Die zahnmedizinische Behandlung von Menschen mit Special Needs -  - E-Book

Die zahnmedizinische Behandlung von Menschen mit Special Needs E-Book

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Beschreibung

Viele Menschen haben in Bezug auf die zahnärztliche Prophylaxe, Diagnostik und Therapie begründete besondere Bedürfnisse, sogenannte "Special Needs" – sei es aufgrund von kognitiven oder kommunikativen Einschränkungen, von funktionellen Limitationen, von medizinischen oder medikamentösen, genetischen, zwischenfall- oder unfallbedingten sowie zahlreichen weiteren Ursachen. Viele Zahnärztinnen und Zahnärzte, die mit diesen Patientengruppen bisher keine oder nur geringe Erfahrung gemacht haben, werden den Bedürfnissen der Betroffenen zumeist unbeabsichtigt aufgrund von Unsicherheit oder auch Hilflosigkeit oft nicht gerecht, was zu Unverständnis und Verärgerung auf beiden Seiten und in der Folge zu einer erheblichen Beeinträchtigung der oralen Gesundheit führen kann. Im Studium der Zahnmedizin und auf Fortbildungsveranstaltungen spielen Patientengruppen mit Special Needs leider keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Herausgeberin und Herausgeber des Buches haben in Zusammenarbeit mit zahlreichen Autorinnen und Autoren 56 Special Needs definiert und kompakt in ihren Besonderheiten in Bezug auf die zahnärztliche Behandlung zusammengestellt. Damit bildet das Buch als erstes seiner Art einen großen Teil dieser Patientengruppe ab und möchte dabei unterstützen, diesen besonderen Bedürfnissen in der zahnärztlichen Betreuung gerecht zu werden.

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DIE ZAHNMEDIZINISCHEBEHANDLUNGVON MENSCHEN MIT

SPECIAL NEEDS

Ein Buch – ein Baum: Für jedes verkaufte Buch pflanzt Quintessenz gemeinsam mit der Organisation „One Tree Planted” einen Baum, um damit die weltweite Wiederaufforstung zu unterstützen (https://onetreepIanted.org/).

Zusatzmaterial

Zum Umfang dieses Buches gehören Formulare sowie Videos, die den Inhalt veranschaulichen und die Leseerfahrung bereichern. Diese können einfach per QR-Code mit dem Smartphone oder Tablet abgespielt werden.

Alternativ sind die Formulare und Videos auch über diesen Link

https://video.qvnet.de/b24390 erreichbar.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <https://dnb.ddb.de> abrufbar.

Postfach 42 04 52; D–12064 Berlin

Ifenpfad 2–4, D–12107 Berlin

© 2024 Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat, Herstellung und Reproduktionen: Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin

ISBN 978-3-86867-691-4

Vorwort und Einleitung

In Ländern, in denen man sich seine Zahnärztin oder seinen Zahnarzt aussuchen kann, hat vermutlich jede Patientin und jeder Patient besondere Bedürfnisse. Manche möchten vorzugsweise von Frauen, andere wiederum von Männern behandelt werden. Manche bevorzugen Generalisten, manche Spezialisten. Manche möchten, dass ihnen jeder einzelne Schritt erklärt wird, damit sie wissen, welche Behandlung genau an ihren Zähnen oder an ihrem Zahnfleisch vorgenommen wird. Andere wiederum möchten möglichst wenig erklärt bekommen, sondern hoffen nur, dass es möglichst schnell vorbei ist. Wieder andere Patientinnen und Patienten wünschen, dass auf ihre individuellen Bedürfnisse wie den Würgereiz oder die schnell zu rissigen Lippen führende Mundtrockenheit besondere Rücksicht genommen wird. Nochmals andere schließlich möchten, dass möglichst metallfrei und mit möglichst wenig Röntgenstrahlung diagnostiziert und therapiert wird. So gesehen ist auf irgendeine Weise jede Patientin und jeder Patient ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen in Bezug auf die zahnärztliche Behandlung.

Mit diesen Patienten beschäftigt sich das vorliegende Buch jedoch nicht.

Es gibt nämlich darüber hinaus größere Teile der Bevölkerung, die tatsächlich besondere Bedürfnisse in Bezug auf die zahnärztliche Prophylaxe, Diagnostik und Therapie haben. Sei es aufgrund von kognitiven oder kommunikativen Einschränkungen, von funktionellen Limitationen, von medizinischen oder medikamentösen, genetischen, zwischenfall- oder unfallbedingten sowie zahlreichen weiteren Ursachen.

Solche Patientinnen und Patienten mit „Special Needs“ (mit „besonderen Bürfnissen“, so die gängige Übersetzung) sind weder genau definiert noch deutlich abgegrenzt von Patientinnen und Patienten ohne besondere Bedürfnisse. Daher sind auch die im vorliegenden Buch ausgewählten Gruppen von Patientinnen und Patienten aufgrund der langjährigen klinischen Erfahrung aus dem Netzwerk der Autorinnen und Autoren sowie der Herausgeber in einem dynamischen Prozess bestimmt worden.

Es ist erfreulich, dass so viele Kolleginnen und Kollegen sich nicht nur für einzelne Gruppen von Menschen engagieren, sondern diesem Buch auch einen erheblichen Mehrwert geben, indem sie ihre klinische Erfahrung teilen. Nur für sehr wenige Themengebiete haben wir tatsächlich keine Autorin bzw. keinen Autor gefunden, die oder der sich klinisch intensiv mit dieser Thematik beschäftigt hat. Daher deckt dieses Buch einen wirklich großen Teil der Patientinnen und Patienten ab, die besondere Bedürfnisse in der zahnärztlichen Betreuung haben.

Viele Zahnärztinnen und Zahnärzte, die mit diesen Patientengruppen bisher keine oder nur geringe Erfahrung gemacht haben, werden den Bedürfnissen der Betroffenen oft nicht gerecht. Dies geschieht sicher unbeabsichtigt aufgrund von Unsicherheit oder auch Hilflosigkeit, die zu Unverständnis und Verärgerung auf beiden Seiten führen können. In der Folge kommt es häufiger zu negativen Erfahrungen und Feedbacks durch Patienten und ihre Angehörigen und nicht selten zu einer erheblichen Entgleisung der oralen Gesundheit.

Im Studium der Zahnmedizin, zumindest an den meisten Universitäten, spielen Patientengruppen mit Special Needs leider keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Individuelle Aktivitäten und Schwerpunkte sind auf die Initiative einzelner Kolleginnen und Kollegen zurückzuführen, die entsprechende Spezialsprechstunden oder interdisziplinäre Zentren an ihren jeweiligen Universitäten oder in Zahnarztpraxen etabliert haben.

Auch Fortbildungsveranstaltungen fokussieren eher selten auf Patienten mit Special Needs. Das Resultat ist, dass die Betroffenen selbst oder ihre Angehörigen nicht nur Mühe haben, entsprechend spezialisierte Praxen oder Zentren zu finden, sondern oft auch eine weite Anreise auf sich nehmen müssen, um eine entsprechende Betreuung zu bekommen. Je nach Angebot werden diese Leistungen von den Kostenträgern nicht oder nicht vollständig übernommen, was die Situation zusätzlich erschwert.

Das vorliegende Buch soll möglichst vielen Patientinnen und Patienten mit besonderen Bedürfnissen bei der zahnärztlichen Prophylaxe, Diagnostik und Therapie gerecht werden. Ein ähnliches Buch existiert bisher nicht.

Manche Kapitel sind länger geworden, manche kürzer. Das deutet vielleicht auch auf die Häufigkeitsverteilung im zahnärztlichen Alltag hin sowie auf die vorhandene Evidenz des konkreten Vorgehens. Manche Kapitel lassen sich auch nicht scharf von anderen abgrenzen, was zu einzelnen inhaltlichen Redundanzen und auch einigen wenigen widersprüchlichen Angaben des sehr breit gefächerten Teams von Autorinnen und Autoren führt. Dies ist vom Herausgeberteam so gewollt, denn nicht immer führt nur ein Weg zum therapeutischen Erfolg.

In einzelnen Kapiteln wird zur leichteren Lesbarkeit bei nicht notwendiger gezielter geschlechtsspezifischer Angabe ausschließlich die männliche Form verwendet.

Unser besonderer Dank gilt allen, die an der Entstehung dieses Buchs beteiligt waren: unseren vielen hervorragenden Mitautorinnen und Mitautoren und allen Kolleginnen und Kollegen, die darüber hinaus Bilder zur Verfügung gestellt haben.

Unser Dank gilt zum wiederholten Mal auch Sabrina Peterer für das Titelbild, unserer Lektorin Anita Hattenbach sowie allen involvierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Quintessenz Verlags in Berlin.

Basel, den 23.08.2023

Andreas Filippi, Cornelia Filippi

und Klaus Neuhaus

Die drei Herausgeber.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir im Buch auf die gleichzeitige Verwendung männlicher, weiblicher und weiterer Geschlechterformen verzichtet. Dies impliziert keinesfalls eine Benachteiligung der jeweils anderen Geschlechter. Personen- und Berufsbezeichnungen sind daher in der Regel als geschlechtsneutral zu verstehen.

Anschriften der Herausgeber

Prof. Dr. Andreas Filippi

Klinik für Oralchirurgie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Dr. Cornelia Filippi

Allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Klaus W. Neuhaus, MMA MAS

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

ZMK Bern

Freiburgstrasse 7

3010 Bern

Schweiz und

Privatpraxis in Herzogenbuchsee (Schweiz) und

Konsiliararzt Universitätsklinik für Dermatologie, Inselspital Bern

Anschriften der Autoren

Dr. Franka Baranovic Huber

Via al Moretto 9

6924 Sorengo

Schweiz

Dr. Willy Baumgartner

Theaterstr. 18

8001 Zürich

Schweiz

Stephan Behr

Pflegeexperte MScN

REHAB Basel

Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie

Im Burgfelderhof 40

4055 Basel

Schweiz

Dr. Korbinian Benz, MHBA

Abteilung für Zahnärztliche Chirurgie und Poliklinische Ambulanz

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Fakultät für Gesundheit

Universität Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 50

58448 Witten

Deutschland

Dr. Frauke Berres-Wehrle

Klinik für Oral Health & Medicine

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Margarete Bolten

Universitäre Psychiatrische Kliniken Klinik für Kinder und Jugendliche UPKKJP

Wilhelm-Klein-Str. 27

4002 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Michael M. Bornstein

Klinik für Oral Health & Medicine

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Jacqueline Boss

Finkenrain 9

3012 Bern

Schweiz

Judith Bucher

Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde

Markstallstr. 6

4123 Allschwil

Schweiz

Dr. Christina Bürgler

Universitätsklinik für Dermatologie

Inselspital Bern

Freiburgstr. 35

3011 Bern

Schweiz

Dr. Janine Chan

Klinik für Oralchirurgie und Zahnunfallzentrum

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Prof. DDr. Barbara Cvikl

Abteilung für Konservierende Zahnheilkunde

Fakultät für Medizin

Sigmund Freud PrivatUniversität

Freudplatz 3

1020 Wien

Österreich

Dr. Tamara Diesch-Furlanetto

Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB

Spitalstr. 33

4056 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Birgit Donner

Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB

Spitalstr. 33

4056 Basel

Schweiz

Dr. Joëlle Aline Dulla

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Dr. Natalia C. Eckstein-Halla

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Universitätsspital Basel

Spitalstr. 21

4031 Basel

Schweiz

Dr. Florin Eggmann

Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Dr. Guido Elsäßer

Zahnarztpraxis Dr. Elsäßer & Kollegen

Schloßberg 35

71394 Kernen

Deutschland

Pernille Endrup Jacobsen, PhD, DDS

Department of Dentistry and Oral Health

Aarhus University

Vennelyst Boulevard 9

8000 Aarhus C

Dänemark

Judith Erb

Klinik für Allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Hans Gjørup, PhD, DDS

Centre for Oral Health in Rare Diseases

Department of Oral and Maxillofacial Surgery

Aarhus University Hospital

Palle Juul-Jensens Boulevard 99

8200 Aarhus N

Dänemark

Dr. Carolina Gouveia

Hospital Cuf Tejo

Av. 24 de Julho 171A

1350-352 Lissabon

Portugal und

Centro de Dermatologia de Lisboa

R. Augusto Gil 35b

1000-273 Lissabon

Portugal

Sandra Graf

N Dent Zahnarztpraxis

Lagerstr. 14

3360 Herzogenbuchsee

Schweiz

Dr. Anne Grüninger

Klinik für Zahnerhaltung

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Prof. Dr. Rainer Haak

Universitätsklinikum Leipzig

Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie

Liebigstr. 12 (Haus 1)

04103 Leipzig

Deutschland

Dr. Gerda Hajnos-Baumgartner

RheumaZentrum Klinik Hirslanden

Witellikerstr. 40

8032 Zürich

Schweiz

Dr. Blend Hamza

Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin

Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich

Plattenstr. 11

8032 Zürich

Schweiz

Prof. Dr. Jochen Jackowski

Abteilung für Zahnärztliche Chirurgie und Poliklinische Ambulanz

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Fakultät für Gesundheit

Universität Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 50

58455 Witten

Deutschland

Prof. Dr. Hans-Peter Jöhren

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Universität Witten/Herdecke und

ÜBAG und Zahnklinik Bochum

Bergstr. 28

44791 Bochum

Deutschland

Dr. Isabelle Juchli

Zahnarztpraxis Geuensee

Kantonsstr. 6

6232 Geuensee

Schweiz

Dr. Juliane Keller-Erb

Praxis für Kinder- und Jugendzahnmedizin

Kinder Zahni Zürich

Dufourstr. 175

8008 Zürich

Schweiz

Dr. Vincent Krebs

N Dent Zahnarztpraxis

Lagerstr. 14

3360 Herzogenbuchsee

Schweiz

Dr. Sofia Lamperti

Zahnarztpraxis PHILIPP

Birchstr. 15

8307 Effretikon

Schweiz

Dr. Corinne Légeret

Universitäts-Kinderspital beider Basel UKBB

Spitalstr. 33

4056 Basel

Schweiz

Dr. Isabelle Luchsinger

Zentrum Kinderhaut-Dermatologie

Universitäts-Kinderspital ZüriEleonorenstiftung

Steinwiesstr. 75

8032 Zürich

Schweiz

Dr. Elmar Ludwig

Konsilzahnarzt der Kopf-Hals-Zentren am Universitätsklinikum

und am Bundeswehrkrankenhaus in Ulm und

Zahnärztliche Gemeinschaftspraxis Dr. Markus Dirheimer und Dr. Elmar Ludwig

Neue Str. 115

89073 Ulm

Deutschland

Prof. Dr. Adrian Lussi

Medizinische Universität Innsbruck

Universitätsklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie

Anichstr. 35

6020 Innsbruck

Österreich und

Zahnmedizinische Kliniken der Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Dr. Cordula Leonie Merle

Universitätsklinikum Regensburg

Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik

Franz-Josef-Strauß-Allee 11

93053 Regensburg

Deutschland

Prof. Dr. Hendrik Meyer-Lückel

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Prof. Dr. Dr. Andreas Müller, PhD, MHBA

Zentrum für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Gesichtsfehlbildungen

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Universitätsspital Basel

Spitalstr. 21

4031 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Dr. h. c. Frauke Müller

Universitätszahnklinik Genf

Division für Gerodontologie und abnehmbare Prothetik

1, rue Michel-Servet

1211 Genf 4

Schweiz

Prof. Dr. Andres H. Neuhaus

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Medizinische Hochschule Brandenburg

Fehrbelliner Str. 38

16816 Neuruppin

Deutschland

Dipl. med. Gotlind Neuhaus

Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Universitäre Psychiatrische Dienste Bern

Zollgasse 99

3063 Ittigen

Schweiz

Dr. Virginia Ortiz

Klinik für Oralchirurgie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Franziska Philipp

Klinik für Oralchirurgie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Christoph A. Ramseier

Klinik für Parodontologie

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Dr. Elisabeth Caroline Reichardt

Klinik für Pediatric Oral Health und Kieferorthopädie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Rudolf Reiter

Sektion für Phoniatrie und Pädaudiologie

Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie

Universitätsklinikum Ulm

Frauensteige 12

89075 Ulm

Deutschland

Dr. Fabio Saccardin

Klinik für Oralchirurgie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Philipp Sahrmann

Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Dr. Markus Schaffner

Lärchenweg 1

3800 Matten bei Interlaken

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Gerhard Schmalz

Universitätsklinikum Leipzig

Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie

Liebigstr. 12 (Haus 1)

04103 Leipzig

Deutschland

Priv.-Doz. Dr. Peter Schmidt, MSc

Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Universität Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 50

58448 Witten

Deutschland

Prof. Dr. Dr. Enno Schmidt

Universität zu Lübeck

Ratzeburger Allee 160

23562 Lübeck

Deutschland

Prof. Dr. Andrea Maria Schmidt-Westhausen

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Charité Centrum 3 für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Abteilung für Parodontologie, Oralmedizin und Oralchirurgie

Aßmannshauser Str. 4-6

14197 Berlin

Deutschland

Dr. Martina Schriber

Klinik für Oral Health & Medicine

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Prof. Dr. Andreas G. Schulte

Abteilung für Behindertenorientierte Zahnmedizin

Department für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Universität Witten/Herdecke

Alfred-Herrhausen-Str. 50

58448 Witten

Deutschland

Dr. Michèle Schulz-Katterbach

Zahnärzte Geroldswil – Dr. Schulz & Partner

Huebwiesenstr. 32

8954 Geroldswil

Schweiz

Dr. Agnes Schwieger-Briel

Zentrum Kinderhaut-Dermatologie

Universitäts-Kinderspital ZüriEleonorenstiftung

Steinwiesstr. 75

8032 Zürich

Schweiz

Dr. Christian Späth

Zahnklinik Bochum

Augusta-Kranken-Anstalt

Bergstr. 26

44791 Bochum

Deutschland

Prof. Line Staun Larsen, PhD, DDS

Department of Dentistry and Oral Health

Aarhus University

Vennelyst Boulevard 9

8000 Aarhus C

Dänemark

Heike Sticher, MSc

Physiotherapeutin, F.O.T.T. Senior Instruktorin

REHAB Basel

Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie

Im Burgfelderhof 40

4055 Basel

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Frank Peter Strietzel

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Charité Centrum 3 für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde

Abteilung für Parodontologie, Oralmedizin und Oralchirurgie

Aßmannshauser Str. 4-6

14197 Berlin

Deutschland

Simone Strømberg

N Dent Zahnarztpraxis

Lagerstr. 14

3360 Herzogenbuchsee

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Valérie G. A. Suter

Klinik für Oralchirurgie und Stomatologie

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Priv.-Doz. Dr. Christian Tennert

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Zahnmedizinische Kliniken

Universität Bern

Freiburgstr. 7

3010 Bern

Schweiz

Prof. Dr. Jens C. Türp, MSc, MA

Klinik für Oral Health & Medicine

Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB

Universität Basel

Mattenstr. 40

4058 Basel

Schweiz

Dr. Hubertus van Waes

Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin

Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich

Plattenstr. 11

8032 Zürich

Schweiz

Bettina Weidlitsch, MA

Miglarstr. 11

9065 Ebenthal

Österreich

Dr. Clive H. Wilder-Smith

Gastroenterologische Gruppenpraxis

Brain-Gut Research Group

Bubenbergplatz 11

3011 Bern

Schweiz

Dr. Jan Wüstenfeld

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Abteilung Sportmedizin und

Institut für Angewandte Trainingswissenschaft

Marschnerstr. 29

04109 Leipzig

Deutschland

Dr. jur. Hendrik Zeiß

Rechtsanwalt und Notar

Fachanwalt für Medizinrecht

Fachanwalt für Versicherungsrecht

Elisabethstr. 6

44139 Dortmund

Deutschland

Prof. Dr. Dirk Ziebolz, MSc

Universitätsklinikum Leipzig

Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie

Liebigstr. 12 (Haus 1)

04103 Leipzig

Deutschland

Inhaltsverzeichnis

ALLGEMEINES

1 Die Mundhöhle am Lebensanfang

Cornelia Filippi

2 Die Mundhöhle in der Mitte des Lebens

Andreas Filippi

3 Die Mundhöhle am Lebensende (alte und sehr alte Menschen)

Willy Baumgartner

4 Einfluss der Ernährung auf die Mundgesundheit

Christian Tennert

5 Einfluss mechanischer Mundpflegeprodukte auf die Mundgesundheit

Klaus W. Neuhaus, Simone Strømberg, Sofia Lamperti, Franka Baranovic Huber

6 Einfluss chemischer Mundpflegeprodukte auf die Mundgesundheit

Barbara Cvikl, Adrian Lussi

7 Der Einfluss des Speichels auf die Mundgesundheit

Andreas Filippi

8 Gesundheit oder Krankheit in der Mundhöhle – eine Frage der Definition?

Klaus W. Neuhaus, Vincent Krebs

9 Definition von Special Needs aus zahnärztlicher Sicht

Andreas Filippi, Cornelia Filippi, Klaus W. Neuhaus

10 Orale Epidemiologie bei Patienten mit zahnmedizinischen Special Needs

Andreas G. Schulte, Peter Schmidt

11 Kommunikation

Guido Elsäßer

12 Zahnmedizinische Betreuung und Zahnpflege in Kindergärten, Alters- und Pflegeheimen und auf Intensivpflegestationen

Cornelia Filippi, Bettina Weidtlitsch, Jacqueline Boss, Klaus W. Neuhaus, Philipp Sahrmann

13 Juristische Aspekte bei der zahnärztlichen Behandlung von Menschen mit Special Needs

Hendrik Zeiß, Jochen Jackowski

PATIENTINNEN UND PATIENTEN MIT SPECIAL NEEDS AUS ZAHNÄRZTLICHER SICHT

14 Special Needs

14.1 Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Blend Hamza, Hubertus van Waes

14.2 Affektive Störungen

Gotlind Neuhaus, Klaus W. Neuhaus

14.3 Alkoholabusus

Valerie G. A. Suter

14.4 Amelogenesis imperfecta

Markus Schaffner, Adrian Lussi

14.5 Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Jochen Jackowski, Korbinian Benz

14.6 Autismusspektrumsstörungen

Gotlind Neuhaus, Klaus W. Neuhaus

14.7 Blindheit/Sehschwäche

Judith Erb, Janine Chan, Andreas Filippi

14.8 Bruxismus: Kieferpressen und Zähneknirschen

Jens Christoph Türp

14.9 Burning-Mouth-Syndrom

Virginia Ortiz, Andreas Filippi

14.10 Cannabis

Michèle Schulz-Katterbach

14.11 Chemotherapie

Cornelia Filippi, Tamara Diesch-Furlanetto

14.12 Chronische Polyarthritis

Gerda Hajnos-Baumgartner

14.13 Demenz

Frauke Müller

14.14 Dentale Erosionen

Adrian Lussi, Barbara Cvikl

14.15 Diabetes mellitus

Christoph A. Ramseier

14.16 Dialysepatienten

Gerhard Schmalz, Dirk Ziebolz

14.17 Dysphagie

Elmar Ludwig, Rudolf Reiter

14.18 Ektodermale Dysplasie

Klaus W. Neuhaus, Isabelle Luchsinger

14.19 Epidermolysis bullosa

Klaus W. Neuhaus, Agnes Schwieger-Briel, Valérie G. A. Suter, Carolina Gouveia, Christina Bürgler

14.20 Epilepsie

Korbinian Benz, Jochen Jackowski

14.21 Essstörungen (Bulimie, Anorexia nervosa)

Anne Grüninger

14.22 Gastroösophageale Refluxkrankheit

Clive H. Wilder-Smith, Adrian Lussi

14.23 Gingivawucherungen

Frauke Berres-Wehrle, Michael M. Bornstein

14.24 Halitosis

Andreas Filippi

14.25 Herzerkrankungen

Birgit Donner, Cornelia Filippi

14.26 HIV/AIDS

Andrea Maria Schmidt-Westhausen

14.27 Intelligenzminderung

Juliane Keller-Erb, Judith Erb, Cornelia Filippi

14.28 Kieferorthopädische Behandlung bei Menschen mit Special Needs

Elisabeth Caroline Reichardt

14.29 Leistungssportler

Cordula Leonie Merle, Jan Wüstenfeld, Rainer Haak, Dirk Ziebolz

14.30 Lichen planus und lichenoide Reaktion

Valerie G.A. Suter, Martina Schriber, Michael M. Bornstein

14.31 Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten

Natalia C. Eckstein-Halla, Cornelia Filippi, Andreas A. Müller

14.32 (Systemischer) Lupus erythematodes

Frauke Berres-Wehrle, Michael M. Bornstein

14.33 Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation

Joëlle Aline Dulla, Hendrik Meyer-Lückel

14.34 Odontodysplasie

Adrian Lussi, Markus Schaffner

14.35 Orale Aphthen

Frank Peter Strietzel, Jochen Jackowski

14.36 Organtransplantation

Dirk Ziebolz, Gerhard Schmalz

14.37 Orthopädische Einschränkungen/Funktionseinschränkungen

Klaus W. Neuhaus, Sandra Graf, Isabelle Juchli

14.38 Osteogenesis imperfecta

Line Staun Larsen, Klaus W. Neuhaus, Hans Gjørup, Pernille Endrup Jacobsen

14.39 Patienten mit Servicehunden

Judith Bucher

14.40 Pemphigus und Pemphigoid

Jochen Jackowski, Frank P. Strietzel, Enno Schmidt

14.41 Präkanzerosen (potenziell maligne orale Läsionen)

Martina Schriber, Michael M. Bornstein

14.42 Psychosen

Andres H. Neuhaus, Klaus W. Neuhaus

14.43 Querschnittslähmung

Guido Elsäßer

14.44 Radiotherapie im Kopf-Hals-Bereich

Fabio Saccardin, Andreas Filippi

14.45 Religionen

Franziska Philipp, Andreas Filippi

14.46 Rollstuhlfahrer

Guido Elsäßer

14.47 Seltene Erkrankungen

Korbinian Benz, Jochen Jackowski

14.48 Sjögren-Syndrom

Frank Peter Strietzel

14.49 Sklerodermie

Jochen Jackowski, Korbinian Benz

14.50 Sondenernährung und Sondendependenz

Margarete Bolten, Corinne Légeret, Cornelia Filippi

14.51 Tabak und Snus

Christoph A. Ramseier

14.52 Trisomie 21

Peter Schmidt, Andreas G. Schulte

14.53 Vegane Ernährung

Franziska Philipp, Andreas Filippi

14.54 Wachkoma

Heike Sticher, Stephan Behr

14.55 (Ausgeprägter) Würgereflex

Florin Eggmann

14.56 Zahnbehandlungsangst mit Krankheitswert

Hans-Peter Jöhren, Christian Späth

1

Die Mundhöhle am Lebensanfang

Cornelia Filippi

Bereits im Mutterleib entscheidet sich ab der 6. Schwangerschaftswoche, in welcher Qualität Zahnhartsubstanzen, Schleimhaut, Speicheldrüsen und Knochen gebildet werden. Neben dem Einfluss von Medikamenten, Substanzabusus (z. B. Alkohol), der Ernährung der Mutter oder ihren Lebensbedingungen können auch genetische Faktoren die Zahnbildung und Startbedingungen für die Entwicklung der Mundhöhle beeinflussen. Signalproteine der Neuralleiste geben dabei die entscheidenden Impulse für den Beginn der Zahnbildung. Die weitere Differenzierung von Zellen der Schmelz- und Dentinbildung ist abhängig von einer Kaskade von Proteinen, die für den Auf- und Umbau von Zahnsubstanz und Knochen verantwortlich sind. Dabei steuern diverse Gene jeden einzelnen Schritt.

Am Beispiel des Marfan-Syndroms zeigt sich der Einfluss genetischer Abweichungen: Die Mutation des Fibrillin-1-Gens behindert den Aufbau elastischer Fasern. In der Folge kommt es zu einer Bindegewebeschwäche, die sich auf Skelettsystem, Augen, Lunge, Haut und das kardiovaskuläre System auswirkt. Aber auch Kiefer und Zähne sind betroffen. Die Patienten haben häufig einen schmalen Schädel und einen hohen, gotischen Gaumen (Abb. 1-1). Engstände treten wegen teilweise massiven Platzmangels für die bleibenden Zähne auf (Abb. 1-2) und bereits im Milchgebiss ist die Kariesaktivität im Vergleich zu derjenigen Gleichaltriger deutlich erhöht (Abb. 1-3), was für die Festlegung der Betreuungszeiträume für Individualprophylaxe-Programme zu beachten ist. Bei Patienten bis zu 17 Jahren wird wissenschaftlich eine überdurchschnittliche Kariesaktivität gefunden, lokale hypoplastische Schmelzflecken traten beim Marfan-Syndrom häufiger auf, ebenso wie Wurzeldeformitäten, abnorme Pulpaformen und Pulpaeinschlüsse. Auch Zahnstein- und Gingiva-Indizes waren signifikant höher1. Zudem können durch die Hypermobilität im Kiefergelenk Subluxationen und kraniomandibuläre Dysfunktionen auftreten. Daher sollte man sich mit der Technik der Reposition vertraut machen und auch bei Vorsorgeuntersuchungen im Kindesalter in Betracht ziehen, dass eine Subluxation vorliegt. Vertiefte Kenntnisse in der Diagnose von Bildungsstörungen, wie Amelogenesis imperfecta, Dentindysplasie Typ I–III, Odontodysplasie und Osteogenesis imperfecta, sind erforderlich, wenn Syndrompatienten in der zahnärztlichen Praxis betreut werden. Insgesamt kommt es bei über 200 Syndromen auch zu Zahnbildungsstörungen.

Abb. 1-1 6-jähriger Junge mit Marfan-Syndrom und gotischem Gaumen.

Abb. 1-2 Es sind bereits im Alter von 6 Jahren massive Engstände und Milchzähne mit unversorgten Kavitäten zu erkennen.

Abb. 1-3 Hohes Kariesrisiko im Wechselgebiss, Karies­aktivität bei Milchzähnen sowie Platzmangel und Zahnbeläge.

Die Gesundheit der Mundschleimhaut ist eng mit dem Vorhandensein von Speichel verknüpft. Genetisch bedingt kann die Speichelproduktion z. B. bei Kindern mit ektodermaler Dysplasie um bis zu 75 % reduziert sein (s. Kap. 14.18 Ektodermale Dysplasie). Ausreichende Speichelmengen stellen einen guten Schutz für die Zahngesundheit und die Schleimhaut dar. Bei einer Austrocknung kann es jedoch zu erheblichen unerwünschten Wirkungen von üblicherweise zahngesundheitsfördernden Wirkstoffen kommen. So kann eine Fluoridtouchierung mit hoch konzentriertem Fluid die Schleimhaut massiv schädigen, wenn sie z. B. während einer Intubationsnarkose ausgetrocknet ist und die Spülfunktion ausbleibt (Abb. 1-4). Auch wenn sich die Schleimhaut in der Regel nach 7 bis 10 Tagen wieder regeneriert (Abb. 1-5), muss die Toxizität von Produkten sowohl im Kindesalter als auch bei speziellen Bedürfnissen bekannt sein und berücksichtigt werden (s. Kapitel 6 „Einfluss chemischer Mundpflegeprodukte auf die Mundgesundheit“). Grundsätzlich muss der Mund- und Zahnpflege und der Auswahl der richtigen Produkte auch bei Kindern und besonders am Lebensanfang eine besondere Bedeutung beigemessen werden.

Abb. 1-4 Austrocknung nach Zahnsanierung in Intubationsnarkose und Anwendung eines hoch konzentrierten Aminfluoridfluids. Alternativ stehen hoch konzentrierte Varnish-Fluoridpräparate zur Verfügung.

Abb. 1-5 Fortgeschrittene Regeneration der Mundschleimhaut nach einer Woche.

Literatur

1. De Coster PJ, Martens LC, De Paepe A. Oral manifestations of patients with Marfan syndrome: A case-control study. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 2002;93:564-572.

2

Die Mundhöhle in der Mitte des Lebens

Andreas Filippi

Wer den Lebensanfang ohne angeborene oder erworbene Special Needs im weitesten Sinne erleben durfte, hat es in vielen Fällen in der Mitte seines Lebens selbst in der Hand, ob er aus zahnmedizinischer Sicht zu einem Patienten mit Special Needs wird. Nach der Jugend, in der die Mundhygiene und regelmäßige zahnärztliche Kontrollen nicht selten ignoriert oder vernachlässigt werden, gelten insbesondere die Jahre zwischen 40 und 55 als krisenanfällig. In dieser Zeit werden die Weichen für das höhere Lebensalter gestellt.

Der Lauf des Lebens ist bei den meisten Menschen eine auf- und absteigende Treppe, deren Zenit (je nachdem, worauf man fokussiert) etwa mit dem 40. Lebensjahr erreicht ist (Tab. 2-1). Spätestens dann beginnt bei den meisten Menschen die Degeneration praktisch aller Organe. Dies betrifft nicht nur die großen inneren, sondern auch die Sinnesorgane. Die meisten Menschen merken es daran, dass sie eine Brille benötigen – später vielleicht auch ein Hörgerät. Aber auch die sportliche Leistungs- und somit die körperliche Belastungsfähigkeit nehmen ab dem 40. Lebensjahr deutlich ab. Nicht ohne Grund finden sich kaum erfolgreiche Profisportler, die jenseits der 40 noch an der Weltspitze mithalten können. Die allermeisten müssen in diesem Zeitraum ihre Karriere beenden – oft schon deutlich früher: Spitzensportler haben schon mit 30 bis 35 ihren Leistungszenit überschritten. Bekannte Beispiele erfolgreicher Sportler jenseits der 40 waren/sind Dirk Nowitzki (Basketball), Ole Einar Bjørndalen (Biathlon), Tom Brady (American Football), Gianluigi Buffon (Fußball), Claudia Pechstein (Eisschnelllauf: Olympiateilnahmen bis ins Alter von 50 Jahren!), Martina Navratilova (Tennis), Serena Williams (Tennis).

Tab. 2-1 Der Lauf des Lebens.

Erfolg im Alter von 4 Jahren ist:

nicht in die Hose zu pinkeln.

Erfolg im Alter von 12 Jahren ist:

Freunde zu haben.

Erfolg im Alter von 18 Jahren ist:

den Führerschein zu haben.

Erfolg im Alter von 20 Jahren ist:

Sex zu haben.

Erfolg im Alter von 35 Jahren ist:

Geld zu haben.

Erfolg im Alter von 50 Jahren ist:

Geld zu haben.

Erfolg im Alter von 60 Jahren ist:

Sex zu haben.

Erfolg im Alter von 70 Jahren ist:

den Führerschein zu haben.

Erfolg im Alter von 75 Jahren ist:

Freunde zu haben.

Erfolg im Alter von 80 Jahren ist:

nicht in die Hose zu pinkeln.

Die Wahrscheinlichkeit, im Lauf des Lebens die eine oder andere chronische Erkrankung zu bekommen, steigt mit zunehmendem Lebensalter. Nachfolgend werden nur wenige ausgewählte Aspekte chronischer Erkrankungen angesprochen.

Diabetes mellitus

Wer in jungen Jahren von Diabetes mellitus Typ I verschont blieb, hat mit zunehmendem Alter ein steigendes Risiko, an Diabetes mellitus Typ II zu erkranken (s. Kap. 14.15 Diabetes mellitus). Hierbei spielen u. a. Aspekte wie Ernährung, Bewegungsarmut und Übergewicht eine Rolle. Das metabolische Syndrom, eine Kombination aus Übergewicht, Bluthochdruck sowie Zucker- und Fettstoffwechselstörung, meist auch im Zusammenhang mit Stress, Rauchen und Alkohol, ist in allen Industrienationen eine typische Wohlstandserkrankung. Gerade die Folgen eines nicht ideal eingestellten Diabetes mellitus Typ II werden früher oder später auch in der Mundhöhle beobachtet: Aufgrund der entstehenden Mikroangiopathien verläuft eine Parodontitis marginalis oder eine Periimplantitis aggressiver und auch Wundheilungsstörungen nach Zahnentfernung werden häufiger beobachtet.

Kardiovaskuläre Risiken

Kinder und Jugendliche haben nur selten kardiovaskuläre Risiken (s. Kap. 14.25 Herzerkrankungen). Solche Erkrankungen manifestieren sich in Abhängigkeit von der Lebensführung in der Lebensmitte und werden dann mit zunehmendem Alter klinisch relevant. Unerkannter und/oder unbehandelter Bluthochdruck in der Mitte des Lebens erhöht mit zunehmendem Lebensalter das Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Vorbeugen kann man mit gesunder Lebensweise: viel Obst, Gemüse und Vollkorn essen, aber wenig Fleisch. Auch sollte man unbedingt darauf achten, in der Lebensmitte kein Übergewicht zu entwickeln. Zudem sollte man sich pro Woche mehr als 3,5 Stunden sportlich bewegen.

Mundschleimhauterkrankungen und orale Pathologien

Etwa ab dem 40., spätestens mit dem 50. Lebensjahr steigt das Risiko für Mundschleimhauterkrankungen deutlich (s. Kap. 14.41 Präkanzerosen). Häufige Veränderungen in diesem Zusammenhang sind die Leukoplakie, der orale Lichen planus, lichenoide Veränderungen, Lingua plicata, Glossitis rhombica mediana, orale Manifestationen von Morbus Crohn oder virusassoziierte Veränderungen (z. B. Papillom). Wie bei der empfohlenen regelmäßigen dermatologischen Kontrolle sowie einer (gastro-)intestinalen Kontrolle (regelmäßige Darmkrebsvorsorge für Frauen und Männer spätestens ab dem 50. Lebensjahr) sollten spätestens ab diesem Alterszeitraum auch die Mundschleimhäute regelmäßig zahnärztlich gut kontrolliert werden. Das wesentliche Ziel im Rahmen der Krebsvorsorge ist hierbei, potenziell maligne Veränderungen zu erkennen, bei Bedarf zusätzlich zu untersuchen und vor allem genau im Auge zu behalten (s. Kap. 14.41 Präkanzerosen).

Gleiches gilt für alle anderen mit zunehmendem Lebensalter wichtiger werdenden Vorsorgeuntersuchungen. Ein typisches Beispiel ist die Mammografie, die – wenn keine genetische Prädisposition vorliegt – spätestens ab dem 40. Lebensjahr relevant wird. Männer ab 45 sollten einmal im Jahr die Prostatakrebsvorsorge wahrnehmen. Ein weiteres Beispiel ist spätestens ab der Menopause die Messung der Knochendichte, um ein Osteoporoserisiko frühzeitig zu erkennen.

Veränderung von Speichelmenge und -zusammensetzung

Die Folgen von regelmäßigem oder gar übermäßigem Nikotin- oder Alkoholkonsum werden in der Mundhöhle früher oder später sichtbar. Dies betrifft u. a. die Mundtrockenheit. Im Lauf des Lebens nimmt die Funktion der Speicheldrüsen ohnehin ab. Exogene Faktoren können dies erheblich verstärken (s. Kap. 7). Auch die Zahl der Medikamente, die früher oder später regelmäßig eingenommen werden müssen, nimmt im Lauf des Lebens zu. Viele dieser Medikamente werden aufgrund von Wohlstandserkrankungen erforderlich (Stichwort: Westianisierung), das bedeutet: zu wenig Bewegung, zu viel und zu ungesundes Essen, zu viel Fett, zu viel Alkohol, zu viel Stress, Arbeitsbelastung, Kindererziehung, Immobilienkauf, erste Verwerfungen in der Biografie (Trennung/Scheidung), um nur einige zu nennen. Gerade die letzteren Faktoren können eine Verschreibung von Psychopharmaka notwendig machen, die einen erheblichen negativen Einfluss auf die Speichelfließrate haben.

Veränderungen der Zähne und des Parodonts

Diese Thematik könnte man sehr umfangreich abhandeln. Das ist aber nicht der Fokus dieses Buchs.

Um es kurz zusammenzufassen: Faktoren wie Abrasion oder Attrition nehmen in der Bevölkerung stetig zu. Erosive Ernährung (unkritische vegetarische/vegane Ernährung, Energydrinks u. a. m.) beschleunigt den Verlust der Zahnhartsubstanzen teilweise erheblich (s. Kap. 14.14 Dentale Erosionen sowie 14.53 Vegane Ernährung). Funktionelle Fehlbelastungen zum Stressabbau über die Kaumuskulatur und das Kiefergelenk werden mittlerweile bereits bei jungen Menschen regelmäßig beobachtet. Je länger solche früh auftretenden Abnutzungserscheinungen und Fehlfunktionen unbehandelt bleiben, umso mehr wirken sie sich im mittleren und spätestens im hohen Lebensalter negativ aus (s. Kap. 14.8 Bruxismus: Kieferpressen und Zähneknirschen).

Auch der Restaurationsgrad der Zähne nimmt im Lauf des Lebens zu und die Rekonstruktionen reichen immer näher an die Pulpa heran. Kariogene Ernährung, besonders in Kombination mit unzureichender Mundhygiene, verstärkt und beschleunigt diesen Effekt. Wer also bereits in jungen Lebensjahren mehrflächige Rekonstruktionen benötigt, wird im Lauf des Lebens um Wurzelkanalbehandlungen, Kronen, Brücken oder Implantate nicht herumkommen. Dabei werden die Wurzelkanäle mit zunehmendem Alter immer enger, was ihre Behandlung erschwert. Zahlreiche Menschen im mittleren Lebensalter benötigen heutzutage bereits herausnehmbaren Zahnersatz.

Der Parodontalspalt wird im Lauf des Lebens ebenfalls immer enger, der umgebende Knochen weniger elastisch. Diese Kombination erschwert eine späte Zahnentfernung im hohen Lebensalter – Grunderkrankungen und Polypharmazie erhöhen in solchen Fällen erheblich das Risiko von Wundheilungsstörungen.

Der die Zähne umgebende Knochen geht im Lauf des Lebens zurück: Zu den üblichen horizontalen Knochenverlusten kommen ggf. vertikale hinzu. Dieser Abbau kann durch eine unzureichende Mundhygiene in Kombination mit Nikotinabusus bereits im mittleren Lebensalter erheblich verstärkt werden. Auch aggressive juvenile Formen der Parodontitis sind bekannt.

Um es deutlich zu sagen: Die meisten auslösenden Faktoren, die im mittleren oder spätestens im hohen Lebensalter zu den oben genannten Problemen führen können, sind vermeidbar oder zumindest verschiebbar. Im Gegensatz zur Kindheit liegen im mittleren Lebensalter Faktoren wie eine gesunde Lebensführung, gute häusliche Mundhygiene und regelmäßige zahnärztliche Kontrollen allein in der Verantwortung der (meisten) Menschen. Die zahnärztlichen Praxisteams können hier unterstützend eingreifen, aber nur, wenn diese Unterstützung auch rechtzeitig und regelmäßig in Anspruch genommen wird.

Wechseljahre

Ab 40 wird es für Frauen schwieriger, Gewicht zu verlieren, viele kämpfen damit, wenigstens nicht zuzunehmen. Grund ist der langsamer werdende Stoffwechsel, u. a. sinkt der Spiegel des Wachstumshormons Somatotropin, das den Muskelaufbau und den Fettabbau fördert. Wer jetzt keinen Sport treibt, verliert stetig an Muskelmasse. Der Anteil an Körperfett hingegen steigt, was sich auf der Waage bemerkbar macht, denn es werden deutlich weniger Kalorien benötigt, um den Bedarf zu decken.

Etwa ab dem 40. Lebensjahr verändert sich der Körper von Frauen und Männern besonders deutlich. Spätestens dann rächt sich ein bis dahin ungesunder Lebensstil. Das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen steigt, einzelne Gelenke verlieren an Beweglichkeit oder schmerzen. Wer in jungen Jahren wenig auf die Ernährung geachtet hat, wird nun besonders mit den Konsequenzen rechnen müssen. Überschüssige Pfunde verschwinden nun nicht mehr so einfach wie in der Pubertät und die Haut verliert an Spannkraft und Elastizität.

Frauen altern anders als Männer. Bis zu den Wechseljahren sind Frauen durch die Östrogene besser vor Arteriosklerose geschützt als Männer und haben somit ein geringeres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Allerdings haben Frauen ab 40 zunehmend mit rheumatischen Erkrankungen und Osteoporose zu kämpfen. Verursachend ist die Veränderung des Hormonspiegels während der Wechseljahre. Bei Männern hingegen ist das Risiko für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall im mittleren Lebensabschnitt deutlich höher als bei Frauen.

Fazit

Wer gut und gesund den Lebensstart hinter sich bringen konnte und durfte, bestimmt in der Mitte des Lebens zumindest teilweise darüber, wie sich die eigene gesundheitliche Situation entwickelt. Eine gesunde Lebensführung, regelmäßige Bewegung, Gewichtskontrolle und (zahn-)medizinische Vorsorgeuntersuchungen können vor typischen degenerativen Veränderungen schützen und schwere Erkrankungen im Alter reduzieren oder zumindest deutlich hinauszögern.

Eine regelmäßige professionelle Zahnreinigung sowie lebenslange regelmäßige zahnärztliche Kontrollen können meist vor einem hohen zahnärztlichen Behandlungsaufwand im Alter schützen und Zahnverlusten mit nachfolgendem Zahnersatz in vielen Fällen vorbeugen oder diesen zumindest deutlich verzögern. Sie dienen auch dazu, das Parodont so lange wie möglich stabil zu halten und Veränderungen der Mundschleimhaut zu erkennen, bevor sie entarten.

Empfohlene Literatur

Statistiken nationaler und internationaler Fachgesellschaften zu den jeweiligen Erkrankungen

Auswertungen diverser nationaler und internationaler Krankenkassen

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Die Mundhöhle am Lebensende (alte und sehr alte Menschen)

Willy Baumgartner

Alterungs- und Abnutzungsfaktoren am Kauorgan

Alterung ist ein multifaktorieller, nicht umkehrbarer Prozess, der in allen lebenden Organismen abläuft. Er kann chronologischen Altersstufen nicht zugeordnet werden, sondern verläuft individuell verschieden, sowohl physiologisch wie auch mit oder ohne Einwirkungen von Krankheiten. Beim Menschen werden hauptsächlich folgende Ursachen für Alterung beschrieben:

Alterung des Immunsystems,

Abnahme verschiedener Hormone,

oxidativer Stress mit Zellschädigungen,

Ansammlung abnormaler Proteine,

Zunahme genetischer Informationsfehler,

mechanischer Verschleiß.

Die demografische Entwicklung in der Schweiz unterscheidet sich kaum von derjenigen ihrer Nachbarländer, wobei ein zunehmender Anteil der Bevölkerung bei guter Gesundheit ein sehr hohes Alter von über 85 Jahren erreicht. Gemäß dem schweizerischen Bundesamt für Statistik 2015 wird die Zunahme der Lebenserwartung von 65-Jährigen bei Frauen von 16 Jahren im Jahr 1950 auf 26 Jahre im Jahr 2030 geschätzt, bei Männern von 14,5 Jahren auf gut 22,5 Jahre.

Dank der intensiven zahnärztlichen Prophylaxe in Schulzahnkliniken, im Schulunterricht und in den Privatpraxen, der guten medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in der Schweiz und dank der gestiegenen finanziellen Möglichkeiten und sozialen Absicherung kommen heute immer mehr Personen mit eigenen Zähnen und mit festsitzendem oder implantatgetragenem Zahnersatz ins höhere und hohe Alter. Während in einer schweizerischen Gesundheitsbefragung von 1992/93 bei den 65- bis 74-Jährigen noch durchschnittlich 15,4 Zähne fehlten, waren es 10 Jahre später nur noch 10,4 Zähne18.

Das Kauorgan muss also heute gut 70 bis 80 Jahre lang den Kauleistungen und allen chemisch-physikalischen Belastungen sowie den biologischen Einflüssen in der Ökologie der Mundhöhle standhalten können. Unter physiologischen Alterungsbedingungen ist der Erhalt der Eigenbezahnung und zahnärztlicher Rekonstruktionen bis ins hohe Alter erwiesenermaßen möglich.

Zahnschmelz und Dentin sind die härtesten Gewebe des menschlichen Körpers. Das Kauorgan mit seinem hohen anorganischen Materialanteil unterliegt im Lauf des Lebens zwar einer chemisch-physikalischen Alterung, aber nicht einem spontanen Zerfall. Ausgenommen davon sind Fehlbildungen, Hypo- und Aplasien und Hypomineralisationen wie Amelo- und Dentinogenesis imperfecta. Ebenfalls sind die Zahnerhaltung und Materialeigenschaften oft eingeschränkt bei Missbildungssyndromen und genetischen Anomalien. Während die Kaumuskulatur, wenn sie nicht gebraucht wird, Muskelfasern verlieren kann, werden die Zahnhartsubstanzen vor allem geschädigt durch ein individuell unterschiedliches Zusammenwirken von mechanischen, thermischen, chemischen und mikrobiologischen Einflüssen, von der Säureproduktion der oralen Mikroorganismen innerhalb der Speichelumgebung, von biochemischen Einwirkungen der Nahrungsmittel und von Medikamentennebenwirkungen auf die Speichelproduktion. Das Gleichgewicht von De- und Remineralisation im Zahnschmelz unter der Wirkung von Fluorid und Speichel ist Voraussetzung für die Vermeidung des kariösen Zerfalls.

Defizite im Immunsystem der Mundhöhle können zusammen mit Biofilmen und Nikotinabusus opportunistische Infektionen im Parodont begünstigen, die zum Zahnverlust führen. Zahnärztliche Restaurationen können die Destruktion des Gebisses im Sinne einer sekundären Prophylaxe zwar hinausschieben. Aber gerade im hohen Alter und unter dem Einfluss geriatrischer Erkrankungen brechen die sekundäre und tertiäre Prophylaxe oft zusammen, was für das stomatognathe System sowie reziprok für den geriatrischen Zustand äußerst negative Folgen haben kann.

Unter dem Einfluss des heutigen zivilisatorischen Lebensstils und der dadurch bedingten Ernährung und höheren Lebenserwartung kann man etwa folgende Faktoren nennen, die zur Alterung des Kauorgans und der Mundhöhle beitragen:

mechanische: Attrition, Abrasion, Bruxismus, erhöhter Kaudruck mit Frakturen, Trauma, Zahnprotrusionen mit Rezessionen, Habits;

thermische: zwischen einer Eisspeise und einer heißen Suppe kann ein Temperaturunterschied von ca. 50 °C bestehen; Hitze beim Tabakrauchen;

chemische: Erosionen, Lebensmittelsäuren, Alkohol- und Nikotinabusus, Drogen;

mikrobiologische: Karies, Gingivitis, Parodontitis, Stomatitis;

exokrine: Hyposialie, Xerostomie, visköser Speichel;

endokrine: Diabetes mellitus Typ I und II;

Ernährung: zu viel Zucker, Kohlenhydrate und weiche, klebrige, kariogene Nahrung, saure Speisen und Getränke, Mangelernährung, Vitaminmangel, Flüssigkeits- und Proteinmangel im Alter;

dentale: obliterierte Wurzelkanäle, Dentinsklerosierung, Furkationsprobleme bei Molaren, zunehmende Fehlstellungen und Engstände infolge der Mesialdrift, Lücken mit impaktierter Nahrung, Hyperzementosen, Wasserverlust und Gelbverfärbungen, ersatzloser Zahnverlust mit Bisssenkung und Kippungen;

zahnärztlich iatrogene: orthodontische Wurzelresorptionen, frakturierte zahnärztliche Restaurationen mit Substanzverlust, mangelnde Kontaktpunkte, Sekundärkaries, endodontische Misserfolge, Frakturen;

parodontale: entzündlicher horizontaler und vertikaler Knochenabbau, Schmutznischen durch Vergrößerung der Interdentalräume, „Verlängerung“ und Lockerung der Zähne;

Prothesen: Druckstellen, Reizfibrome, Stomatitis;

altersbedingte Zunahme von Schleimhautveränderungen: Fibrome, Leukoplakien, Erythroplakien, Plattenepithelkarzinome, Lichen planus, Pemphigoide, Lingua plicata, Makroglossie, Zungenvarizen;

selbst verschuldete Risikofaktoren für Schleimhaut und Zunge: Alkohol-, Nikotin- und Drogenabusus;

Polypharmazie: Antibiotika, Antimykotika, Glukokortikoide, Antazida, Desinfektionsmittel;

Kaumuskulatur: sarkopenische Verminderung der Muskelkraft, vermehrt bei Zahnverlust oder insuffizienten Prothesen, Schluckstörungen im Zusammenhang mit Demenzen;

Kieferknochen: Resorption zahnloser Alveolarkämme, Osteoporose, Osteonekrosen durch Bisphosphonatbehandlungen, Zysten, Tumoren;

soziale: niedriger sozioökonomischer Status, mangelnde Mundhygiene, finanzielle Probleme, berufliche Risiken (Koch, Bäcker etc.), fehlende zahnärztliche Betreuung, kognitive und motorische Einschränkungen;

geriatrische: nachlassende Körper- und Zahnpflege nach der Pensionierung, Depressionen und Demenzen, Polypharmazie, Multimorbidität, chronische Polyarthritis.

Das Kauorgan im gesunden Altern

Maßgebend für das Schicksal des Kauorgans sind vor allem die Art und der Verlauf des Alterns. Gute 90 % der über 65-Jährigen kommen heute bei guter Gesundheit und selbstständiger Lebensführung in ein hohes Alter von 75 bis über 90 Jahren, was auch als primäres oder physiologisches Altern bezeichnet wird. Sie erleiden dann oft eine akute Erkrankung, die innerhalb relativ kurzer Zeit zum Tod führt. Ihre Mundhöhle und ihr Kauorgan erfahren bis dahin kaum eine Einbuße oder Schädigung. Das Kauorgan im gesunden Altern kann in etwa folgendermaßen umschrieben werden:

Die Kaufähigkeit ist nicht beeinträchtigt und die Restaurationen bewegen sich von konservierenden und endodontischen Maßnahmen über Kronen-Brücken-Prothetik bis zur Implantologie.

Die Ästhetik wird oft aufwendig keramisch aufgewertet, kann aber auch durch Attrition und Farbveränderungen kompromittiert sein.

Die Prävention wird mittels regelmäßiger Dentalhygiene-Sitzungen aufrechterhalten, auch wenn dies mit zunehmendem Alter etwas nachlässt

11

.

Parodontitis kann meistens therapiert werden, wobei Raucher und genetisch kompromittierte Patienten eine Ausnahme bilden.

Einzelne Lücken und bis zu den Prämolaren verkürzte Zahnreihen werden nach den zahnärztlichen Praxiserfahrungen meistens akzeptiert und haben selten negative Auswirkungen auf die Mundgesundheit, Kaukraft und Lebensqualität.

Herausnehmbare Rekonstruktionen mit oder ohne Implantate haben ein günstiges Preis-Nutzen-Verhältnis, sind reparaturfähig und erhalten die Kaufähigkeit und Ästhetik auch im hohen Alter

18

.

Daher können bei diesem Segment der älteren Bevölkerung trotz der Abnutzungs-, Risiko- und Alterungsfaktoren, denen das stomatognathe System im Lauf eines langen Lebens ausgesetzt ist, die eigenen Zähne besser erhalten werden. Von den über 85 Jahre alten Betagten waren in der Befragung von 2008 97,4 % mit Zahnersatz versorgt, der zu 85,9 % herausnehmbar war26.

Es findet sich heute also ein markanter Unterschied zur Zahnlosigkeit (Abb. 3-1 und 3-2) und den totalprothetischen Versorgungen, die noch vor gut 50 Jahren in diesem Alterssegment üblich waren (Abb. 3-3). Die Abbildungen 3-4 bis 3-9 zeigen dagegen klinische Situationen und Bite-Wing-Röntgenaufnahmen des Gebisses und von Restaurationen und Implantaten, wie sie heute in der Praxis bei gesunden ca. 70- bis 85-jährigen Personen meistens angetroffen werden. Die 72-jährige Patientin von Abb. 3-10 und 3-11 ließ sich sogar noch den altersbedingt verstärkten Engstand in der Unterkieferfront durch die Entfernung eines Schneidezahns mit orthodontischem Lückenschluss korrigieren.

Abb. 3-1 Zahnloser Unterkiefer.

Abb. 3-2 Zahnloser Oberkiefer.

Abb. 3-3 Totalprothese Oberkiefer.

Abb. 3-4a und b 78-jährige Patientin in regelmäßigem Recall. Dunkle Zahnfarbe, Schmelzrisse, diverse Restaurationsmaterialien, tiefer Biss, geringe Rezessionen, entzündungsfreie Gingiva.

Abb. 3-5 bis 3-7 87-jähriger Patient, gut erhaltene, farblich gealterte Eigenbezahnung im Ober- und Unterkiefer mit implantatgetragener Brücke 34–36, diverse Restaurationsmaterialien.

Abb. 3-8 83-jährige Patientin im Recall. Stark gedunkelte, kleine Zähne mit etwas atypischen Zahnformen in der Oberkieferfront. Schmelzrisse, Biss abgesunken durch Attrition, diverse Restaurationsmaterialien in helleren Farben, gesunde Gingiva und Parodont.

Abb. 3-9 72-jährige Patientin. Bite-Wing-Aufnahmen zeigen diverse Restaurationsmaterialien und endodontische Versorgungen. Kein Knochenabbau.

Abb. 3-10 Altersbedingt verstärkter Engstand im Unterkiefer bei derselben Patientin.

Abb. 3-11 Dieselbe Patientin nach Korrektur des starken Engstands in der Unterkieferfront durch Extraktion des Zahns 41 und orthodontischen Lückenschluss im Alter von 70 Jahren.

Eine abnehmende Zahl von betagten Personen zeigt allerdings immer noch einen oft umfangreichen Zahnverlust, wenn etwa schon in der Jugend zahlreiche Zähne konservierend behandelt oder extrahiert werden mussten, sei es aufgrund mangelnden Hygienebewusstseins, fehlender schulzahnärztlicher Betreuung, infolge der Lebensumstände in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen, als Migranten oder mit kognitiven oder motorischen Einschränkungen. Auch Parodontitis infolge genetischer Disposition, fehlenden Dentalhygiene-Recalls und/oder Nikotinabusus führen oft noch zur Zahnlosigkeit. Teil- und Totalprothesen müssen bei solchen Personen oft schon im frühen Alter eingegliedert werden und brauchen später bei stark atrophierten Kieferkämmen meist Unterstützung durch die Implantologie (Abb. 3-12 bis 3-14). Auch findet man hin und wieder noch problematische exotische Konstruktionen bei zugewanderten älteren Personen (Abb. 3-15), Verlust der Seitenzähne (Abb. 3-16) und Folgen ausbleibender zahnärztlicher Betreuung wie Attrition und Bisssenkung (Abb. 3-17a und b). Bei größerem Zahnverlust und in guter finanzieller Situation können sich implantatgetragene, festsitzende Versorgungen anbieten.

Abb. 3-12 Oberkiefer-Modellgussprothese bei sehgestörter betagter Patientin.

Abb. 3-13 und 3-14 82-jährige Patientin. Diverse Wohnorte außerhalb Europas. Zahnverlust durch Parodontitis. Resorbierter Unterkiefer-Alveolarkamm. Unterkiefer-Modellgussprothese. 34 Implantat mit Variolock-Sekundärteil, 44 Dalbo-Rotex-Kugelanker.

Abb. 3-15 92-jähriger Patient. Verlust der Oberkiefer-Frontzähne in der Jugend im Ausland. Ca. 40 Jahre alte, gefräste herausnehmbare Rekonstruktion mit Retentionsproblemen. Sonst gut erhaltene Eigenbezahnung.

Abb. 3-16 85-jährige Patientin. Zahnverlust im Oberkiefer-Seitenzahnbereich durch Parodontitis, markante Rezessionen, insuffiziente Mundhygiene.

Abb. 3-17a und b Abradierte Unterkiefer-Restbezahnung mit Oberkiefer-Totalprothese im hohen Alter nach Jahrzehnten ohne zahnärztliche Betreuung (Bild: P. Netzle).

Die Häufigkeit von Mundschleimhautveränderungen nimmt auch im gesunden Altern zu. Alkohol- und Nikotinabusus sowie schlechte Mundhygiene und insuffiziente herausnehmbare Rekonstruktionen haben aber den größten Einfluss auf die Entstehung von Leukoplakien, Reizfibromen, Ulzera, Lichen planus oder Plattenepithelkarzinomen. Die Abbildungen 3-18a und b sowie 3-19 bis 3-21 zeigen Beispiele aus der Praxis.

Abb. 3-18a und b Lichen planus mit Bezug zu einer alten Amalgamrestauration am Zahn 36 und bukkal der Zähne 47, 46 (Bild: T. Mutzbauer).

Abb. 3-19 Stomatitis unter Oberkiefer-Prothese (Bild: T. Mutzbauer).

Abb. 3-20 Leukoplakie lingual des Zahns 43 bei älterem Raucher (Bild: T. Mutzbauer)

Abb. 3-21 Großflächige Leukoplakie am Zungengrund seitlich (Bild: T. Mutzbauer).

Krankhaftes Altern und Special Care

Schon ab dem 50. Lebensjahr sind in der Schweiz 22 % der Bevölkerung multimorbid, weisen also zwei oder mehrere chronische Krankheiten auf, die medikamentös behandelt werden24. Nach dem 65. Altersjahr kommt es bei etwa 10 % infolge mehrerer Erkrankungen, umfangreicher Medikationen (Polypharmazie), Chemo- oder Radiotherapien, zunehmender Immobilität, unglücklicher Lebensumstände, Depressionen, Phobien und Demenzen zu einer Überforderung der Ressourcen und damit zu einem pathologischen oder sekundären Altern. Hier beginnt, was als „Zahnmedizin für betagte Patienten mit speziellen Bedürfnissen“ bezeichnet werden kann und unter den Begriff „Special Care“ fällt.

In der zahnärztlichen Praxis erkennt man oft die beginnende Gefährdung durch allgemeinmedizinische Probleme und Veränderungen der Persönlichkeit, die bei Bedarf mittels medizinisch-psychosozialen Screenings objektiv erfasst werden können2. Beim zahnärztlichen Recall können etwa die folgenden Veränderungen bei beginnender Multimorbidität und Polypharmazie auffallen:

Persönlichkeitsveränderungen, etwa infolge von Partnerverlust, Berufsaufgabe, Erkrankungen;

Abnahme der kognitiven Fähigkeiten;

Einbußen in der Mobilität des Bewegungsapparats durch Adipositas, Kachexie, rheumatische Erkrankungen, chronische Arthritis, Frakturen infolge Osteoporose, Stürzen oder Unfällen;

Abnahme der manuellen Geschicklichkeit, der Seh- und Hörfähigkeit;

beginnende und zunehmende Depressionen und Phobien;

Medikationen im Sinne einer Polypharmazie: Antidepressiva, Psychopharmaka, Antihypertensiva, Kortison, Analgetika, Bisphosphonate;

beginnende und zunehmende Vergesslichkeit und Demenz;

sozialer Rückzug und Vereinsamung, finanzielle Probleme;

Mangel- und Fehlernährung;

Zucker-, Alkohol-, Nikotin- und Drogenabusus;

längere Aufenthalte in Krankenhäusern, Rehakliniken und Erholungseinrichtungen, mit Bezug auf die Mundtrockenheit verbunden etwa mit Magenresektion, Sjögren-Syndrom, Bestrahlungen, Chemotherapien;

Morbus Parkinson;

Aufschub von zahnärztlicher Betreuung und Recall.

Dabei zeigen sich Auswirkungen der Multimorbidität in der Mundhöhle folgendermaßen:

dicke Plaque, Speisereste, Zahnsteinkonkremente (

Abb. 3-22

und

3-23

);

Abb. 3-22 Dicke Plaque nach Ausfall der Mund­hygiene.

Abb. 3-23 Vernachlässigtes Gebiss nach privaten und finanziellen Problemen (Bild: P. Netzle).

Gingivitis, Parodontitis, erhöhte Zahnbeweglichkeit, Rezessionen, vergrößerte Interdentalräume (

Abb. 3-24

);

Abb. 3-24 Unterkiefer-Schneidezähne eines betagten depressiven Patienten nach Wegfall der Mundhygiene. Vergrößerte interdentale Dreiecke als Schmutznischen mit Wurzelkaries (Bild: P. Netzle).

schnell fortschreitende Karies, insbesondere Wurzelkaries

6

(

Abb. 3-25

und

3-26

);

Abb. 3-25 und 3-26 76-jährige Patientin. Sekundärkaries an alten Rekonstruktionen nach stark belastenden privaten Ereignissen und Stress.

Hyposalivation oder Xerostomie mit den typischen Befunden: Nahrungsimpaktion, trockene und schmerzempfindliche Schleimhaut, Rötungen, Läsionen, Blutungen, Atrophie, bakterielle, virale und mykotische Infektionen (

Abb. 3-27

);

Abb. 3-27 89-jähriger Patient mit chronischer Gingivitis, nachlassender Kognition und Mundhygiene sowie mit finanziellen Problemen. Die Goldinlays stammen noch aus seiner Teenagerzeit.

Folgen der Mundtrockenheit: Durst, Dysphonie, Dysgeusie, Kaubeschwerden, Dysphagie, Foetor ex ore, Prothesenunverträglichkeit, Candidiasis, azidophile Plaque, großflächige Entkalkungen, kreidig-brüchiger Schmelz, weiches Dentin, hohe Kariesinzidenz (

Abb. 3-28

und

3-29

a und b);

Abb. 3-28 Wurzelkaries und Entkalkungen durch Hyposialie und Fehlernährung bei depressivem betagtem Patienten. Versiegelung mit Silbernitrat (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-29a und b Psychiatrisch-geriatrische Angstpatientin mit Polypharmazie von 19 Medikamenten. Rasante progrediente Wurzelkaries, Hyposialie. Nur in Narkose behandelbar.

vernachlässigte herausnehmbare Rekonstruktionen (

Abb. 3-30

).

Abb. 3-30 Pflegeheimpatientin, insuffiziente Unterkiefer-Teilprothese (Bild: P. Netzle).

Bei guter Mundhygiene, Erhalt der kognitiven Kompetenzen und psychosozialen Bindungen lässt sich aber oft auch ein guter Zahnstatus aufrechterhalten, wie das Beispiel eines 82-jährigen Patienten mit fortgeschrittenem Morbus Parkinson zeigt, der mithilfe seiner Ehefrau eine effiziente tägliche Zahnreinigung durchführen und einen 6-monatigen Recall in der Praxis einhalten konnte (Abb. 3-31).

Abb. 3-31 82-jähriger Parkinsonpatient mit sehr guter Mundhygiene.

Behandlungsziele und Maßnahmen bei geriatrisch kompromittierten Personen in der zahnärztlichen Praxis

Wenn das Leben von älter werdenden Personen von seelischen Belastungen, Depressionen, Demenzen und organischen Erkrankungen kompromittiert wird, bekommen für die Mundhöhle die Prävention, Beratung und psychologische Hilfe im Verhältnis zur Restauration eine höhere Bedeutung. Restaurative Maßnahmen können nur erfolgreich und sinnvoll sein, wenn die Prophylaxe noch oder wieder angewendet und die Polypharmazie und Fehlernährung beendet werden.

Zu den Behandlungszielen bei beginnender Multimorbidität gehören:

Stabilisierung und Verbesserung der psychischen und geriatrischen Situation;

Erhalt des Interesses an Mundgesundheit und Prävention;

Erhalt der oralen Gesundheit, Kautüchtigkeit und Ästhetik;

Erhalt von Eigenbezahnung und Rekonstruktionen;

intensivere professionelle Prävention, Kampf gegen Mundtrockenheit;

Sanierung von Karies und Parodontitis;

suffiziente, gereinigte Prothetik.

Zu den zahnärztlichen Maßnahmen bei beginnender Multimorbidität gehören:

Zusammenarbeit mit Hausarzt, Psychiater und Geriater, Besprechung der Medikationen (Psychopharmaka, Antidepressiva, Bisphosphonate etc.);

Motivation zu geriatrischen Abklärungen (Memoryklinik etc.);

Motivation zu Mundhygiene und engem Recall;

Erhöhung der Fluoridaufnahme (Duraphatzahnpasta mit 5000 ppm Fluorid, Spüllösungen, Sprays, pH-neutrale Gels), Speichelersatz, Instruktionen;

Ernährungsberatung mit Hinweis auf Zuckergehalt und Klebrigkeit von Nahrungsmitteln sowie auf eine ausreichende Versorgung mit Proteinen, Vitaminen und Flüssigkeit;

Verbesserung der Hygienefähigkeit der Eigenbezahnung und der Rekonstruktionen, ggf. Vereinfachung von Rekonstruktionen;

Ausschaltung von Schmutznischen, eventuell Verkürzung der Zahnreihen durch Extraktion von fraglichen und gefährdeten Molaren;

Vermeidung von Stress durch kompetenten Umgang mit demenziellen Personen;

minimalinvasive Eingriffe, Vermeidung aufwendiger, finanziell anspruchsvoller Behandlungen.

Von der Multimorbidität zum Verlust der Autonomie

Die progredienten pathologischen Prozesse von der Autonomie bis zur Abhängigkeit in einer Institution ziehen sich meist über viele Jahre hin, können aber auch durch Einzelereignisse wie zerebrale Insulte mit vaskulärer Demenz oder Stürze mit Schenkelhalsfrakturen ausgelöst werden. Dabei können je nach sozialer Situation und dem Grad der Demenz die Haushaltsführung, Körperpflege und Mobilität immer schwieriger und trotz ambulanter Pflegedienste so unhaltbar werden, dass meist aus Sicherheitsgründen ein Heimeintritt unvermeidbar werden kann. Im Jahr 2015 waren in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik 143 000 Personen in Alters- oder Pflegeheimen untergebracht, was 6 % der über 65-Jährigen und 28 % der über 85-Jährigen entspricht. Die Frauen sind dabei deutlich in der Mehrheit. In den Pflegeinstitutionen beträgt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer 2,7 Jahre und endet unvermeidlich mit dem Tod. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von einer langen Sterbephase.

Die weitere Progredienz der Multimorbidität sowie der zunehmende Autonomieverlust in Alters- und Pflegeheimen haben zahlreiche negative Auswirkungen auf die orale Gesundheit und betreffen nach Moore et al.17 bei durchschnittlich 84-Jährigen folgende organischen und psychosozialen Erkrankungen:

mittlere bis schwere Demenzen Typ Alzheimer u. a.: 45 bis 52 %;

zerebraler Insult, vaskuläre Demenz: 19 bis 24 %;

Depressionen: 31 bis 37 %;

Arthritis: 26 bis 35 %;

Reflux: 23 %;

Bluthochdruck: 53 bis 56 %;

Herzinsuffizienz: 18 bis 21 %;

Anämie: 17 bis 20 %;

Diabetes mellitus Typ II: 23 bis 26 %.

Weitere Beispiele der Multimorbidität in Pflegeheimen sind:

Sturz mit Schenkelhals- und anderen Knochenfrakturen;

zunehmende Gebrechlichkeit, Immobilität und Vulnerabilität;

Verlust der manuellen Geschicklichkeit, Visus- und Hörverlust;

teilweiser bis vollständiger Ausfall der Mundhygiene;

Mangelernährung, Fehlernährung

2

, ungenügende Flüssigkeitszufuhr, Dehydrierung;

Verlust der finanziellen Selbstständigkeit, Bevormundung;

Abnahme der Körper-, Haar-, Fußpflege;

Abnahme der Schmerz- und Krankheitsmeldungen an den Arzt;

Mundhygiene- und Behandlungsunfähigkeit, Phobien;

Apathie, ans Krankenbett gebundene Immobilität.

Alle diese geriatrischen und psychosozialen Krankheiten und Gebrechen sowie ihre medikamentösen Behandlungen wirken sich negativ auf die Gesundheit in der Mundhöhle aus. Insbesondere verursachen die Verminderung der Speichelmenge und die Veränderung der Speichelqualität als Folge des Alterns und der Polypharmazie im Zusammenwirken mit ausbleibender Mundhygiene und weicher, kohlenhydrathaltiger Nahrung schnell verlaufende, flächenhafte, kariöse Läsionen am Wurzeldentin und an restaurierten Zähnen19. Das zunehmende Desinteresse am Kauorgan, eine häufige Mangel- und Fehlernährung und die abnehmenden Zahnarztbesuche, Phobien und finanzielle Ängste fördern den kariösen und parodontalen Zerfall der Eigenbezahnung und der Rekonstruktionen zusätzlich. Die abnehmenden Kaubewegungen und Speichelproduktion leisten zusammen mit alten, porösen Prothesenkunststoffen und Medikamentennebenwirkungen auch dem Befall mit Candida albicans Vorschub.

Destruktion des Kauorgans und geriatrische Multimorbidität – ein Circulus vitiosus der Interaktionen in Pflege und Abhängigkeit

Viele betagte Patientinnen und Patienten fallen wie erwähnt schon in der zahnärztlichen Praxis durch eine progrediente Verschlechterung des oralen und gleichzeitig des allgemeinmedizinischen Status auf, nachdem sie sich vielleicht über Jahrzehnte eine gesunde Mundhöhle und ein kariesfreies Kauorgan erhalten konnten. Nach dem Wegfall der zahnärztlichen Betreuung und dem weitgehenden Ausfall der Mundhygiene begegnen sie uns in Altersheimen und Pflegeinstitutionen mit stark vernachlässigter Eigenbezahnung und Rekonstruktionen, mit entzündeter, schmerzender Gingiva, dicker Plaque, Speiseresten, Zahnsteinkonkrementen, fortschreitender Wurzelkaries, Zahnverlust und häufig mit insuffizienten, schlecht gereinigten Prothesen.

Zahnärztliche Datenerhebungen in Pflegeinstitutionen zeigen hauptsächlich die folgenden Befunde:

Plaque, Biofilm, Zahnstein und Speisereste an Zähnen und Zahnersatz (

Abb. 3-32

bis

3-34

);

Abb. 3-32a und b Speisereste und Plaque im Pflegeheim bei dementer Patientin (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-33 Kompromittierte Kaufähigkeit bei hochdementer, behandlungsunfähiger Pflegeheimpatientin, Oberkiefer-Totalprothese mit Speiseresteretention (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-34 Lingua plicata, Restgebiss in schlechtem Zustand.

Gingivitis, Parodontitis;

Hyposialie, Xerostomie, visköser Speichel, Schluckschwierigkeiten;

schnell fortschreitende Wurzel- und Kronenkaries, Sekundärkaries, Zahnfrakturen (

Abb. 3-35

bis

3-38

);

Abb. 3-35 bis 3-37 90-jähriger Patient, zu Hause lebend, immobil im Rollstuhl, Mundhygiene durch Spitex. Spontanfraktur des Zahns 21, teilweise Karies profunda im Seitenzahnbereich. Nur bedingt behandelbar.

Abb. 3-38 Restbezahnung bei Behandlungsunfähigkeit im Pflegeheim. Wurzelreste, Zahnfrakturen, Zahnverlust (Bild: P. Netzle).

frakturierte Zähne, hohe Zahnbeweglichkeit, Wurzelreste (

Abb. 3-39

bis

3-44

);

Abb. 3-39 und 3-40 Hochbetagte, vulnerable und behandlungsunfähige Pflegeheimpatientin mit Oberkiefer-Totalprothese und Unterkiefer-Restbezahnung mit Wurzelresten (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-41 Desolates Restgebiss bei hochdementer Pflegeheimpatientin (Bild: P. Netzle)

Abb. 3-42 Vernachlässigte kariöse Restbezahnung im Pflegeheim (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-43 Restbezahnung bei Behandlungsunfähigkeit im Pflegeheim. Zahnfrakturen, Zahnverlust (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-44 Behandlungsunfähiger Pflegeheimpatient mit suffizienter Oberkiefer-Totalprothese und subjektiv akzeptierter Unterkiefer-Restbezahnung (Bild: P. ­Netzle)

luxierte Kronen, Brücken und Retentionselemente;

Prothesenstomatitis, schlechte Prothesenreinigung, Candidiasis;

Cheilitis bei Verlust der vertikalen Dimension (

Abb. 3-45

);

Abb. 3-45 Cheilitis nach Prothesenunfähigkeit und Verlust der vertikalen Dimension (Bild: P. Netzle).

insuffiziente, defekte Teil- und Totalprothesen, Druckstellen, Klammerfrakturen, abstehende Klammern mit Verletzungspotenzial, Eintrittspforten für

Candida albicans

, provisorische Prothesen, Abhängigkeit von Haftpräparaten (

Abb. 3-46

bis

3-51

);

Abb. 3-46 Pflegeheimpatientin, Notfallbefund unter Freiendsattel der Unterkiefer-Hybridprothese, Wurzel­rest des Zahns 37, Druckstellen im Vestibulum und Mundboden.

Abb. 3-47 und 3-48 Hochdementer Pflegeheimpatient mit frakturierter, aber adaptierter Oberkiefer-Prothese nach kariöser Zerstörung der Seitenzähne (Bilder: P. Netzle).

Abb. 3-49 Hochbetagte behandlungs- und hygiene­unfähige Pflegeheimpatientin. Wenig getragene Deckprothese im Unterkiefer (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-50 Hochbetagte Heimpatientin mit Druckstelle und leukoplakischer Veränderung aufgrund des Prothesensattels in der Regio 37.

Abb. 3-51 Hochbetagte demente Heimpatientin mit Mundtrockenheit, Plaque, partiellem Zahnverlust im Unterkiefer, defekter provisorischer Teilprothese im Unterkiefer mit Verletzungsgefahr durch die Drahtklammern (Bild: P. Netzle).

stark resorbierte Alveolarkämme;

ästhetische Einbußen, Frontzahnverlust (

Abb. 3-52

);

Abb. 3-52 Hochbetagte hygiene- und behandlungsunfähige Heimpatientin mit Verlust der Zähne 32, 31 ohne Ersatz. Zahlreiche Amalgamfüllungen und Konkremente. Schmerzfreie Gingivitis.

erschwerte Adaptation an reparierte, unterfütterte oder neu angefertigte Prothesen.

Diese Befunde zeigen sich international übereinstimmend in zahlreichen Studien, die in Pflegeinstitutionen durchgeführt wurden. Ebenso konnten alle Autoren nachweisen, dass Zahnverlust, insuffiziente, defekte Prothesen, Druckstellen, Funktionsstörungen und ästhetische Defizite sich ihrerseits negativ auf den geriatrischen Allgemeinzustand der Senioren auswirken13,22.

Mangelernährung, Demenz und Depressionen werden gefördert durch Schmerzen an Zähnen, Gingiva und Mukosa, durch Frontzahnverlust, Prothesenunfähigkeit und Kauunfähigkeit

25

.

Verletzende Klammern oder Restaurationsteile, hochbewegliche und druckdolente Zähne sowie trockene Schleimhäute und Prothesenstomatitis tragen zur Kauunfähigkeit bei

2

,

5

.

Eine nicht behandelte oder nicht mehr behandelbare Parodontitis kann Arteriosklerose fördern, das Risiko für einen kardialen Infarkt erhöhen

15

und steht in einem bidirektionalen Verhältnis zum Diabetesverlauf

8

.

Ein zahnloser Oberkiefer ohne Versorgung mit einer suffizienten Totalprothese vermindert die Gangstabilität und trägt zu Stürzen bei.

Die meist dicken Beläge mikrobieller Plaque auf Zähnen und besonders auch auf herausnehmbarem Zahnersatz enthalten erhöhte Mengen von

Lactobacilli

,

Streptococcus mutans

und

Streptococcus sobrinus

4

. Sie stellen bei immobilen, bettlägerigen Personen ein Risiko für Aspiration dar. Auch parodontalpathogene Anaerobier sowie

E. coli

und

Staphylococcus aureus

scheinen bei einem apathischen Wegfall der Kaubewegungen, bei einem insuffizienten Schluckmuster oder beim Belassen von Prothesen im Schlaf

7

eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines pulmonalen Infekts zu spielen, der zum Tod durch Ersticken führen kann

10

,

16

.

Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen dem allgemeinmedizinisch-geriatrischen Zustand einerseits und der oralen Gesundheit sowie der Destruktion des Kauorgans andererseits21. Diese gegenseitige Beeinflussung und die Interaktionen bilden einen Circulus vitiosus, der die Lebensqualität, das Wohlbefinden und die kognitiven Fähigkeiten in den letzten Lebensjahren fortschreitend kompromittiert und auch die Lebenszeit verkürzt.

Orale Betreuungsziele und Maßnahmen bei hochbetagten institutionalisierten Senioren

Je näher das Lebensende für Hochbetagte rückt, umso mehr relativieren sich für die Betroffenen wie für die Behandler die Ziele einer vollumfänglichen Sanierung oder einer okklusalen Rehabilitation. Die Lebensqualität, Schmerzfreiheit und Kautüchtigkeit in den letzten Lebensjahren rücken in den Vordergrund. Die medizinisch-geriatrischen Kriterien bestimmen das Maß der zahnärztlichen Betreuung23. Mit der Durchbrechung des erwähnten Circulus vitiosus sollen die Verschlechterung des geriatrischen, demenziellen Allgemeinzustands, der Mundgesundheit und des Wohlbefindens aufgehalten werden. Unnötige Belastungen durch invasive zahnärztliche Eingriffe sollen bei zunehmender Gebrechlichkeit aber im Sinne einer Güterabwägung vermieden werden. Für alle Patientinnen und Patienten muss ein individueller Weg gefunden werden, um weder Vernachlässigung zuzulassen noch Überbehandlungen zu praktizieren.

Da meist einem großen objektiven Behandlungsbedarf ein kleiner subjektiver Behandlungsbedarf gegenübersteht und der Patientenwille häufig nicht mehr erfragt werden kann, muss der Behandlungsentscheid oft im Team mit den Pflegenden und den Angehörigen erarbeitet werden. Je höher der Grad der kognitiven Einschränkungen ist, umso mehr kann die Fürsorge über der Autonomie der Patienten stehen. Sanierungen mit reduzierten Zielen können bei gegebener Behandlungsfähigkeit die Lebensqualität heben. Beispiele dafür zeigen die Abbildungen 3-53 bis 3-56.

Abb. 3-53 und 3-54 Sanierung mit reduzierten Zielen zur Hebung des oralen Wohlbefindens beim Pflegeheimpatienten. Keine okklusale Rehabilitation, angesichts ausreichender Kautüchtigkeit werden Zahnreinigung und Kompositreparaturen vorgenommen (Bild: P. Netzle).

Abb. 3-55 und 3-56 Reparatur der Oberkiefer-Drahtklammerprothese beim Zahn 13, Reinigung und Applika­tion von Fluoridgels auf Zähnen und Gingiva als Sanierung mit reduzierten Zielen (Bild: P. Netzle).

Konkremententfernungen mittels Ultraschallgeräten und rotierender Bürstchen sind heute dank mobiler Geräte in Pflegeheimen bis zu einem gewissen Grad möglich. Der Einsatz hoch dosierter Fluoridpasten und -gels oder auch eine Versiegelung mit Silbernitrat kann die Progredienz der Wurzelkaries in Schach halten (Abb. 3-57 und 3-58). Konservierende, substanzerhaltende Maßnahmen können sich beschränken auf den Grad 1 der SSO-Richtlinien, also auf eine Entfernung und Versiegelung der Karies mit gewebeschonender Technik und semiprovisorischen Füllungsmaterialien, von denen meist Glasionomerzemente bevorzugt werden. Für Zahnentfernungen zur Infekteliminierung müssen die Belastbarkeit der Patienten, die Risiken und die technischen Voraussetzungen wie etwa ein Transport in die Praxis gegenüber dem Nutzen abgewogen werden, was generell für alle Eingriffe gilt. Prothesenreparaturen können meist im Rahmen der aufsuchenden Zahnmedizin mit weichen Abformmaterialien vor Ort durchgeführt werden.

Abb. 3-57 Prophylaxe ersetzt die ­konservierende Behandlung. Beschickung der Zahnhälse mit Duraphat­gel.

Abb. 3-58 „Versiegelung“ der Wurzelkaries mit Silbernitrat als Alternative zur Extraktion der Wurzelreste bei Behandlungsunfähigkeit im Pflegeheim (Bild: P. Netzle).

Mit abnehmender Lebenserwartung und zunehmender Gebrechlichkeit, Demenz und Behandlungsunfähigkeit ist palliativen Maßnahmen der Vorzug zu geben. Eine tägliche Mundhygiene mit einer Elektro- oder Handzahnbürste sowie die korrekte Prothesenreinigung und -lagerung sollten dem Pflegepersonal beigebracht werden. Die klebrigen Speisereste müssen von den Zähnen, Prothesen und den trockenen Schleimhäuten entfernt werden14.

Betagte, die die Zahnreinigung noch selbst vornehmen können, profitieren oft von einem verdickten Bürstengriff oder von einer Bürste mit drei Borstenreihen (z. B. Fa. Dr. Barman’s, Haukeland, Norwegen). Alternativ kann eine Altersprophylaxeassistentin in Pflegeinstitutionen tätig sein. Einfache, aber grundlegende Hygienemaßnahmen mit Fluoriden und CHX-Präparaten können, wie diverse Projekte bereits gezeigt haben, zu einer Verbesserung beitragen. Allerdings ist eine höhere Lebensqualität objektiv schwer abzuschätzen und wissenschaftlich kaum erfassbar. Die Heimleitungen und die Gesundheitspolitik stehen den Initiativen der Zahnmedizin zudem oft skeptisch gegenüber, obwohl Pflegedienste das Problem heute immer mehr anerkennen.

Die Besonderheiten und Möglichkeiten der palliativen Zahnmedizin umfassen Folgendes:

Der Arzt ist auf Vermutungsdiagnosen am Krankenbett angewiesen.

Die Erfahrung des Arztes muss technische Mittel der Befundung ersetzen.

Es ist eine offene Kooperation aller Beteiligten anzustreben.

Der Patientenwille und die Belastbarkeit müssen oft im Team der Pflegenden und Angehörigen ausgelotet werden.

Nicht invasive Schmerzbehandlungen sind operativen Eingriffen vorzuziehen.

Das Eliminieren von Verletzungspotenzial an der Eigenbezahnung und den Prothesen verbessert oft mit wenig Aufwand die Kaufähigkeit und das orale Wohlbefinden.

Die Linderung der Mundtrockenheit, das Befeuchten der Mundhöhle und hygienische Maßnahmen dienen ebenfalls dem oralen Wohlbefinden.

Gingivitis und Stomatitis können oft nur noch palliativ und symptomatisch behandelt werden.

Die korrekte Reinigung und die nächtliche Trockenlagerung von Prothesen verhindern Prothesenstomatitis und Befall mit

Candida albicans

.

Menschliche Zuwendung, Einfühlungsvermögen sowie eine demenzorientierte Form der Kommunikation sollten immer eingeschlossen werden.

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