelten Pieters Leichnam ein und brachten ihn in eine Pferdebox. Jo ritzte von Schuldgefühlen geplagt mit seinem Messer ein Kreuz in das Holz der Boxentür. Sie verabschiedeten sich still von Pieter.

Ruhe sanft, mein Freund, dachte Jo und unterdrückte nach Kräften seine tiefe Trauer. Mike nahm die Frau am Arm und alle gingen ins Haupthaus.

Es war schon später Nachmittag und sie waren müde. Vor Einbruch der Dunkelheit konnten sie es nicht mehr zum Kloster zurückschaffen. Die beiden waren sich im Klaren darüber, dass sie die Nacht wohl im Haus verbringen und erst früh am nächsten Morgen zum Kloster zurückkehren würden.

»Was machen wir mit der Frau?«, fragte Jo.

»Das werden wir jetzt herausfinden. Zu Ihnen«, wandte Mike sich an die Frau. »Wie heißen Sie?«

»Mona Beck«, antwortete sie knapp, ohne Mike anzusehen.

»Wo ist Ihr Bruder?«, wollte Mike wissen. »Und vor allem, warum haben Sie uns mit einer Pistole bedroht, die nicht einmal geladen war?«

Jo war überrascht. »Was? Die war nicht geladen?«

»Nein, war sie nicht.«

»Sie sind in mein Haus eingedrungen, ohne zu fragen«, antwortete Mona. »Was hätten Sie denn getan? Ich kenne Sie nicht und wir hatten vor ein paar Monaten schon einmal ungebetenen Besuch. Man hatte uns damals ausgeraubt, alles weggenommen, was wir hatten und …« Mona senkte traurig ihren Kopf.

»Wer hat sie ausgeraubt?«, fragte Jo.

»Es waren Leute hier, die wir nicht kannten. Wir empfingen sie freundlich, doch als sie unsere Vorräte sahen, zogen sie Waffen, bedrohten uns, nahmen unsere Vorräte mit, misshandelten uns und fuhren weiter. Wir haben sie nicht mehr gesehen seitdem.«

»Wo ist Ihr Bruder?«, fragte Mike wieder.

»Ich weiß es nicht. Er ist vor fünf Tagen über die Landstraße nach Herrenberg gefahren. Dort gibt es einen Supermarkt, wo wir viele Konserven gefunden haben. Wir versorgen uns von dort aus. Aber er ist bis jetzt nicht zurückgekehrt. Wir wollten eigentlich weg hier, aber die haben auch unsere Benzinvorräte mitgenommen. Wir wären nicht sehr weit gekommen.«

Das kam Mike allzu bekannt vor. »Wo ist Ihr Wagen?«

»Mein Bruder hat ihn mitgenommen, er wollte so viel Verpflegung wie möglich mitbringen«, sagte sie.

»Wie weit ist es bis dahin, zu diesem Ort?«, fragte Jo.

»Ungefähr zehn Kilometer«, antwortete Mona. »Einfach nur die Landstraße entlang bis zum Ort.«

»Wenn Ihr Bruder seit fünf Tagen weg ist«, stand für Mike fest, »würde ich mir nicht mehr allzu viele Hoffnungen machen.«

Mona schwieg. Sie hatte es schon befürchtet und sie überkam ein Gefühl der Traurigkeit.

»Vielleicht lebt er noch und kommt da nur nicht weg wegen den Streunern?«, meinte Jo.

»Vielleicht. Darüber reden wir morgen. Du übernimmst die erste Wache«, ordnete Mike an. »Weck mich gegen Mitternacht.«

Jo nickte. Mike lockerte Monas Fesseln ein wenig. »Legen Sie sich aufs Sofa und versuchen Sie, zu schlafen. Morgen bei Sonnenaufgang gehen wir los.«

»Wohin?«, fragte Mona.

»Das werden wir dann entscheiden«, sagte Mike, legte sich auf den Boden, schob sich ein Kopfkissen vom Sofa unter den Kopf und schlief rasch ein.

Währenddessen stand Micki wieder Wache beim Klostertor, als Taina sich zu ihr gesellte, um sie zu beruhigen.

»Es wird schon alles gut werden, die kommen zurück«, war sich Taina sicher. Micki nickte nur und eine Träne lief ihre Wange hinunter.

»Sie haben sich verspätet und übernachten irgendwo, gleich morgen früh sind sie wieder da. Du wirst schon sehen«, fügte Taina hinzu. »Und jetzt geh ein bisschen schlafen, ich übernehme die Nachtwache.«

Im Haupthaus des Klosters sprach Leon mit Paul. Letzterer wollte sich gleich morgens bei Sonnenaufgang auf die Suche nach den drei Verschollenen machen, doch Leon war dagegen. »Paul, wir haben nicht viele Wehrfähige unter uns. Wenn euch was passiert, sind wir hier aufgeschmissen.«

»Das werden wir auch sein, wenn die drei nicht zurückkehren, also spielt es keine Rolle.«

»Für uns hier spielt es eine Rolle. Wenn wenigstens du hier bist, gibt uns das ein Gefühl der Sicherheit. Ich bin mir sicher, dass sie morgen wieder hier auftauchen. Sie haben es noch immer zurückgeschafft. Und du solltest nicht alleine rausgehen, Mike mag das nicht.«

Paul nickte und wusste, dass Leon recht hatte. Er setzte sich wieder hin und säuberte und ölte die Schrotflinte, die Jo ihm mitgebracht hatte.

Die Sonne ging auf. Mike saß am Fenster und beobachtete gedankenverloren die Gegend. Wieder waren ein paar Streuner zum Anwesen gelangt und schlurften draußen herum. »War was los?«, fragte Jo, der gerade wach wurde.

»Nein«, antwortete Mike und rieb sich mit seinen Händen durchs Gesicht. Mona wurde auch wach und beklagte sich sogleich über die Fesseln. Mike band sie los und warnte sie, keine Dummheiten zu begehen. Jo ging zu seinem Rucksack und holte drei Dosen eingemachter Birnen zum Frühstück.

»Wir gehen zurück zu unserem Camp. Sie können sich uns anschließen oder Sie bleiben hier, wie Sie wollen«, schlug Mike ihr vor, während er die Birnenhälften aus seiner Dose verschlang und den Saft trank.

Mona überlegte nicht lange. »Nein, ich werde meinen Bruder suchen gehen.«

Mike zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Dann sterben Sie. Alleine da draußen haben Sie keine Chance, schon gar nicht mit einer ungeladenen Waffe.«

»Wir könnten Sie begleiten, Mike«, wandte Jo ein. »Wenn es da genug Verpflegung gibt und wir ein Auto finden, könnten wir heute Abend wieder zurück im Lager sein.«

»Wenn ihr mir helft, meinen Bruder zu finden, werden wir euch helfen, die ganzen Vorräte zu eurem Lager zu bringen«, schlug Mona vor. »Wir würden uns euch auch anschließen.«

»Wenn wir ihn überhaupt finden«, entgegnete Mike skeptisch und überlegte kurz.

»Was haben wir zu verlieren?«, meinte Jo achselzuckend. »Ein paar Konserven mehr im Sack können nicht schaden.«

»Also gut. Machen wir uns auf den Weg, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Mike gab Mona ein Messer. Dann verließen sie das Haus auf der Rückseite, denn dort waren keine Streuner zu sehen, und entfernten sich vom Bauernhof. Unterwegs gab Jo Mona Tipps. »Wenn Streuner auf dich zukommen, musst du sie in den Kopf stechen, nur das tötet sie.«

Mona nickte bestätigend. »Ich weiß, ich habe ein paar töten müssen.«

»Warum kam dein Bruder überhaupt auf die Idee, die Streuner in der Scheune gefangen zu halten?«

»Er kannte sie, als sie noch lebten. Er brachte es nicht übers Herz, seine Freunde zu töten.«

Gegen Mittag erreichten sie den Ort, von dem Mona gesprochen hatte. Mike nahm sein Fernglas raus und überprüfte die Gegend. Es war einmal ein mittelgroßer Ort gewesen. Drei Straßen führten in den Ort und mündeten an ihrem gemeinsamen Kreuzpunkt in einen Kreisverkehr. Dort befand sich der Supermarkt. Bis dorthin war es nicht allzu weit, nur ein paar hundert Meter, schätzte Mike.

»Für meinen Geschmack laufen auf der Straße zu viele Streuner umher. Aber wenn wir hinter den Häusern entlang schleichen, könnten wir es unbemerkt bis ins Zentrum schaffen, wo sich dieser Supermarkt befindet.«

Sie machten sich auf den Weg und erreichten, ohne großes Aufsehen bei den Untoten zu erregen, das Zentrum des Ortes und schlichen sich zum Hinterhof des Supermarktes. Mona zeigte auf einen Hintereingang.

»Dort, da sind wir rein. Die Tür ist mit Brettern blockiert, damit die Toten nicht rein können.«

Sie stiegen über einen flachen, verrosteten Zaun und gingen langsam auf die Tür zu, als Mona plötzlich erschrak. Im Seitenweg neben dem Supermarkt hatte sie den Geländewagen ihres Bruders erkannt.

»Ben«, sagte sie und lief dahin.

»Warte«, sagte Mike leise, doch zu spät. Mona rannte los und die beiden hechteten ihr hinterher.

»Mona, warte!«, rief Jo ihr zu. Streuner auf der Hauptstraße hatten sie gehört und bewegten sich nun auf den Seitenweg zu. Mona erreichte den Wagen. Sie wollte das leere Fahrzeug öffnen, doch es war verschlossen. Streuner hatten sich auf ein paar Meter genähert, ohne dass ihr dies aufgefallen war. Mike zog sein Messer und Jo die Pistole. Er drückte viermal ab und erledigte drei Streuner, die nur noch knapp zwei Meter von Mona entfernt waren. Mike erreichte Mona, schob sie hastig weg und stach einem Untoten tief ins linke Auge. Von der Straße her kam noch ein halbes Dutzend in ihre Richtung.

»Weg hier«, sagte Mike, nachdem er die gefährliche Situation erkannt hatte, nahm Mona am Arm und zerrte sie zum Hintereingang. Jo folgte ihnen und gab Rückendeckung. Mike entfernte die Bretter, die den Eingang sicherten und die drei quetschten sich durch das kaputte Türfenster hinein. Dann blockierte er den Eingang wieder, während Jo mit erhobener Pistole vorsichtig den Flur entlangging. Sie erreichten im Halbdunkel den Eingang zum Geschäftsbereich und Jo öffnete langsam die leicht quietschende Tür. Als sich nichts rührte, klopfte er ein paarmal mit der Pistole an die Tür, doch außer den Geräuschen der Streuner von draußen war nichts zu hören. Es sah hier so aus, als ob schon jemand geplündert hätte. Die Regale waren staubig und fast leer. Nur noch unnützes Zeug lag herum, es war dreckig und roch nach Tod. Die drei schlichen an den Regalen entlang zur Fleischtheke.

»Ben«, sagte Mona mit weit aufgerissenen Augen, sackte zusammen und wurde ohnmächtig. Jo konnte sie gerade noch auffangen. Er und Mike sahen sich entgeistert an und ihnen lief der kalte Schauer den Rücken hinunter. Ihnen bot sich ein entsetzlicher Anblick. In der Theke lagen drei abgetrennte Köpfe. Einem hatte man die Augen ausgestochen, doch die Lippen bewegten sich noch. Die beiden anderen sahen übel zugerichtet aus, so als wären sie zusammengeschlagen worden, ehe man den Kopf vom Körper getrennt hatte. Man hatte diese Menschen sich absichtlich verwandeln lassen. Es stank bestialisch. Einer davon war Monas Bruder Ben gewesen. Das Abartigste war jedoch ein Schild mit der Aufschrift Sonderangebot, das jemand dort angebracht hatte.

»Wer tut denn so was?«, fragte sich Jo entsetzt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mike und ihn überkam ein schreckliches Gefühl der Unsicherheit. »Wir sollten hier schleunigst verschwinden.«

Jo kümmerte sich um Mona, während Mike die Köpfe entfernte und mit dem Messer abstach. Hinter der Theke lagen die Körper der Toten, einer war in eine Polizeiuniform gekleidet.

Nach einer Weile kam Mona wieder zu sich und musste bitterlich weinen. Sie wollte ihren Bruder noch einmal sehen, doch Jo sagte ihr, dass Mike die Körper weggetragen hatte und es besser wäre, es dabei zu belassen. Mona sah Mike am beschmierten Fenster des Supermarkts stehen. Er beobachtete die Gegend aufmerksam. Als Mike merkte, dass Mona wieder zu sich gekommen war, ging er zu ihr.

»Es tut mir leid wegen deinem Bruder. Wir müssen jetzt hier weg, es ist nicht sicher hier und es gibt sowieso nichts zu holen.«

Genau in dem Moment hörten sie ein knatterndes Geräusch und draußen fuhren drei Motorräder in die Seitenpassage, in der auch der Wagen von Monas Bruder stand. Sie hörten die Männer sprechen und lachen, während ein paar Schüsse zu vernehmen waren. Dann war wieder Ruhe.