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Der exzentrische Künstler Martin Rinke wird mit einem blutverschmierten Messer in der Hand bei einer Frauenleiche überrascht und beschuldigt, ein brutaler Mörder zu sein. Sein aufbrausendes Verhalten und die brutalen Gewaltdarstellungen in seinen Bildern weisen in Richtung eines psychisch gestörten Triebtäters. Er beteuert zwar seine Unschuld, weiß aber selbst nicht genau, was eigentlich passiert ist. Die gesamte Geschichte ist erzählt aus dem subjektiven Blickwinkel des Malers, der sich immer wieder auch mit philosophischen, religiösen und aktuellen gesellschaftlichen Themen befasst. Alles, was geschieht und was geschehen ist, erfährt der Leser nur durch seine von Gefühlen, Phantasien und Macken getrübte Sicht auf die Welt. Der Roman spielt im Frühjahr 2015 in Bonn und verschiedenen Orten des Rhein-Sieg-Kreises.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Der exzentrische Künstler Martin Rinke wird mit einem blutverschmierten Messer in der Hand bei einer Frauenleiche überrascht und beschuldigt, ein brutaler Mörder zu sein. Sein aufbrausendes Verhalten und die brutalen Gewaltdarstellungen in seinen Bildern weisen in Richtung eines psychisch gestörten Triebtäters. Er beteuert zwar seine Unschuld, weiß aber selbst nicht genau, was eigentlich passiert ist.
Die gesamte Geschichte ist erzählt aus dem subjektiven Blickwinkel des Malers, der sich immer wieder auch mit philosophischen, religiösen und aktuellen gesellschaftlichen Themen befasst. Alles, was geschieht und was geschehen ist, erfährt der Leser nur durch seine von Gefühlen, Phantasien und Macken getrübte Sicht auf die Welt.
Heinz Diedenhofen (Jahrgang 1953) hat bisher zahlreiche Theaterstücke für Kinder und Jugendliche geschrieben und zur Aufführung gebracht. Sein erster Roman für Erwachsene „Die Zärtlichkeit der Fliegen“ spielt im Frühjahr 2015 in Bonn und verschiedenen Orten des Rhein-Sieg-Kreises.
Ich war’s nicht! Das will ich gleich klarstellen.
Ich war’s wirklich nicht. Das ist ein Irrtum.
Ich hätte es direkt sagen sollen, als die Leute durch die Tür drängten. Aber ich stand unter Schock, war durch die schreckliche Entdeckung wie gelähmt, gefangen zwischen Unglauben und Traurigkeit. Sekunden wie Stunden.
Und als sich alle Augen auf mich richteten, dachte ich nur:
Das darf doch nicht wahr sein: Ich unter Verdacht!
Sofort packten sie mich.
Natürlich habe ich mich gewehrt. Wer lässt sich schon gerne überwältigen? Aber muss man mir deshalb den Arm fast auskugeln, ins Gesicht schlagen, in die Eier treten?
Gut – ich bekam Wut, habe getobt, – aber doch nur aus Angst! Ich sah den Hass in ihren Augen, ihren Wunsch nach Rache. Am besten sofort lynchen!
Ich war froh, als mich die Beamten aus diesem Hexenkessel rissen, obwohl die auch nicht gerade zimperlich waren.
Von der Fahrt weiß ich nicht viel. Sie haben mir im Auto den Kopf zwischen die Beine gedrückt. Ich sah nur meine blutigen Schuhe. Dann das große Gebäude, Glasbausteine, Gitterstäbe. Ich begriff, bekam Panik und krallte mich am Geländer fest.
Selbst ein Dicker mit mörderischen Kräften bekam mich nicht los. Ich trat um mich und schrie: „Nein! – Ich war’s nicht!“ Aber niemand hörte auf mich.
Zum Glück kam noch rechtzeitig der Doktor. „Ich glaube Ihnen“, hat er gesagt. Er stand einfach da in seinem weißen Kittel – mit einer Spritze in der Hand und sagte: „Ich glaube Ihnen.“ Und das mit einer lauten, festen Stimme.
Alle hielten inne. – Auch ich.
Normalerweise bin ich vorsichtig bei diesen Halbgöttern in Weiß. Aber diesmal fiel mir eine Last von der Seele. Es tut gut, wenn man jemanden hat, der einem glaubt. Es ist ein tolles Gefühl. Wie angenommen sein! Wenn auch von einem Arzt.
„Nur zu Ihrer Beruhigung“, sagte er. Ein Pikser. Ich nahm die Hände von den Gitterstäben und ließ mich widerstandslos in diesen Raum führen.
Kein Fenster. Alles weiß. Neonlicht.
Ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Klo, ein Waschbecken – alles weiß.
Ein Ventilator summt.
Seine Hand auf meiner Schulter, – warm. Die sonore Stimme: „Es wird sich aufklären. Bald sind Sie hier raus.“
Ich soll alles aufschreiben, hat er gesagt. „Dann geht es schneller.“ Alles, was ich weiß!
Was weiß ich denn?
Die Wand ist weiß. Der Tisch ist weiß. Schrankweiß ..., Bett ... Oh ja, ich will liegen, will schlafen, die Trauer weiß schlafen, Deckweiß, Titanweiß, Neonweiß ...
Als ich aufwache, habe ich Schmerzen im rechten Arm. Der Einstich. Ich habe nur ein graues Nachthemd an. Darunter bin ich nackt. Meine blutverschmierte Kleidung ist weg. Meine Fingerkuppen sind schwarz. Wurden mir Fingerabdrücke genommen? Dürfen die das einfach so?
Auf dem Tisch liegen ein Block Papier und ein Stift. Ach ja, alles aufschreiben, was ich weiß! Auf weißem Papier!
Ich muss pinkeln.
Das Klo neben dem Schrank hat nicht mal einen Deckel. Ich brauche nur das Nachthemd anzuheben – wie die Frauen früher. Traumhaft für Männer!
Der Strahl ist merkwürdig gelb.
Als die Spülung verrauscht ist, höre ich die Stille. Da ist wirklich kein Laut von außen. Ich liege da und höre nur mich atmen. Ein Kloß wächst in meinem Bauch, ein Trauerkloß, wird immer breiter und breiter. Kein Platz mehr für Luft.
Arme Eva! Wie sie daliegt!
Irgendwann springt der Ventilator an. Sein Summen macht mich schläfrig.
Ich schrecke hoch. Die Tür schlägt zu. Auf dem Tisch steht ein Teller mit dampfender Suppe. Der Geruch zieht mich magisch an. Linsensuppe mit Wurst. Hungrig beginne ich zu löffeln.
Die Wurst ist klein geschnitten – wie in dem Witz vom Frauengefängnis, in dem die Frauen einen Aufruhr abbrechen, als ihnen gedroht wird, dass ansonsten die Wurst in der Suppe zerstückelt wird.
Ich kleckre auf den Tisch. Ein dicker Tropfen landet oben auf dem Papier. Jetzt ist es nicht mehr nur weiß. Es ist befleckt. Ich nehme den Stift und schreibe mit großen Buchstaben daneben: Ich war’s nicht!
Schlüsselgerassel. Der Dicke kommt herein. Hinter ihm der Arzt. Der Dicke nimmt sich den leeren Suppenteller. „Danke für die blauen Flecken“, sagt er und verschwindet wieder. Ich verstehe nicht.
„Wie geht es Ihnen?“, fragt der Doktor. Ich zucke mit den Schultern und spüre plötzlich überall Prellungen. Er fühlt mir den Puls und schaut mir in Mund und Augen:
„Es sieht schlecht für Sie aus. Alles spricht gegen Sie.“
„Aber Sie glauben mir doch, Herr Doktor!?“
„Das sage ich immer – zur Beruhigung. Da wusste ich außerdem noch nicht ...“
Dumpfe Angst kriecht in mir hoch: „Aber, Herr Doktor! Ich könnte so etwas doch nie tun! So etwas Schreckliches! Ich habe nichts gegen Frauen! Im Gegenteil: Ich liebe Frauen!“
Der Arzt zieht die Augenbrauen hoch und wendet sich zur Tür: „Aber irgendwie stecken Sie doch in der Sache drin. Schreiben Sie es auf! Schreiben Sie alles auf, was Sie wissen! Sonst kommen Sie hier nie heraus.“
Benommen hänge ich am Tisch und starre Ewigkeiten auf das Papier. Der Linsensuppenfleck ist inzwischen eingetrocknet. Daneben steht ein Satz, ein kleiner Satz. Ich unterstreiche ihn, möchte etwas dazu schreiben, aber ich weiß nicht was. Wo anfangen? Und – was ist wichtig? Ich male Augen in den Linsensuppenfleck, eine schiefe Nase, einen Mund. Aus dem Fleck wird eine Fratze, die mich frech angrinst und zu mir sagt: „Das hast du jetzt davon, dass du so ein Frauenliebhaber bist.“
Ärgerlich reiße ich das Blatt vom Block. Ich nehme den Stift und schreibe darauf: Ja, ich bin ein Frauenliebhaber. Ich liebe Frauen. Ein schnarrender Ton durchbricht die Stille.
Auf einen Schlag geht das Licht aus. Ich sitze da und starre ins Dunkel. Grünlich ahne ich die Umrisse der Möbel. Es sind nicht nur Nachbilder in meinen Augen. Eine Minibirne ist als Notlicht angegangen und lässt bizarre Schatten entstehen. Ich lege mich aufs Bett und betrachte alles. Der Schatten des Wasserkrans steht bedrohlich an der Wand. Das Klo wirkt wie ein riesiger Schlund.
Aus der dunklen Schrankecke tanzt plötzlich eine Frau mit weitem Rock hervor. Es ist Eva. Sie dreht und dreht sich und kreist selbstverliebt um sich selbst. Dabei rafft sie hin und wieder ihren Rock kurz hoch und für Sekundenbruchteile sehe ich, dass sie darunter nackt ist. Sie tanzt immer näher ans Bett heran und mit einer Drehung schwingt ihr Rock auf mein Gesicht. Mir wird schwarz vor Augen.
Am nächsten Tag, nein, besser: Als das Licht angeht, fühle ich mich gut ausgeruht. Ich finde im Schrank Waschsachen und genieße es, mich ausgiebig zu reinigen. Sogar das getrocknete Blut unter den Fingernägeln bekomme ich ab. Dann warte ich.
Das Frühstück wird mir durch eine Klappe in der Tür gereicht. Ich mag nichts essen.
„Du wirst gleich dem Haftrichter vorgeführt“, höre ich einen Wärter.
Mich stört das „Du“, aber ich sage nur: „Nicht in diesem Nachthemd.“ Wenig später bekomme ich Unterwäsche und eine Art Trainingsanzug – grau.
Von zwei Wärtern werde ich durch endlose Gänge geführt. Ist das hier ein Gefängnis mit Krankenstation oder ein Krankenhaus mit Gitterfenstern und Gittertüren? Draußen wartet ein Kleinbus. Bis auf die Scheiben vorne sind alle Fenster ebenfalls vergittert. Eingekeilt zwischen schweigenden Beamten werde ich durch die Stadt gekarrt. Im Gericht erwartet mich der Haftrichter in einem kargen Büro.
„Sind Sie Herr Rinke? Martin Rinke?“
Ich nicke und bestätige Geburtsdatum und Adresse.
„Sie sind Künstler?“
„Klar!“, sage ich. „Mit Fellweste und offener Hose!“ Ich blicke an mir runter: „Nur heute halt nicht.“
Kurz irritiert schaut der Mann von seiner Akte hoch.
Ohne Umschweife verkündet er dann den Haftbefehl gegen mich wegen Mordes an Eva Bonge. Ich kann’s nicht fassen, Eva wirklich tot. Der Richter rasselt etwas herunter von Rechten und Pflichtverteidigung. Aber ich bekomme nichts mehr mit, stehe nur ungläubig da und sage leise: „Ich war’s nicht!“
Dann soll ich etwas unterschreiben. Wütend fege ich das Papier zur Seite, stürze nach vorn und starre dem Richter aus nächster Nähe in die Augen: „Ich war’s nicht!“, brülle ich. Die Wärter packen mich hart und reißen mich weg. Ich strample und schreie: „Wollen Sie mich in den Knast stecken oder etwa in eine Klapsmühle?“
Der Haftrichter bleibt eiskalt. Er schaut nur in seine Papiere und zuckt mit dem Kopf. Die Wärter zerren mich hinaus.
Der Dicke ist ein Lästermaul. Er steht hinter mir und schaut über meine Schulter auf das Papier. „So, so,– du bist ein Frauenliebhaber?“, höhnt er. „Da brauchst du aber einen guten Rechtsanwalt, um das glaubhaft zu machen.“
Ich drehe mich sehr langsam um und komme hoch. Wie in Zeitlupe gehe ich auf ihn zu und singe: „Schweinchen schlachten! Würstchen machen! Quiek, quiek, quiek!“
Mit Daumen und Zeigefinger kneife ich plötzlich von unten in die Speckrolle seines Doppelkinns. Dabei glotze ich ihm aus größter Nähe in die Augen
Sein Kopf wird puterrot. Nur die Nase bleibt rosa wie ein Schweinerüssel. Er schnauft und schreit plötzlich um Hilfe. Mit einem Schlag gegen meinen Arm befreit er sich.
Zwei Wärter stürmen herein, packen und werfen mich auf das Bett. Mit ein paar Griffen und ihrem massigen Gewicht machen sie mich bewegungsunfähig.
„Das dürft ihr nicht!“, schreie ich. Die Wärter lachen nur.
Keuchend kommt der Dicke mit dem Arzt. Der jagt mir eine Spritze in den Arm.
„Pack mich nie wieder an!“, brüllt der Dicke. „Sonst dürfen wir noch ganz was anderes.“
Sein feistes Gesicht beginnt sich zu drehen, die Backen laufen auseinander wie flüssig werdendes Wachs. Sein Grinsen schwimmt im Linsensuppenfleck, dampft hoch an die weiße Decke. Das Neonlicht stürzt herunter in meinen Kopf und eine große Blutfontäne färbt alles rot ...
Bleischwer fallen mir die Augen zu. Alles Rot läuft leer, dunkel. Ja, bitte gerne weg sein, nicht mehr da sein, verschwinden im schwarzen Loch ...!
Endlose Finsternis ...
Ein Flüstern: „Frauen-lieb-haber! ... Frau-en-lieb-haber komm!“
Ich schwebe durch das Dunkel der Stimme hinterher.
Eine Landschaft entsteht vor mir wie bei einer Modelleisenbahn. Auf kleinen Wegen sehe ich Männer mit nach vorn ausgestreckten Armen laufen. Sie rennen auf Frauen zu, die ebenfalls mit ausgestreckten Armen herbeieilen. Auch ich beginne zu laufen und sehe in der Ferne eine Frau, die auf mich zu rennt. Je näher wir uns kommen, desto freudiger fühle ich mich. Eine ungeheure Spannung entsteht auf den letzten Metern und überglücklich fallen wir uns in die Arme und drehen und wirbeln uns durch die Luft.
Wir küssen uns und küssen und küssen und küssen ...
Hinter dem Rückwandpanorama der Modelllandschaft taucht wie ein übergroßer Mond das riesige Gesicht eines seibernden Glatzkopfes auf, der mit fanatischen Augen erwartungsfroh auf uns Paare herabblickt. Und plötzlich geht es los: Die Frau reißt sich von mir los. Sie strömt eine ungeheure Unzufriedenheit aus. Alles soll anders sein. Sie beschimpft mich und tritt mir ans Schienbein. Der irre Riese lacht hämisch und hat eine Mordsspaß. Ich will die Frau besänftigen, aber genau das bringt sie noch mehr auf. Tränen fließen, Missverständnisse, Schreie ... und das nicht nur bei mir: Alle Paare streiten sich, verletzen sich, rennen auseinander ... Und der große Irre freut sich diebisch und schmatzt vor Vergnügen. Ich werde wütend, ungeheuer wütend. Einen faustgroßen Stein hebe ich vom Boden auf und schleudere ihn mit aller Kraft gegen seinen Kopf. Ich treffe und das Gesicht zerspringt wie eine Glaslaterne in tausend Stücke.
Schlagartig ist es stockfinster.
Ich habe Angst. Auf allen Vieren krieche ich durch das Dunkel, suche nach der Frau, aber ich finde sie nicht. Plötzlich komme ich ins Rutschen. Steil stürze ich in die Tiefe, überschlage mich, pralle irgendwo auf, bleibe reglos auf dem Rücken liegen.
Mein linker Arm ...? Mein linker Arm ist weg. Ich spüre ihn nicht mehr. Amputiert? Ich kann ihn nicht bewegen, reiße die Augen auf: Schwarzgrün, Notlicht! Bin eingedrückt ins Bett. Wieder versuche ich links die Finger zu bewegen. Kein Anschluss. Ich probiere es noch einmal.
Ein Schmerz durchzieht mich.
Ein Phantomschmerz?
Die Hand beginnt zu kribbeln: Immer mehr Nadelstiche ... Die Hand ist noch dran.
Langsam wacht der ganze Arm auf. Millionen Stiche! Ameisen! Es ist kaum zu ertragen, aber ich bin erleichtert, trainiere auch den anderen Arm, auch die Beine.
Ich werde klarer, fühle mich auf einmal leichter, fröhlicher.
Überall kleine Bewegungen. Mich kann man auf Dauer nicht ruhig stellen. Da hat der Dicke Pech gehabt. – Ach ja, der Dicke! Wollte wohl mal Macht demonstrieren, das arme Schwein. Schweinchen schlachten ..., Würstchen machen ...
Ich lache in mich hinein.
Das Licht flammt an. Ich kneife kurz die Augen zu. Ein kleiner Wärter und der Doktor kommen herein. Sie stellen sich neben das Bett wie bei einer Krankenhausvisite. Verächtlich drehe ich mich weg. „Nun kooperieren Sie schon!“, fordert mich der Arzt auf. Wütend springe ich hoch: „Soll ich mich Ihnen vielleicht noch mal anvertrauen?“ Der Arzt zuckt nur mit den Schultern, untersucht dann demonstrativ uninteressiert Einstichstelle, Puls und Augen.
„Muss ich mir hier alles gefallen lassen?“, frage ich in den Raum hinein.
Der kleine Wärter grinst: „Rufen Sie doch Ihren Rechtsanwalt an!“
Wenig später bringt er mir das Essen. Ich sitze allein da und schaufele eine grün-graue Pampe in mich hinein. Lecker!
Unter dem Teller finde ich eine Notiz: Es ist eine Nachricht von meiner Frau. Sie stehe zu mir und wolle mich besuchen, sobald sie darf.
Ich zerknülle das Papier.
Brauche ich einen Rechtsanwalt?
Ich kenne keinen.
Komisch, in den amerikanischen Filmen hat jeder einen Rechtsanwalt. Der gehört quasi zur Familie. Das ist meist so ein korrekter Typ mit Hornbrille, der mit seiner unscheinbaren Frau auch mal zum Essen eingeladen wird. Wenn was ist, braucht man den nur anzurufen: „Hey Roy, komm mal eben rüber! Die Bullen machen Schwierigkeiten.“ Und dann kommt der Typ – meist direkt mit einer Kaution – und holt einen raus. Das macht so einer aus Freundschaft. Noch nie habe ich gesehen, dass einer dafür bezahlt wurde.
Ich zeichne mit ein paar Strichen einen Anzugmann auf das Papier. Die Brille wird modisch dick. Das Gesicht ist kaum noch zu erkennen. In die rechte Hand male ich ihm einen Aktenkoffer. „Ich hole Sie raus!“, lasse ich den Mann in einer Sprechblase sagen.
Ist das nicht der Werbespruch von so einer Reisefirma? So als Heilsbotschaft für alle, die im Beruf und Alltag fast ertrinken?
Nein, die sagen: „Wir holen Sie raus!“ Als wäre es eine ganze Armee von Guerillakämpfern, die in spektakulären Aktionen jeden einzelnen in den Urlaub retten.
Ich zeichne ein Flugzeug über die Sprechblase und stelle mir vor, dass wenigstens ein einzelner braungebrannter Reisefuzzi sich zu mir durchkämpft.
Links neben den Anzugmann male ich eine Palme. Sie gerät mir zu klein, beschattet gerade mal den Mann. Mit ein paar Linien deute ich eine Landschaft an und rücke dadurch die Palme in die Ferne. Ein Horizont mit sanften Hügeln entsteht. Zwei erinnern mich an einen Busen. Zwei Punkte verstärken den Eindruck. Ein schwarzes Dreieck noch ... und der wunderbare Körper einer nackten Frau liegt im Sand. Ich liebe diese Kurven, diese Formen, diese weiche Haut. Sie lassen in mir alle Alarmanlagen anspringen. Ich will anfassen, berühren, streicheln ... Mein Gott, wie muss das sein, den ganzen Tag so herumzulaufen, so als Frau, mit so einem Körper? Ich gehe in der Zelle auf und ab und versuche, es mir vorzustellen. Vergeblich. Ich werfe mich auf das Bett und spüre plötzlich die weiche Haut von Evas Busen an meinem Arm, in meinem Gesicht. Genießerisch lächelnd ziehe ich ihren Duft ein ...
Der Dicke stört mich: „Besuch!“, schreit er nur und knallt die Tür schon wieder zu.
Im Rahmen steht ein Mann mit Lederjacke.
Er sieht nicht so aus, als hätte er sich durchgekämpft.
Für einen Reisefuzzi ist er zu blass. Und für einen alten Familienfreund ist er irgendwie zu jung. Kein Anzugtyp. Ich bleibe liegen.
„Müller“, stellt er sich vor, kommt von der Mordkommission, ist Ober- Unter-, Haupt- oder Nebenkommissar. Er macht auf locker, auf guten Kumpel, setzt sich auf den Stuhl und meint, jetzt, wo ich mich beruhigt hätte, könnten wir ja mal über alles reden.
Ich nicke mechanisch.
Im Grunde sei die Sache aber doch klar. Schließlich sei ich ja mit dem Messer in der Hand quasi auf frischer Tat ertappt worden.
Ich staune ihn an.
Er habe deshalb direkt ein Geständnis aufgesetzt. Ich bräuchte es nur zu unterschreiben.
Müller fingert ein Papier aus seiner Jackentasche und hält es mir hin.
Ungläubig schüttle ich den Kopf: „Ich war’s nicht.“
„Nun machen Sie mal keine Schwierigkeiten, Herr Rinke!“ Der Ton des Kommissars ist plötzlich messerscharf. „Wir haben jede Menge Zeugen.“
„Ich habe Eva als erster gefunden“, schreie ich. „Ihre Zeugen sind erst gekommen, als ich ihr das Messer aus der Brust zog.“
„Wer soll Ihnen das glauben?“
Empört springe ich auf: „Es ist aber so gewesen.“
„Wir haben nur eine Sorte Fingerabdrücke auf dem Messer gefunden. Und das sind ja wohl Ihre.“
„Warum sollte ich das gemacht haben?“, schreie ich.
„Sex!“, antwortet er kühl.
„Das habe ich doch gar nicht nötig!“
Das Gesicht des Kommissars verzieht sich gequält: „Welcher Mann hat nicht Sex nötig? – Nun unterschreiben Sie schon!“
„Ich war’s aber nicht!“, wiederhole ich eindringlich.
„Oh Mann!“, stöhnt der Kommissar genervt: „Warum müssen Triebtäter immer so schwierig und arbeitsintensiv sein? Da denkt man, klarer kann ein Fall ja gar nicht sein, keine Überstunden nötig – und dann so was.“ Er steckt das Geständnis wieder ein und wendet sich zur Tür: „Dann müssen wir Sie eben in die Mangel nehmen. Wir sehen uns zum Verhör!“
Mir fällt nur ein: „Ich sage nichts ohne meinen Anwalt!“
Er dreht sich noch mal um und fragt: „Wer ist denn Ihr Anwalt?“
Ich zucke mit den Schultern.
Müller verdreht nur die Augen und geht.
Ich sitze auf dem Klo und stinke vor mich hin. Der Ventilator tut sein Bestes.
Ohne Vorwarnung platzt der Dicke herein.
„Ja hab ich hier denn keinerlei Intimsphäre?“, brumme ich empört. So was ist mir seit Wohngemeinschaftstagen nicht mehr passiert. Damals gehörte es zum Alltag, Stuhlgang und Intimpflege in Gesellschaft zu verrichten. Das Bad zu verschließen, hielten wir für kleinbürgerlich und spießig. Aber damals hatte ich mir auch meine Wohngenossen ausgesucht.
Dem Dicken verschlägt mein Duft den Atem. Das freut mich. Angewidert hält er die Luft an und verschwindet wieder.
Endlich eine Waffe gegen diesen Wärter! Vielleicht sollte ich die Spülung nicht betätigen?
Ich tue es dann doch.
Vor der Tür schreit der Dicke herum. Mir ist das egal.
Er öffnet die Tür einen Spalt breit und ruft etwas in meine Zelle. Ich reagiere nicht.
Schließlich steckt er seinen Kopf herein. Ich verstehe nicht, was er sagt, weil er sich die Nase zuhält und nuschelt.
Ich könnte jetzt die schwere Türe zuschlagen ..., den Kopf zerquetschen ...
Das hohle Krachen wie beim Knacken einer großen Nuss schwingt schon in meinem Gehör ...
Ich gehe auch schon näher heran ...
Aber wie es im Leben so ist ..., gerade jetzt ist mir nicht nach Schweinchen-Schlachten.
Der Dicke packt mich am Arm und zieht mich blitzschnell hinaus auf den Gang. Hier muss er erst mal durchatmen.
„Da ist jemand für dich“, keucht er. „Im Besucherzimmer.“
„Oh je!“, seufze ich: „Da hat es meine Frau aber schnell geschafft.“
Am Gangende wartet ein Beamter, der mich in das Besucherzimmer führt. Er lässt mich erst mal allein.
Es ist ein karger Raum: Ein Tisch mit zwei Stühlen, ein dritter Stuhl neben der Tür, ein Fenster.
Ein Fenster!
Licht! Sonne! Draußen scheint die Sonne!
Ich klebe an der Scheibe wie eine Fliege.
Grün! Frühling! Ich will raus!
Das Fenster lässt sich nicht öffnen. Aber oben ist eine Luke, die kann man vielleicht kippen. Ich steige auf die Fensterbank. Die Luke geht sogar quer auf. Lauer Wind strömt herein. Ich ziehe mich an dem Rahmen hoch und sauge genüsslich die herrliche Luft tief in meine Lungen.
„Was machen Sie da?“, herrscht mich der Beamte an und kommt panisch ans Fenster gerannt. „Steigen Sie da sofort herunter!“
Ich drehe mich vorsichtig auf der Fensterbank herum. Hinter dem Beamten hat ein großer, dünner Mann den Raum betreten: Anzug, Hornbrille, Aktenkoffer. Er schaut verwundert zu mir hoch. Der Beamte zerrt an meinem rechten Bein, aber mich stört das wenig.
„Martin!“, sagt der Anzugmann.
Ich bin überrascht. Müsste ich ihn kennen?
Er kommt näher und hilft mir von der Fensterbank herunter.
Er sieht meine Verwirrung und sagt: „Ich bin’s, Martin, der Leo!“
Ich kenne keinen Leo.
Er nimmt seine Brille ab und jetzt kommt mir das Gesicht irgendwie bekannt vor. Aber ich weiß nicht, wo ich es einordnen soll.
„Ich bin es, Leo! Leo Lantermann. Erinnerst du dich nicht? Städtisches Gymnasium! Oberstufe! Wir waren in einer Klasse!“
Jetzt fällt bei mir der Groschen. Leo Lantermann, dieser Schleimbeutel! Drei Bänke hinter mir. Der Typ, der zu allem was zu sagen hatte, der sich trotzdem am Ende immer aus allem heraus gehalten hat, auf den kein Verlass war, der immer, wenn es spannend wurde, abgehauen ist mit seinem Lieblingssatz: „Ach, leck mich doch am Arsch!“ Genau! „Leckleo!“ So haben wir ihn deshalb genannt.
Ich schaue den Anzugmann groß an. „Leckleo?“, frage ich ungläubig.
Er bekommt einen roten Kopf und nickt nur beschämt. „Das ist lange her“, sagt er.
Auch ich nicke. Einmal hatte es Leckleo zu weit getrieben. Erst hat er große Reden geschwungen. Als er sich wieder mit einem: „Leck mich am Arsch!“, aus der Affäre ziehen wollte, sagte ich nur: „Ja, das mache ich jetzt, Hose runter!“
Die ganze Klasse johlte auf und schnell hatte sich ein Kreis geifernder Schüler um uns gebildet, die rhythmisch-klatschend riefen: „Ausziehen! Ausziehen!“
Leckleo bekam eine rote Bombe und wollte den Kreis durchbrechen, aber die anderen hielten ihn fest und Bernd war so dreist, ihm die Hose herunter zu reißen. Der Jubel war groß, aber auch mir wurde mulmig. Die Aussicht, Leo nun wirklich am Arsch lecken zu müssen, begeisterte mich nicht gerade. Dies Schicksal wurde mir dann zum Glück doch noch erspart, weil unser Mathelehrer in der Klasse erschien und dem Spuk ein Ende machte. Leckleo hat mich nach diesem Vorfall gemieden und nach der Schule habe ich ihn dann aus den Augen verloren.
Aber was will dieser Typ nach über 30 Jahren jetzt von mir?
Leckleo sieht die Frage in meinen Augen und sagt: „Ich bin Rechtsanwalt, ich möchte dich vertreten.“
Leckleo Rechtsanwalt. Na klar! Das passt! Was hätte der auch sonst werden können? Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Leckleo ist nicht gerade der langjährige Familienfreund, zu dem man blindlings Vertrauen haben kann.
„Wie komme ich denn zu der Ehre?“, frage ich argwöhnisch und hoffe, dass er jetzt nicht direkt herumschleimt von wegen „Klassenkamerad“.
Wir setzen uns an den Tisch. Leckleo wartet, bis der Beamte etwas entfernt neben der Tür Platz genommen hat.
„Ich will ganz offen sein“, sagt er dann leise. „Ich habe ein Anwaltsbüro, zwar halbwegs erfolgreich, aber ich muss mich auch als Pflichtverteidiger anbieten. Bei dir ist mir das nicht unrecht. Dein Fall ist spektakulär. Die Presse, die Medien ... alle nehmen Anteil. Ich könnte bekannter werden, – ein Karriereschub, verstehst du?“
Ich bin überrascht über seine Ehrlichkeit und über seine Bemerkung über die Medien.
„Die Presse schreibt über mich?“
„Klar! Jede Menge!“, sagt er und holt flink einige Zeitungen aus seinem Aktenkoffer. Riesige Schlagzeilen springen mir ins Gesicht:
„Grausamer Frauenmord! Täter auf frischer Tat gefasst!“,
„Sudelkünstler ein Mörder?“,
„Bestialischer Sexmord“,
„Unheimlicher Sudelmörder gefasst!“,
„Sudelmörder Serientäter?“
Mir stockt der Atem. Der Schreck ist mir in alle Glieder gefahren: „Das kann doch nicht wahr sein!“
Dann schlägt mein Gefühl um. Ich beginne zu lachen, erst ganz langsam, dann immer heftiger laut zu lachen: „Ich, ein Sudelmörder? Ha, ha, ha! Hat man so etwas schon mal gehört?“ Ich springe auf und pruste und lache und steigere mich in einen richtigen Lachanfall.
Leckleo versucht in das Lachen einzustimmen, aber es gelingt ihm nicht überzeugend. Mir hingegen tut schon der Bauch weh.
Schlagartig höre ich auf und gehe ganz langsam und ruhig auf ihn zu: „Ich war’s nicht! Du glaubst mir doch, oder?“
Leckleo ist irritiert, zögert.
Ich komme ihm immer näher.
Dann sagt er plötzlich: „Klar, glaube ich dir. Für so einen Mord bist du doch viel zu weich und feige.“
Wütend packe ich ihn am Anzugkragen und schüttle ihn. Der Beamte springt herbei, aber Leckleo wehrt ab: „Lassen Sie nur, das ist doch Spaß!“
Wir setzen uns alle wieder und er kramt aus seinem Koffer ein Stück Papier hervor: „Wenn ich dich vertreten soll, musst du mir hier die Bevollmächtigung unterschreiben.“
Ich starre auf das Papier, aber dann fällt mir ein: „Bist du verheiratet? Hast du eine unscheinbare Frau?“
Verständnislos und beunruhigt schaut er mich an.
„Schon gut!“, sage ich, während ich unterschreibe: „Ich kann es ja widerrufen, wenn du es nicht bringst.“
Er zuckt nur mit den Achseln und steckt die Vollmacht ein. Dann schiebt er mir seine Karte zu: „Der Gebührensatz für Pflichtverteidiger ist mir zu wenig. Sag deiner Frau, sie soll mir einen Vorschuss überweisen.“
„Geier!“, zische ich.
„So, – jetzt gebe ich dir einige Hausaufgaben:
Keine Aussagen, wenn ich nicht dabei bin!
Schreibe mir bitte genau auf, was du am Mordtag gemacht und erlebt hast!
Dann brauche ich etwas über dein Verhältnis zu Eva Bonge. –
Ja, und dann schreibe so etwas wie einen Lebenslauf von dir, aus dem hervorgeht, dass du zu so einer Tat gar nicht fähig bist.
Stell dich darauf ein, dass so ein Psychomensch kommen wird, der ein Gutachten über dich erstellen soll. –
So! Das fürs erste. – Noch Fragen?
Oder kann ich was für dich tun?“
Ich bin wie erschlagen, aber dann fällt mir doch noch was ein: „Ich will in eine andere Zelle, in eine mit Fenster. Und ich will ab und zu nach draußen und mit Menschen reden.“
Leckleo nickt: „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
Wie ein startbereiter Drachenflieger auf einer Klippe stehe ich mit ausgebreiteten Armen da und lasse eine Leibesvisitation über mich ergehen. Vorher darf ich nicht in meine Zelle. Ich bin gefährlicher als ein Terrorist. Ich bin der Sudelmörder. Schon wieder muss ich losprusten. Der Beamte, der mich abfingert, hält mich jetzt für kitzelig. Soll er.
Die fensterlose Abgeschiedenheit meiner Zelle bedrückt mich plötzlich. Der einzige Ausgang scheint durch das Papier auf dem Tisch zu führen. Ich betrachte meine Kritzeleien und weiß nicht recht, wie und womit ich anfangen soll.
„Hausaufgaben“, hat er gesagt. Als wenn ich hier zuhause wäre.
Aber wo bin ich zuhause?
Ich bin so oft umgezogen in meinem Leben, dass ich zu vielen Orten eine Beziehung habe, ohne aber in unsterblicher Liebe zu zerschmelzen.
„Heimat! Auf immer dein!“, könnte ich nie sagen. Ich glaube, ich bin da zu Hause, wo ich mich eingelebt habe. Betroffen wird mir klar, dass diese Zelle doch auch mein Zuhause werden könnte.
Der Umzug hier hin kam plötzlich wie viele Umzüge in meinem Leben. Schon meine Geburt – mein erster Umzug quasi – kam überraschend, zwei Wochen zu früh. Meine Mutter war nervös, gereizt, hatte Krach, hatte Ängste, war sogar übervoll mit Angst. Sie wollte vielleicht alles schnell hinter sich bringen – dieses ganze für sie eklige Zeug mit Sexualität, Schleim, Schmerz und Blut. Vielleicht wollte sie mich auch ganz einfach loswerden.
Kann auch sein, dass ich raus wollte. Ich kann schlecht warten. Wahrscheinlich habe ich es in meiner Mutter nicht mehr ausgehalten, aber nicht aus Neugierde auf die Welt. Schon als Kind war mir diese Frau peinlich und ich wollte trotz meiner großen Sehnsucht nach Nähe nur weg von ihr.
Der Welt habe ich als erstes mit meiner Steißgeburt meinen Arsch gezeigt. Nicht gerade eine Liebeserklärung. Dass diese überstürzte Hausgeburt gut ging, verdanke ich einer patenten Hebamme.
Das Warten musste ich dann aber doch noch lernen, – als Säugling, als Kind.
Stundenlang lag ich im Bett und wartete, dass einer kommt, dass ich dran bin. Meine Eltern hatten ein Geschäft. Kinder waren zweitrangig, Nebensachen; zumindest ich sicherlich auch kein Wunschkind. Aber wer war das schon damals?
Bestimmt hat man mein Schreien im Laden nicht gehört, wollte es auch nicht hören. Es hätte die Kundschaft gestört.
Ich lag da und lernte, die Zeit ’rumzukriegen, – rechts die Eisblumen am Fenster, links oben die milchig-gelben Schalen der Deckenlampe.
Wie wechselwarme Tiere ihren Stoffwechsel bei Kälte verlangsamen, ja fast zum Stillstand bringen, so erstarrte ich. Ja fast erstarb in den Phasen des Wartens in mir das Leben. Nur so überlebte ich das endlos-zähe Zerfließen der Zeit.
Kam dann aber jemand, wurde ich gesehen, beachtet, endlich genommen, kehrte in mir blitzschnell das Leben zurück. Ich wusste nie, wie lange ich Zuwendung bekomme. Sofort war ich hellwach und völlig präsent. Nur nichts verpassen! Jeden dieser spärlichen Tropfen der Nähe auch wirklich mitbekommen, aussaugen, auskosten! Ein einziges Auftanken für die Zeiten der Kälte.
Der Mensch kann wohl mit sehr wenig überleben. Und er wird dann auch sehr erfinderisch, entwickelt ungewöhnliche Fähigkeiten, Talente, Strategien ... Vielleicht gibt es ja noch einen zweiten Tropfen Zuwendung?! Vielleicht hilft Lieb-Sein, Nett-Sein, Verständnis haben ...? Überleben ist alles!
Nur wohin mit der Enttäuschung, dem Ärger, der Wut? Der Hass könnte aus den Augen springen. Am besten weggucken! Die Augen zusammenkneifen! Keinen Augenkontakt zu der Frau, die mir hastig die Flasche reinschiebt. Schlucken! Schlucken! Ich muss alles schlucken! Der Mund ist voll, doch sie drängt. Schlucken! Nur nicht ver-schlucken! Nicht husten! Erbrechen! Unten muss es raus! Rechtzeitig! Oben rein, unten raus, ein Abwasch! Schnell! Schnell! Fies! Meiner Mutter ist es fies – das Säubern zwischen den Beinen, das Wickeln. Schnell! Schnell! Schnell! Füttern, wickeln, schlafen legen. Säuglinge schlafen ja nur – den ganzen Tag.
Mir wird speiübel. Die Magensäure schwappt hoch. Ein widerlicher Geschmack im Mund. Mit einem Schwall erbreche ich eine grau-grüne Pampe auf das Papier. Die nackte Frau in der Palmenlandschaft wird unter der Schlammlawine verschüttet. Dem Anzugmann steht die Kotze bis zum Hals. Aber ich kann noch die Sprechblase lesen: „Ich hole Sie raus!“
Plötzlich das Nachtsignal! Das Licht klackt aus.
Im Schein der Notbeleuchtung wanke ich zum Waschbecken und spüle mir den sauren Geschmack aus dem Mund. Mundgeruch macht einsam. Den vollgekotzten Papierbogen halte ich unter den Wasserstrahl und lasse das Erbrochene hinweg rinnen. Es hat auf dem Blatt Spuren hinterlassen. Ich kann nicht erkennen, ob die Zeichnung wieder sichtbar wird. Das nasse Papier klatsche ich an die glatte Wand. Das wird Kunst.
Das mit der Kunst haben die Tanten bei mir entdeckt. „Tanten“ hießen früher meine Kindergärtnerinnen. Alles Tanten. Die Tanten mögen mich, machen ein großes Gewundere, wenn ich male, knete oder bastele. „Ein Künstler!“, jubeln sie.
Mit meinem Waschlappen wische ich den Tisch. Wie sauber er wird, kann ich in der Finsternis nicht sehen. Auch fällt mir der Stift herunter. Ich lasse ihn liegen. Ein sauberer Tisch! Das freut Tante Irmgard und Tante Monika. Ich tue ihnen gern diesen Gefallen und staune. Was sind das für Wesen? Wenn wir frühstücken, hocken sie zusammen, beobachten uns Kinder und flüstern. Manchmal setzt sich die Tochter des Milchmanns zu ihnen. Sie färbt sich ihre Haare, hat rote Fingernägel und raucht. Ich kenne sonst keine Frau, die so was macht. Sie ist mir unheimlich. Der Kakao schmeckt an diesen Tagen auch anders. Ich mag es lieber, wenn ihr Vater Milch und Kakao bringt.
Ich lege meine Hände flach auf den sauberen Tisch, damit Tante Irmgard sehen kann, ob sie sauber sind. Erst dann dürfen wir die Schuhe anziehen und raus.
Gerd und ich können die Schuhe schon selber binden. Wir sind die Großen. Den anderen müssen die Tanten helfen. Wir rutschen derweil auf dem Boden herum, schieben uns rücklings unter die Röcke der Tanten – wie Automechaniker unter aufgebockte Autos. Mit klopfendem Herzen schaue ich in dunkle Höhen. Diese weichen Stoffe! Diese Unterröcke! Diese Strümpfe mit den merkwürdigen Haltern! Diese Düfte!
Gerd hat sich mal getraut, hoch zu langen – zwischen die Tantenbeine. Er hat eins auf die Finger bekommen und musste in der Ecke stehen. Ich bin artig. Mit mir schimpfen die Tanten nicht.
Überhaupt dieser Gerd! Er sagt schlimme Wörter und manchmal ruft er den Mädchen zu, dass er sie gleich küssen wird. Ich finde das peinlich und laufe dann weg. Die Mädchen laufen nicht weg. Gerd meint, dass Mädchen in der Unterhose anders aussehen als wir Jungs. Ich kann das nicht glauben. Gerd will das rausfinden. Er hat sich Simone dafür ausgesucht, denn die ist ganz wild auf Glasmurmeln. Er will ihr 10 große Murmeln geben, wenn sie die Hose auszieht. Simone ist hin- und hergerissen, als sie die Murmeln sieht, sagt dann aber: „Nein!“
Ich bin erleichtert, denn mir ist bei der ganzen Sache sehr mulmig. Wir ziehen ab.
Plötzlich ruft Simone hinter uns her: „12 Murmeln!“
Gerd jubelt: „Gut, ich besorge noch zwei, aber dann krieg ich noch einen Kuss!“
Simone nickt.
Gerd legt Rainer herein. Beim Pinkatsch-Spielen schummelt er und Rainer verliert zwei Glasmurmeln. Er hat es bemerkt, aber er kann sich nicht wehren.
Am nächsten Tag bringt Gerd alle 12 Murmeln mit in den Kindergarten, aber Simone kommt nicht. Sie ist krank, wochenlang krank. Ja und dann ist auch schon die Zeit des Kindergartens vorbei.
In der Schule sind wir zwar alle in einer Klasse, aber Jungen und Mädchen sitzen getrennt und für uns Jungen ist es verpönt, mit Mädchen auch nur zu sprechen. Dann schreien die anderen gleich: „Sieh mal da, ein verliebtes Ehepaar!“ Selbst Gerd traut sich nichts mehr. Er kommt auf die Idee, ein Briefchen zu schreiben. Leider kennen wir noch nicht viele Wörter. Nur „Papa“, „Mama“ und so – und Sätzchen wie: „Oma hat ein Ei.“
Ich reiße mir ein neues Blatt vom Block. Den Stift ertaste ich trotz Dunkelheit schnell unterm Tisch. Ohne viel zu sehen, schreibe ich: „Oma hat ein Ei.“ Es berührt mich ganz merkwürdig, diesen Satz zu schreiben. Ich nehme den Stift in die linke Hand und schreibe den Satz noch einmal, – vielleicht so unbeholfen wie im ersten Schuljahr. Dann schreibe ich auch mit links: „Für Simone“ – wie damals in unserer Bretterbude hinter der großen Hecke.
An diesem Nachmittag hocken Gerd und ich dort zusammen auch vor einem Stück Papier und überlegen, wie wir Simone hierhin locken können. Ich zeichne schließlich ganz einfach unsere Bude, zwölf Murmeln und eine Unterhose. Gerd schreibt zwei Worte dazu: „DU“ und „Bude“. Ich male noch ein großes Fragezeichen. Irgendwie gelingt es Gerd am nächsten Tag, Simone das Briefchen heimlich zuzustecken. Dann beginnt das große Warten. Jeden Nachmittag rennen wir zur Bude und warten, dass Simone kommt. Ich kann schlecht warten. Während Gerd seelenruhig neue Pfeile für unseren nächsten Indianerüberfall schnitzt, laufe ich nur unruhig herum und halte ständig Ausschau. Am vierten Nachmittag kommt sie. Gerd zieht Simone sofort in die Bude und zischt mich an: „Ich zuerst! Du stehst Schmiere!“ Mir klopft das Herz bis zum Hals. Ich stehe vor der Türe und höre nur, dass Simone zuerst die Murmeln haben will. Dann lässt sich Gerd mit einem erstaunten „Hui!“ vernehmen. Einen Augenblick später stößt mich Simone zur Seite und rennt davon. Ich schreie ihr noch nach: „Und ich?“ Aber sie lacht nur.
Gerd steht in der Bude wie unter Schock. Ich bin enttäuscht, weil er Simone nicht festgehalten hat und bestürme ihn mit Fragen danach, was er gesehen hat. Er antwortet erst immer nur mechanisch: „Das kann nicht wahr sein.“ Als ich ihn bitte, mir aufzuzeichnen, wie Simone unten aussieht, malt er nur einen senkrechten Strich. „Weißt du“, sagt er, „ich habe einen Verdacht: Bei den Menschen ist es genauso wie bei den Hunden.“
Als das Licht anklackt, schrecke ich hoch. Ich habe die Nacht über am Tisch gehangen, bin wohl im Sitzen eingeschlafen. Vor mir liegt ein merkwürdig bekritzeltes Blatt: „Oma hat ein Ei.“ lese ich gleich zweimal. Zwölf Kreise sind zu sehen, eine Hütte, eine Hose, „Für Simone“, „DU“, „Bude“, ein Fragezeichen. Darunter kaum zu entziffern: „Bei den Menschen ist es genauso wie bei den Hunden.“ Ich schmunzele und lege das Blatt auf den Block.