Die Zahl - Daniela Larcher - E-Book
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Die Zahl E-Book

Daniela Larcher

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Beschreibung

Er ist auf der Suche nach Ruhe – und stößt auf eine Leiche Die Kirchenglocken bleiben an diesem 12. Dezember stumm, als hinter dem Gotteshaus der kleinen österreichischen Gemeinde Landau die Leiche eines Mannes aufgefunden wird. Der Tote hängt kopfüber an einem Baugerüst, die Zahl 12 wurde in blutigen Ziffern in seine Stirn geritzt. Eigentlich hat Otto Morell Wien gerade erst den Rücken gekehrt, um eine Pause von abgründigen Gewaltverbrechen zu bekommen – doch nun steht er bereits vor seinem ersten blutigen Rätsel: Verbirgt sich unter den Bewohnern des beschaulichen Landau ein brutaler Mörder? Gemeinsam mit der Gerichtsmedizinerin Nina Capelli und Leander Lorentz, einem Freund des Toten, beginnt Morell im Dorf zu ermitteln – und stößt auf dunkle Abgründe, die schon bald das nächste Todesopfer fordern … »Ein spannender Fall für Chefinspektor Otto Morell in einer wahrlich gruseligen Umgebung.« Stadtanzeiger Bad Dürkheim Der packende erste Band der österreichischen Krimireihe von Bestsellerautorin Daniela Larcher, besser bekannt als Alex Beer. Zu Band 2, »Zu Grabe«: Als ein angesehener Professor der Wiener Rudolphina-Universität ermordet wird, muss Morell ermitteln, um die Unschuld eines Freundes zu beweisen … Alle Bände der Reihe: Band 1: Die Zahl Band 2: Zu Grabe Band 3: Neumond Band 3: Teures Schweigen Die Bände sind unabhängig voneinander lesbar.

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Seitenzahl: 548

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Die Kirchenglocken bleiben an diesem 12. Dezember stumm, als hinter dem Gotteshaus der kleinen österreichischen Gemeinde Landau die Leiche eines Mannes aufgefunden wird. Der Tote hängt kopfüber an einem Baugerüst, die Zahl 12 wurde in blutigen Ziffern in seine Stirn geritzt. Eigentlich hat Otto Morell Wien gerade erst den Rücken gekehrt, um eine Pause von abgründigen Gewaltverbrechen zu bekommen – doch nun steht er bereits vor seinem ersten Rätsel: Verbirgt sich unter den Bewohnern des beschaulichen Landau ein brutaler Mörder? Gemeinsam mit der Gerichtsmedizinerin Nina Capelli und Leander Lorentz, einem Freund des Toten, beginnt Morell im Dorf zu ermitteln – und stößt auf dunkle Abgründe, die schon bald das nächste Todesopfer fordern …

eBook-Neuausgabe Dezember 2025

Dies ist eine Neuausgabe des bereits im Fischer Taschenbuch Verlag erschienenen Titels »Die Zahl«.

Copyright © der Originalausgabe 2008 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Stefan Hilden, hildendesign.de © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mk)

 

ISBN 978-3-69076-598-5

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Daniela Larcher

Die Zahl

Kriminalroman

 

Die Zahl ist das Wesen aller Dinge

Pythagoras, griechischer Philosoph und Mathematiker

Kapitel 1

 

»Als drauf vom Ermorden die Hand’ ihm starreten, wählt’ er annoch zwölf lebende Jüngling’ im Strome; Abzubüßen den Tod des Menötiaden Patroklos.«

Homer, Ilias

 

Er stinkt! Oder sollte ich besser sagen sie – die Leiche? Oder ist das, was von Josef Anders übrig ist, nämlich ein ekliger, stinkender Haufen Fleisch, Fett und Haut, nicht mehr menschlich, nicht mehr personifizierbar, nicht mehr wert einen Namen zu tragen und daher schlichtweg ein Es? Ja, ich glaube, das trifft es am ehesten. Er war sein ganzes Leben lang nicht viel mehr als das. Ein Ding, ein Tier, ein Etwas.

Es ist so schrecklich widerlich! Der fette, von der Verwesung aufgequollene Leib ist voller Blasen. Jedes Mal, wenn ich den Körper bewege, platzen einige von ihnen auf und lassen ihren ranzigen, gelblich-grünen Inhalt in dünnen Rinnsalen auslaufen. Kleine stinkende Bäche ergießen sich über die faulige, von einem lilafarbenen Aderngeflecht durchzogene Haut. Ich möchte kotzen!

Sein Innerstes dringt nach außen und offenbart das wahre Ich von Josef Maximilian Anders. Hier und jetzt kann er endlich er selbst sein. Der richtige, der echte Josef zeigt sich mir, rinnt aus seiner Hülle, seiner Fassade heraus. Genauso war sein Leben: geplatzte Träume, die nichts hinterließen als ekligen Schleim, Gestank und einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge.

Es war eine Wohltat, ihn von seinem Siechtum zu erlösen, ihn zu befreien von dem Elend seines kranken Lebens, für das es keine Heilung mehr gab. Sein Todesurteil war schon vor langer Zeit gefällt worden, noch bevor ich den Entschluss fasste, ihn zu töten.

Wenn ich meine Augen schließe, kann ich ihn direkt vor mir sehen – wie er am Boden lag und schrie, heulte und flehte. Verzweifelt versuchte er, sein Leben zu retten, bettelte auf Knien, winselte und wand sich wie ein Wurm. Ja, so kam er endlich zum Vorschein – der wahre Josef. Nichts war mehr übrig von dem angesehenen, erfolgreichen Geschäftsmann. Vorbei war es mit dem süffisanten Lächeln, dem eleganten Auftreten und dem Schein, alles im Griff zu haben.

Der gute alte Joe! Wie ein Schwein hat er gequiekt, als mein Messer in ihn eindrang. Diese Drecksau! Geschlachtet zu werden, war der einzige Tod, der zu ihm passte!

 

Wenn doch nur dieser Gestank nicht wäre. Es scheint mir, als würde sein Todesgeruch versuchen, überall in mich einzudringen. So als würde Josefs Körper, in einem letzten, verzweifelten Versuch einen Teil von sich zu retten, probieren, sich mit dem meinen zu vermengen. So als würde er versuchen, ein Konglomerat aus Körperlichkeit herzustellen – Urin, Kot, Blut, Sperma, Schweiß und Speichel.

Heute ist der perfekte Tag für die Offenbarung. Es war gut, so lange abzuwarten. Hoffentlich werden die dummen Ignoranten da draußen dieses Mal endlich ihre Augen öffnen und verstehen. Sie müssen es endlich begreifen. Sie müssen das Zeichen richtig deuten. Es ist ihre einzige Chance!

 

Es ist schwierig, die Reste von Josef zu transportieren. Seit die Leichenstarre nachgelassen hat, ist sein Körper so schlaff und schwer wie ein nasser Sack. Sein Penis hängt klein und verschrumpelt zwischen seinen feisten Schenkeln. Na, Joe? Wo ist sie jetzt, deine vielgepriesene Männlichkeit?

Josef war schon immer ein Koloss, doch der Tod, so scheint es, hat die gesamte Last seines Lebens tausendfach auf ihm abgelegt, anstatt sie von ihm zu nehmen.

Dieser widerliche, teigige Haufen ist alles, was von Josef geblieben ist, und bald wird es nicht einmal mehr das sein. Nachdem sich die Würmer und Maden mit seinem übelriechenden Fleisch ihre Bäuche vollgeschlagen haben, wird nichts mehr von ihm übrig sein außer ein paar schmutzigen Knochen.

Ich schleppe, ziehe, schiebe und stoße den geschundenen Leib. Ächze, stöhne und schwitze unter seinem Gewicht. Ich frage mich, was schlimmer ist, die Schändung eines Toten oder die Schande eines Lebenden?

Gleich ist es so weit. Gleich werde ich sie los sein, die stinkende, tropfende Masse, die früher einmal Josef Anders war. Endlich werde ich frei von dieser Bürde sein. Ich kriege kaum mehr Luft. Ist es die Anstrengung? Der beißende Geruch? Oder doch die Angst, dass mein Plan schiefgehen könnte?

Ich darf nicht scheitern! Nichts darf fehlschlagen! Alles muss klappen! Es ist der richtige Zeitpunkt, und vor allem ist es die einzige Möglichkeit, die Menschen da draußen zu retten.

Gleich habe ich es geschafft. Gleich bin ich befreit. Ich wünschte, es wäre schon vorbei.

 

Doch dabei fängt es jetzt erst richtig an!

Kapitel 2

 

»Nun hilft Euch nur noch eine Zwölf, oder Eure Kirche bekommt nie wieder einen Turm.«

Wie Greifenhain zu zwei Kirchtürmen kam, Deutsche Sage

 

Sie stank! Jedes Mal, wenn sie auftauchte, hinterließ sie einen undefinierbaren Mief aus Haarspray, Parfüm, Klebstoff und Bratenfett. Sie, das war Agnes Schubert, 42 Jahre alt, vollbusige Dauerwellenträgerin, begeisterte Köchin, von Beruf Handarbeitslehrerin, ehrenamtlich als Küsterin tätig und sehr zu ihrem Leidwesen immer noch unverheiratet.

Ständig versuchte sie Otto Morell, 40 Jahre alt, Junggeselle und seines Zeichens Chefinspektor bei der Polizei von Landau, davon zu überzeugen, dass sie die perfekte Frau für ihn wäre. Morell war in ihren Augen ein richtiges Prachtexemplar von einem Mann. 1,95m groß mit sehr viel Klasse und mindestens genauso viel Masse. Leider, das musste Morell sich selbst eingestehen, basierte seine enorme Körperfülle nicht auf Muskeln, sondern eher auf Fettpolstern. Genau das war es aber, was Agnes Schubert besonders ansprach. Der leidenschaftliche Hobbykoch und passionierte Gärtner war in ihren Augen ein kuscheliger Brummbär, der dringend eingefangen werden musste. Zu ihrer Idealvorstellung passte auch sein volles braunes Haar, das, wie bei einem richtigen Bären, nicht nur am Kopf, sondern so gut wie überall auf seinem Körper spross. Seine beherrschte Art und seine innere Ruhe waren das Tüpfelchen auf dem i. Manch anderer hätte Chefinspektor Morell als trägen Phlegmatiker, fetten Langweiler oder lahme Schlaftablette beschrieben. Agnes Schubert aber fand ihn schlicht und ergreifend einfach nur sexy.

Sie tauchte ungefähr einmal pro Woche unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden in Morells Büro auf. Ein komisch dreinblickender Landstreicher, ein paar Jugendliche, die zu schnell mit ihren Mopeds unterwegs waren, oder eine verschwundene Katze. Irgendeinen Grund fand sie immer, um bei ihm auf der Bildfläche zu erscheinen und ihr pralles Dekolleté in Szene zu setzen. Letzten Dienstag war es ein viel zu schnelles Auto mit einem fremden Kennzeichen gewesen – wobei in Landau, einem kleinen 5000-Einwohner-Kaff in den Tiroler Alpen, alles als fremd galt, das mehr als zehn Kilometer von der Ortsgrenze entfernt lag.

Bisher hatte Chefinspektor Morell, höflich und friedliebend, wie er nun einmal war, alles über sich ergehen lassen. Agnes Schuberts ständige Besuche in seinem Büro sowie ihre dummen Vorwände und plumpen Versuche, einen Flirt mit ihm zu starten. Aber hier und jetzt ging sie zu weit! Es war Sonntagmorgen, eigentlich fast noch Sonntagnacht – nicht einmal halb sieben. Aber was noch viel wichtiger war – das hier war nicht sein Amtszimmer, das hier war sein Haus, sein eigenes, privates, ganz persönliches Reich.

Otto Morell war noch nicht ganz wach, immerhin hatte Frau Schubert ihn mit ihrem Läuten und Klopfen aus seinem wohlverdienten Schlaf gerissen. Es dauerte darum einige Momente, bis er realisierte, dass anscheinend irgendetwas passiert sein musste. Agnes Schubert war ungeschminkt, und die sonst so sorgfältig zurechtgemachten Haare hingen ihr fransig ins Gesicht.

Morell bemerkte erst beim zweiten Hinsehen, dass Bröckchen von Erbrochenem in ihren Haarsträhnen klebten. Sie keuchte und rang nach Luft. Anscheinend war sie schnell gerannt. Sie versuchte etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

Morell wusste nicht genau, was er von der Situation halten sollte. Entweder war etwas Schreckliches geschehen oder es war ein neuer Trick von ihr, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Beide Möglichkeiten sagten ihm nicht besonders zu.

Er zögerte kurz, beschloss dann aber, seiner Rolle als Freund und Helfer gerecht zu werden und trat einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie herein, Frau Schubert, ich mache Ihnen einen Tee und dann erzählen Sie mir in aller Ruhe, was los ist.« Er wartete, bis Agnes Schubert eingetreten war, und schloss die Tür hinter ihr. Innerlich nahm er sich fest vor, dass er ihr endlich einmal ordentlich die Meinung sagen würde, sollte sich herausstellen, dass dies nur einer ihrer Vorwände war, um sich an ihn ranzumachen.

»Folgen Sie mir«, sagte er und begann gemächlich die imposante Treppe hochzusteigen, die in den ersten Stock führte. Das große, zweistöckige Haus mit der strahlend weißen Fassade und den Blumenkästen vor den Fenstern hatte Otto Morell von seinen Eltern geerbt, und es gab niemanden, mit dem er das Haus hätte teilen müssen.

Die alten Holzstufen knarrten unter dem Gewicht des Polizisten. Oben angelangt wartete Morell vor der Küche auf Frau Schubert, die die Treppe noch langsamer hinaufgegangen war als er. »Da sind wir schon«, sagte er und schielte wehmütig zu der Tür, hinter der sich sein Schlafzimmer befand. Wie gerne hätte er noch eine Stunde oder zwei in seinem großen, weichen Bett verbracht.

Das Keuchen seines ungebetenen Gastes holte Morell in die Realität zurück und ließ seinen Blick wieder in die Küche wandern. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »aber ich war nicht auf Besuch eingestellt – ich werde Ihnen Platz machen.« Um einen großen Esstisch aus hellem Kiefernholz herum standen vier Stühle. Drei davon waren mit Kochbüchern und Küchenutensilien vollgeräumt, auf dem vierten lag Fred, der Kater des Inspektors, der, was das Thema Fettleibigkeit betraf, ganz nach seinem Besitzer kam.

Während Morell noch versuchte einen Stuhl freizuräumen, setzte sich Agnes Schubert einfach auf den Boden.

»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar«, sagte sie und wischte sich ein paar schmutzige Strähnen aus dem Gesicht. Sie sagte ständig »Herr Kommissar« zu ihm, was schlicht und ergreifend falsch war. Es gab die Bezeichnung »Kommissar« bei der österreichischen Polizei überhaupt nicht, was für Frau Schubert, die anscheinend zu viele schlechte Krimis gelesen hatte, aber kein Hindernis darstellte, ihn trotzdem so zu nennen. Irgendwann hatte Morell es aufgegeben, sie zu korrigieren.

Agnes Schubert blickte zu dem massigen Mann hoch, der vor ihr stand, und holte tief Luft. Morell wartete darauf, dass sie etwas sagte, aber sie schwieg.

»Sieht so aus, als hätte sich Ihr Frühstück wieder von Ihnen verabschiedet«, versuchte Morell ziemlich unbeholfen das Schweigen zu brechen. »Ich kann Ihnen einen Toast machen, wenn Sie wollen.«

Frau Schubert verzog ihr Gesicht zu etwas, das Morell als Lächeln interpretierte. Anscheinend war seine Deutung aber falsch, denn das Häuflein Elend, das da mitten in seiner Küche auf dem Boden saß, begann zu schluchzen. Das Geräusch, das sie dabei von sich gab, klang wie ein leises Röcheln. Es erinnerte ihn an Fred, der oft versuchte, die Haare, die er beim Putzen seines Fells verschluckt hatte, wieder hochzuwürgen. Chefinspektor Otto Morell stand angesichts des heulenden Quälgeistes ratlos vor dem Toaster. Er war noch nie sehr gut im Umgang mit Frauen gewesen. Da er nicht wusste, was er sagen sollte, sagte er einfach nichts und wartete.

»Sie müssen zur Kirche kommen!«, stammelte Frau Schubert, als sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. »Am besten jetzt gleich.« Sie versuchte aufzustehen. Morell streckte seine Hand aus, um ihr dabei zu helfen. Als er merkte, wie sehr sie zitterte, verspürte er das erste Mal an diesem Morgen ernsthafte Besorgnis.

Wenn er später an diesen unheilvollen Tag zurückdachte, war es nicht das Sturmläuten von Agnes Schubert und auch nicht das Erbrochene in ihren Haaren, sondern es war ihre zitternde Hand, an die er sich zuerst erinnerte.

Vor einigen Jahren hatte Agnes Schubert die Stelle als Küsterin in der Pfarrgemeinde St. Peter und Paul angenommen, weil sie verliebt in den neuen Kaplan gewesen war. Zwar scheiterten all ihre Versuche, den Gottesmann von den Freuden eines weltlichen Lebens zu überzeugen, aber sie behielt den Posten trotzdem. Die Vorteile, die man als rechte Hand des Gemeindepfarrers und Herrin über die Kirche hatte, waren nicht zu unterschätzen. Sie hatte Zugriff auf die Tauf-, Heirats- und Sterbebücher, konnte sich heimlich am Messwein bedienen, die Protokolle des Pfarrgemeinderates lesen, und hie und da schaffte sie es, unter dem Vorwand, die alten Kirchenbänke mit Möbelpolitur einzulassen, einige Wortfetzen aus dem Beichtstuhl zu erhaschen. Nicht umsonst war Agnes Schubert als eine zuverlässige Quelle des Dorfklatsches bekannt.

»Was ist denn in der Kirche?«, fragte Morell.

»Nicht in der Kirche«, antwortete Frau Schubert. »Hinter der Kirche. Am Baugerüst.« Sie holte tief Luft. »Können wir jetzt gehen?«, flüsterte sie.

»Das beantwortet meine Frage nicht«, hakte Morell nach. »Was ist denn nun hinter der Kirche?«

»Das Grauen!« Frau Schuberts Stimme überschlug sich und brach. »Ich ... ich kann und will es nicht beschreiben. Sie müssen es selbst sehen!«

Morell versuchte, das flaue Gefühl, das sich in seinem Magen breitmachte, zu unterdrücken, indem er sich ins Bewusstsein rief, dass Agnes Schubert schon immer einen Hang zur Dramatik hatte und gerne übertrieb. Letztes Jahr im Sommer hatte ein armer, alter Landstreicher in ihrem Geräteschuppen Schutz vor einem Gewitter gesucht. Agnes Schubert hatte im Polizeirevier angerufen und sich aufgeführt, als würde ein psychopathischer Serienvergewaltiger mit gezücktem Messer in ihrem Garten lauern und nur darauf warten, sie in die Finger zu bekommen.

»Können wir jetzt bitte gehen?«, flüsterte sie noch einmal. Agnes Schubert wollte freiwillig den Bau ihrer Beute verlassen – das konnte nichts Gutes bedeuten.

Chefinspektor Morell nickte. »Geben Sie mir eine Minute. Ich ziehe mir nur was Warmes an.« Er verließ die Küche und ging in den Flur. Dort blieb er stehen, überlegte kurz, griff dann zum Telefon und wählte die Nummer seines Stellvertreters, Inspektor Robert Bender. Er ließ es klingeln. Wieder und wieder.

»Bender«, meldete sich endlich eine Stimme, die nicht sehr erfreut über den frühen Anruf zu sein schien.

»Robert, hier Morell. Kann sein, dass ich dich brauche.«

»Okay«, Bender überlegte, ob sein Vorgesetzter ihn bisher jemals gebraucht hatte.

»Irgendetwas ist hinter der Kirche passiert. Die Schubert hat mich grad völlig hysterisch aus dem Bett geklingelt. Keine Ahnung, was los ist. Aber was auch immer es ist, es hat sie ziemlich aus der Bahn geworfen.«

»Okay.« Bender war alles andere als wach.

»Ich werde jetzt dahinfahren«, sagte Morell. »Wir treffen uns in zehn Minuten bei der Kirche.«

»Okay.«

»Bis gleich«, verabschiedete sich Morell.

»Okay«, sagte Bender, aber das konnte sein Chef nicht mehr hören, da er schon aufgelegt hatte.

Morell überlegte kurz, ob er sich in seine Uniform quetschen sollte. Die dunkelblaue Mehrzweckhose und das hellblaue Uniformhemd, die bei der österreichischen Polizei zur Standardausrüstung gehörten, zwickten ihn schon lange an allen möglichen Stellen. Es war ihm aber viel zu peinlich, eine neue Uniform zu ordern. Er konnte sich nur zu gut an den Absatz aus dem Anforderungsprofil für Polizeibeamte erinnern, in dem es hieß » ... von einem Polizeibeamten wird außerdem erwartet, dass er sportlich trainiert und ausdauernd ist ...«. Morell befürchtete, dass es daher sehr wahrscheinlich gar keine Uniformen in seiner Größe gab, und sein Stolz verbot es ihm nachzufragen.

Zivilkleidung war das Einzige, was er aus seiner Zeit im Kriminaldienst wirklich vermisste.

Er beschloss, dass die besonderen Umstände es erforderten, sofort das Haus zu verlassen und daher keine Zeit mehr blieb, sich extra seine Uniform anzuziehen. Er ließ den grünen Rollkragenpulli und die graue Flanellhose an, die er sich im Halbschlaf angezogen hatte, und griff nach seiner Winterjacke und einer dicken, gestrickten Wollmütze.

 

Agnes Schubert hielt sich an Morells Arm fest, als sie gemeinsam auf den Vorplatz seines Hauses traten. Der Morgen dieses 12. Dezembers war klirrend kalt. Der kleine Ort Landau lag weiß und verschlafen unter einer Decke frischgefallenen Schnees. Morell schob seine Mütze tiefer ins Gesicht und zog die Schultern hoch. Er mochte die Stimmung, die an Wintertagen kurz vor Sonnenaufgang herrschte: Die kalte, klare Luft, in der man seinen eigenen Atem sehen konnte. Das Knirschen unter den festen Winterschuhen. Die Eisblumen an den Fensterscheiben und die Eiszapfen an der Dachrinne.

Er blickte nach oben. Es hatte offenbar die ganze Nacht über geschneit, aber jetzt war der Himmel sternenklar. Bald würde die Sonne aufgehen. Er lenkte seinen Blick wieder zu Agnes Schubert, die leise wimmernd neben ihm stand. Entweder war sie völlig durchgeknallt oder er würde gleich etwas wirklich Erschütterndes zu Gesicht bekommen. Er atmete ein und sog die eisige Luft so tief in seine Lungen, dass es wehtat.

Einige Momente später saß Morell, das kleine Häuflein Elend neben sich auf dem Beifahrersitz, in seinem Golf-Streifenwagen und fuhr zur Kirche. Eigentlich wäre es von seinem Haus bis dahin nur ein kurzer Fußmarsch von ungefähr fünf Minuten gewesen. Morell hatte aber die schlechte Angewohnheit, auch kürzeste Strecken mit dem Auto zu fahren. Er hatte sich fest vorgenommen, den Wagen im Frühling gegen ein Fahrrad zu tauschen, um ein wenig abzunehmen. Bis dahin würde es aber noch einige Zeit dauern. Im Moment war es einfach zu kalt für Freiluftsport.

Die ganze Fahrt über sagte Agnes Schubert kein Wort. Morell, der von Haus aus kein großer Redner war, schwieg ebenfalls. Irgendetwas war geschehen. Das konnte er nicht leugnen. In seinem Bauch machte sich ein komisches Gefühl breit. War es Spannung? Neugier? Oder doch eher Furcht? Aber wovor? Dass diese Sache, die Agnes Schubert als »das Grauen« bezeichnet hatte, ihn genauso aus der Bahn werfen würde wie sie? Er versuchte sich einzureden, dass die Frau, die da zusammengesunken neben ihm saß, einfach nur ein hysterisches Weib war, das um jeden Preis versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Aber irgendetwas lag in der Luft. Nichts Konkretes. Nur ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte. Eine Vorahnung, die ankündigte, dass in wenigen Minuten nichts mehr so sein würde wie am Tag zuvor.

Morell parkte seinen Wagen vor der Kirche und stellte den Motor ab. »Warten Sie hier im Auto auf mich«, sagte er zu Frau Schubert. »Ich sehe mir das mal an und komme gleich zurück. Sollte Inspektor Bender in der Zwischenzeit hier auftauchen, schicken Sie ihn bitte zu mir.« Agnes Schubert antwortete nicht, sondern ergab sich einem neuerlichen Heulkrampf.

 

Sie waren nur zu zweit im Landauer Polizeirevier. Chefinspektor Otto Morell und der 26-jährige Inspektor Robert Bender, der vor zwei Jahren seine Ausbildung zum Polizeibeamten beendet hatte und seitdem Morells Assistent und Stellvertreter war. Bender, der regelmäßig im Fitnesscenter trainierte, war alles andere als ein dünner Zwerg, aber neben der imposanten Statur seines Vorgesetzten fühlte er sich klein und schmächtig. Wenn er sich hinter Morell stellte, war er so gut wie unsichtbar. Was Bender außerdem zu schaffen machte, war die Tatsache, dass er viel jünger aussah, als er tatsächlich war. Vor kurzem hatte er sich, in der Hoffnung, dadurch optisch ein paar Jahre dazuzugewinnen, seine blonden Haare raspelkurz schneiden lassen. Zwar ließ ihn seine neue Frisur tatsächlich ein wenig älter wirken, aber sobald Morell auf der Bildfläche erschien, fühlte er sich wieder wie ein kleiner Junge. Bender wusste oft nicht, was er von Morell halten sollte. Er empfand viel Respekt und Bewunderung für seinen Chef, aber manchmal, wenn Morell schon nach einigen Metern zu Fuß keuchte und schwitzte, fand er ihn furchtbar peinlich.

Die Kriminalität in der kleinen Gemeinde Landau war, abgesehen von ein paar Geschwindigkeitsübertretungen, ein bisschen Randale am Dorffest und ein paar Halbwüchsigen, die manchmal Marihuana rauchten, gleich null. Das kleine Drei-Zellen-Gefängnis des Ortes stand so gut wie immer leer.

Morell war in der Polizeiakademie stets einer der Besten gewesen. Nach sechs Jahren Dienstzeit entschied er sich für eine weiterführende Ausbildung bei der Kriminalpolizei in Wien. Mit etwas mehr Sport und ein bisschen weniger Appetit hätte er eine steile Karriere vor sich gehabt. Für sein zartes Gemüt waren der anstrengende Alltag und die schrecklichen Dinge, mit denen er als Kriminalbeamter konfrontiert wurde, jedoch zu hart. Also beschloss er nach dem Tod seiner Eltern, die Karriere an den Nagel zu hängen, das Haus zu übernehmen und in seinem Heimatdorf Landau ein gemütliches Beamtendasein zu führen. Durch sein stattliches Auftreten und seine imposante Gestalt vermittelte Morell so viel Autorität, dass er so gut wie nie laut werden musste. Er genoss den Respekt der Einwohner. Er mochte seine Arbeit. So etwas wie heute war ihm hier noch nie passiert – zum ersten Mal in seiner Zeit als Polizist in Landau fürchtete er sich.

 

Die Kirche St. Peter und Paul stand am oberen Ende des Ortskerns. Vor dem alten Bauwerk, das Mitte des 19. Jahrhunderts im neuromanischen Stil umgestaltet wurde, befand sich der große Marktplatz, auf dem viele Dorffeste und ein wöchentlicher Bauernmarkt stattfanden. Von hier aus konnte man das Gotteshaus durch das große Hauptportal betreten. Seitlich um das Gebäude herum erstreckte sich der Friedhof des Ortes, der von einer steinernen Mauer begrenzt wurde.

Morell öffnete zaghaft das große schmiedeeiserne Tor, das den Hauptzugang zum Friedhof darstellte. Außer diesem Tor gab es noch eine kleine Pforte im hinteren Teil der Anlage, die aber selten benutzt wurde.

Er ging langsam. Bei jedem Schritt knirschten der frischgefallene Schnee und die Kieselsteine, mit denen die Friedhofswege bestreut waren, unter seinen Schuhen.

Morell wusste, wo sich das Baugerüst der Restaurierungsfirma, von dem Agnes Schubert gesprochen hatte, befand. Durch das Läuten der Glocken wurde der Glockenturm regelmäßig in Schwingungen versetzt, was erhebliche Risse im Mauerwerk verursacht hatte. Das war der Grund, weshalb der Kirchturm gerade saniert wurde.

Und da war es!

Morell konnte nicht fassen, was er vor sich sah. Er glaubte erst, dass seine Augen ihm einen Streich spielten. Agnes Schubert hatte bei weitem nicht übertrieben. Das, was da vor ihm hing, als »das Grauen« zu bezeichnen, war eine totale Untertreibung. »Oh Gott!«, war alles, was Morell herausbrachte.

Der Leichnam von Josef Anders hing kopfüber an dem Baugerüst.

Irgendjemand hatte den nackten, entstellten Körper mit gespreizten Armen und Beinen an die Stahlrohre gebunden, sodass er einem überdimensionalen X glich. Der Leib des Toten war grünlich verfärbt und aufgequollen. Durch den Fäulnisprozess hatten sich Teile der Haut abgelöst und hingen jetzt in Fetzen herab. Darunter kam fauliges Muskelgewebe zum Vorschein.

Sosehr Morell es auch versuchte, er konnte nicht wegsehen. Seine Augen starrten wie gebannt auf die schrecklich zugerichtete Leiche. Noch nie in seinem ganzen Leben, auch nicht in den Lehrbüchern der Polizeiakademie oder seiner kurzen Karriere bei der Kriminalpolizei, hatte er so etwas Entsetzliches und Albtraumhaftes gesehen. Das, was früher einmal Josef Anders gewesen war, hatte nichts Menschliches mehr an sich.

Die Zunge des Toten hing aus dem offenen Mund heraus, sodass sein Gesicht zu einer grausigen Fratze entstellt wurde. Überall konnte Morell Einstiche an dem geschundenen Körper sehen.

Als Morells Blick auf die weit aufgerissenen Augen des Toten fiel, war es aus mit seiner Beherrschung. Sein Herz hämmerte, er sank auf die Knie, ihm war übel und schwindelig und er befürchtete, dass er das Bewusstsein verlieren würde.

Morell übergab sich nur wenige Zentimeter von der Stelle entfernt, an der auch Agnes Schubert sich vor ungefähr einer halben Stunde übergeben hatte.

»Chef?«, es war Benders Stimme. »Alles in Ordnung?« Im selben Moment, als er die Frage stellte, sah er die entstellte Leiche, und die Antwort erübrigte sich. Inspektor Robert Bender war der Dritte, der an diesem Sonntagmorgen auf dem kleinen Friedhof von Landau seinen Mageninhalt wieder von sich gab.

Morell wusste, dass er irgendetwas unternehmen musste. Aber was? Dass der völlig bestürzte Bender, der sich verzweifelt an einem großen Marmorgrabstein festhielt, nun auch noch in Tränen ausbrach, machte die Situation nur noch schlimmer. »Das ist doch nicht wahr! Das kann nicht sein! Nicht bei uns! Nicht in Landau!«, stammelte Bender und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über den Mund.

»Anscheinend schon«, entgegnete Morell, der sich wieder etwas gefasst hatte. »Hol Frau Schubert aus dem Auto, und bring sie in die Sakristei. Sie soll dort warten. Lass dir anschließend die Schlüssel für die beiden Friedhofstore geben und sperr sie ab. Ich werde in der Zwischenzeit entscheiden, was zu tun ist.«

Bender schwankte in Richtung Parkplatz, dankbar, dass er dem grotesk zur Schau gestellten Leichnam endlich den Rücken zukehren konnte.

Morell dachte nach, versuchte sich das Lehrbuch aus seiner Ausbildung zum Polizisten vor Augen zu führen. Es war so verdammt lange her. Ein anderes Leben. Der harte, oft grausame Polizeialltag, dem er entkommen wollte, hatte ihn wieder eingeholt. Die Zeiten, in denen er sich um gestohlene Gartenzwerge kümmern konnte und heulende Hausfrauen tröstete, weil ihre Katze verschwunden war, gehörten nun wohl endgültig der Vergangenheit an.

»Als Erstes gilt es, Verletzte zu versorgen, Gefahrenquellen auszuschalten und sonstige Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren«, zitierte Morell leise. Das alles war hier wohl nicht nötig. Als Nächstes galt es, Spuren und Informationen zu sichern.

Als Bender zurückkam, schien es so, als hätte er sich wieder ein wenig gefangen. Trotzdem vermied er es tunlichst, den Leichnam anzusehen.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, fragte er.

»Ich werde damit beginnen, hier draußen die Spuren zu sichern«, antwortete Morell. »Wie geht es Frau Schubert? Ist sie vernehmungsfähig?«

»Ich denke schon«, meinte Bender. »Ich glaube, sie hat sich ein wenig beruhigt.«

»Gut. Lass dir von ihr genau erzählen, was sie gesehen hat, und bring ihre Aussage zu Protokoll. Veranlasse, dass die Acht-Uhr-Messe abgesagt wird. Sobald das erledigt ist, meldest du dich wieder bei mir!«

Bender nickte. »Chef?«, flüsterte er und schaute auf den Boden. »Das da ist Joe Anders, nicht wahr?« Er scharrte mit seinen Schuhspitzen im Schnee.

»Ja, Robert. Ich glaube schon.« Morell sagte nichts mehr, sondern starrte ins Leere. Er kannte Josef Anders. Sie waren in dieselbe Schule gegangen. Morell war nur wenige Jahre älter gewesen. Außerdem verhielt es sich in Landau so wie in jedem kleinen Ort: Jeder kannte jeden. Man traf sich beim Einkaufen, auf dem Markt oder am Abend im Wirtshaus. Morell hatte keine Ahnung, wie er das hier Josefs Familie beibringen sollte.

»Die Ursprünglichkeit des Tatorts ist so weit wie möglich zu erhalten«, zitierte er weiter aus dem Handbuch der Polizeiarbeit. So weit so gut. Bender hatte die Zugänge zum Friedhof abgeriegelt.

»Offensichtliche Spuren sind gegebenenfalls auch provisorisch zu sichern«, murmelte Morell. Er sah sich um und zählte drei verschiedene Fußabdrücke. Seine eigenen, Benders und die von Agnes Schubert. Wenn der Täter Fußspuren hinterlassen hatte, so waren sie durch den starken Wind und den Schneefall der letzten Nacht zunichtegemacht worden. Morell konnte auch sonst nichts entdecken, das so aussah, als ob es irgendeinen Hinweis auf die Tat geben könnte. Er brauchte dringend Hilfe!

Er zog sein Handy aus der Jackentasche und musste feststellen, dass er keine Ahnung hatte, wie die Nummer des Landeskriminalamtes Tirol lautete – er hatte sie noch nie gebraucht. Morell wusste, dass Bender vor ein paar Wochen, in einem Anflug akuter Langeweile, alle wichtigen Telefonnummern in die Apparate auf dem Revier eingespeichert hatte. Aber er war hier nicht in seinem gemütlichen, freundlichen Büro. Er stand hier auf dem gottverdammten Friedhof, der sich irgendwann letzte Nacht in einen gottverdammten Tatort verwandelt hatte, und fror sich seinen fetten Arsch ab. Er entschuldigte sich innerlich bei Gott fürs Fluchen und wählte 118811, die Nummer der Auskunft.

»Auskunft. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sich eine freundliche Stimme.

»Guten Morgen, verbinden Sie mich bitte mit dem Landeskriminalamt.«

»Mit welchem denn?«

Morell stutzte. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm einfiel, dass die Dame bei der Auskunft ja nicht wissen konnte, in welchem der neun Bundesländer er sich gerade aufhielt.

»Innsbruck«, sagte er.

»Das Landeskriminalamt Tirol meinen Sie also?«, fragte die Frau.

»Bin ich hier bei einem Geographiequiz oder bei der Auskunft?«, fragte Morell und bereute sofort seinen übellaunigen Ton.

»Einen kleinen Moment bitte«, sagte die Dame am anderen Ende der Leitung und klang dabei nicht mehr ganz so freundlich wie noch vor wenigen Augenblicken.

»Landeskriminalamt«, meldete sich eine Dame mit eindeutigem Tiroler Akzent nur wenige Sekunden später.

»Guten Morgen! Hier spricht Chefinspektor Otto Morell aus Landau. Hier ist ein Mord geschehen, und ich brauche dringend Unterstützung. «

»Einen Moment bitte, ich verbinde Sie weiter.«

»Hier Haug«, meldete sich nach ein paar Sekunden eine Stimme, die Morell gut kannte. Glück im Unglück. Er atmete innerlich auf. Er und Ralph Haug hatten gemeinsam die Grundausbildung absolviert und waren gute Freunde gewesen. Anschließend war Otto in Wien gelandet, während Ralph seinen Dienst in der Tiroler Landeshauptstadt verrichtete. Im Laufe der Jahre hatten sie sich ein wenig aus den Augen verloren.

»Servus Ralph, hier ist Otto. Otto Morell. Ich hoffe, du erinnerst dich noch?«

An Morells Ohr ertönte ein lautes, kehliges Lachen. »Otto, du alter Sack! Dass man von dir wieder einmal etwas hört. Wie geht es dir in deinem kleinen Kuhdorf?«

»Genau darum geht es«, Morell räusperte sich. »So wie es aussieht, habe ich hier in meinem kleinen Kuhdorf einen ziemlich brutalen Mord und benötige dringend Unterstützung. Als Erstes brauche ich Hilfe bei der Spurensicherung.«

»So eine große Sauerei?«, wollte Haug wissen.

»Nein, ganz im Gegenteil. Ich kann hier überhaupt keine Spuren ausmachen«, antwortete Morell. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass sich der Fundort im Freien befindet und das Sauwetter alle offensichtlichen Beweise zunichtegemacht hat. Der Fundort ist außerdem nicht der Tatort.«

»Woraus schließt du das?« Haug war ganz ernst geworden.

»Die Leiche ist übel zugerichtet. Multiple Stichverletzungen. Aber es ist weit und breit kein einziger Tropfen Blut zu sehen. Außerdem befindet sich der Tote bereits in einem fortgeschrittenen Verwesungsstadium. Nachdem er gestern noch nicht hier hing, muss ihn also heute Nacht jemand hierhergebracht haben.«

»Er hing?«, fragte Haug. »Er wurde erstochen und aufgehängt?«

»Ralph, ich sage dir, so etwas hast du noch nie gesehen! Das ist kein gewöhnliches Verbrechen aus Eifersucht oder Habgier. Der Mann wurde regelrecht abgeschlachtet. Heute Nacht hat ihn jemand an einem Baugerüst hinter der Kirche festgebunden – und zwar kopfüber, mit gespreizten Armen und Beinen. Es sieht so aus, als wollte der Täter die Leiche zur Schau stellen.« Ein kurzes Piepen signalisierte Morell, dass der Akku seines Handys fast leer war. »Verdammt«, fluchte er, »mein Handy geht gleich aus! Ich muss mich kurzfassen. Bis wann können deine Leute hier sein?«

»Hör zu, Otto«, begann Haug, »ich glaube dir, dass das eine wirklich schlimme Sache ist, die da passiert ist. Aber wir sind hier total knapp besetzt. Seit der Budgetkürzung letztes Jahr fehlen mir hinten und vorn die Mittel, um mehr Überstunden zu bezahlen. Und durch das Schneechaos der letzten Tage gab es viele Unfälle, und langsam macht sich bei den Menschen da draußen auch die Weihnachtsdepression breit. Ich habe hier Schlägereien, Suizide und Misshandlungen en masse auf dem Tisch.«

»Was willst du mir damit sagen, Ralph? Soll das heißen, du kannst mir niemanden schicken? Ich habe hier einen Mord, und zwar einen von der schlimmsten Sorte!«

»Otto«, seufzte Haug, »ich würde dir wirklich gerne helfen, aber ich habe im Moment einfach keine Beamten, die ich entbehren könnte. Warum brauchst du überhaupt Verstärkung? Wir wissen beide, dass du gut genug ausgebildet bist, um das selbst zu machen.«

Morell senkte den Kopf und presste die Zähne zusammen. »Ich habe mich in den letzten Jahren mit Fahrraddiebstählen und entlaufenen Katzen beschäftigt. Ich bin Polizeibeamter in Landau, Ralph. Das schlimmste Verbrechen in der Geschichte dieses Ortes war ein Banküberfall im Jahr 1985. Bitte, Ralph! Ich brauche dringend Hilfe! Kannst du nicht irgendetwas für mich tun?«

»Du bist nicht nur ein einfacher Polizeibeamter in einem kleinen Kaff, Otto. Du bist Chefinspektor. Du hast die Ausbildung zum Beamten im Kriminaldienst gemacht und auch einige Jahre Praxiserfahrung. «

Morell schwieg. Er wusste, dass Haug recht hatte. Er war natürlich in der Lage, eigenständig eine Mordermittlung durchzuführen. Ein Piepen erinnerte ihn wieder an den leeren Akku.

»Otto«, redete Haug weiter. »Ich weiß sehr wohl, dass du mit Gewaltverbrechen schon immer ein Problem hattest. Ich kann aber beim besten Willen keinen Polizisten hier abziehen, wenn vor Ort jemand ist, der die Arbeit mindestens genauso gut machen kann.«

»Schon verstanden«, sagte Morell und wollte auflegen.

»Warte!«, rief Haug. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Möglicherweise kann ich doch etwas für dich tun.«

»Bitte! Ich nehme jede Hilfe, die ich kriegen kann.«

»Ich kann dir nichts versprechen, aber Dr. Nina Capelli aus dem Rechtsmedizinischen Institut fährt heute für zwei Wochen nach Italien. Sie müsste dabei ganz in deiner Nähe vorbeikommen. Vielleicht kann sie einen kleinen Umweg machen. Sie könnte sich dein Opfer kurz ansehen, bevor es nach Innsbruck in die Gerichtsmedizin gebracht wird, und dir schon einige nützliche Hinweise geben. Capelli ist wirklich gut.«

»Das wäre sicherlich hilfreich. Bis die Ergebnisse der Autopsie vorliegen, kann es eine kleine Ewigkeit dauern. Wenn ich jetzt schon einige Hinweise zum Todeszeitpunkt und der Tatwaffe kriegen könnte, würde mir das sehr helfen.«

»Wie gesagt, ich kann dir nichts versprechen, aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Ich kenne Nina recht gut und kann sie vielleicht überreden. Schick mir auf jeden Fall deinen Bericht, ich werde ihn mir ansehen. Und halt mich auf dem Laufenden! Ich werde dich unterstützen, wo ich nur kann.«

»Danke«, sagte Morell, »ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Du, ich muss Schluss machen, der Akku. Ciao Ralph.« Er legte auf. »Also dann, an die Arbeit«, murmelte er, »es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«

 

Morell fuhr ins Polizeirevier, um dort ein paar Dinge zu holen, die er für die Spurensicherung brauchte. Anschließend machte er Fotos vom Tatort und von der Leiche und untersuchte gemeinsam mit Bender mehrere Stunden lang den Friedhof, die Kirche und deren Umgebung, konnte aber keinerlei Spuren finden. Der Schnee hatte ganze Arbeit geleistet.

Nun war der Moment gekommen, an den Morell schon die ganze Zeit mit Grauen gedacht hatte. Er und Bender mussten den Leichnam vom Gerüst herunterholen. An und für sich wäre es zwar besser gewesen, mit diesem Schritt auf die Gerichtsmedizinerin zu warten, aber Morell wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sie ankäme beziehungsweise, ob sie überhaupt kommen würde. Was er aber mit Sicherheit wusste, war, dass bald die ersten Schaulustigen ihre Nasen durch die schmiedeeisernen Stäbe des Gittertors stecken würden, und er wollte auf gar keinen Fall noch mehr Aufsehen erregen. Es reichte, dass Agnes Schubert, der personifizierte Dorfklatsch, den Toten gefunden hatte. Außerdem fühlte er sich Josef Anders und seiner Familie gegenüber verpflichtet. Niemand aus Landau sollte den Toten in dieser würdelos exponierten Haltung zu Gesicht bekommen.

Er und Bender würden den Körper ins Leichenhaus bringen, das sich auf dem Friedhofsgelände befand. In dem kleinen Gebäude wurden normalerweise Verstorbene am Tag vor der Beerdigung aufgebahrt. Dort sollte der Leichnam von Josef Anders so lange bleiben, bis er abgeholt und in die Gerichtsmedizin gebracht werden würde. Bender hatte noch Frau Schuberts Schlüsselbund und ging los, um eine Rollbahre aus der Leichenhalle zu holen. Morell zog sich währenddessen einen Mundschutz und einen Umhang aus Plastik über. Diese Utensilien hatten jahrelang im Schrank seines Büros gelegen. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, dass er sie irgendwann einmal brauchen würde.

Vorsichtig löste er die Fesseln an den Handgelenken des Leichnams und versuchte dem Toten dabei nicht in die aufgerissenen Augen zu sehen. »Was hast du denn nur angestellt, dass dir jemand so etwas antut?«, fragte Morell das Opfer leise, während er die Plastikfesseln in eine kleine Tüte steckte, diese vorsichtig verschloss und mit einer Nummer versah.

Bender war mittlerweile wieder zurückgekommen und zog sich ebenfalls Mundschutz und Umhang über. Anschließend trippelte er nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hatte immer von einem großen Fall geträumt. Hatte sich wilde Verfolgungsjagden und spektakuläre Festnahmen gewünscht, um bei den Mädchen ein wenig angeben zu können. Er konnte gar nicht mehr zählen, wie oft er sich über seinen lethargischen Vorgesetzten und den langweiligen Arbeitsalltag geärgert hatte. Heute sehnte er sich danach zurück. Er würde an seine Grenzen gehen müssen, um dieses Ding, das bis vor Kurzem noch ein Mensch gewesen war, anzufassen.

»Du musst jetzt sein Bein festhalten«, riss ihn Morell aus seinen Gedanken. »Ich werde versuchen, die Fessel vorsichtig von seinem Knöchel zu lösen.«

Bender schluckte, holte tief Luft und tat dann, was sein Chef ihm aufgetragen hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass die Leiche hartgefroren war. Kalt und steif, wie eine Eisskulptur. Sie musste schon einige Zeit hier hängen – andererseits dauerte es bei den momentanen Temperaturen sicher nicht lange, bis ein Körper einfror.

Während Bender noch seinen Gedanken nachhing, hatte Morell begonnen, den letzten Knoten zu lösen. »Jetzt!«, rief er.

Bender und Morell hievten den Körper mit vereinten Kräften auf die Bahre. Steifgefroren wie er war, blieb der Leichnam in seiner grotesken Pose. Immer noch spreizte er seine Arme und Beine weit auseinander. Bender musste unvermittelt an einen Handballtorwart denken, der versuchte, keinen Treffer zu kassieren.

»Wir haben Glück«, stellte Morell fest. »Wäre die Leiche nicht gefroren, dann würde es hier jetzt ganz übel riechen.«

»Sie meinen, die Leiche wäre dann so richtig faulig und weich?«, fragte Bender und versuchte die Bilder zu verdrängen, die sich schlagartig vor seinem inneren Auge bildeten.

»Ganz genau. Wir können wirklich froh über diese Eiseskälte sein.«

Sie schafften die sterblichen Überreste von Josef Anders in die Leichenhalle. Morell sah sich in dem kalten, weiß gefliesten Raum um, dessen einziger Wandschmuck ein schlichtes Holzkreuz war, und fand schließlich in einer kleinen Holzkommode neben der Tür ein großes Tuch. Er nahm es und ging damit zur Bahre, um den Leichnam zuzudecken. »Ich werde mein Bestes tun, um herauszufinden, wer dir das angetan hat!«, sagte er zu dem Toten. Er hob seinen Blick und traute sich das erste Mal, genauer in Josef Anders’ geschundenes Gesicht zu schauen. Und da fiel ihm etwas auf.

Irgendjemand, Morell nahm an, dass es der Mörder war, hatte etwas in Josefs Stirn geritzt. Morell trat näher an die Bahre heran und beugte sich ein wenig hach vorn. Die Schnitte waren so groß und deutlich zu erkennen, dass er sich fragte, warum er sie bisher noch nicht bemerkt hatte. Auf Josef Anders’ kalter Stirn prangte ein X gefolgt von zwei senkrechten Strichen. XII, das römische Zeichen für die Zahl Zwölf. Morell war klar, dass das sehr wahrscheinlich etwas zu bedeuten hatte. Er war aber zu müde und kaputt, um sich jetzt Gedanken darüber zu machen. Er deckte den Toten zu und verließ die Leichenhalle.

Draußen warteten Bender und Agnes Schubert auf ihn. Die Schubert hatte er völlig vergessen.

»Kann ich nach Hause gehen, Herr Kommissar, oder brauchen Sie noch etwas von mir?«, fragte sie. In der Zwischenzeit hatte sie sich das Gesicht gewaschen und die Haare zu einem Knoten zusammengebunden.

»Hat Inspektor Bender Ihre Aussage aufgenommen?«, wollte Morell wissen.

»Ich habe Ihrem Assistenten alles erzählt, was ich weiß, aber das ist leider nicht viel. Ich war heute Morgen früher hier als sonst. Ich wollte die Heizung in der Sakristei aufdrehen und nachsehen, ob das Wasser im Weihwasserbecken wieder eingefroren war. Und dann sah ich ...«, sie stockte, » ... es«, vervollständigte sie ihren Satz, »und bin sofort zu Ihnen gerannt.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Schon gut«, versuchte Morell sie zu beruhigen. »Das haben Sie genau richtig gemacht. Wenn Sie wollen, fahre ich Sie jetzt nach Hause.« Natürlich wollte sie.

Morell trug seinem Assistenten auf, im Revier auf ihn zu warten, und ging mit Frau Schubert in Richtung Auto.

»Chef!«, rief Bender hinter ihnen her. »Sie müssen noch die Angehörigen benachrichtigen.«

»Ich weiß«, sagte Morell. »Ich weiß.«

 

Als Morell kurz nach neunzehn Uhr völlig fertig nach Hause kam, war es schon finster. Er machte kein Licht an, sondern ging im Dunkeln ins Wohnzimmer und ließ sich dort auf die Couch fallen. Sein Körper sank schwer in die weichen Kissen. Er schloss die Augen, atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Was für eine verdammte Scheiße!« Zuvor hatte er sich aus der Küche eine Flasche Schnaps geholt. Er war zwar kein großer Trinker, aber hie und da, zu einem besonderen Anlass, genehmigte er sich einen kleinen Schluck. Und die Geschehnisse heute waren definitiv ein besonderer Anlass – wenn auch nicht im positiven Sinne. Morell schenkte sich ein. Er roch an der klaren Flüssigkeit und inhalierte den Duft von reifen Birnen. Dann führte er das Glas zum Mund und nahm einen großen Schluck. Der Schnaps brannte kurz in seinem Hals, dann breitete sich eine wohltuende Wärme in Morells Körper aus. Er lehnte sich zurück und schloss erneut die Augen.

Fred, der getigerte Kater, setzte sich auf den Schoß seines Besitzers. Morell zuckte kurz zusammen. »Ich werde dich auf Diät setzen müssen, Fred. Du wirst bald zu schwer, um auf meinem Schoß zu liegen.« Fred tat so, als hätte er das nicht verstanden, und begann zu schnurren. Ein angenehmes Vibrieren setzte ein. Morell legte seine Beine auf den niedrigen Couchtisch vor ihm und begann das voluminöse Tier zu streicheln. Er versenkte seine Finger tief in dem dichten, weichen Fell des Katers und versuchte die schrecklichen Bilder des heutigen Tages zu verdrängen.

Weitaus weniger schlimme Fälle als dieser hier waren der Grund gewesen, warum er sich nach Landau hatte versetzen lassen. Er dachte an die misshandelten Kinder und vergewaltigten Frauen, mit denen er zu tun gehabt hatte, dachte an das alte Ehepaar, das wegen 200 Euro und ein paar silbernen Löffeln in seiner eigenen Wohnung überfallen und halb totgeschlagen worden war. Und dann dachte er an die Todesfälle, die er bearbeitet hatte. Eifersucht, Habgier, Lust, Rache, Rassismus, Hass. Das alles waren die Gründe, warum Menschen ihre Eltern, Kinder, Ehepartner, Geschwister oder Freunde verloren. Und das waren auch die Gründe, wegen denen Morell seiner Karriere den Rücken gekehrt hatte und wieder in seinen Heimatort gezogen war. Er wollte keine Blutlachen, Wunden und verrenkten Glieder mehr sehen, wollte keine Berichte über Schmerzen, Verletzungen und Tathergänge schreiben und keine Todesnachrichten mehr überbringen. Aber genau das alles hatte er heute tun müssen.

Morell überlegte, was noch alles auf ihn zukommen würde. Die grausigen Details des Obduktionsberichts, die vielen Befragungen, all die Protokolle, die er würde schreiben müssen. Und dann natürlich die vielen Verleumdungen, das Misstrauen und die Gerüchte, die im Ort ihre Runde machen würden.

Er dachte daran, sich krankzumelden oder Urlaub zu nehmen und die Ermittlungen irgendeinem Kollegen aus Innsbruck zu überlassen. Doch irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen. Er hatte Josef Anders gekannt. Heute hatte er Iris Anders, Josefs Witwe, trösten müssen. Dieser Fall betraf ihn höchstpersönlich. Jemand war in seine heile Welt eingedrungen, hatte seine Idylle zerstört und sein angenehmes Leben in einen Albtraum verwandelt. Morell empfand ein seltsames Gefühl in seinem Bauch, und es dauerte einige Zeit, bis er verstand, was mit ihm los war. Er war wütend. Er nahm diesen Mord persönlich. Er wollte sein Leben so weiterleben wie bisher, und wenn das bedeutete, dass er dafür einen Mörder fangen musste, dann würde er das tun.

»Au! Spinnst du?« Fred hatte seine Krallen in Morells Schenkel versenkt und fauchte. Morell hatte gar nicht bemerkt, dass er vor lauter Aufregung seine Finger in den Rücken des Tieres gekrallt hatte.

Fred sprang auf den Boden und verschanzte sich unter der Couch.

Seine Versuche, den beleidigten Kater aus seinem Versteck zu locken, wurden durch das Klingeln der Türglocke unterbrochen. Morell sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht. Wer das wohl sein konnte? Er ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und öffnete die Tür.

Vor ihm stand eine junge Frau Ende zwanzig. Sie sah nicht schlecht aus, war aber auch nicht das, was man im landläufigen Sinne eine umwerfende Schönheit nennen würde. Ihre braunen Haare waren zu einem praktischen Pagenkopf geschnitten, und sie trug eine Hornbrille.

»Chefinspektor Morell?«, fragte sie.

»Steht vor Ihnen.«

»Guten Abend.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Dr. Nina Capelli. Ich bin die Gerichtsmedizinerin, die Ihnen Ralph Haug versprochen hat. Er hat mich heute Morgen angerufen und mir von Ihrem Fall erzählt.« Sie wischte sich ein paar Schneeflocken aus dem Haar. Es hatte wieder begonnen zu schneien. »Er lässt Ihnen noch einmal ausrichten, dass es ihm wirklich leidtut, dass er keine Verstärkung schicken kann«, fuhr sie fort. »Aber Sie wissen ja, was im Advent los ist. Viele Suizide und viel Gewalt. Die gute alte Winterdepression.« Sie vergrub die Hände in den Taschen ihres roten Anoraks.

»Aber Sie waren trotzdem verfügbar«, wunderte sich Morell.

»Eigentlich nicht. Eigentlich hätte heute mein Urlaub beginnen sollen. Ich fahre für zwei Wochen zu meiner Tante nach Italien, wo es hoffentlich ein wenig wärmer sein wird.« Sie lächelte bei dem Gedanken daran. »Haug hat mich gerade noch erwischt und gesagt, es wäre ein Notfall. Er meinte, dass Sie ein alter Freund von ihm wären und dass ich etwas bei ihm guthätte, wenn ich einen kleinen Umweg fahre und mir Ihre Leiche ansehe.« Sie musste Luft holen. »Und hier bin ich und rede schon wieder zu viel, ich altes Plappermaul. Jedenfalls habe ich mich gleich nach Haugs Anruf ins Auto ...«

»Kommen Sie doch erst einmal herein«, unterbrach Morell sie. »Sie holen sich ja den Tod da draußen.« Er trat einen Schritt zur Seite und ließ Dr. Capelli eintreten.

»Brrrrr! «, sie schüttelte sich. »Was für ein Wetter. Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal so kalt war.«

»Wem sagen Sie das?«, meinte Morell. »Ich musste den ganzen Tag lang im Freien einen Tatort mit einer steifgefrorenen Leiche absichern.«

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich noch so spät bei Ihnen daheim auftauche. Ich wollte eigentlich schon am Nachmittag hier sein, aber erst bin ich in der Gerichtsmedizin aufgehalten worden und dann war ein Unfall auf der Bundesstraße, und ich habe ewig im Stau gesteckt. Ihr netter junger Kollege in der Polizeistation hat mir Ihre Adresse gegeben und gemeint, ich würde Sie hier finden.«

Bender war also noch im Büro. Sehr wahrscheinlich tippte er gerade seinen Bericht und versuchte verzweifelt, nicht mehr an den Toten in der Leichenhalle zu denken. Morell musste schmunzeln. ›Ja, ja, mein lieber kleiner Robert‹, dachte er. ›Du wolltest immer einen spektakulären Fall. Jetzt hast du ihn und musst sehen, wie du damit klarkommst.‹ Morell wandte sich wieder seinem Gast zu.

»Kommen Sie mit, ich mache Ihnen einen Tee.« Das war heute schon das zweite Mal, dass er einer Frau bei sich zu Hause anbot, Tee zu kochen. »Folgen Sie mir, bitte.«

»Sie haben aber ein schönes Haus«, stellte Capelli fest.

»Vielen Dank!«

»Wohnen Sie ganz alleine hier?«, fragte sie. »Am Türschild stand nur Ihr Name.« Sie hielt inne. »Entschuldigung, ich sollte nicht immer so neugierig sein.«

»Schon in Ordnung«, sagte Morell. »Sie haben recht, ich lebe hier allein. Das Haus ist eigentlich zu groß für eine Person. Ich bewohne daher auch nur den ersten Stock.«

»Und was machen Sie mit dem Rest, wenn ich fragen darf?«

»Im Erdgeschoss habe ich mir einen Lagerraum eingerichtet, in dem ich Gartengeräte aufbewahre und Pflanzen überwintere. Der Rest steht leer.«

»Ah, dann haben wir hier also einen kleinen Hobbygärtner?«

»Ja, hinter dem Haus habe ich einen großen Garten und ein Gewächshaus mit Blumen.« Morell wurde bei dem Gedanken daran ganz warm ums Herz. Der Garten war sein ganzer Stolz.

»Wie schön«, sagte die Gerichtsmedizinerin, »ich liebe Blumen.«

Morell nahm Capelli ihren Anorak ab, führte sie ins Wohnzimmer und ging dann in die Küche.

 

»Na, dann erzählen Sie mal«, sagte Morell, als er mit einem Tablett in der Hand wieder zurückkam. »Wie war die Fahrt?« Er stellte zwei Tassen und eine Kanne dampfenden Tee auf den Tisch. Dazu gab es Zitronenscheiben und drei Schälchen, die mit weißem, braunem und Kandiszucker gefüllt waren. Außerdem hatte er Honig und Süßstoff mitgebracht.

»Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass Sie die selber gemacht haben«, sagte Capelli, als Morell auch noch einen großen Teller voller Kekse auftischte.

»Doch«, sagte Morell und wusste nicht, ob er stolz oder verlegen sein sollte.

»Dass Sie sich noch keine Frau geschnappt hat«, sagte die Gerichtsmedizinerin und schluckte. »Entschuldigung, ich bin schon wieder zu vorlaut.«

»Schon okay«, lächelte Morell. »Ich betrachte es als Riesenkompliment.«

»Das tut gut«, sagte Capelli, als sie den ersten Schluck Tee genommen hatte. »Die Fahrt war wirklich mühsam. Ich bin im Schneckentempo den Berg raufgekrochen und habe einige Autofahrer hinter mir sicherlich fast zur Verzweiflung gebracht.«

Morell nickte. Er kannte die Strecke in- und auswendig und wusste, dass es so gut wie unmöglich war, auf der kurvigen Straße zu überholen. Er wusste auch, wie sehr sich die streckenkundigen Landauer über die ängstlichen Kriecher, wie sie sie nannten, aufregten, die den Verkehr manchmal fast zum Stehen brachten.

»Ich bin todmüde«, sagte Capelli und gähnte. »Ich glaube, ich werde heute in Landau übernachten und erst morgen weiterfahren. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich mir Ihr Opfer gleich nach dem Frühstück ansehen. Die Kollegen mit dem Leichentransporter werden ungefähr gegen Mittag kommen. Wir haben also noch genügend Zeit.«

»Das ist eine gute Idee. Es ist viel zu gefährlich, sich fix und fertig hinters Steuer zu setzen – vor allem bei dem Wetter.«

»Das müssen Sie mir nicht erzählen. Ich hatte schon genügend Unfallopfer auf dem Tisch.« Capelli trank den letzten Schluck ihres Tees. »So«, sagte sie, »jetzt bin ich Ihnen aber genug auf die Nerven gefallen. Können Sie mir eine gute Pension empfehlen?«

»Ja, den ›Kirchenwirt‹. Von dort aus haben Sie es morgen auch nicht weit bis zur Leichenhalle. Ich rufe kurz an und sage Bescheid, dass Sie kommen.«

Morell suchte im Telefonbuch die Nummer heraus und wählte. »Christian? Hier spricht Otto. Bei mir ist eine nette junge Dame, die ein Zimmer braucht. Ich schicke sie dir vorbei, in Ordnung?« Morell verzog das Gesicht. »Echt?«, fragte er. »Und im Adler? ... Und sonst? ... Verstehe, trotzdem danke. Bis dann.« Er legte auf.

»Tut mir leid, Frau Doktor«, sagte er. »Aber wie es scheint, haben wir ein kleines Problem. Die Skisaison ist in vollem Gange. Christian, der Besitzer vom Kirchenwirt, sagt, dass alle Zimmer im Ort ausgebucht sind. Sieht so aus, als müssten Sie mit der ›Casa del Morel‹ vorliebnehmen.«

Capelli schaute ihn peinlich berührt an. »Das ist mir jetzt aber gar nicht recht«, stammelte sie. »Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.«

»Schon in Ordnung. Sie sind bei dem Schneechaos extra hierher nach Landau gefahren. Nur wegen meinem Fall. Da ist es wohl das Mindeste, dass ich Ihnen ein Dach über dem Kopf anbiete. Wie Sie ja bereits gesehen haben, bietet mein Haus genügend Platz.«

»Vielen Dank.« Die Gerichtsmedizinerin versuchte zu lächeln.

»Schauen Sie nicht so gequält«, sagte Morell. »Es ist wirklich kein Problem, wenn Sie heute hier übernachten. Wissen Sie was, ich werde uns jetzt erst einmal etwas zu essen machen. Sie haben doch Hunger?«

»Oh ja, ich könnte einen ganzen Braten verdrücken«, nickte sie.

»Dann sehen wir mal, was der Kühlschrank so zu bieten hat, und danach werde ich Ihnen ein Zimmer herrichten.« Morell wollte schon in die Küche gehen, als ihm etwas einfiel.

»Verflixt!«, sagte er und fasste sich an den Kopf.

»Was ist denn?«, fragte Capelli.

»Ich muss nochmal zur Leichenhalle fahren.«

»Warum das?«

»Ich muss den Körper ein wenig antauen, sonst können Ihre Leute ihn morgen unmöglich mitnehmen.«

»Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte Capelli und sah Morell fragend an.

»In dem Zustand, in dem sich der Leichnam momentan befindet, passt er weder in einen Leichensack noch in einen Sarg. Ich bezweifle sogar, dass er durch die Tür des Transporters geht.«

»Jetzt haben Sie mich aber neugierig gemacht. Das will ich mir ansehen.«

 

Wenige Minuten später saßen sie in Morells Streifenwagen und fuhren zur Kirche. ›Zwei Frauen haben heute an meiner Tür geklingelt‹, dachte Morell. ›Beiden habe ich Tee angeboten, und beide Male musste ich anschließend in die Leichenhalle fahren. Das Leben ist schon manchmal komisch«

Als sie auf dem Marktplatz vor der Kirche ausstiegen, blies der Wind ihnen den Schnee waagerecht ins Gesicht. Morell zog den Kopf ein und suchte in seiner Jackentasche nach dem Schlüsselbund, den er sich von Agnes Schubert hatte geben lassen. »Hier entlang«, rief er. »Erschrecken Sie übrigens nicht. Es ist wirklich eine ganz böse Sache.« Sie gingen gemeinsam durch das große Tor und stapften über den verschneiten Friedhof. Ein kleiner Weg führte durch die Reihen aus Marmorgrabsteinen und schmiedeeisernen Kreuzen direkt zur Leichenhalle.

Sie betraten das kleine Gebäude und schüttelten sich den Schnee von den Kleidern. Morell führte die Gerichtsmedizinerin in den hinteren Teil des Aufbahrungsraums, wo Anders’ Leichnam lag.

Morell wusste zwar, welcher Anblick ihn erwartete, aber trotzdem krampfte sich sein Magen zusammen, als er die steifen Gliedmaßen des Toten sah, die noch immer links und rechts unter dem Tuch hervorragten.

»Oh«, sagte Capelli überrascht. »Jetzt verstehe ich, was Sie gemeint haben. Sie haben recht. Solange er seine Arme und Beine so wegstreckt, wird es nicht möglich sein, den Toten in den Leichenwagen zu bekommen.« Sie trat an die Bahre, hob das Tuch hoch und nickte anerkennend mit dem Kopf, als würde sie eine Trophäe bewundern. »Den hat aber jemand übel zugerichtet.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es eine böse Sache ist«, meinte Morell und wusste nicht, ob er hinsehen sollte oder lieber nicht.

»Stimmt, Sie haben wirklich nicht übertrieben.« Sie zog ein Päckchen aus ihrer Jackentasche, dem sie ein Paar Gummihandschuhe entnahm. Nachdem sie sie übergestreift hatte, untersuchte sie den Leichnam oberflächlich und notierte in einem kleinen Buch ein paar Bemerkungen. »Können Sie mir kurz helfen?«, fragte sie Morell, der die ganze Zeit neben der Tür gestanden und auf seine Schuhe gestarrt hatte. »Ich möchte mir noch schnell seinen Rücken ansehen. Sie müssen ihn nur kurz anheben.« Capelli reichte ihm das Päckchen mit den Handschuhen.

Morell stockte der Atem, aber er wollte sich keine Blöße geben.

Darum tat er, worum sie gebeten hatte. Er hielt die Luft an, schloss die Augen und schob seine Hände unter den kalten, harten Körper von Joe Anders. Dabei versuchte er an irgendetwas Schönes zu denken.

Die Gerichtsmedizinerin hatte sein verkniffenes Gesicht gesehen. »Denken Sie nicht an den Menschen, der das einmal war«, versuchte sie ihm zu helfen. »Sehen Sie es einfach als das, was es ist – ein großes Stück gefrorenes Fleisch. Im Supermarkt gibt es ganze Kühltruhen voll davon.«

»Ich weiß schon, warum ich Vegetarier bin«, grummelte Morell.

»In Ordnung! Sie können ihn jetzt wieder runterlassen«, erlöste Capelli den verkrampften Chefinspektor von seinen Qualen. »Was ich jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass er an den Stichverletzungen gestorben ist. Ich habe zwölf davon gezählt. Aufgrund des Verwesungsstadiums nehme ich an, dass er mindestens schon eine Woche tot ist. Sehen Sie, das könnten Faulwasserblasen sein«, sie zeigte auf mehrere Stellen an Josefs Körper. »Die bilden sich ungefähr ab dem siebenten Todestag.«

»Mhm«, nickte Morell, »sieben Tage, das würde mit der Aussage der Witwe übereinstimmen. Sie ist am Samstag letzter Woche mit ein paar Freundinnen nach Spanien gefahren. Die alljährliche Frauenwoche, wie sie es nannte, und ist erst gestern Abend wieder nach Hause gekommen.«

»Aber da muss sie sich doch schon gestern gewundert haben, wo ihr Mann ist.«

»Sie war wohl erst sehr spät zu Hause, war groggy und hat sich gleich schlafen gelegt. Sie sagte, sie habe angenommen, ihr Mann sei noch was trinken in irgendeiner Bar – immerhin war es ja Samstagabend und es wäre für Josef nichts Ungewöhnliches gewesen.«

»Und sie hat sich gar nicht gefragt, warum sich Josef die ganze Urlaubswoche über nicht gemeldet hat?«

»Anscheinend hatten sich die beiden kurz vor ihrem Abflug gestritten, und sie dachte, dass er das Telefon aus Trotz nicht abhebt. Wenn ich an das Gespräch mit ihr denke – mein Gott, die Arme war völlig fertig.« Morell mühte sich damit ab, die engen Gummihandschuhe wieder abzustreifen.

»Und bei der Arbeit hat ihn keiner vermisst?«, fragte Capelli weiter.

»Er ist – ich meine er war selbständig. Der Autohandel im Ort gehört ... ähm ... gehörte ihm. Das Geschäft lief nicht allzu gut, darum konnte er sich keine Angestellten leisten. Er und seine Frau waren die Einzigen, die dort gearbeitet haben.«

»Und sonst? Hatte der arme Kerl hier denn gar keine Freunde oder Verwandte?«

»Nun ja«, Morell kratzte sich am Kopf und starrte dann voller Ekel auf seine Hand, mit der er vor wenigen Augenblicken den Toten angefasst hatte. Handschuhe hin oder her – er musste nachher dringend seine Haare waschen. »Anders’ Mutter lebt hier im Ort, aber das Verhältnis der beiden war nicht besonders gut. Es kam anscheinend oft vor, dass ihr Sohn sich mehrere Wochen lang nicht gemeldet hat. Sie hat sich darum auch diesmal nicht viel dabei gedacht, hat sie gesagt.«

»Oh je. Sieht so aus, als wäre unser Opfer kein sehr netter Kerl gewesen.« Capelli sah sich in dem Raum um. »Wissen Sie, wo der Thermostat ist?«

»Ja«, Morell zeigte auf ein kleines Gerät neben der Tür. »Hier drüben.«

»Fein«, sagte Capelli und drehte am Temperaturregler. »Bis morgen Mittag sollte es möglich sein, die Arme und Beine so hinzubiegen, dass der Körper in einen Leichensack passt.«

Morell wollte sich das nicht bildlich vorstellen. »Gehen wir«, sagte er.

 

»Ich werde morgen früh eine genaue äußere Leichenbeschau vornehmen«, sagte Capelli, als sie wieder im Auto saßen und zurück zu Morells Haus fuhren. »Am Mittag kann ich Ihnen dann hoffentlich mehr über die Todesursache und den Tathergang sagen. Genauere Ergebnisse kriegen Sie natürlich erst nach der Obduktion, aber vielleicht kann ich Ihnen ein paar nützliche Anhaltspunkte liefern.«

»Wie lange wird es dauern, bis ich die endgültigen Obduktionsergebnisse bekomme?«

»Keine Ahnung. Meine Kollegen in Innsbruck haben derzeit alle Hände voll zu tun. Das kann schon noch ein paar Tage dauern.«

Morell seufzte.

»Wenn es nach mir ginge, könnte ich die Obduktion auch gleich hier vor Ort durchführen«, sagte Capelli. »Aber Sie kennen ja die Regeln: Es müssen mindestens zwei Ärzte anwesend sein. Außerdem fehlen mir die geeigneten Geräte, um Schädel, Brust und Bauch zu öffnen. Sie wissen ja, wie das abläuft. Erst den Schädelknochen freilegen, dann das Schädeldach aufsägen und dann das Gehirn entnehmen. Dann ein Schnitt vom Hals bis zum Schambein, dann die Rippen durchtrennen«, sie machte mit ihrem Zeige- und Mittelfinger die Bewegung einer Schere nach. »Dann ...«

»Schon gut!«, bremste Morell ihren Redefluss. »Ich weiß, wie eine Obduktion abläuft, aber ich möchte lieber nicht daran erinnert werden.«

»Da hat wohl jemand einen empfindlichen Magen?«, stellte Capelli fest.

Morell dachte daran, wie er sich heute Morgen auf dem Friedhof übergeben hatte, und nickte.

 

Wieder daheim angekommen, begann Morell zunächst, ein Zimmer für seinen Gast herzurichten. Capelli inspizierte in der Zwischenzeit den Inhalt des Kühlschranks.

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie seien Vegetarier«, rief sie.

»Stimmt auch!«, rief er zurück.

»Dafür liegt aber massenhaft Fleisch und Wurst in Ihrem Kühlschrank!«

»Dient als Katzenfutter!«

»Wie viele Katzen haben Sie denn?«

»Eine!«

»Na, das muss ja ein riesig fettes Monster sein«, murmelte Capelli leise.